Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem Professionskonflikte zwischen aktivierungspolitischer Lebenslaufpolitik und „citizenship practices“ Dipl.-Sozialpäd. Sven Heuer, Bremerhaven Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem Gliederung 1. Ausgangssituationen: Das berufliche Übergangssystem: Jugendberufshilfe unter Vorzeichen des „Fordern und Förderns“ 2. Neue Akteursstrukturen: Bürger-Staat-Arbeitsmarkt 3. Aktivierungspolitisches Wohlfahrtsregime – neue bildungspolitische Gouvernance 4. Folgen: „Entpädagogisierung“ der Jugendberufshilfe 5. Demokratieperspektiven: „Citizenship education“ 6. Exkurs: Postdemokratische Referenztheorien 7. Ausgangsfragen und Diskussion Seite 2 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1. Das berufliche Übergangssystem? (1) Wohlfahrtsstaatliche Kompensationsfunktion: Das Übergangssystem, bzw. die „Jugendberufshilfe ist ein zeitlich befristetes, kompensatorisches und qualifikationsorientiertes Instrument zur Förderung beruflicher Biografien von Benachteiligten mit dem Ziel der stabilen Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ (Galuske 1998: 7). (2) Übergangssystem ohne ausreichende Systematisierung: Das berufliche Übergangssystem ist ein Sammelbegriff für „(Aus-)Bildungsangebote, die unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen [...], sondern auf eine Verbesserung der individuellen Kompetenzen von Jugendlichen zur Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung zielen und zum Teil das Nachholen eines allgemein bildenden Schulabschlusses ermöglichen.“ (Bildungsbericht 2006: 79). Seite 3 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.1 Strukturverlauf des beruflichen Übergangsystems RegelSchulsysteme Segregative und integrationsorientierte Beschulungsformen Übergang an der „ersten“ Schwelle Übergang Schule/ Ausbildungssystem Berufliche Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahme n Ausbildung auf dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt Berufsorientierte Jugendhilfemaßnahmen/ Geförderte Ausbildung Berufsbildendes Regelangebot Übergang an der „zweiten“ Schwelle Übergang Ausbildung/ Arbeitswelt Arbeitsmarkt Nachqualifizierung Beschäftigungsförderung (SGB II) Arbeitslosigkeit Berufsbildende Angebote der Benachteiligtenförderung Seite 4 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.2 Das Übergangssystem und die Handlungslogiken des „Fordern und Förderns“ „Durch den Grundsatz des »Fordern und Förderns« [...] wird ein eines Menschenbild in die Sozialpolitik übertragen.[...] Dadurch wird eine Situation bzw. eine Beziehung zwischen einem »Kunden« und Sozialarbeit (als verlängerter Arm der Agentur für Arbeit) hergestellt, die auf Zwang, Sanktionsfurcht und Angst aufgebaut ist.“ (Eckert/Heilser/Nietschke 2007: 21f.). (1970-2000): (2005): (ab 2005): Plurale (jugendhilfeorientierte) Förderperspektiven: Reformierung der Arbeitsmarktpolitik: Hartz IV Implementierung des SGB II Dienstleistungswettbewerb der Beschäftigungsförderung Lebensweltorientierte Angebote und arbeitsmarktorientierte Angebote Zentralisierung der kommunalen AuftrageberAuftrageberstruktur (SGB III) Verschärfung der Disziplinarpraktiken der U25 (unter 25 Jährigen Arbeits- und Ausbildungssuchenden Seite 5 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.3 Rechtskreise des Übergangssystems Grundsicherung für Arbeitssuchende: SGB II Leistungen zur Eingliederung; Kommunale Eingliederungsleistungen (vgl. § 16 Abs. 1 SGB II) Justiziable und strukturelle Vorrangigkeit Arbeitsförderung: SGB III Maßnahmen der Aktivierung und beruflichen Eingliederung (vgl. § 46 SGB III) AuftraggeberAuftraggeberstruktur Leistungskatalog Kinder- und Jugendhilfe: SGB VIII Jugendsozialarbeit (vgl. § 13 Abs. 1 SGB VIII) Idealtypische Professionskonzepte Handlungslogik Ergänzende und andere förderspezifische Rechtkreise „Neues“ Sozialhilferecht: SGB XII Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen: SGB IX Seite 6 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.4 Aktivierende Arbeitsmarktpolitik Das aktivierungspolitische Arbeitsregime (nach der Implementierung des SGB II) ist durch vier wesentliche Punkte gekennzeichnet (vgl. Olk 2009: 27): ① Ökonomisierung des „Sozialen“: Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik sind nicht klar voneinander abgegrenzten Sphären ② Aktivierungshilfen: Leistungen der Ausgabepolitik werden weitestgehend auf Sozialinvestitionen reduziert ③ Leistungsethik: Inklusion in den Arbeitsmarkt ist nicht verteilungsgerecht über Einkommen organisiert, sondern über qualifikationsorientierte Chancen der potenziellen Arbeitsbürger ④ Arbeitsmarktpolitische Wirkungsorientierung: Die neuen Steuerungsmodelle des Sozialinvestitionsstaates sind an Managementkonzepte gekoppelt, die an ökonomische „Effizienzkriterien“ angeglichen sind Seite 7 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.5 Rechtsfelder der Berufsintegration SGB II SGB III SGB IX Grundsicherung für Arbeitsuchende Arbeitsförderungsgesetz Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen SGB VIII Schulgesetz Jugendhilfe (Bundeslandsspezifische) schulische Angebotsstrukturen Ziel: Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit Ziel: Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit Ziel: Förderung der Teilhabe und Sozialintegration Ziel: Förderung der Erziehungsverantwortung und Sozialintegration Ziel: Bildungsabschlüsse und Bildungs- und Arbeitsmarktintegration Arbeitspflicht u.a. Sanktionen (§31 SGB II) Strukturbedingungen: Soziale Benachteiligung Förderansprüche auf berufliche Integrationsangebote Etikettierung, Kategorisierungssysteme Rahmung: i.d.R. Wunsch- und Wahlrecht: Bedarfe Schulpflicht, eingeschränktes Wahlrecht Seite 8 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 1.6 Strukturdilemma des Übergangssystems Neue zentralisierte Steuerungspraxis: Schwächung der Rolle als Kooperationspartner (als Auftragnehmer der kommunalen Arbeitsagenturen) Beispielhafte Differenzen und Konfliktfelder (als gegensätzliche Politikprogramme) (vgl. Heuer 2012: 37ff): Differenzen der Felder: Arbeitsmarktpolitik versus Jugendhilfepolitik Konzeptionell-pädagogische Ausrichtung: Standardisierung und Output-Orientierung versus lebensweltorientierte Individualisierung Doppelfunktion: Arbeitsmarktintegration versus Sozialintegration These: Strukturelle Bruchstellen im Übergangssystem beschränken immer massiver professionelle Handlungsspielräume Seite 9 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 2. Trias: Bürger-Staat-Arbeitsmarkt Adressaten- und Bürgerfiguren Adressatenebene: Prozesse der Selbstökonomisierung Lohnarbeitszentrierter „Aktivbürger“ (Aktivierendes) Wohlfahrtsregime Arbeitgesellschaft (Arbeitsmarkt- und Wirtschaftssystem) Steuerung (der Arbeits/Sozialpolitik), und normative Rahmung: „freie“ Zugänge über Qualifizierungsprofile: Externe Dienstleistungen der kommunalen Wohlfahrtsakteure • Leistungssteigerung (Selektivität) • Nachfrage- und Konkurrenzmechanismen • Prekarisierung Berufsintegrative Hilfe Arrangements als „intermediäre“ Vermittlungsinstanz Seite 10 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 2.1 Leistungsethik des „Aktivbürgers“ „active citizienship“: Adressaten- und Bürgerfiguren Prozesse der Selbstökonomisierung Lohnarbeitszentrierter „Aktivbürger“ Übergeordnetes Ziel: „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) Sozialinvestitionen der Aktivierung: Aktivierungshilfen für die „Integrierbaren“, Druck und Kontrolle für „exkludierte“ Adressatengruppen Paternalismus: Keine sozialstaatliche Leistung ohne ökonomisierbare Gegenleistung Personalisierungs- und Privatisierung bei sozialen Problemen: Die Adressierung der Kundenlogik innerhalb der Arbeitsmarktpolitik strukturiert Inklusions- und Exklusionsmuster Berufsintegrative Hilfe Arrangements als „intermediäre“ Vermittlungsinstanz Seite 11 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 2.2 Übergangsmanagement als Dienstleistung Vorrangigkeit von effektivitätsorientierten und standardisierten Workfare-Strategien Externe personenbezogene und kommerzielle Dienstleistungen der kommunalen Wohlfahrtsakteure (Aktivierendes) Wohlfahrtsregime Steuerung (der Arbeits/Sozialpolitik), und normative Rahmung Steigerung der Wettbewerbs-, Konkurrenz- und Ökonomisierungsaspekte der Auftragegeber: „Paradigmenwechsel von Kooperation zu Konkurrenz“ (Galuske 2002: 328). Berufsintegrative Hilfe Arrangements als „intermediäre“ Vermittlungsinstanz Seite 12 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 2.3 Strukturwandel des Arbeitsmarktes Wandel der Qualifizierungsanforderungen im Hinblick auf die berufliche Bildung (vgl. Baethge 2015: 293): 1) Rückgang des inländischen „Arbeitskräftepotenzials“ (aufgrund demografischen Wandels) 2) Tendenz höherer Anforderungen der Qualifizierung in beinah allen Beschäftigungsfeldern 3) Trend zur Hochschulbildung Arbeitgesellschaft (Arbeitsmarkt- und Wirtschaftssystem) „freie“ Zugänge über Qualifizierungsprofile: • Leistungssteigerung (Selektivität) • Nachfrage- und Konkurrenzmechanismen • Prekarisierung Berufsintegrative Hilfe Arrangements als „intermediäre“ Vermittlungsinstanz Seite 13 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 3. Aktivierungspolitische Governance Folge: a) Die Doppelstruktur zwischen „Sozialpädagogik“ und „Sozialpolitik“ ist brüchig geworden (vgl. Münchmeier 2007; Kessl 2009) b) Neosoziale und postwohlfahrtsstaatliche bilden sich heraus, weil „eine Politik der systematischen Re-Kommodifizierung“ (Ziegler 2008: 170) unter aktivierungspolitischen Vorzeichen realisiert wird. Ziel: Arbeitsmarkt- und Sozialintegration Kontrakte der „Aktivierung zur Wettbewerbsfähigkeit“ (SGB II) über Sanktionskulissen und Gefährdung existenzsichernder Leistungen Arbeitsmarktpoltische Steuerung Arbeitsbündnis eines (jugendhilfeorientierten) persönlichkeitsstabilisierten Hilfeprozesses der lebensweltorientierte Befähigung fokussiert Sozialpädagogische Akteurssystem Seite 14 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 3.1 Transformationen des „Sozialen“ Vermittlungsverluste der Sozialpädagogik Die Vermittlungsfunktion sozialpädagogischer Hilfesystem in ihrer Funktion als „intermediäre Instanz“, die bei der Vermittlung von Paradoxien zwischen Gesellschaft und Individuum vermittelnd wirkt, ist gefährdet (vgl. Heiner 2004: 32ff.) und bildet weitere pädagogische politische Konfliktfelder. Wandel des Hilfefokus: Aus dem „alten Sozialstaatspostulat „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird das Workfirst-Prinzip „Hilfe zum Wettbewerb“ (Dahme/ Wohlfahrt 2005: 13) transformiert und erzeugt neue Adressatenmodelle, bei denen Exklusion in individualisierte Verantwortungsbereiche fällt. Seite 15 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 3.2 Workfare-Strategien: Deutungsmuster Personalisierte Deutungsmuster: Handlungslogiken der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik steuern neue Deutungsmuster individualisierter „Benachteiligungsbegriffe“. Sogenannte „Responsiblierungstrategien“ kennzeichnen die Abkopplung von Eigenverantwortung als system- und strukturbedingtes Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (Krasmann 2003: 184). Die kausalen Bestimmungen von Arbeitslosigkeit – werden justiziabel belastbar –und ausschließlich „individuell“ über „vermittlungshemmende Merkmale“ bestimmt und ist eine Frage der personalisierten Eigenverantwortung (vgl. Göckler 2009: 55). Seite 16 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 4. Strukturelle Folgen Verluste professionsbedingter Qualitätsmerkmale: 1. Standardisierungsprozesse von Erfolgskriterien Ausschließliche Fokussierung auf die Messbarkeit von Integrationskennzahlen (Outputorientierung) Sozialtechnologische Operationalisierung (Ziel-MittelKausalitäten) 2. (De)Professionalisierungstendenzen Stärkung von punitiver Kontrollanteile im Hilfeprozess: Fehlende Ausbalancierung zwischen „Hilfe & Kontrolle“ Verwertbarkeit der Dienstleistung im Übergang: Direkter und indirekter Einsatz von Disziplinierungs- und Sanktionsinstrumenten Seite 17 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 4.1 „Entpädagogisierung“ der Jugendberufshilfe Aktivierende Dienstleistungsfunktion Eine asymmetrische Kontrollqualität zwischen sozialpädagogischem Akteur und Adressaten, zwischen Bildungsträger und Arbeitsagentur Punitive Lebenslaufpolitik Die weitere Stufe der Entpädagogisierung kann als punitives Eingriffs- und Sanktionsrecht in die Lebensführung der Adressaten umschrieben werden Individualisierung sozialer Exklusion: Die Fragen nach marktbedingtem Ausschluss werden in ihrer Komplexität nicht gestellt, sondern verlagern sich in fehlende Beschäftigungsfähigkeit als individuelles Versagen oder Qualifizierungsdefizit. Soziale „Benachteiligung“ ist hier nicht mehr das defizitäre Etikett als Eintrittskarte ins Fördersystem, sondern übersetzt vielmehr Benachteiligung als logische wie kausale Folgereaktion sozialer Ausschlusses Seite 18 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 4.2 Zwischen Staats- und Arbeitsbürger Ambivalente Anerkennungspositionen: „Staatsbürgerschaft und Arbeitsbürgerschaft erweisen sich als die zwei Zentralachsen der wohlfahrtsstaatlichen Moralökonomie, sprich der wechselseitigen Anerkennung der Bürgerinnen und Bürger als „Gleiche“ und der gegenseitigen Zuerkennung von (zumindest grundsätzlich gleichen, staatlich zu gewährleisteten) Anspruchsrechten auf individuelle Selbst- und kollektive Mitbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation.“ (Lessenich 2012: 105). Seite 19 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 4.3 Von Konfliktfeldern zur Demokratieperspektive Demokratiebasierte Bürgerrechtshilfen als „Staatsbürgerqualifikation“ und Querschnittaufgabe (vgl. Wagner et. al 2011: 119f.): Auf der Grundlage der wohlfahrtsstaatlichen Verschärfung der Inklusion- und Exklusionsdynamik kann mit „Citizenship education“-Modell nach der (kritischen) Konkretisierbarkeit demokratiebasierter Partizipationspraktiken und Bürgerrechtsoptionen gefragt. Individualisierungslogik des „Fördern und Forderns“: Die diesbezüglichen Vergesellschaftungsformen des Subjektes werden in gesellschaftspolitischen Deutungsmustern auf der pädagogischen Adressatenebene konkretisiert und in ihrer pädagogischen Problembearbeitung darstellbar. Seite 20 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5. Ausgangspunkte: Partizipation Neben dem Risiko und der Destabilisierung individueller Lebensführung wird in temporären Ausgrenzungs-, Segmentierungs- und Marginalisierungsprozessen den jugendlichen Adressaten ein umfassendes Bewältigungshandeln abgefordert (vgl. Stauber/Riegel 2009: 368) Und muss folglich in gesellschaftlichen Formationen stattfinden: Gelungene Kinder- und Jugendpartizipation lässt sich im Modell demokratischer, politischer und sozialer Integration als zentrale Voraussetzung einer aktiven Gestaltung der Lebensführung und Herausbildung eines „Kohärenzgefühls“ aufgreifen (vgl. Betz/Gaiser/Pluto 2010: 13), das vom Ausschluss bedrohten Adressatengruppen eine elementare Integrationsfunktion zukommt. Seite 21 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5.1 Zwischen Anerkennung und Aberkennung Paradoxien der Partizipation Grundsätzlich bleibt der Anspruch bei der Implementierung von Partizipationsmustern strukturell durchaus paradox wie ambivalent (vgl. Helsper u.a. 2006: 338f.; Walther 2010) und überformt Kontingenzverhältnisse und führt zu neuen Risiken. Bourdieu verweist auf die „symbolische Auswirkung der Verkennung“ und problematisiert Relativierung von politischen Anspruchsrechten: Wenn Partizipationsoptionen nicht eingelöst werden, hängt dies nicht zwangsläufig von fehlenden formellen Rechtszuschreibungen ab, sondern von der realpolitischen Wahrnehmung dieser Rechtsoptionen, die nicht zwangsläufig unter Aspekten von Chancengleichheit ausgestaltet sind (vgl. Bourdieu 1997, S. 89ff.). Seite 22 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5.2 Demokratieperspektiven: „Citizenship education“ Das Beobachtungsfeld über „Citizenship education“ umfasst im europäischen Diskurs über Bürgerrechte das spezifische Verhältnis zwischen Adressaten und institutionalisierten Akteuren des Bildungssystems als rechtliche, ökonomische und kulturelle Praktik, die Subjekte als potenzielle Staatsbürger mit Rechtsbereichen und Pflichtfeldern adressiert (vgl. Zeuner 2006: 77). Seite 23 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5.3 Grundlagentheorien: „Demokratie und Erziehung“ Rekonstruktion demokratiebasierter Potenziale der Sozialpädagogik Rezeption: Demokratieerziehung nach Deweys embryonicsociety Ansatz (1916[2000]) „Aus der früheren Sozialpädagogik lässt sich eine Theorie der Erziehung zur Demokratie gewinnen. […] Eine Orientierung an politischer und demokratischer Gesellschaftstheorie muss nicht von außen oder im Nachhinein […] an die Sozialpädagogik herangetragen werden. Vielmehr war Demokratie von Beginn an in einen Theoriestrang der Sozialpädagogik hineingewoben“ (Müller 2005, S. 21). Seite 24 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5.4 Reformulierung der Staatsbürgerdiskurse: „full citizenship“ Soziologische Rezeption: Thomas H. Marshall hat drei klassische Staatsbürgerdimensionen („full citizenship“) differenziert (vgl. [1940]1992: 40 ff.): Die bürgerliche Dimension als Gedanken-, Glaubens- und Redefreiheit (Zivil- und Freiheitsrechte), die politischsoziologischen Formen als „Teilhabe am Gebrauch politischer Macht“ und die soziale Dimension als wohlfahrtstaatliches Absicherungsrecht. Seite 25 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 5.5 Kritik an Gerechtigkeitstheorie Ausgangspunkt Eine Orientierung am capability approach (CA) ist nicht grundlegend unproblematisch, da die Gefahr besteht, Fragen nach sozialer Ungleichheit und und Exklusionsprozessen auszuklammern: Arbeitsgesellschaftliche Wettbewerbsfragen werden (nur) teilweise kritisch rekonstruiert (vgl. Scherr 2012: 21). Problemkontext In Anschluss an Rawls Gerechtigkeitskonzept und anderen sozialwissenschaftlichen Theoriemodellen (beispielsweise Vertreter des CA: Nussbaum; Sen) wird in kritischen machttheoretischen Perspektiven „Staatsaffirmativität“ unterstellt (vgl. Dahme/ Wohlfahrt 2012). Seite 26 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 6. Postdemokratische Diskurse Gemeinsame Grundnahme postdemokratischer Ansätze: Effizienz- und Ökonomisierungsstrategien hebeln demokratiebasierte Gesellschaftsprinzipen („Volkssouveränität“) aus (Crouch 2008). Beispielhafte Thesis „postdemokratischer“ Denkansätze: Vertreter „radikaler“ postdemokratischen Theorieansätze charakterisieren mit dem Begriff der „Postdemokratie“ eine Regierungspraxis, unter dem sich eine absolute „demokratische“ Verpflichtung zum Konsens subsumiert (vgl. Mouffe 2008: 37ff. ; Marchart 2010). Die konfliktreichen Potenziale demokratischen Handelns verschwinden dieser These nach im „absoluten Konsens“, der den Anspruch auf „Streit des Volks liquidiert“ (Ranciére 2002: 111). Seite 27 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 6.1 Postdemokratie und „citizenship education“ Demokratisierung: „Die alleinige Existenz formal-demokratischer Verfahren der Beteiligung bzw. der Partizipation [sind] nicht alleine entscheidend [...], sondern zugleich die Frage nach dem Grad der Demokratisierung von Gesellschaften immer auch eine Frage nach dem Zugang zu politisch nutzbaren Machtressourcen“. (Wagner 2013: 72). Entbürgerlichungsprozesse: „Post-Demokratie zeichnet sich eben gerade durch gesellschaftlichen Verschiebungen im Zugang zu diesen Machtressourcen aus, so dass hier von einer Etablierung eines neuen Citizenship-Regimes und veränderten Dynamiken von Ver- und Entbürgerlichungsprozessen ausgegangen werden muss.“ (ebd. 2013: 72). Seite 28 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 6.2 Referenztheoretische Vorteile Analytische Vorteile: Kein vorrangig „nur“ machtanalytische Kritik im Hinblick auf soziale Praktiken, sondern Akzeptanz des „Antagonismus“ zwischen Macht- wie Herrschaftsformen und idealisierten Zielmarken demokratischer Diskurse (vgl. Mouffe 2008:37). Analytische Erweiterung auf liberalistisch demokratisch organisierte Institutionen Eine stärkere Berücksichtigung der Konfliktfelder zwischen politisch repräsentativen konsensualen Rahmungen und Demokratie und Machtprinzipen Kritische Rezeption zwischen „Entdemokratisierungsprozessen“ und „Ökonomisierung“ Spezifizierung von demokratischen, arbeitsgesellschaftlichen und pädagogischen Hegemonialisierungen. Seite 29 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 7. Theoriebasierte Beobachtungsfelder Arbeitsgesellschaftliche Analyse Konkretisierung der Rechtssphären Deprofessionalisierungstendenzen Professionalisierungsprozesse Normative Einflüsse der Wohlfahrtssysteme Basierung demokratietheoretischen Widersprüche „Aberkennung“ oder Abstufung von Integrationsprozessen Sozialpädagogische Vergewisserung demokratiebasierter Analyse Sichtbarmachen von Strategien der Wohlfahrtsproduktion Konkretisierung von Negationen oder Minderung von Rechtsgütern Befähigung zu Staatsbürgerrechten Orientierung an Rechtsansprüchen (z.B. Kommodifizierung/ Re-Kommodifizierung) Ziel: Methodisch-konzeptionelle Ausbuchstabierung einer Jugendberufshilfe als „Citizenship practices“ Seite 30 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 7.2 Ausblick: Forschungsperspektiven und -fragen a) Professionsfragen und Konzeptionalisierung Wie sind im Hinblick auf pädagogische Selbst- und Professionalisierungskonzepte Rechtsoptionen, demokratiebasierte Positionierungen handlungsrelevant oder in Konzeptstrukturen eingelassen? b) Exklusion und Negationseffekte 2. Inwieweit werden in der berufsintegrativen Förderpraxis Exklusionsstrategien über die Negation von Bürgerrechtsoptionen realisiert? 3. Wird die Strukturposition zwischen pädagogischen Handlungsprinzipien und arbeitsgesellschaftlicher Normativität des beruflichen Übergangssystems von den Akteuren wahrgenommen? 4. Welche Adressatenkonzepte haben sich im paradoxen Spannungsfeld zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialintegration manifestiert? Seite 31 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem 7.3 Ausblick: Forschungsperspektiven und -fragen c) Sozialpädagogik, Arbeitgesellschaft und Vergesellschaftungsformen 5. Welche Handlungswidersprüche lassen sich empirisch, innerhalb des konfliktreichen Scharniers zwischen Sozialpädagogik und Arbeitsgesellschaft, nachweisen? 6. Welche Zusammenhänge zwischen den Vergesellschaftungsformen an der ersten Schwelle, als Übergang zwischen den schulischen und berufspädagogischen Integrationshilfen, Sondermaßnahmen und Fördersystemen lassen sich im Hinblick auf Selbstkonzepte der Adressaten und Adressatenkonzepte der pädagogischen Akteure beobachten? 7. Welche Rolle spielen bildungsbezogene Partizipationsoptionen und Bürgerrechte als Leittheoreme des pädagogischen Diskurses unter Aspekten von Beteiligungsformen an Hilfeprozessen und Rechtsansprüchen? Seite 32 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem Diskussionsfrage: A) Wie gelingt eine bildungsbezogene Konzeptionalisierung demokratieorientierter Beteiligungsformen im doppelten Sinne: ...einerseits als kritische Befähigung und Operationalisierung von „Bürgerrechten“ im Hinblick auf Adressatengruppen? ...andererseits als Erweiterung von normativen Orientierungen? B) Welche Rolle spielen „Bürgerrechte“ als Leittheoreme des pädagogischen Diskurses unter Aspekten von Beteiligungsformen an Hilfeprozessen und Rechtsansprüchen? Seite 33 Sven Heuer: Neue Formen der Governance im berufsintegrativen Übergangssystem Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Seite 34
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