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Scherer, August Hermann,
Landschaft im Mendrisiotto, 1926, Öl
auf Leinwand, 100 x 116,5 cm,
Kunstmuseum Winterthur
Bearbeitungstiefe
Name
Scherer, August Hermann
Lebensdaten
* 8.2.1893 Rümmingen, † 13.5.1927 Basel
Staatszugehörigkeit D
Vitazeile
Bildhauer, Maler, Zeichner und Druckgrafiker. 1924 Mitbegründer der
Künstlervereinigung Rot-Blau. Freundschaft mit Ernst Ludwig Kirchner.
Bedeutender Vertreter des Expressionismus in der Schweiz
Tätigkeitsbereiche
Malerei, Skulptur, Holzskulptur, Zeichnung, Holzschnitt, Literatur
Lexikonartikel
Das Erlernen eines Handwerks war für Hermann Scherer die einzige
Möglichkeit, aus der Enge seiner bäuerlichen Umgebung auszubrechen.
1907 trat der 14-jährige eine Lehre bei Steinmetzmeister Schwab in
Lörrach (D) an. Nach Abschluss der Lehre hielt sich Scherer 1910–11
erstmals in Basel auf. 1912–13 begab er sich auf die Wanderschaft nach
Köln und Koblenz. Die Kriegsjahre verbrachte Scherer in Basel. Er
arbeitete zum Broterwerb für den Bildhauer Otto Roos, daneben
entstanden die ersten eigenen Plastiken: Gipsbüsten von Freunden und
Bekannten, Figurenreliefs und statuarische Einzelfiguren. 1920 hatte
Scherer erstmals Gelegenheit, sein plastisches Werk in der Kunsthalle
Basel auszustellen. 1918–1921 arbeitete er als Assistent von Carl
Burckhardt bei der Ausführung der beiden Brunnenskulpturen Rhein und
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Wiese vor dem Badischen Bahnhof in Basel. Im Frühjahr 1922
unternahm er eine längere Deutschlandreise (Stationen unter anderem
in Göttingen, Berlin und Jena). Der Besuch der Retrospektive von Edvard
Munch im Kunsthaus Zürich im Sommer 1922 bestärkte Scherer in
seinem Entschluss, Maler zu werden. Er unternahm erste Malversuche:
Bildnisse, Akte und Landschaftsdarstellungen. Im Sommer 1923 lud
Ernst Ludwig Kirchner Scherer, den er kurz zuvor beim Einrichten seiner
Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel kennengelernt hatte, zu einem
Arbeitsaufenthalt in sein Haus In den Lärchen in Frauenkirch (bei Davos)
ein. Beginn einer intensiven und für beide Seiten gleichermassen
anregenden Künstlerfreundschaft, die jedoch nur bis zum Frühjahr 1925
dauern sollte. Das Jahr 1924–25 verbrachte Scherer mehrheitlich bei
Kirchner in Frauenkirch. In dieser Zeit entstand eine grosse Zahl von
Holzskulpturen, druckgrafischen Arbeiten (Holzschnitte und
Radierungen), Bildern und Zeichnungen. In der Silvesternacht 1924–25
gründeten Scherer und seine Basler Künstlerfreunde Albert Müller und
Paul Camenisch im Mendrisiotto die Künstlervereinigung Rot-Blau. An
der ersten Ausstellung dieser «Pressure group» im April 1925 in der
Kunsthalle Basel nahm auch Werner Neuhaus als viertes Mitglied teil.
Noch vor Ausstellungsende gab Müller seinen Rücktritt aus der
Vereinigung bekannt, da er sich – darin von Kirchner unterstützt, der sich
kurz zuvor mit Scherer überworfen hatte – durch die grössere Zahl von
Werken Scherers benachteiligt fühlte. In der Folge zerbrach die
zehnjährige Freundschaft zwischen Müller und Scherer. Während Müller
den Sommer 1925 bei Kirchner in Frauenkirch verbrachte, arbeiteten
Scherer, Camenisch und Neuhaus im Mendrisiotto. Während der ersten
Jahreshälfte 1926 hielt sich Scherer ebenfalls grösstenteils im Tessin
auf. Im März stellte sich Rot-Blau im Kunsthaus Zürich vor. Im Juni war
Scherer auf Einladung von Kirchner mit einer Holzskulptur auf der
Internationalen Kunstausstellung in Dresden vertreten. Gegen Ende des
Sommers mehrten sich die Zeichen einer ernsthaften Erkrankung. Im
Oktober wurde Scherer ins Bürgerspital Basel eingeliefert. Mitte
Dezember starb Müller 29-jährig an Typhus in Obino (Tessin). Im
Februar 1927 erschien in der Zeitschrift Werk Georg Schmidts
grundlegender Aufsatz Rot-Blau. Ein Kapitel Basler Kunst. Am 13. Mai
1927 erlag Scherer 34-jährig den Folgen einer Streptokokken-Infektion
im Basler Spital. Im September-Heft des Kunstblatts veröffentlichte
Kirchner einen Nachruf auf Scherer. Die Kunsthalle Basel richtete im
Februar 1928 eine grosse Gedächtnisausstellung ein.
Scherers Frühwerk (1916–18) ist geprägt von einer idealistischen Vision
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des Menschen. Künstlerisches Leitbild war ein strenger, etwas spröder
Klassizismus, in dem die Vorbildlichkeit von Aristide Maillol nachklingt. In
der Auseinandersetzung mit Ferdinand Hodlers bedeutungsschwerem
Symbolismus und mit Carl Burckhardts «rein-plastischer» Form, die die
Eigengesetzlichkeit des plastischen Körpers hervorhob und damit
zugleich nach Autonomie vom Naturbild strebte, entwickelte Scherer in
den Jahren 1919 bis 1921 seine ersten vollgültigen plastischen
Konkretionen: Es sind ins Absolute gesteigerte Bilder für die Fragilität
und Vergänglichkeit menschlicher Existenz. Das Jahr 1921 brachte die
entscheidende Wende: Scherer trennte sich von seinem «Arbeitgeber»
Carl Burckhardt und distanzierte sich von jeder Form von Klassizismus
und Idealismus. Äusserlich manifestierte sich dieser
Gesinnungswandel unter anderem in der Zerstörung einer grossen Zahl
von Frühwerken. Er liess nunmehr seiner «Bekenntnissubjektivität»
freien Lauf und materialisierte seine inneren Bilder einer mit
schicksalshaften Kräften ringenden Menschheit in konvulsiv erregten
Figurengruppen. Der Höhepunkt dieser Werkphase, in der eine
expressionistische Ikonografie mit einem hochexpressiven Stil eine
unauflösbare Verbindung eingeht, ist das lebensgrosse Gipsmodell des
Gestürzten (1922, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum),
das selbstbildnishafte Züge trägt.
Scherers erste Malversuche von 1922–23 orientierten sich an der
lockeren Pinselschrift und am sinnlich entfesselten Farbenrausch von
Munchs jüngsten Bildern. Scherer war denn auch 1923 in der
Begegnung mit Kirchner vornehmlich an dessen Malerei interessiert. Er
musste bald einsehen, dass einzig das unablässige Zeichnen die
Grundlage bildet, um in der Flächendarstellung zu signifikanten
Formfindungen zu gelangen. Erstmals konzentrierte sich Scherer nicht
ausschliesslich auf den (nackten) Körper des Menschen, sondern
zeichnete alles, was ihm zu Gesicht kam: Menschen, Tiere, Bäume,
Häuser, Interieurs – vor allem aber die grossartigen Landschaften in
Davos und im Mendrisiotto. Aus diesem Fundus schöpfte er bis im
Sommer 1926 für seine kraftvollen, durch kühne Farbkontraste sich
auszeichnenden Bildfindungen.
Erst nachdem er das Zeichnen, Aquarellieren und Malen auf eine neue
Grundlage gestellt hatte, zeigte Scherer eine innere Bereitschaft, sich mit
Kirchners plastischem Konzept (Bearbeitung von Baumstämmen in
Taille directe) auseinanderzusetzen. Zu Beginn des Jahres 1924
entstanden die ersten Holzskulpturen. Die rasch erworbene Sicherheit
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mit dem neuen Werkstoff und den neuen Bearbeitungstechniken
überrascht: In einem explosionsartigen Schaffensrausch schuf Scherer
vom Frühjahr 1924 bis zum Sommer 1926 mehr als 20 Holzskulpturen
und rund 100 Holzschnitte. In der Auseinandersetzung mit Kirchners
plastischem Schaffen fand Scherer einen neuen Zugang zu den
Anliegen, die ihn seit seinen künstlerischen Anfängen beschäftigt hatten.
Seine grösstenteils farbig gefassten Holzskulpturen sind nach aussen
projizierte Bilder der Angst, der Bedrohung, der Verstörtheit, der
Entfremdung, aber auch des Verlangens nach Liebe und Geborgenheit.
Die Vorstellung des Lebens als eines unaufhörlichen Ringens mit
Mächten, die den Menschen von innen und von aussen bedrängen,
kristallisierte sich für Scherer vor allem in zwei Themen: der Beziehung
zwischen Mutter und Kind und zwischen Mann und Frau. Der nackte
Körper in seiner Ausgesetztheit war dabei für Scherer der Ort der
Auseinandersetzung mit den erfahrenen Bedrängnissen und Ängsten.
Zusammen mit Albert Müller leistete Scherer mit seinen Gemälden,
Aquarellen, Zeichnungen und Holzschnitten einen späten, aber
eindrucksvollen Beitrag zum Schweizer Expressionismus. Mit seinen
Holzskulpturen gehört Hermann Scherer neben Ernst Barlach, Wilhelm
Lehmbruck und Ernst Ludwig Kirchner zu den bedeutendsten Bildhauern
des Expressionismus.
Werke: Aargauer Kunsthaus Aarau; Basel, Öffentliche Kunstsammlung,
Kunstmuseum und Kupferstichkabinett; Chur, Bündner Kunstmuseum;
Emmenbrücke, Sammlung Anliker; Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern;
Köln, Museum Ludwig; Lugano, Museo Cantonale d’Arte; Los Angeles,
County Museum of Art; Kunstmuseum Winterthur; Kunsthaus Zürich.
Martin Schwander, 1998, aktualisiert 2012
Literaturauswahl
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- Ernst Ludwig Kircher und Hermann Scherer. Eine Gegenüberstellung.
Davos Frauenkirch, Galerie Iris Wazzau, 2012-13. [Text:] Beat Stutzer.
Davos, 2012
- Hermann Scherer. Das kleine Mädchen 1924/25. Hrsg. von der
Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der Pfalzgalerie
Kaiserslautern, [Texte:] Britta E. Buhlmann [et al.]. Kaiserslautern: 2004
- Hermann Scherer. Skulpturen, Gemälde, Holzschnitte. Bündner
Kunstmuseum Chur, 1999. Hrsg. von Beat Stutzer, [Texte:] Martin
Schwander [et al.]. Zürich: Scheidegger & Spiess, 1999
- Gerhard Kolberg: «Das Liebespaar. Begebenheiten um eine
Holzskulptur von Hermann Scherer». In: Kölner Museums-Bulletin, 1995,
2. S. 4-18
- Hermann Scherer. Davos, Galerie Iris Wazzau, 1994-95. [Text:] Gabriele
Lohberg. Davos, 1994
- Martin Schwander: Hermann Scherer. Die Holzskulpturen 1924-1926.
Basel, Stuttgart: Wiese, 1988
- Skulptur des Expressionismus. Köln, Josef-Haubrich-Kunsthalle, 1984.
Hrsg.: Stephanie Barron. München: Prestel, 1984
- Künstlergruppen in der Schweiz. Aargauer Kunsthaus Aarau, 1981.
[Texte:] Paul-André Jaccard [et al.]. Aarau, 1981
- Georg Schmidt: «‹Rot-Blau›. Ein Kapitel Basler Kunst». In: Das Werk,
XIV, 1927, 2. S. 38-45, 51-56
- Ernst Ludwig Kirchner: «Hermann Scherer ist tot». In: Das Kunstblatt,
1927, 9, S. 326-327
Nachschlagewerke
- E. Bénézit: Dictionnaire critique et documentaire des peintres,
sculpteurs, dessinateurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays
par un groupe d'écrivains spécialistes français et étrangers. Nouvelle
édition entièrement refondue sous la direction de Jacques Busse. Paris:
Gründ, 1999, 14 vol.
- Biografisches Lexikon der Schweizer Kunst. Dictionnaire biographique
de l'art suisse. Dizionario biografico dell'arte svizzera. Hrsg.:
Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich und Lausanne;
Leitung: Karl Jost. Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 1998, 2 Bde.
- The Dictionary of Art. Edited by Jane Turner. 34 volumes. London:
Macmillan; New York: Grove, 1996
- Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts.
Unter Mitwirkung von Fachgelehrten des In- und Auslandes bearbeitet,
redigiert und herausgegeben von Hans Vollmer. 6 Bände. Leipzig:
Seemann, [1953-1962] [unveränderter Nachdruck: München: Deutscher
Taschenbuch Verlag, 1992]
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Letzte Änderung
23.04.2015
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Empfohlene Zitierweise
AutorIn: Titel [Datum der Publikation], Quellenangabe, <URL>, Datum
des Zugriffs. Beispiel: Oskar Bätschmann: Hodler, Ferdinand [2008,
2011], in: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz,
http://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000055, Zugriff vom
13.9.2012.
Seite 6/6, http://www.sikart.ch