Leseprobe - Emons Verlag

Leon Sachs heißt im wahren Leben Marc Merten und studierte nach
dem Abitur in seiner Heimat Köln an der Schweizer Universität
Fribourg Medienwissenschaften. Weil ihm das nicht reichte, hängte
er nach einigen Jahren Berufserfahrung als PR‑Berater noch ein
Diplom in Theologie und Religion an der englischen Universität
Durham dran. Heute lebt und schreibt der Journalist wieder in Köln.
L E O N S AC H S
Falsche Haut
THRILLER
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei
erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind
nicht gewollt und rein zufällig.
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emons:
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Für Vella und Leo
Bibliograf ische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliograf ie; detaillierte bibliograf ische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/madochab
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Gestaltung Innenteil: César Satz & Graf ik GmbH, Köln
Lektorat: Carlos Westerkamp
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 2016
ISBN 978-3-95451-773-2
Thriller
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Lesen&Hören, Anna Mechler, Berlin.
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Prolog
Mittwoch, 4. Juni 2014, Vallée de Vauvenargues, Frankreich
Er würde sterben. Das wusste er. Doch es war ihm egal. Seine Peini‑
ger glaubten, ihm Schmerzen zufügen zu können. Sie sagten, jeder
rede irgendwann.
Hätte Serge Clement nicht vor Schmerzen geschrien, hätte er
wohl gelacht. Wussten die denn gar nichts? Waren die so dumm?
Oder hatte der Kanzler vergessen, ihnen zu sagen, wen sie da fol‑
terten? Der alte Mann wurde offenbar nachlässig. Dabei war auch
er selbst mit seinen vierundachtzig Jahren kein Jungspund mehr.
Und auch er war nachlässig geworden. Sonst säße er jetzt nicht
nackt und gefesselt auf diesem Stuhl. Noch dazu in seinem eigenen
Haus. Hoffentlich brannten sie es nicht nieder, wenn das hier ein
Ende hatte. Schließlich sollten seine Kinder das Anwesen erben.
Clement ahnte, dass er kaum mehr wiederzuerkennen war. Sein
Gesicht hatten die beiden Hohlköpfe als Erstes malträtiert. Dann
seinen Körper. Mit Fäusten, mit Messern, mit Stromschlägen. Drei‑
mal war er bereits ohnmächtig geworden.
Aber Serge Clement hatte in seinem Leben schon ganz andere
Schmerzen ertragen. Mérignac. Drancy. Auschwitz. Das waren
wirkliche Schmerzen. Qualen, Horror, physisch, psychisch. Vor
allem psychisch. Und dann quatschten diese Idioten davon, seinen
Söhnen das Gleiche antun zu wollen, wenn er nicht redete. Als ob
das etwas ändern würde. Wenn er nicht redete, würde er sterben.
Wenn er redete, auch. Seine Söhne waren nicht in Gefahr. Sonst
hätten sie die beiden längst hergebracht.
In Gefahr war nur sein Körper. Aber der war längst hinüber. Es
war nur eine Frage der Zeit, bis sein Herz den Dienst quittierte.
Warum es noch immer schlug, war ihm ohnehin ein Rätsel.
Rätsel. Als Kind hatte er es geliebt, sie zu lösen. Auf dem Weingut
seiner Eltern hatte sein Vater ihn manchmal stundenlang durch die
unterirdischen Gänge des Weinkellers geschickt, von Quiz zu Quiz.
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Eine aufregende Schnitzeljagd in einem Labyrinth aus Fässern und
Flaschen, ein Traum für jeden kleinen französischen Jungen. Aber
das war vor dem Krieg gewesen. Nach dem großen Schock, dem
Erwachen aus dem sechs Jahre andauernden Alptraum, hatte er die
Rätsel des Lebens zu seinem Beruf gemacht. Zu seiner Passion. Zu
seinem Schicksal. Und dieses Schicksal hatte ihn hierhergeführt. In
den Keller seines eigenen Hauses. Dem Tode geweiht.
In der Gewissheit, dass sein Tod dieser Tortur ein Ende bereiten
würde, ließ er den Schmerz nicht mehr an sich heran. Er schrie, weil
sein Körper es ihm befahl. Seinen Geist aber hatte Serge Clement in
Sicherheit gebracht. Alles, was er wusste, hatte den Körper schon
vor Stunden verlassen. Und damit alle Antworten, hinter denen
seine Peiniger her waren.
Erster Teil
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Mittwoch, 4. Juni 2014, Fribourg, Schweiz
Alexander Kauffmann wich gerade noch rechtzeitig zurück. Die
Klinge verfehlte ihr Ziel nur um Millimeter. Im nächsten Augenblick
spürte er, wie die Glocke seines Degens erzitterte. Sein Gegner hatte
erneut zugestochen, und nur das Metall, das seine Hand schützte,
hatte ihn vor einem schmerzhaften Treffer bewahrt.
Alex entschied sich für den Rückzug. Ihm war klar, dass jeder
Fehler sein Ende bedeuten würde. Sein Widersacher hatte es längst
aufgegeben, ihn mit einem gezielten Stoß erledigen zu wollen. Er
schlug immer wilder um sich, wohl wissend, dass ein einziger Treffer
seines Degens, so glücklich er auch sein mochte, Alex den Garaus
machen würde.
Noch schaffte es Alex, die Angriffe abzuwehren. Sein Arm
funktionierte automatisch, die Reflexe waren eine Kombination
aus jahrelangem Training und außergewöhnlicher Auffassungsgabe.
Doch Alex wusste, dass ihm all seine Erfahrung jetzt nur noch
bedingt helfen konnte. Immer weiter drängte ihn sein Gegenüber
zurück. Alex spürte, dass die Wand hinter ihm gefährlich nahe kam.
Er musste handeln. Ansonsten war es für ihn in wenigen Sekunden
aus und vorbei.
Da erkannte er seine Chance. Die vielleicht einzige, die ihm
noch blieb. Alex blockte eine weitere Attacke seines Gegners ab
und schoss im nächsten Augenblick blitzschnell nach vorn. Der
Mann hatte keine Chance. Alex bohrte ihm die Klinge seines Degens
in die Brust. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen.
Sein Gegenüber blickte erstaunt an sich herab. Der elastische Stahl
der Klinge drückte auf seine Schutzweste und bog sich unter der
Spannung, ehe sich Alex aus dem Ausfallschritt löste, zurücktrat
und die Waffe zum Gruß hob.
Gemeinsam verließen sie die Planche, streiften ihre Masken ab,
warfen die Waffen achtlos auf ihre Sporttaschen und ließen sich
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auf eine Bank fallen. Mit dem Rücken an die Wand der Sporthalle
gelehnt, beobachtete Alex das Treiben auf den anderen Bahnen. Vier
weitere Paare duellierten sich. Andere Fechter machten Pause. Alles
Studenten der Universität Fribourg und alle, wusste Alex, nicht älter
als Mitte zwanzig. Alle außer ihm selbst.
Eigentlich gehörte er hier längst nicht mehr hin. Nicht nur wegen
seiner mittlerweile sechsunddreißig Jahre. Sondern auch, weil einige
der Studenten hier im Raum in seinen Vorlesungen saßen. So wie
der junge Miguel, dem er gerade eine Lehrstunde erteilt hatte.
Im Prinzip hielt Alex wenig davon, wenn sich Professoren unter
Studenten mischten. Manche erklärten, sie wollten ein Gespür für
das Leben der nächsten Generation bekommen. Alex hielt das für
Augenwischerei. Er wusste genau, dass sich die jungen Leute in
seiner Gegenwart anders verhielten, als wenn er nicht in ihrer Nähe
war. Andere Kollegen sagten offen, sie würden sich jünger fühlen,
noch einmal wie Studenten, wenn sie sich abends mit jenen trafen,
die tagsüber noch in den Hörsälen gesessen und über ihren Professor
gelästert hatten. »Eine lockerere Atmosphäre als bei Sprechstun‑
den«, schwärmten sie dann und vergaßen in Alex’ Augen völlig, wie
wichtig es war, Distanz zu wahren.
Dass er diese Distanz selbst verletzte, indem er jede Woche zum
Fechttraining der Studenten ging, war einzig und allein seinem
sportlichen Ehrgeiz geschuldet. Er wollte sich beweisen, sich mit
Jüngeren messen, sich zeigen, dass er noch nicht zum alten Eisen
gehörte. Wenn jemand versuchte, ihn während des Trainings in
private Gespräche zu verwickeln, blockte er ab. Er war hier, um zu
trainieren. Nicht mehr und nicht weniger. Hier konnte er sich mit
den Besten der Universität messen und steckte die meisten doch
noch immer in die Tasche.
Abgesehen davon war Fechten für ihn nicht irgendein Sport.
Es lehrte ihn, geduldig zu sein, zu beobachten, sein Gegenüber zu
analysieren, wie beim Schach den nächsten Zug vorherzusehen
und, noch während der Gegner glaubte, ihn mit einem Angriff zu
überraschen, mit der passenden Antwort zu kontern. So, wie er es
mit Miguel gemacht hatte.
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»Haben Sie schon einen Blick hineinwerfen können?«
Alex brauchte einen Moment, bis er verstand. Er wandte sich zu
Miguel um, der ihn erwartungsvoll ansah. Der Geschichtsstudent
war im zweiten Semester und hatte bei Alex gerade erst seine Prü‑
fung in »Europas Kriege des 20. Jahrhunderts« abgelegt.
»Sie wissen, dass ich darauf nicht antworten werde. Und wenn
Sie nicht wollen, dass ich mir Ihre Arbeit ganz besonders genau
ansehe, fragen Sie besser nicht noch einmal nach.«
Alex setzte ein Lächeln auf, das so herzlich war wie der morbide
Charme der Turnhalle. Es erfüllte seinen Zweck. Er wollte weder
auf Kumpel machen noch Freunde gewinnen. Er wollte sich we‑
der angeregt unterhalten noch über Belangloses plaudern. Warum
konnten zwei Menschen nicht einfach mal schweigend für ein paar
Minuten nebeneinander auf einer Bank hocken, ohne dass einer der
beiden zwanghaft versuchte, ein Gespräch zu eröffnen? Und warum
glaubten diese Jungs, dass sich das Verhältnis zwischen Lehrer und
Schüler änderte, sobald man sich einmal auf der Planche begegnet
war?
Alex betrachtete Miguel. Der Schweiß lief ihm aus den schwarzen
Haaren in sein sonnengebräuntes Gesicht. Ein Tropfen blieb an
einem Augenbrauenpiercing hängen, dessen Sinn Alex bis heute
verschlossen geblieben war. Eher war er versucht, einen Haken an
solchen Dingern zu befestigen, als den Reiz eines Stücks Metall im
Gesicht verstehen zu wollen. Miguel rutschte unsicher auf der Bank
hin und her und schien nach einer geeigneten Antwort zu suchen.
Das Klingeln eines Handys erlöste den Jungen von dieser aus‑
sichtslosen Aufgabe. Alex griff in seine Sporttasche und f ingerte sein
Smartphone hervor. Er sah auf das Display. Das Bild einer jungen
Frau leuchtete auf. Eine Frau, die eigentlich nur auf seinem Handy
anrief, wenn es unausweichlich und dringend war. Eine Frau, die
er viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Eine Frau, die ihm so
nahestand wie niemand sonst.
»Wer ist Natalie Villeneuve?«, fragte Miguel neben ihm, der
offenbar auf das Display geschaut und den Namen der Anruferin
gelesen hatte.
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Alex fuhr herum und warf seinem Studenten einen verärgerten
Blick zu. Miguel erkannte seinen Fehler, murmelte eine Entschul‑
digung und flüchtete mit seiner Tasche in die Umkleide.
Alex nahm ab.
»Natalie, was für eine schöne –«
»Alex«, unterbrach ihn die vertraute Stimme. Doch ihr Tonfall
gef iel ihm überhaupt nicht. Sein Gefühl trog ihn nicht. »Papa ist
tot.«
Alex’ Verstand schaltete augenblicklich auf Autopilot. Er funkti‑
onierte automatisch und präzise, ohne dass er darüber nachdenken
musste, was er tat. Er blieb ruhig, hörte ihr zu. Gleichzeitig raffte er
seine Sachen zusammen und eilte aus der Turnhalle. Er spürte, wie
ihn die Blicke der Studenten auf dem Weg nach draußen verfolgten.
Er ignorierte sie und entschied doch gleichzeitig, nicht mehr hier‑
herzukommen. Er würde sich einen anderen Fechtclub suchen. Aber
erst, wenn das hier durchgestanden war. Es gab einen Menschen,
der ihn jetzt dringend brauchte.
Alex Kauffmann stieg in den nächsten Bus und stand fünf Minu‑
ten später vor seiner Haustür in der Rue de Lausanne. Er sah auf die
Uhr. Es war schon kurz nach zehn, die Luft aber noch sommerlich
warm. Alex sog sie tief ein, ehe er aufschloss.
Im Flur stieß er mit einer Nachbarin zusammen. Es war eine
seiner Studentinnen, allerdings ausgerechnet eine derjenigen, die ihn
tagein, tagaus anhimmelten. Sie begrüßte ihn überschwänglich, Alex
hingegen presste nur ein steifes »Bonsoir!« hervor und hastete zum
Aufzug. Weder hatte er Lust auf eine Unterhaltung mit seiner wohl
am wenigsten mit Intelligenz gesegneten Schülerin, noch konnte er
seit Natalies Anruf an irgendetwas anderes denken.
Er betrat seine Wohnung, ließ seine Sporttasche auf den Boden
fallen, durchquerte den Flur und ging schnurstracks in die Küche.
Sie war mit allen möglichen Geräten ausgestattet, mit Hilfe deren
Alex stundenlang zugange sein und Menüs zubereiten konnte, von
denen einige Prof iköche, gerade die einfallslosen Schweizer, noch
etwas lernen konnten. Heute Abend hatte er aber weder Zeit noch
Muße, zu kochen. Nach dem Gespräch mit Natalie brauchte er
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etwas anderes. Er öffnete eine Schranktür und entnahm einem Wein‑
kühlschrank eine Flasche Château la Canorgue. Daneben lag ein
Schuhkarton, aus dem er eine angebrochene Tafel Salzschokolade
f ingerte. Beides brachte er ins Wohnzimmer, dekantierte den Wein
und ging ins Badezimmer.
Fünf Minuten später stand er mit einem Handtuch um die Hüften
vor dem Badezimmerspiegel. Das eiskalte Wasser hatte gutgetan.
Mit einer Hand strich er sich seine noch nassen, dunkelbraunen und
für einen Professor wohl etwas zu langen Haare zurück. Die Stirn
war in den letzten Jahren ein bisschen höher geworden. Das fand er
nicht weiter schlimm, da seine markanten Wangenknochen dadurch
weniger hervortraten. Seine Nase war lang und gerade, seine Lippen
schmal. Die Mundwinkel, seine schwarzbraunen Augen und die
dunklen, glatten Brauen bildeten einen meist skeptisch-fragenden
Gesichtsausdruck. Neuerdings trug er einen Dreitagebart, wusste
aber noch nicht so recht, ob er ihm stand.
Natalie hatte ihn stets wegen seiner Eitelkeit aufgezogen. Auch
jetzt würde sie ihn wohl auslachen, wenn er ihr erzählte, dass er
in den letzten Wochen zwei Kilo zugenommen hatte. Seine eins
fünfundachtzig mochten weiterhin in einem adäquaten Zustand
sein. Wegen der zwei zusätzlichen Kilo kam er mittlerweile aber
gefährlich nahe an die achtzig Kilo heran.
Nein, schalt er sich, Natalie würde gerade wohl kaum zum La‑
chen zumute sein.
Im Schlafzimmer zog er sich einen Pyjama an und ließ sich an‑
schließend auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Er goss sich ein Glas
Rotwein ein, nahm einen großen Schluck und griff zur Schokolade.
Die Tafel würde den Abend nicht überleben.
Er sackte tiefer in die Kissen.
Überleben.
Das war lange Zeit das einzige Ziel der Villeneuves gewesen. Das
von Natalie. Und das ihrer Eltern. Oder besser gesagt ihrer Adop‑
tiveltern. Régis und Suzanne, ein typisches altes jüdisches Ehepaar
mit der typisch tragischen Vergangenheit, die sie mit vielen anderen
Juden teilten.
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Überleben.
Das hatten sie geschafft.
Bis letzte Nacht.
»Papa ist tot.«
Natalies Worte kreisten in seinen Gedanken. Régis sei vor ein paar
Tagen krank geworden. Ein Magen-Darm-Infekt, nichts Schlimmes.
Eigentlich. Doch Régis war ja schon über neunzig gewesen. Je älter,
desto gefährlicher.
Am Morgen war er nicht mehr aufgewacht. Friedlich eingeschla‑
fen. So, wie man es einem Menschen eigentlich wünschte. Nur eben
nicht jenen, die man nicht gehen lassen wollte.
Natalie hatte Alex gebeten, zur Beerdigung nach Paris zu kom‑
men. Ihr Onkel Christophe würde seine Kosten übernehmen. Die
Familie brauche ihn.
Natalies Worte wären nicht nötig gewesen. Auch Christophes
Angebot nicht. In dem Moment, als sie ihm die traurige Nachricht
überbracht hatte, hatte Alex mit den Planungen für die Reise be‑
gonnen. Bevor er morgen früh den ersten Zug in die französische
Hauptstadt nehmen würde, um mittags an der Gare de Lyon ein‑
zutreffen, musste er nur noch ein paar Sachen erledigen. Wenn er
sich denn vom Wein und der Schokolade losreißen konnte.
Er trank einen weiteren Schluck.
Natalie und ihn verband mehr als nur eine lebenslange Freund‑
schaft. Sie hatten dieselbe Heimat. Sie waren gemeinsam aufge‑
wachsen. Doch nicht irgendwo. Am selben Ort, den sie beide nicht
vergessen konnten. Sie verband das gleiche Schicksal.
Sie waren beide Waisen.
Aufgewachsen in einem Heim in Haguenau nahe der deutschfranzösischen Grenze.
Und sie waren beide Juden.
Alex’ Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Er war nicht einmal ein Jahr alt gewesen. Zwei Jahre später war
Natalie eines frühen Morgens vor die Tür des Waisenhauses gelegt
worden, in dem er aufgezogen wurde. Vermutlich von ihrer Mutter.
Alex und Natalie hatten ihre Kindheit miteinander verbracht.
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Sie waren zu Geschwistern geworden. Bis sie adoptiert worden
waren. Erst Natalie von einem Ehepaar aus Paris. Dann Alex, der
mit seinen Adoptiveltern zunächst nach Lyon und zwei Jahre später
nach Fribourg gegangen war.
Und jetzt war Natalies Adoptivvater tot. Régis Villeneuve,
der zusammen mit seiner Frau Suzanne Natalie kurz vor ihrem
zehnten Geburtstag zu sich genommen hatte. Die Eheleute hätten
vom Alter her zwar schon Natalies Großeltern sein können, aber
die Behörden hatten seinem Antrag stattgegeben. Wohl auch, weil
in Frankreich zwar so viele Juden lebten wie in keinem anderen
europäischen Land, aber doch nicht genug, um all die Kinder aus
jüdischen Waisen­häusern zu adoptieren.
Régis und Suzanne waren ein Segen für Natalie gewesen. Alex
hatte sie oft in Paris besucht. Auch, nachdem er in die Schweiz
gezogen war. Wie glücklich die Kleine geworden war!
Alex und Régis hatten sich gut verstanden. Gerade in den letzten
Jahren, in denen Alex sein Studium abgeschlossen, seine Doktor‑
arbeit geschrieben und schließlich in Rekordzeit habilitiert hatte,
hatten sie bei seinen Besuchen abends häuf ig noch zusammenge‑
sessen. Régis hatte Alex bei diesen Gelegenheiten erklärt, wie sich
Frankreich durch den Zweiten Weltkrieg verändert hatte. Er, der
alles hautnah miterlebt hatte: als Jude aus Bordeaux, als Soldat im
Krieg, als Flüchtling in England, als Mitglied der Résistance, für die
er nach Frankreich zurückgekehrt war. Régis hatte sogar erzählt,
wie er und ein guter Freund 1944 gefangen genommen und er ins
Konzentrationslager Auschwitz deportiert worden war. Und wie
er ausgerechnet an diesem schrecklichen Ort Suzanne kennenge‑
lernt hatte. Suzanne, eine polnische Jüdin, die nach dem Überfall
der Nazis auf ihr Heimatland erst im Krakauer Ghetto, dann im
Arbeitslager Plaszow und schließlich in Auschwitz gelandet war.
So wie die Juden in Hollywoods »Schindlers Liste«.
»Ich stand nur nicht auf der Liste«, hatte Suzanne eines Abends
zu Alex gesagt. Sie hatte den Film sogar im Kino gesehen, weil sie
wissen wollte, wie man das Unvorstellbare verf ilmt hatte.
Régis und Suzanne hatten es geschafft, zu überleben: den Horror
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des Vernichtungslagers, die wochenlange Flucht durch die letzten
Schlachtfelder in Richtung Westen. Régis hatte mit Suzanne eigent‑
lich nach Bordeaux gehen wollen. In Paris waren sie nur vorüberge‑
hend gestrandet, weil ein Bekannter ihnen eine Wohnung organisiert
hatte. Die, in der sie bis heute geblieben waren.
Und jetzt war Régis tot.
Als Alex erneut zur Schokolade griff, merkte er, dass die Schachtel
leer war. Er lehnte sich wieder zurück und ließ seine Augen durch
das Zimmer wandern. Die Dachwohnung war sein Schmuckstück,
sein Zufluchtsort, wenn er der Menschheit entkommen wollte, wenn
er nachdenken musste oder einfach seine Ruhe brauchte. So wie
jetzt. Dann blickte er aus dem Giebelfenster neben dem Sofa auf
die Kathedrale Saint Nicolas.
Fribourgs Wahrzeichen! In der Kleinstadt in der französischen
Schweiz mit ihren knapp vierzigtausend Einwohnern lebte er nun
schon seit über zwanzig Jahren. Hier fühlte er sich wohl. Fribourg
war zu dem geworden, was er sich als Kind immer gewünscht hatte:
ein Zuhause.
Seine Heimat konnte man sich nicht aussuchen. Sein Zuhause
hingegen schon.
Das war auch der Grund, weshalb Alex keine Kosten und Mü‑
hen gescheut hatte, das Appartement einzurichten. Vom Ledersofa
über ein großes Bücherregal und einen alten, zu einer Kommode
umgebauten Schrankkoffer bis hin zu einem antiken Sekretär – Alex
hatte sich in kleinen Geschäften mit seltenen Möbeln eingedeckt.
Das Wichtigste waren ihm aber seine Bücher. Nachschlagewerke,
Biograf ien, unzählige dicke Wälzer zu Europas Geschichte, dazu
Reiseführer und kulinarische Ratgeber, Bücher zu Genealogie und
nationalsozialistischer Rassenkunde. Einzig Romane fanden darin
keinen Platz. Der Welt der Fiktion konnte Alex nichts abgewinnen.
Die Realität gab ihm genug Rätsel auf.
Die Realität.
Alex erhob sich mit einem Ruck und ging ins Schlafzimmer. Er
hasste es, für Beerdigungen zu packen. Erst vor Kurzem war ein
Studienfreund von ihm an Krebs gestorben. Alex war zur Beerdi‑
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gung an den Zürichsee gereist. Nun hielt er den schwarzen Anzug
in den Händen, den er eigens für diese letzte Begegnung auf einem
Friedhof gekauft hatte.
Er suchte alles zusammen, was er für Paris brauchte. Dann trat
er an den Sekretär und entnahm einem der diversen Geheimfächer
einen Umschlag. Er enthielt einige hundert Euro, eine französische
SIM-Karte, die er bei seinen regelmäßigen Reisen nach Frankreich
nutzte, sowie eine aufladbare Fahrkarte für die Pariser Metro. Aus
einem zweiten Fach holte er sein Ersatzhandy, das er mit der SIMKarte bestückte.
Dann öffnete er ein drittes Fach. Vorsichtig faltete er das sich
darin bef indliche Papier auseinander. Es war das Dokument seines
Lebens: seine Adoptionsurkunde, sein Fahrschein in die Freiheit,
in das Leben, das er nun führen durfte. Er betrachtete sie einen
Moment, verstaute sie dann aber wieder, schnappte sich sein Tablet
und setzte sich.
Da das Semester vorbei war, musste er sich um Verpflichtungen
den Studierenden gegenüber keine Gedanken machen. Er ging seine
Termine für die kommenden Tage durch, schrieb diverse knappe
Mails und sagte einige Verabredungen ohne große Erklärung ab.
Auch seinen Chef am Departement, Professor Hugo von Arx, ließ er
wissen, dass er einige Tage nicht in Fribourg sein werde. Schließlich
rief er seine Adoptiveltern an und teilte ihnen mit, dass und weshalb
er verreisen werde.
Als er auflegte, verspürte er ein seltsames Gefühl. Er fühlte mit
Natalie, mit Suzanne und Christophe. Régis’ Tod ging auch ihm
nahe. Doch er musste zugeben, dass er schon länger mit Natalies
Anruf gerechnet hatte. In den letzten Jahren war es nicht zu über‑
sehen gewesen, dass Régis älter geworden war. So ausgezeichnet
sein Geist noch funktioniert hatte, so eindeutig waren die Signale
gewesen, die sein Körper gesendet hatte. Bei Alex’ letztem Besuch
hatte Régis das Thema sogar selbst angesprochen. Sie hatten zu zweit
in der Bibliothek der Wohnung gesessen.
»Du wirst für Natalie da sein müssen«, waren seine ersten Worte
gewesen.
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Alex hatte Régis versprechen müssen, Natalie zu unterstützen
und ihr zu helfen, mit allem fertigzuwerden, was komme, sollte
Régis einmal nicht mehr da sein. Alex hatte die Ernsthaftigkeit seiner
Sätze sofort registriert. Das waren keine Worte, die in die ferne
Zukunft gerichtet waren. Régis spürte es. Er hatte ihn gebeten, sich
Natalies anzunehmen. Onkel Christophe würde Suzanne auffangen
und seiner Schwester helfen.
»Aber Natalie wird dich brauchen, Alex. In jeder Hinsicht.«
Die Worte hallten in seiner Erinnerung nach. Alex ging in die
Küche. Er benötigte mehr Schokolade.
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Donnerstag, 5. Juni 2014, Paris, Frankreich
Sie blickte zum Uhrenturm des alten Bahnhofsgebäudes hinauf.
Es war kurz nach zwölf. Alex’ Zug würde in wenigen Minuten
einlaufen. Bei dem Gedanken, ihm gegenüberzustehen, lief ihr ein
Schauer über den Rücken. Sie ballte die Fäuste und kämpfte gegen
die aufsteigenden Tränen an.
Natalie Villeneuve ging durch die Eingangshalle, fand das rich‑
tige Gleis und lehnte sich an eine Säule unweit des Ausgangs, den
Alex passieren musste, wenn er den Bahnsteig des Kopfbahnhofs
verlassen wollte.
Sie war erschöpft. Sie fühlte sich leer. War ihr Vater wirklich tot?
Der Mann, der ihr gezeigt hatte, was es hieß, eine Familie zu haben.
Als sie aus dem Heim gekommen war und von Alex getrennt ein
neues Leben beginnen sollte, hatte sie imaginäre Mauern um sich
errichtet. Doch Régis und Suzanne hatten sie mühelos eingerissen.
Wie sie das geschafft hatten, war ihr bis heute schleierhaft. Aber
ihre Eltern, sie nannte sie niemals Adoptiveltern, hatten aus ihr
einen neuen Menschen gemacht, ihr die Ängste genommen, ihr ein
neues Leben geschenkt. Régis, Suzanne und Alex: Sie drei waren
die wichtigsten Menschen in ihrem Leben gewesen.
Doch nun war nichts mehr, wie es einmal war. Régis’ Tod änderte
alles. Für sie. Für Suzanne. Auch für Alex? Wie würde er reagieren?
Er war wahrlich kein Mensch, der gut mit Emotionen umgehen
konnte.
Sie musste schmunzeln. Einmal, als sie ihn in Fribourg besucht
hatte, hatte eine Studentin ihn in einer Bar nach seiner Nummer ge‑
fragt. Natalie hatte losgeprustet, als sie sein verständnisloses Gesicht
gesehen hatte. Er hatte etwas gestottert, eine Visitenkarte aus seinem
Sakko genommen und erklärt, er habe dienstags Sprechstunde, falls
sie Fragen zu ihrem Studium habe. Menschen, Emotionen, Gefühle,
Frauen – das war nicht seine Welt.
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Ihr aber würde er helfen können. Egal, was er sagte oder nicht,
seine Anwesenheit allein würde sie beruhigen. Sie hasste es, die
Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. Doch vor Alex war ihr
das egal. Niemandem vertraute sie so sehr wie ihm. Er hatte sie in
jedem erdenklichen Moment ihres Lebens gesehen. Na ja, in fast
jedem.
Sie nahm ihre Sonnenbrille aus ihrer schwarzen Mähne, schüttelte
die Haare und steckte die Brille wieder auf. Aber sie wusste, es
würde nur wenige Minuten dauern, ehe sich ihre Locken wieder
den Weg in die Freiheit bahnten.
Draußen war es sommerlich warm, doch der Wind in der Ein‑
gangshalle war angenehm kühl. Zu ihren dunkelblauen Shorts trug
sie Ledersandalen und ein weites weißes Leinenhemd, dessen Ärmel
sie bis zu den Ellenbogen hochgeschlagen hatte. Sie merkte, wie sich
die feinen Härchen auf ihrer bronzefarbenen Haut aufrichteten.
Mit einer Hand griff sie nach ihrer goldenen Halskette, die sie be‑
saß, solange sie denken konnte, und wickelte sie immer und immer
wieder um ihre Finger.
Dann endlich fuhr der Zug ein. Dutzende Passagiere strömten auf
den Bahnsteig, die meisten in Eile, keinen Blick für den Ort, an dem
sie angekommen waren. Natalie entdeckte nur einen Reisenden, der
sich nach dem Aussteigen einen Moment gönnte, um zum gläsernen
Dach des Bahnhofs hinaufzusehen, einer imposanten Konstruktion
aus Glas, Stahl und Holz. Eigentlich war es eine Schande, dachte
Natalie. Den Eiffelturm bewunderte jeder Idiot, ohne genau zu wis‑
sen, wofür. Die Gare de Lyon sahen jeden Tag noch mehr Menschen.
Doch niemand schenkte diesem architektonischen Meisterwerk
Beachtung.
Außer Alex. Natalie beobachtete ihn mit einer Mischung aus
Belustigung und Bewunderung. Dieser Typ konnte sich in den bi‑
zarrsten Momenten für Dinge begeistern, die ihr als Letztes in den
Sinn kommen würden. Da stand er nun und glotzte die Decke an,
während andere Leute sich an ihm vorbeidrängelten. Es bedurfte
eines rüden Remplers, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Na‑
talie sah, wie Alex dem Fremden, der ihn in seiner Ruhe gestört
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hatte, irritiert hinterherblickte, ehe er sich zu besinnen schien, wo
er war – und vor allem, warum. Er raffte seine Umhängetasche an
sich und setzte sich mit seinem Rollkoffer in Bewegung.
Er trug eine beigefarbene Leinenhose, ein dunkelblaues Poloshirt
und seinen braunen Lieblingsblazer. Natalie wusste, dass er ohne ihn
praktisch nie auf Reisen ging. Und er schien sich einige Tage nicht
rasiert zu haben. Dieser leichte Hang zum Rebellen. Ausgerechnet
Alex, der überkorrekte Spießer. Für diese Kleinigkeiten liebte sie
ihn.
Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Blicke. Sie löste sich von
der Säule, tat ein paar Schritte, bis sich ihre Beine verselbstständigten
und sie auf ihn losstürmte. Sie warf sich ihm in die Arme und war
froh, dass er es hatte kommen sehen und sie auff ing. Er hielt sie
fest, sie schloss die Augen und fühlte sich das erste Mal seit dem
schrecklichsten Moment ihres Lebens wieder sicher und geborgen.
Nach einer kleinen Ewigkeit löste sie sich von ihm. Sie sahen sich
lange an. Er musterte sie. Wahrscheinlich sah er, dass ihre A
­ ugen
gerötet waren. Kaum dachte sie an die vielen Tränen, die sie zuletzt
vergossen hatte, füllten sich ihre Augen erneut. Eine Träne löste sich
und rollte über ihre Wange hinab. Mit einer unwirschen Handbe‑
wegung wischte sie sie weg, ganz so, als ob sie damit ihre Trauer
wegwischen könnte.
»Danke«, brachte sie mit unsicherer Stimme hervor.
»Natalie, ich –«, begann Alex.
Doch sie unterbrach ihn. »Lass uns in dein Hotel fahren!«
Sie drehte sich um und zog ihn an der Hand hinter sich her in
Richtung Ausgang.
Auf der Straße wurden sie von einem Mann südländischer Her‑
kunft mit Anzug, Vollbart und dunkler Sonnenbrille angesprochen.
Natalie ignorierte ihn. Er gehörte zu der Horde zwielichtiger Ge‑
stalten, die überall an den großen Bahnhöfen zu f inden waren und
ihnen eine nicht ganz billige Fahrt in einem nicht ganz legalen Taxi
anbieten wollten. Wer sich darauf einließ, war schnell fünfzig Euro
los für eine Fahrt, die in einem regulären Taxi keine fünfzehn Euro
und mit der Metro zwei Euro vierzig gekostet hätte. Natalie führte
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Alex daher schnell zu den richtigen Taxis. Sie verfrachteten sein
Gepäck in den Kofferraum eines silbernen Peugeot und kletterten
auf die Rückbank. Natalie nannte dem Fahrer die Adresse.
Sobald sie sich im Rücksitz des Wagens zurücklehnte, spürte
sie, wie alle Anspannung von ihr abf iel. Als das Taxi seine Fahrt
aufnahm, schnallte sie sich ab, lehnte sich zu Alex hinüber und legte
ihren Kopf in seinen Schoß. Sie begann leise zu schluchzen. Da
spürte sie, wie Alex eine Hand auf ihre Schulter legte. Die andere
tauchte einen Augenblick später vor ihrem Gesicht auf. Er hatte
ein frisches Stofftaschentuch hervorgeholt und reichte es ihr. Sie
nahm es dankbar an, blieb aber liegen. Erst, als das Taxi endgültig
zum Stehen gekommen war und der Fahrer sich zu ihnen umdrehte,
richtete sie sich wieder auf.
»Dein Onkel hat es wirklich ernst gemeint mit der Kostenüber‑
nahme für meinen Aufenthalt, wie?«
Natalie blickte Alex verständnislos an. Dann sah sie nach draußen.
Sie hatten direkt vor dem Hotel Luxembourg Parc gehalten, einem
kleinen, exquisiten Haus, das seinen Namen der unmittelbaren Lage
am Jardin du Luxembourg verdankte. Hier hatte Suzannes Bruder
ein Zimmer für Alex reserviert.
»Du kennst Christophe«, entgegnete sie mit einem schwachen
Lächeln. »Bescheidenheit ist nicht seins.«
Natalie erledigte die Formalitäten an der Rezeption und führte
Alex auf sein Zimmer.
»Wir beide wussten, dass dieser Tag kommen würde«, sagte Nata‑
lie schließlich, als Alex seinen Koffer abgestellt hatte. Sie versuchte,
so ruhig wie möglich zu sprechen. »Aber ich habe immer gebetet,
dass es noch ein wenig dauern möge.«
»War er denn schon länger krank?«
»Er hat vor ein paar Tagen über Übelkeit geklagt. Vor zwei Tagen
hat er angefangen, sich ständig zu übergeben. Das hat ihn ziemlich
geschwächt. Gestern Abend wollte er sich hinlegen und ausruhen.
Er ist nicht wieder aufgewacht.«
»Dr. Forêt konnte ihm nicht helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Jean-Daniel hat alles versucht. Er hat
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sogar seine Praxis für einen Tag geschlossen und die letzte Nacht
bei uns geschlafen.«
»Und Régis wollte nicht ins Krankenhaus?«
»Er dachte, es sei nur ein Infekt und dass es schnell vorübergehen
werde. Er war zu stolz, um sich von jemand anderem als Jean-Daniel
behandeln zu lassen.«
»Lass mich raten: weil Forêt Jude ist.«
Natalie zuckte mit den Schultern.
»Und wie geht’s Suzanne?«
»Wir fahren am besten gleich zu ihr. Sie rennt den ganzen Morgen
durch die Wohnung und wühlt in papas Papieren herum. Sie will,
dass die Beerdigung genau so wird, wie er es sich gewünscht hätte.«
»Und sie hofft, noch einen letzten Wunsch von ihm zu f inden?«
Natalie nickte. »Genau. Aber die Gemeinde hat schon alles Orga­
nisatorische übernommen.«
»Die Chewra Kadischa?«
Sie nickte erneut. Die Chewra Kadischa war die »Heilige Bruder‑
schaft« einer jeden jüdischen Gemeinde, die sich bei einem Todesfall
um all die kleinen religiösen Spitzf indigkeiten kümmerte, die vom
Moment des Todes an zu beachten waren: Gebete sprechen, Kerzen
am Totenbett anzünden, den Leichnam bedecken. Weil alles in kur‑
zer Zeit geschehen musste, brachte die Chewra Kadischa den Toten
zum Friedhof, um ihn dort rituell zu waschen und ihm das weiße
Totengewand sowie seinen Tallit, den Gebetsschal, anzulegen. Bis
zum Moment der Beerdigung musste sich eine Familie um nichts
mehr kümmern.
»Suzanne will trotzdem auf alles ein Auge haben?«
Natalie verzog das Gesicht. »Du weißt, wie sie ist. Aber mir
ist es ganz lieb, so ist sie beschäftigt. Ich habe nur Angst vor dem
Moment, in dem sie sich in ihren Sessel setzt und zur Ruhe kommt.
Dann wird sie an ihrer Trauer zerbrechen, wenn Christophe sie
nicht auffängt.«
Sie sah Alex an und wusste, woran er dachte. Für ihre Mutter
mussten sich die letzten vierundzwanzig Stunden wie ein neuer Alp‑
traum anfühlen. Sie war sich nicht sicher, ob sich Suzanne wirklich
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an ihre Zeit im KZ zurückerinnerte. Doch sie hatte schon mehrere
Bemerkungen darüber gemacht, wie sie damals von Auschwitz nach
Paris gekommen waren. Sie hatte geglaubt, ihre gesamte Familie
verloren zu haben. Ihre Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und sechs
Geschwister. Laut Yad Vashem, dem Archiv der Hinterbliebenen
des Holocaust, war sie die einzige Überlebende ihrer polnischen
Großfamilie gewesen. Dass Régis und sie sich lieben gelernt hatten,
hatte sie beide gerettet. Jahrzehntelang war er der einzige familiäre
Halt gewesen. Bis Christophe vor vierzehn Jahren aufgetaucht
war. Seine und Suzannes Mutter war, ohne es zu wissen, schwanger
ins KZ gekommen und hatte Christophe dort geboren. Wie durch
ein Wunder hatte der Säugling überlebt und war von einer gutmü‑
tigen Krankenpflegerin aus dem Lager geschmuggelt worden. Es
dauerte fast sechs Jahrzehnte, ehe Christophe Suzanne ausf indig
gemacht hatte.
Das erste Treffen war bizarr gewesen. Zuvor hatte Christophe
vorsichtig über die Gemeinde Kontakt zu Régis aufgenommen
und ihn eingeweiht. Dann hatten sie heimlich von Dr. Forêt einen
Verwandtschaftstest durchführen lassen, um sicherzugehen, dass
Christophe und Suzanne tatsächlich verwandt waren. Und dann
hatte es die erste Begegnung gegeben.
Alex und Natalie waren dabei gewesen, sie hatte nach seiner Hand
gegriffen, als Christophe Suzanne erklärte, wer er war. Sie sah ihre
Mutter noch immer vor sich. Fassungslos hatte sie dagestanden und
ihren Bruder minutenlang angestarrt.
Dann war sie Christophe um den Hals gefallen.
Natalie fragte sich, ob Christophe auch dieses Mal stark genug
sein würde, Suzanne aufzufangen.
Alex schien den Moment der Stille zu nutzen, um sich umzuse‑
hen. Natalie folgte seinem Blick. Sie musste sich eingestehen, dass
es eines der stilvollsten Hotelzimmer war, die sie je gesehen hatte.
Auch Alex schien überrascht und angetan. Doch sosehr sie sich für
ihn freute, dass er Christophes Großzügigkeit zu schätzen wusste,
spürte sie Unruhe in sich aufsteigen. Natalie wollte wieder zu ihrer
Mutter. Also beschlossen sie, sofort aufzubrechen. Alex ließ den
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Koffer ungeöffnet vor dem Bett stehen, erfrischte sich nur kurz im
Bad und schnappte sich seine Umhängetasche.
Gemeinsam verließen sie das Hotel. Auf Taxi oder Metro konnten
sie nun verzichten, die Villeneuves wohnten in unmittelbarer Nähe.
Alex und Natalie liefen über die Rue de Vaugirard, Paris’ längste
Straße, in südwestlicher Richtung, bogen in die Rue d’Assas und
dann rechts in die Rue du Cherche-Midi ein. Nach wenigen Metern
tauchte links ein großes hölzernes Eingangstor auf, an dessen Tür
ein schwerer metallener Griff hing. Die Fassade erstrahlte in frisch
aufgetragenem Weiß und hatte die für Paris typischen Holzfenster‑
läden in dunklem Blau. Wie bei so vielen französischen Stadthäusern
war der Eingang des Mehrfamilienhauses modernisiert und durch
einen vierstelligen Code gesichert worden.
Natalie tippte die vier Ziffern ein. 1-9-4-5. Das Jahr, in dem die
Leiden für ihre Eltern ein Ende genommen und sie in diesem Haus
ein Dach über dem Kopf gefunden hatten. Doch gestern hatte hier
das Leben ihres Vaters ein Ende gefunden.
1-9-4-5. Den Code kannte er bereits. Der Mann hinter dem Steuer
der Limousine, die er in einiger Entfernung auf der anderen Stra‑
ßenseite geparkt hatte, senkte sein Fernglas. Er kletterte auf die
Rückbank und tauschte seinen Anzug gegen etwas Bequemeres.
Er nahm sich den falschen Bart ab, wischte sich mit einem Tuch die
Tönung aus dem Gesicht und legte die Utensilien zusammen mit der
dunklen Sonnenbrille in einen kleinen Koffer. Er hatte gewusst, dass
sich Natalie und der Professor am Bahnhof ein richtiges Taxi aussu‑
chen und nicht bei ihm einsteigen würden. Doch im Gedränge hatte
er trotzdem sein Ziel erreicht und etwas Wertvolles in Kauffmanns
Sakko unterbringen können. Die Wanze sendete ein klares Signal.
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Donnerstag, 5. Juni 2014, Paris, Frankreich
Das Haus gehörte den Villeneuves schon seit über fünfzig Jahren.
Erst hatten sie in einer kleinen Wohnung unter dem Dach Unter­
schlupf gefunden. Kurze Zeit später waren sie in den zweiten Stock
gezogen. Und Ende der fünfziger Jahre hatten sie das Haus schließ‑
lich gekauft.
Noch bevor sie vor der Wohnungstür in der zweiten Etage an‑
gekommen waren, stieg Alex der süße Duft frischen Gebäcks in
die Nase. Suzanne war nicht nur eine großartige Köchin, an ihr
war auch eine echte Patissière verloren gegangen. Und trotz aller
Trauer um ihren verstorbenen Mann hatte sie offenbar gebacken.
Augenblicklich f iel Alex das Loch in seinem Magen auf. Seit dem
Riegel im Zug hatte er nichts mehr gegessen. Er hoffte, dass sich das
gleich ändern würde. Doch seine Hoffnung zerplatzte, als Natalie
die Tür aufschloss.
Eine aufgeregte Frauenstimme drang an seine Ohren. Eine zweite,
männliche Stimme versuchte zu beschwichtigen. Alex verstand nur
Wortfetzen. Aber irgendetwas musste passiert sein.
Sie entdeckten Suzanne im Wohnzimmer. Die kleine Gestalt saß
zusammengesunken auf dem Sofa, ein Blatt Papier auf dem Schoß.
Sie trug ein schwarzes Baumwollkleid, darüber eine beige Strick­
jacke. Sie hielt ihr Gesicht mit ihren von Altersflecken gezeichneten
Händen bedeckt. Ihre weißen Haare waren durcheinander. Neben
ihr saß ein älterer Mann in einem anthrazitfarbenen Dreiteiler, einem
weißen Hemd und mit einer dunkelroten Krawatte. Christophe
blickte auf, als Natalie und Alex näher kamen.
»Was ist denn passiert, maman?«, fragte Natalie leise. Sie ließ sich
neben Suzanne nieder und legte einen Arm um ihre Mutter.
Christophe machte ihr Platz und erhob sich. Er klopfte Alex, der
neben dem Sofa stehen geblieben war, freundlich auf die Schulter.
»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte er. Er bedeutete Alex,
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