Armin Zwerger Über die Eiserne Hand hinüber

Armin Zwerger
Über die Eiserne Hand hinüber
Armin Zwerger
Über die Eiserne Hand hinüber
Kriminalroman
orte Verlag
© 2015 orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Janine Durot
Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
Gesetzt in Times New Roman
ISBN: 978-3-85830-186-4
ISBN eBook: 978-3-85830-191-8
www.orteverlag.ch
Für Irmi
Andrea: «Unglücklich das Land, das keine Helden hat».
Galilei: «Unglücklich das Land, das Helden nötig hat».
Bertolt Brecht: Leben des Galilei
V
ielleicht weil es keine Geschichte darüber gibt, denkt
man nach, wie es hätte sein können oder sogar, wie es
wirklich war.
An der Eisernen Hand, mit der heute kaum mehr einer aus
Basel etwas anzufangen weiss.
Ganz zu schweigen von denen aus Stetten oder Lörrach
oder Weil oder auch Grenzach.
Dabei sollte es gerade die interessieren, sollte man meinen.
Aber wahrscheinlich hätten die Basler wieder mehr Zeit.
Für solche Reflexionen.
Wenn sie sich die Zeit nähmen.
Den Grenzsteinen entlangzugehen und sich zurückzuversetzen in eine Zeit, in der nicht einmal so ein Stein ohne
Schuld war.
Wie denn ein Mensch ohne Schuld hätte sein können.
Es gibt Geschichten, aber nicht wirklich eine Geschichte.
Die Gegend meiden? Warum? Wegen der Erinnerung?
Es gibt eine Gedenkstätte. Gut zu erreichen mit der Tram.
Linie 6.
Von der Innenstadt her.
Dann kann man auf Busse umsteigen.
Zu einem Gedächtnisort.
Und die Grenzsteine, die gibt es noch.
Dort wo Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergehen.
Erinnert man sich vielleicht an etwas, was man weder erlebt noch gesehen hat.
Aber hätte ja sein können.
7
Weil am Rhein
Saint-Louis
Frankre
ic
Schweiz
h
Basel
Lörrach
Stetten
Eiserne Hand
52
Deu
tsch
50
lan
d
wei
z
Sch
74
Maienbühl
Zollhaus
78
Riehen
81
Inzlingen
82
83
St. Chrischona
Bettingen
Grenzach
0
Staatsgrenze
Fehlender Grenzzaun 1942
km
1
Standort der Grenzsteine
83 Nummer des Grenzsteins
J
etzt sind es schon zehn Minuten. Das kann doch nicht so
schwer sein, diesen 1700-er zu finden! Und dann soll sie
nach rechts. Die findet den Stein nicht, die blöde Kuh!
Das Wasser im Mundwinkel fing an zu gefrieren. Einmal
mit der Zunge drüber, dann war es wieder aufgetaut. Mehr
Bewegung war im Augenblick nicht möglich. Die Kälte wurde immer unerträglicher. Aber seit die beiden Grenzsoldaten
dort oben auf dem Ansitz neben dem Zaun hockten, verbot
sich jede weitere Bewegung. Noch hatten sie ihn nicht gesehen, und das sollte auch so bleiben. Denn wenn sie ihn noch
einmal an der Grenze erwischen würden … Der Ortsgruppenführer hatte sich da ganz klar ausgedrückt. Das hatte auch
er mit seinen knapp dreizehn Jahren kapiert.
Was sie mit der Frau machen würden, wenn die plötzlich
aus dem Wald auftaucht? Er hatte keine Ahnung. Jedenfalls
hatten sie dann jemanden, um den sie sich kümmern konnten.
Und er bekam eine Chance abzuhauen.
Aber jetzt schlotterte er in diesem Gebüsch. Wagte es
nicht, sich zu rühren. Fluchte auf seinen Alten, der ihn in diese Situation gebracht hatte. «Lass dich ja nicht erwischen,»
war seine gängige Redensart. Er wollte sich nicht erwischen
lassen, nie wollte er sich erwischen lassen. Dennoch erwischten sie ihn immer wieder. Und jetzt blutete auch noch die
Hand. Er hatte sich schon wieder an diesem ekelhaften Stacheldraht verletzt. Oder war es doch das Dornengestrüpp?
«Kein Problem.» Wenn man den Alten hörte, gab es nie
ein Problem. «Du zeigst ihr den Weg durch den Zaun. Und
dann wartest du genau eine Stunde. Keine Minute länger!
Hier die Uhr. He, das ist eine teure Uhr aus der Schweiz.
Wenn du sie verlierst, zieh ich dir die Hammelbeine lang.»
Jetzt hielt er die Uhr in der Hand, die immer noch blutete.
«Wenn sie nach einer Stunde nicht kommt, gehst du. Run11
ter ins Dorf und von dort nach Hause. Wenn sie kommt, lass
sie voraus laufen. Sie soll in den ‹Kranz›. Sie weiss schon.
Dann geh ihr nach bis dort hin, und schau, dass du nach Hause kommst. Je weniger ihr gesehen werdet desto besser.»
Für den Alten war das eine lange Rede. Aber die Anweisungen waren klar.
Was er nicht gesagt hatte war, dass die Frau wohl nur eine
vage Vorstellung vom Weg hinter dem Zaun hatte. Deshalb
hatte sie ihn auch immer wieder nach dem alten Grenzstein
gefragt. Er fand, dass der auch nicht viel anders aussah als die
anderen. Das behauptete nur der Dorflehrer. Bei dem hatte
jeder dieser Steine eine Seele, über die er sich stundenlang
auslassen konnte. Es war halt ein Grenzstein! Was hätte er
sonst sagen sollen?
Vielleicht war diese Frau noch nie in der Schweiz gewesen. Gesehen hatte er sie vorher genauso wenig wie andere
auch, die der Alte anschleppte, damit er sie durch das Loch
im Zaun schleuste. Wahrscheinlich dachte sie auch, dass da
auf dem Land am Ende der Welt die Zeit ohnehin keine Rolle
spielt. «Eine Stunde, zwei … war doch egal. Soll der Kleine
doch ein bisschen frieren.» Aber seit die Hakenkreuzler auch
im Rathaus sassen, spielte die Zeit eine Rolle. Und eine Weile war das schon her.
Immer wieder schaute er auf die Schweizer Uhr. Die Zeit
war längst abgelaufen. Die Frau hätte längst zurück sein
müssen. Schweizer Uhren gehen perfekt. Und er musste in
diesem Gestrüpp sitzen bleiben. Auf keinen Fall sollten ihn
die beiden Grenzsoldaten zu Gesicht bekommen. Also musste er warten. Irgendwann würden die beiden wieder verschwinden.
Aber die Uhr war die Sache wert, dachte er. Wie kommt
der Alte nur immer wieder an solche Sachen? Nichts Ordent12
liches zu essen daheim, aber eine Schweizer Uhr. Typisch für
den Alten.
Verkaufen konnte er sie nicht, auch nicht für ganz wenig
Geld. Er hätte sie auch nicht für irgendetwas einhandeln
können, etwas worüber die Mutter sich freuen würde. Weil
das herauskommen würde, und dann ginge das Theater wieder los. Schlitten fahren würden sie mit ihm. Er hatte schon
genug auf dem Kerbholz. Das jedenfalls behauptete er immer, wenn er seinen Jungen wieder für eine Sache einspannte.
Deshalb war er es auch, der hier schlotterte und nicht der
Alte. Der sass jetzt wahrscheinlich in der warmen Wirtsstube
hinter einem Glas Wein oder zwei. Ich bin es, der sich hier
den Arsch abfriert, dachte er. Dass die Uhr schön war, fand er
auch, schwer mit einer Menge Gold überall. Wie gleichmässig sie läuft und tickt, dachte er auch noch, und als er aufschaute, standen die beiden vor ihm.
*
Es waren zwei Soldaten. Nicht die Grenzsoldaten. Die standen immer noch oben. Er konnte sie aus den Augenwinkeln
sehen, obwohl sie offensichtlich versuchten, möglichst unbemerkt zu bleiben und fast ganz hinter einer Tanne verschwunden waren. Das waren auch keine Zöllner, von denen er einige kannte und die anders gekleidet waren.
Uniformen hatten die beiden an, aber die waren unter den
weiten Mänteln kaum zu erkennen. Sie wirkten irgendwie
gehetzt, hatten es offensichtlich sehr eilig. Sie schienen nicht
weniger erschrocken zu sein, als sie so plötzlich vor ihm
standen. Erst im letzten Augenblick hatten sie ihn in den Büschen entdeckt.
13
«Was machst du da?» Die Frage war scharf gestellt und
gleichzeitig unsicher.
«Nüüt», sagte er und dehnte das Wort, so dass man ihn für
einen Jungen aus der Schweiz hätte halten können, der sich
an der Grenze herumtrieb. Denen war das natürlich auch verboten, aber auch für einige Kinder von der anderen Seite des
Zauns aus Riehen und aus Bettingen bestand gerade darin der
Reiz der Grenze.
Diese beiden Soldaten waren offensichtlich Fremde. Er
hatte sie noch nie gesehen, und zumindest in diesem Grenzabschnitt kannte er jedes Gesicht. Ausserdem hatten die
wenigen Worte, die sie gesagt hatten, verraten, dass sie aus
einer ganz anderen Gegend kamen. Was sollten die sich um
Schweizer Kinder kümmern? Grenze hin und Zaun her.
Er schien Glück zu haben. Sie hielten sich nicht lange mit
ihm auf, schoben sich an ihm vorbei und verschwanden jenseits des Stacheldrahtverhaus im Wald.
Die Grenzsoldaten auf dem Ansitz mussten das gesehen
haben, das wurde ihm schnell klar. Dass diese Männer vor
ihm stehen geblieben waren, mit ihm gesprochen hatten und
dann durch den Zaun gegangen waren. Da konnte er jetzt aus
seinem Versteck genau so gut heraus. Jetzt war es keines
mehr.
Warum rührten die da oben sich nicht, wieso hatten sie die
beiden einfach durchgelassen? Das ging ihm durch den Kopf,
als sein Blick auf seine Hand fiel, in der gerade noch das beruhigende Ticken der Uhr zu hören gewesen war.
Sie blutete nicht mehr … und die Uhr war weg. Sie lag
auch nirgendwo. Einer der beiden musste sie ihm im Vorbeigehen aus der Hand genommen haben. Und er hatte so Schiss
gehabt, dass er nichts davon gemerkt hatte.
Jetzt war sowieso alles egal. Sollten die Scheisskerle doch
14
schiessen. Er kroch aus seinem Versteck, schüttelte sich
Schneereste vom ganzen Körper ab und ging langsam und
gleichgültig über die Grenze durch das Loch im Zaun zurück
Richtung Dorfstrasse. Als dann wirklich geschossen wurde,
erschrak er doch und rannte los.
Die Schüsse galten nicht ihm, er hörte Holz splittern,
dumpfe Schläge gegen einen Baum. Das mussten die beiden
auf dem Ansitz gewesen sein, die da in den Wald hineingezielt hatten. Getroffen dürften sie allerdings kaum haben,
dazu hatten sie viel zu lange gewartet, und danach war es
wieder still wie zuvor. Als er schon fast unten am Bach war,
hörte er noch einmal Schüsse. Weiter weg diesmal. Er zählte
die Schüsse mit.
Geschossen wurde hier immer einmal wieder, auch früher,
als die Grenze noch nicht mit Stacheldrahtzaun verbarrikadiert war. In der Schweiz hatten sie dort einen Schiessstand,
nicht weit von der Grenze entfernt, auf der anderen Seite des
Tals, und je nach Windrichtung konnte man hier schon mitbekommen, wann eidgenössische Übungen angesagt waren.
Diese Schüsse aber kamen unweit vom Gipfel des Berges
nicht aus dem Tal dahinter.
Unweigerlich duckte er sich und rannte dann, so schnell
Beine, Stock und Stein es zuliessen, hinunter zum Bach.
Von da bog er in Richtung des oberen Dorfes ab. Das hatte
der Alte zwar nicht gesagt, aber er verspürte kein Bedürfnis
jetzt schon den Heimweg anzutreten.
Er lief ein ganzes Stück den Bach entlang und versteckte
sich dann hinter der Muggenthaler-Scheune und blinzelte
von dort in Richtung Eingang des alten Wirtshauses. Von hier
konnte er jeden sehen, der in den «Kranz» hineinging oder
herauskam. Er wartete auf seinen Alten.
15
*
Die beiden Grenzsoldaten auf dem Ansitz hatten ihren Auftrag erfüllt. «Beobachten», hatte es geheissen, «und dann ein
bisschen hinterherschiessen.» Aktionen von der Gestapo
oder dem Sicherheitsdienst waren grundsätzlich gut organisiert, und dank der Hilfe des örtlichen Schleusers war mit
Schwierigkeiten eigentlich nicht zu rechnen. Der Zoll wusste
nichts von der Aktion; es wirkte immer glaubhafter, wenn
nicht zu viel Wind von einer Sache gemacht wurde.
Was die beiden zu sehen bekamen, waren aber nicht nur
die zwei erwarteten Agenten, da tauchte plötzlich ein Junge
auf, der hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Entweder einer
dieser Rotzlöffel aus dem Dorf, der sich verbotenerweise viel
zu nah an der Grenze herumtrieb. Möglicherweise aber auch
einer dieser Schweizer Knaben, der Abenteuer suchte. Dort
hatte man die Kinder halt nicht so im Griff.
Dass der Junge sie gesehen hatte, mussten sie in Kauf nehmen. Man würde Meldung machen.
Als die Agenten wie geplant hinter der Grenze verschwunden waren, schoss man pflichtbewusst ein wenig hinterher,
worunter einige Buchen etwas zu leiden hatten. Schliesslich
konnte man nicht einfach zwei Deserteure, schwere Jungs
auch noch, wie man später den Schweizer Grenzern stecken
würde, ungestraft abhauen lassen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, sie zur Strecke zu bringen.
Erst als einige Zeit später, die Soldaten waren gerade dabei
aufzubrechen, noch einmal Schüsse zu hören waren, wurden
die beiden stutzig.
Da wurde auf der Schweizer Seite geschossen. Das konnte
nichts Gutes bedeuten. Man würde Meldung erstatten müssen, nicht nur in Lörrach.
16
U
nten fährt eines der grünen Zollautos vorbei. Seit man
in der Schweiz Schengen unterzeichnet hat, stehen die
beiden Zollhäuschen an der Grenze leer. Das auf Schweizer
Seite eigenartigerweise ohnehin schon seit Jahren. Jetzt auch
das auf deutscher Seite.
Ab sofort wird nur noch sporadisch kontrolliert, ein paar
Meter hinter der Grenze, dort wo das alte Zollhaus steht. Ein
günstiger Platz, unübersichtlich für den Heranfahrenden, geschickt für die Zöllner. Im Bedarfsfall wird flink die kleine
Kelle herausgezogen und an die Seite gebeten.
Oder sie stehen am Ausgang des Dorfes irgendwo in der
Landschaft. Unberechenbar eben, so wie es sein muss. Fragt
man nach, heisst es, dass es um Devisenschmuggel gehe,
vielleicht ist es auch Steuerhinterziehung oder doch nur ein
paar Stangen Zigaretten.
Kann mir egal sein. Ich wohne in Deutschland, arbeite in
der Schweiz, verdiene gut dort und meine durchaus komplizierten Steuerangelegenheiten überlasse ich einem Steuerberater.
Meine Ferien verbringe ich in Frankreich oder sonst wo,
wohin die günstigen Flieger des Euro-Airports von Basel aus
mich hintragen.
Über ein Vermögen, das für Zoll oder Steuerfahndung interessant wäre, verfüge ich nicht.
Mich beschäftigen wesentlichere Fragen, seit ich in diesem malerischen Dorf wohne: Vor allem die Frage nach den
Socken!
Oben, an der zum Grenzzoll gelegenen Seite der Strasse
ins Oberdorf, genau am Ende der Strasse, da liegen sie. Vor
einem der schmucken Häuschen, die unserem Dorf diesen
Charakter einer Puppenstube geben, dort in der Einfahrt.
Die meisten gehen achtlos daran vorbei.
17
Dabei liegen sie schon seit einiger Zeit da. Seit wir uns
hier niedergelassen haben, zieren sie den Eingangsbereich
dieses Puppenhäuschens.
Natürlich sind es immer wieder andere. Der Hausbesitzer
räumt sie weg, aber ein paar Tage später liegen wieder welche da. Sommer wie Winter, dünne an heissen Tagen, dicke
wollene, besonders dicke sogar an kalten Wintertagen.
Der Hausbesitzer ist ein Basler, denke ich, weil das Haus
oft einen unbewohnten, aber nie vernachlässigten Eindruck
macht und weil auch immer einmal ein Auto mit Baselstädter
Nummer davor steht. Irgendwann hat er ein Schild aufgestellt, handgeschrieben auf einem Karton: «Wir brauchen
keine Socken!», stand darauf.
Aber das hat nicht geholfen. Jedes Mal, wenn er sie entsorgte, lagen, oft nur wenig später, wieder Socken vor seinem
Eingang. Manchmal nur einer, aber meistens tauchten sie
doch paarweise auf. Kindergrösse. Und bunte waren auch dabei. Da das Haus nicht dauerhaft bewohnt ist, ich vermute,
der Eigentümer nützt es als Ferien- und Wochenendhaus, gelang es offensichtlich nicht, der Herkunft dieser Socken auf
die Spur zu kommen.
Irgendwann hat der Basler sie einfach nur noch auf die
Strasse befördert. Von wo aus sie dann regelmässig wieder in
den Eingangsbereich zurückgelegt wurden.
Wer schmeisst Socken vor den Eingang eines sporadisch
genutzten Hauses in unserem Dorf kurz vor der Stadt und
doch irgendwie am Ende der Welt? Hart an einer der wenigen
noch existierenden Grenzen im Herzen Europas?
Ich tippe auf die Alte aus dem Grütt, die hier regelmässig
ihre Runden dreht. Aber das krieg ich schon noch raus. Irgendwie.
18
W
enn die Tage länger werden, werden die Schmerzen
nachlassen. Daran dachte sie, während sie langsam
den Berg hinaufging und es im Kopf dröhnte und stach, hämmerte und bohrte, und einmal mehr erinnerte sie sich daran,
dass es höchste Zeit wäre, mit der Sache endlich einen Arzt
aufzusuchen.
Der Winter geht vorüber, und nicht jedes Jahr wird so kalt
werden wie das letzte. Sie erinnerte sich, dass da Rekordtemperaturen erreicht wurden, die Schmerzen höllisch gewesen
waren und dass es weit bis ins Frühjahr gedauert hatte, bis es
wieder besser geworden war.
Jetzt musste sie sich erst einmal kurz setzen, weil sie das
Gefühl hatte, ein wenig die Orientierung verloren zu haben.
«Immer den Grenzsteinen nach», hatte der Junge in seinem genuschelten Alemannisch, das sie kaum verstehen
konnte, gesagt. Bis man zu einem Stein mit der Aufschrift
«1700» kam. Dort würde ein schmaler Pfad abgehen, dem sie
nicht weiterzufolgen brauche, weil der Bote von dort kommen würde.
So war das ausgemacht, weil, so hatte man ihr gesagt, dort
rechnete man nicht mit Derartigem. Die Ecke war nicht wirklich geschickt für Konspiratives. Da hätte es bessere Möglichkeiten gegeben. Kürzere Wege hinein in die Schweiz.
Genau deswegen war das der richtige Ort.
Grenzstein 81.
Aber sie selber wollte nicht in die Schweiz. Was sollte sie
da? Sie kannte niemanden dort. In ganz Basel nicht und auch
sonst nirgendwo. Obwohl, einfach weg und abhauen, hätte
auch etwas Verlockendes gehabt. Alles zurücklassen. Möglich dass dann auch die Schmerzen verschwinden würden.
Grenzstein 82.
Geht aber nicht. Nichts geht mehr.
19
Der Weg ist steil. Davon haben sie nichts gesagt. Der
Junge war sowieso unklar in seinen Angaben. Warum nur
war der Alte nicht mitgekommen? Der Kerl war zwar ein
unausstehlicher Brummbär, aber sicher einer, der hier alle
Wege kannte. Warum nur hatte er sie diesem Jungen überlassen?
Grenzstein 83.
Einen Grenzstein nach dem anderen passierte sie, immer
den schmalen steilen Weg entlang. Sollte das jetzt bis 1700 so
weitergehen? Langsam wurde ihr klar, dass da etwas nicht
stimmte. Auf den Steinen stand noch mehr. Verwittert teilweise und kaum mehr zu entziffern.
Sie setzte sich jetzt einfach neben einen Stein und wartete,
bis ihr Blick wieder ganz ungetrübt war. Zur Schweizer Seite
hin war ein Wappen zu erkennen. Ein anderes auf der gegenüberliegenden Seite. Einmal war das der Basler Stab. Den
kannte sie. Mit dem anderen Wappen konnte sie nichts anfangen. Dann war da noch eine Jahreszahl angedeutet, die
schwer zu entziffern war. Vielleicht 1840. Oder 1848.
Ihr war schwindlig geworden, und sie musste sich ein wenig am Stein festhalten. Warum musste auch ausgerechnet
jetzt dieser Anfall kommen. So lange hatte sie nichts mehr
davon gemerkt. Sie versuchte, ganz ruhig zu atmen.
Man hatte ihr gesagt, dass die Sache gut vorbereitet sei,
dass sie sich keine Gedanken machen müsse. «Das ist alles
im Vorfeld geklärt, Vreneli», hatte es geheissen.
Wenn der Vorsitzende etwas erklärte, war immer alles
leicht. Überall hatten sie ihre Leute, und wenn sie kam, musste nur noch ausgeführt werden. Einer wird da sein, er wird
dich finden. Ihr tauscht die Papiere aus. Und dann gehst du
wieder zurück. Schon welche Papiere das waren, wusste sie
nicht, das wusste sie nie.
20