LESEPROBE Emilie Richards: Stille Zeit der Wunder Band: 25704 Copyright © 1986 by Emilie Richards McGee Originaltitel: Season Of Miracles Übersetzerin: Inken Kahlstorff 1. KAPITEL Das Erste, was sie wahrnahm, war die Stille. Sie schwebte an diesem Augustmorgen in der Luft wie ein Geier, der geduldig wartet, bis seine Beute im Kampf erliegt. Elise war nicht bewusst gewesen, dass Stille – etwas, das sie in fünfunddreißig Jahren selten erlebt hatte – so bedrohlich wirken konnte. Sie zwang sich, wach zu werden. Dann setzte sie sich im Bett auf und strich sich mit den Handflächen die langen Strähnen ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. Sie lauschte aufmerksam, aber die Stille hielt an. Aus verschwollenen Augen blickte sie um sich und schätzte die Uhrzeit. In ihrem Schlafzimmer gab es keine Uhr. Verschlafen gehörte eigentlich nicht zu Elises Problemen. Das grelle Sonnenlicht, das unbarmherzig durch das Fenster drang, sagte ihr, dass der Morgen schon halb vorüber war. Warum? Hat Mama auch verschlafen? Die Frage beantwortete sich von selbst, als Elise gänzlich wach wurde. Mama. Nein, Mama würde nie mehr aufwachen. Elise erwartete die vertraute Traurigkeit, aber heute Morgen konnte sie kein Anzeichen davon spüren. Ihre Mutter war nicht mehr: Jeanette Ramseys Tod war unwiderruflich. Aber Elise Ramsey lebte – und womöglich fühlte sie sich an diesem Morgen zum ersten Mal seit siebzehn Jahren wieder wirklich lebendig. Im Haus war es still. Elise schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Ihr langes Baumwollhemd fiel ihr wie ein Schneewirbel um die nackten Füße. Sie zog den Vorhang auf und blinzelte in die Sonnenstrahlen. Miracle Springs war erwacht, träge ging die Stadt ihrem Betrieb nach. Minutenlang stand Elise am Fenster und zählte die Autos. Eins … zwei … Beruhigt, dass sie trotz vorgerückter Stunde nichts verpasst hatte, wandte sie sich um und begann, den Schrank nach ihrem luftigsten Kleid zu durchsuchen. Heute würde es sehr heiß werden. Das Kleid, das sie auswählte, hatte ihre Mutter nie leiden können – nicht, dass Jeanette Ramsey je einfach zufriedenzustellen gewesen wäre. Doch dieses Kleid hatte ihr Bemerkungen über Zigeuner entlockt und darüber, wie man sich seinem Alter und seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß zu kleiden habe. Es war weiß, den Rock zierte ein Stickmuster, das nie in Mode gewesen war und nie aus der Mode kommen würde. Elise fühlte sich darin jung. Wahrscheinlich war genau das in den Augen meiner Mutter das Problem, dachte Elise. Sie knöpfte das Kleid zu, bürstete ihr Haar und steckte es in einem Knoten auf dem Kopf zusammen. Flüchtig fragte sie sich, wie lange sie sich diese strenge Frisur noch leisten konnte, die die ersten untrüglichen Anzeichen des Alterns kaum kaschierte. Gut beurteilen konnte sie das nicht, schließlich hatte sie nie viel Zeit auf ihr Aussehen verwendet oder auf die Frage, wie sich kosmetische Makel verbergen ließen. Schon als Kind hatte Elise langes Haar gehabt. Sie liebte es. Es glänzte, war immer noch schwarz und der Schnitt völlig unmodisch – und Teil ihrer Persönlichkeit. Mochte es auch Züge betonen, die alles andere als perfekt waren, so hob es aber auch ihre hohen Wangenknochen hervor und ihre zarte olivfarbene Haut. Ihr größtes Plus, wie sie fand. Die kleinen Geräusche, die entstanden, als sie durchs Zimmer ging, durchbrachen die drückende Stille auf angenehme Weise. Jetzt, da sie ganz wach war, fragte sich Elise, warum das, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte – Freiheit und der Freiraum, ihren Gedanken nachzuhängen –, an diesem Morgen auf einmal so bedrohlich wirkte. Offenbar würde es noch eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, allein zu leben. „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen“, sagte sie in die Stille hinein, „weil du wahrscheinlich den Rest deines Lebens allein verbringen wirst.“ Neu war der Gedanke nicht, auch nicht sonderlich traurig. Damit musste sie einfach zurechtkommen. Und wie ein Kind, das Verse aus der Bibel aufsagt, sprach sie diesen Gedanken so oft wie möglich laut aus, um ihn sich einzuprägen und ihn zu verinnerlichen. Unten im Wohnzimmer zog sie die schweren Vorhänge zurück, bevor sie zum Frühstücken in die Küche ging. Das alte Holzhaus fing bereits an, die Sonnenwärme in sich aufzunehmen. In Florida war der August so vorhersehbar wie nur irgendwas im Leben. Er war warm und feucht und drosselte das Lebenstempo zuverlässig um fünfzig Prozent. Die meisten Einwohner von Miracle Springs machten das mit Klimaanlagen in ihren Häusern und Büros wieder wett. Die einzige Klimaanlage in Elises Haus befand sich in dem Zimmer, das ihrer Mutter gehört hatte. Das restliche Haus war dem unbarmherzigen Sommer Floridas ausgesetzt. Elise schaltete einen kleinen Ventilator auf der Küchentheke an und schnitt eine Grapefruit auf. Dabei summte sie ein Lied, um die Stille zu bannen. Dieser Tag würde zu Ende gehen und nach ihm weitere schwüle Augusttage. Dann kam der September und würde ihr Leben wieder mit Lärm und Durcheinander füllen, wie es der Englischunterricht in einer zehnten Klasse mit sich brachte. Elise, die sich die längste Zeit ihres Lebens Stille gewünscht hatte, legte das Obstmesser beiseite und nahm einen Stift zur Hand. Während sie den Tag auf dem Kalender über der Theke durchstrich, wunderte sie sich, dass ihr dieser simple Akt so viel Befriedigung verschaffte. „Nach all den Jahren und all den eingebildeten Krankheiten ist Mrs Ramsey letzten Monat gestorben. Mir nichts, dir nichts. Einfach so. Niemand ahnte, dass sie krank war. Da sie ohnehin andauernd jammerte, hatte Dr. Mooney sie nur kurz untersucht. Doch plötzlich kippt sie auf dem Parkplatz aus den Latschen. Und das war’s. Aus und vorbei.“ Sloane Tyson saß im Wohnzimmer seiner Tante und drehte an der Krempe seines Panamahutes. Das biegsame Stroh knisterte und brach, als er den Hut endgültig aus der Form brachte. „Was macht Elise jetzt nach dem Tod ihrer Mutter?“, fragte er mit größerer Anteilnahme, als der Anstand es verlangte. „Ach, sie ist noch hier. Vermutlich wird sie dieses Jahr wieder unterrichten. Die beste Lehrerin von Miracle Springs. Und die Hübscheste.“ Lillian Tyson sah ihren Neffen aufmerksam an. „Warst du ihr nicht vor Jahren einmal sehr zugetan?“ Sloane hatte vergessen, dass Kleinstadtbewohner das Leben um sie herum in allen Einzelheiten registrierten und dauerhaft im Gedächtnis speicherten – effizienter und nur einen Deut persönlicher als eine Computerdatenbank. Den ganzen Vormittag hatte er seiner Tante schweigend zugehört, während sie das Leben der Einwohner von Miracle Springs bis ins Kleinste vor ihm ausbreitete, und hatte gar nicht erwartet, in das Gespräch einbezogen zu werden. Er hätte es besser wissen sollen. Er hätte wissen müssen, dass Elise Ramsey auf Tante Lillians Liste stand. „Dein Gedächtnis reicht weiter zurück als meins“, sagte er leichthin. Aber natürlich stimmte das nicht. Er hatte eine Menge über Miracle Springs vergessen, hatte es aus seinen Erinnerungen verbannt, als hätte er nie hier gelebt, aber nie hatte er Elise vergessen. Nein, Elise hatte er nicht vergessen. Lillian ließ sich nicht entmutigen. „Wenn ich mich recht entsinne, war sie im letzten Schuljahr deine Freundin.“ „Das ist siebzehn Jahre her.“ „Hier bei uns geschieht in siebzehn Jahren nicht allzu viel.“ Sloane lächelte gequält. Seine Tante hatte recht, und das war genau der Grund, weshalb er das Dreitausend-Seelen-Nest, seine Heimatstadt, verlassen hatte. Bei der erstbesten Gelegenheit war er gegangen und nie zurückgekehrt. Außer ein einziges Mal, zur Beerdigung seiner Mutter. Anscheinend konnte Lillian seine Gedanken lesen. „Wirst du es schaffen, Sloane? Hältst du es aus, ein Jahr hier zu leben?“ „Ich habe kaum eine Wahl.“ Sloane erhob sich und ging im kleinen, mit alten Möbeln und Nippes vollgestellten Wohnzimmer auf und ab. Er war so groß, dass andere Menschen – wie jetzt die ältere Dame, die ihn wohlwollend betrachtete – neben ihm fast wie Zwerge wirkten. „Du bist wie ein Tiger im Käfig“, verkündete sie, stolz über ihren Vergleich, „das warst du schon immer. Miracle Springs engt dich ein.“ Genau dieses Einengende war es, das ihn zurückgeführt hatte, gestand Sloane sich ein. Zum ersten Mal brauchte er den Schutz der kleinen Gemeinde, brauchte ihre langsame, gelassene Gangart, ihre Selbstzufriedenheit. Bei dem Gedanken hielt er inne. „Glaubst du, sie werden Clay akzeptieren?“, fragte er. Lillian beobachtete ihren Neffen, ein offenes Lächeln auf ihrem stets heiteren Gesicht. Sie musste nicht fragen, wen er mit „sie“ meinte. Sie wusste, dass er von den Bürgern von Miracle Springs sprach. „Er ist dein Sohn, oder nicht? Er ist ein Tyson. Wahrscheinlich wird es nicht leicht für ihn, aber er wird es schaffen.“ „In Cambridge hätte er es nicht geschafft“, sagte Sloane, mehr zu sich selbst als zu seiner Tante. „Die Jungs dort hätten ihn in Stücke gerissen.“ „Sollen die es hier versuchen. Hier hat er Beschützer.“ „Immerhin etwas.“ Die Wohnzimmertür öffnete sich, und ein schlanker junger Mann betrat den Raum, die Hände tief in den Taschen der noch steifen neuen Jeans vergraben. „Ich habe deine Katzen gefüttert, Lillian“, sagte er. „Tante Lillian“, korrigierte ihn sein Vater. „Schon okay“, beschwichtigte Lillian. „Clay kennt mich noch nicht lange. Noch komme ich ihm nicht wie seine Tante vor.“ „Er hat die richtigen Umgangsformen zu lernen“, erwiderte Sloane. Wieder knisterte die Hutkrempe in seinen Händen. „Tante Lillian“, sagte Clay vergnügt und betonte das erste Wort. „Verwandtschaft ist was Seltsames.“ „Wahrscheinlich kommt dir vieles seltsam vor.“ Lillian lächelte ihrem Großneffen zu. „Aber du kommst uns nicht seltsam vor. Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Du hast sogar dieselbe Locke über der Stirn.“ Clay nickte und schaute zu seinem Vater, um zu sehen, wie er Lillians Bemerkung aufnahm. Frühreif, wie er war, vermutete er, dass diese Ähnlichkeit seinem Vater keine Freude bereitete. „Er gleicht dir bis auf den Pferdeschwanz“, sagte Lillian an Sloane gewandt. „Sloane hatte einen Pferdeschwanz?“, fragte Clay. „Nicht so einen wie du“, sagte Lillian und strich Clay übers braune Haar, das ihm in sanften Wellen über den Rücken fiel. „Als dein Vater hier aufwuchs, hatte niemand zuvor einen Mann mit langen Haaren gesehen. Dabei war das von deinem Vater noch kurz, gerade mal lang genug, um es mit einem Haarband zusammenzuhalten. Aber einen Aufstand hat man hier gemacht … unglaublich.“ „Was haben sie getan, Sloane?“ Clay wandte sich seinem Vater zu und musterte sein Gesicht. „Mein Onkel hat mich zum Friseur geschleppt. Er war stärker als ich.“ Der Anflug eines Grinsens huschte über Sloanes Gesicht. Clay schöpfte Mut. „Willst du die Vergangenheit wieder aufleben lassen?“ Sein Vater wurde ernst. „Ich werde dich zu nichts zwingen, Clay. Es ist schließlich deine Frisur. Mir ist das völlig gleich.“ „Mir aber nicht“, sagte Lillian entschieden. „Wenn du hier in der Schule zurechtkommen willst, lässt du dir vorher besser die Haare schneiden. Die anderen werden dich eher mögen, wenn du wie einer von ihnen aussiehst.“ Clay dachte darüber nach. „Warum wollen die, dass ich aussehe wie sie?“, fragte er schließlich. „Das ergibt keinen Sinn.“ Lillian sah ihn mit offenem Mund an, und Sloane schüttelte den Kopf. „Du musst noch eine Menge über Teenager lernen, Clay.“ Clay zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nicht einmal welche gesehen.“ „Ist er noch nicht bei den Quellen gewesen?“, fragte Lillian Sloane. „Ich hatte zu viel zu tun, um sie ihm zu zeigen.“ „Er kann doch allein gehen“, erwiderte Lillian. „Er ist fünfzehn. Wir sind nicht in Boston. Hier kann man mit fünfzehn überallhin gehen. Hast du eine Badehose?“, fragte sie Clay. Und als er nickte, fügte sie hinzu: „Hast du Lust?“ Clay nickte erneut. „Dann geh heim und zieh sie an. Du gehst schwimmen, während dein Vater sich heute Nachmittag um seine Angelegenheiten kümmert. Ich komme mit und zeige dir den Weg.“ Sloane wartete, bis Clay das Zimmer verlassen hatte, dann fragte er: „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Mit irgendwas muss er ja anfangen.“ Als sie Sloanes Stirnrunzeln sah, fuhr Lillian fort: „Es ist doch nicht so, dass mit dem Jungen irgendetwas nicht stimmen würde. Er wird es schon schaffen.“ „Er muss noch so viel lernen, um zu verstehen, wie diese verrückte Welt tickt. Ich komme mir vor, als würde ich ihn den Löwen zum Fraß vorwerfen.“ „So ergeht es allen Eltern“, versuchte Lillian ihn zu trösten. „Aber nicht alle Eltern ziehen plötzlich einen Sohn groß, von dessen Existenz sie noch nicht einmal wussten“, sagte Sloane bitter. „Und nicht alle Eltern haben einen Sohn, der bis vor Kurzem seinen Nachnamen nicht kannte.“ „Und nicht alle Eltern würde das kümmern“, erinnerte Lillian ihn sanft. „Ich wollte nie Vater sein.“ „Lass dir ein wenig Zeit. Lass Clay Zeit. Lass Miracle Springs Zeit.“ „Miracle Springs müsste seinem Namen alle Ehre machen und ein Wunder vollbringen.“ „Wunder geschehen immer wieder.“ Lillian stand ebenfalls auf und legte ihrem Neffen eine Hand auf die Schulter. „Das erste Wunder war, dass du Clay gefunden hast. Das Zweite wird darin bestehen, ihn wirklich kennenzulernen.“ Sloanes Schultern entspannten sich unter Lillians Händedruck. „Ich bin dankbar für deine Zuversicht.“ „Ich bin dankbar, dass du zurückgekommen bist. Vielleicht bin ich nur eine egoistische alte Frau, aber ich bin dankbar, dass du nach Hause gekommen bist. Wenn auch nur für ein Jahr. Du warst mir immer mehr ein Sohn als ein Neffe.“ Sloanes Züge wurden weicher. „Du wirst froh sein, wenn wir wieder weg sind.“ „Das glaube ich nicht.“ Sloane legte einen Arm um seine Tante und drückte sie, wie er es als Junge immer getan hatte. Manches konnten selbst Zeit, Entfernung und jede Menge Fehler nicht ändern. Die Liebe seiner Tante gehörte dazu. Lillian standen Tränen in den Augen, als sie sich aus der Umarmung löste. „Junge, du machst mich ganz gefühlsduselig.“ Sie trat einen Schritt zurück, um Sloane ins Gesicht zu sehen. „Selbst wenn du unsere kleine Stadt nicht magst, vielleicht findest du in diesem einen Jahr hier ja etwas, das dir zusagt. Wer weiß.“ „Was zum Beispiel?“ „Zum Beispiel eine Mutter für Clay.“ Der Name Elise fiel nicht. Sloane schüttelte entschlossen den Kopf. „Clay wird sich mit einem Elternteil begnügen müssen. Immerhin mehr, als er je hatte.“ „Gib euch eine Chance“, sagte Lillian sanft. „Mit der Zeit wird sich alles einrenken.“ Aber Sloane, der nicht daran glaubte, dass die Zeit auch nur irgendwas einrenken konnte, war bereits in seine Gedanken vertieft. Während Elise unter den Markisen aus Tuch und Kunststoff entlangspazierte, die sich über den Gehweg der Hope Avenue spannten, fragte sie sich, ob sich Miracle Springs, das Dorf der Wunderquellen, zu ihren Lebzeiten noch verändern würde. Bislang konnte man meinen, dass das einzige Wunder, das diese Stadt zuwege brachte, darin bestand, sich dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu verweigern. Die wenigen Veränderungen, die es gab, waren kaum spürbar. Das ewig Gleiche brachte jede Entfaltung und Kreativität zum Erliegen. Es lullte die Einwohner von Miracle Springs ein, und sie fügten sich ins Unvermeidliche. Diese Stadt bringt dich um, Elise. Sie schleicht sich an und begräbt dich unter ihrer Gleichförmigkeit, bis du vergisst, dass du anders bist als die anderen. Und du wirst sterben, ohne dich daran zu erinnern. Elise blieb mitten auf dem Gehweg stehen und wunderte sich, woher die Stimme kam. Sie verlor doch nicht den Verstand? Nein, kein Zweifel, wo die Stimme herkam. Aus ihrem Gedächtnis, sicher verwahrt und weggeschlossen. Sloanes Stimme. Die Worte waren die letzten, die er an sie gerichtet hatte. Jahrelang hatte sie es sich untersagt, an diese Unterhaltung zurückzudenken. Sie schüttelte den Kopf, nicht um die Stimme zu verscheuchen, sondern verstört über ihre Verletzlichkeit. Siebzehn Jahre waren vergangen, und Sloane war immer noch da. „Guten Morgen, Elise.“ Elise blickte auf und sah Olin Biggs, den Bürgermeister von Miracle Springs. „Guten Morgen, Olin.“ „Höllisch heiß heute. Gestern dasselbe. Morgen wohl auch dasselbe.“ Witzig. Genau das waren ihre Gedanken gewesen, nur war es dabei nicht um das Wetter gegangen. „Sehr heiß“, pflichtete sie ihm bei. „Wie geht’s Sally?“ „Gut. Ich glaube, sie freut sich schon auf den Schulbeginn. Sie könnten nicht vielleicht die elfte Klasse übernehmen? Sie hätte Sie so gern als Lehrerin.“ Elise schüttelte bedauernd den Kopf. „Das geht nicht. Aber richten Sie ihr aus, sie soll mich besuchen kommen. Sie war eine hervorragende Schülerin.“ Elise nahm Olins Beileidswünsche zum Tod ihrer Mutter entgegen und ging weiter. Bis sie das Postamt erreicht hatte, war sie zwei weiteren ehemaligen Schülern und einem Elternteil begegnet. Ihre Schüler waren mittlerweile rechtschaffene Bürger von Miracle Springs mit festem Einkommen und Familie. Elise spürte förmlich, wie sich das Alter über sie senkte. Jetzt fehlten nur noch ein bis zwei Katzen und graue Haare, um dem Klischee der Lehrerin und alten Jungfer zu entsprechen. Falls sie das nicht schon längst tat. Sie ging gerade ihre Liste mit Besorgungen durch, als sie hinter sich eine vertraute Stimme hörte. „Elise, welch schöne Überraschung.“ Sie dreht sich um, mit einem optimistischen Lächeln auf den Lippen. „Hallo, Bob. Bist du mit Amy hier?“ Bob Cargil schüttelte den Kopf und brachte dabei sein sorgfältig über die größer werdende Glatze gekämmtes Haar durcheinander. „Nein, sie ist bei den Quellen. Du siehst heute bezaubernd aus.“ „Danke.“ Elise lächelte. Es tat gut, dass jemand ihr Aussehen registrierte. „Du siehst heute Morgen auch gut aus.“ „Ich kann mich nicht beklagen.“ Eine aufrührerische Stimme flüsterte ihr ein, dass dies tatsächlich das erste Mal wäre, dass Bob sich nicht beklagte. Sie unterdrückte, was ihr auf der Zunge lang, und brachte gepresst hervor: „Geht es mit dem Buch voran?“ Bob zuckte mit den Schultern. Er war Geschichtslehrer in Miracle Springs und arbeitete seit fünf Jahren an einem Oberstufenlehrbuch über die Geschichte Floridas. Seit vier Jahren kam er nicht voran. „Schwer bei dieser Hitze.“ „Verstehe“, erwiderte sie mitleidig. Die aufrührerische Stimme erinnerte sie daran, dass sein gesamtes Haus klimatisiert war. Wieder schwieg sie. „Steht unsere Verabredung heute Abend noch?“ „Davon gehe ich aus“, sagte sie mit so viel Begeisterung, wie sie nur aufbringen konnte. Dann hellte sich ihre Stimme ein wenig auf. „Kommt Amy auch?“ Amy war Bobs fünfzehnjährige Tochter und der Grund, warum Elise Bob in ihrem Leben duldete. „Nein. Diesmal nur wir zwei.“ „Richte ihr aus, sie soll mich besuchen kommen.“ „Das wird sie. Sie quengelt immer, ich solle sie zu dir gehen lassen. Aber ich dachte …“ Bobs Stimme verlor sich. „Bob, ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht trauere. Ich freue mich auf Amys Besuch.“ „Das werde ich ihr sagen.“ „Gut.“ Elise reichte ihm die Hand. „Bis heute Abend.“ Sie sah ihm nach. In letzter Zeit hatte Bob sich einen eigenartig schleppenden Gang zugelegt, als übe er fürs Alter, das ihn in sicherer Entfernung erwartete. Obwohl er zehn Jahre älter war als Elise, gab es an seiner Gesundheit nichts zu beanstanden, was Sport und eine Diät nicht hätten beheben können. Bob genoss das Älterwerden mit all seinen Begleiterscheinungen. Nicht zum ersten Mal dachte Elise, wie ähnlich sich Bob und ihre Mutter waren, und sie erschauderte leicht. Die Glocken im Rathausturm schlugen elf. Elise wusste, dass es eigentlich sechs nach elf war. Seit Menschengedenken gingen die Turmglocken sechs Minuten nach. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie zu stellen. Schlug das jemand vor, winkten die Stadtväter ab: Das würde die Leute nur verwirren. Es sei besser, alles beim Alten zu lassen. Ein langer, heißer Nachmittag lag vor ihr. Aus einer Laune heraus beschloss sie, ihn nicht zu Hause zu verbringen. Dort erwartete sie nichts als Stille, unbarmherzige Hitze und unwichtige Aufgaben im Haushalt. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Viel zu tun gab es in Miracle Springs allerdings nicht. Im Lebensmittelgeschäft kaufte sie ein Truthahnsandwich und nahm dann die Abkürzung durch die Faith Street zu den Quellen, die der Stadt ihren Namen gaben. Bei den Quellen herrschte keine Stille. Teenager mit plärrenden Transistorradios lagen verstreut auf dem braunen Sandstrand. Die Pier, die sich vom Strand ins Wasser erstreckte, war bedeckt von glänzenden, öligen Körpern. Darunter sprangen kleine Kinder zwischen den tief im Sand versenkten Pfeilern umher. Waldgrüne Bänke standen im Schatten von Palmen und moosbewachsenen Eichen. Elise ließ sich auf einer nieder, um das bunte Treiben zu genießen. Sie blieb nicht lang allein. Ehemalige und zukünftige Schüler kamen herbeigerannt und grüßten sie. Sie kannte die meisten, seit sie kleine Kinder waren. Einige waren die Söhne und Töchter von Freunden aus ihrer eigenen Schulzeit, andere kannte sie aus der Gemeinde oder ihrem ehrenamtlichen Leseunterricht in der Stadtbibliothek. Elise war sich der Zuneigung der jungen Leute in Miracle Springs so sicher, wie sie sich alles anderen in ihrem vorhersehbaren Leben sicher sein konnte. Ein zierlicher Blondschopf winkte und kam dann zu ihr herüber. „Hallo, Elise. Hier habe ich dich noch nie gesehen.“ Elise klopfte auf den Platz neben sich, und das Mädchen setzte sich, wobei feuchter Sand nur so spritzte. Elise bemerkte es nicht einmal. „Hallo, Amy. Wo warst du diesen Sommer?“ „Die meiste Zeit hier.“ Amys Gesicht wurde plötzlich ernst. „Papa meinte, dir sei nicht nach Besuchen zumute, wegen deiner Mutter. Aber ich wollte dich so gern besuchen kommen. Er hatte unrecht, nicht wahr?“ „Ja.“ Elise legte einen Arm um Amys Schultern und drückte sie an sich. „Aber er hat es gut gemeint. Wir sollten es ihm nicht übel nehmen.“ „Wie ich schon auf der Beerdigung gesagt habe, das mit Mrs Ramsey tut mir leid.“ „Danke.“ Elise lächelte und bedeutete Amy, sie brauche nicht länger so ein ernstes Gesicht zu machen. „Jetzt erzähl mir, was du so getrieben hast.“ Sie plauderten eine Weile, bis Amy von ihren lachenden Freunden weggezerrt wurde. Elise hatte gerade ihr Sandwich aufgegessen und sich zurückgelehnt, um die Tollereien der Teenager zu verfolgen, als sie einen Jungen bemerkte, der unter einem Baum in der Nähe stand. Heute Vormittag hatte sie Sloanes Stimme vernommen, mitten auf einem fast leeren Bürgersteig. Jetzt sah sie – genauso deutlich – sein Abbild. Sie unterdrückte das Verlangen, die Augen zu schließen. Die Stimme war ihrem Gedächtnis entsprungen. Das Bild war echt. Und offensichtlich konnte es nicht Sloane selbst sein. Fasziniert beobachtete Elise, wie der Junge sich leicht drehte, sodass sie sein Profil besser sehen konnte. Sie musterte seine Gesichtszüge und sog scharf die Luft ein. Er hatte Sloanes breite Stirn, und das goldbraune Haar fiel ihm genauso schwungvoll auf die Schultern, wie es Sloanes getan hatte. Natürlich war das Haar des Jungen viel länger, aber selbst kurz geschnitten würde es nicht ordentlich sitzen, wie Elise wusste. Es würde nie zu bändigen sein, und die Mädchen würden sich danach sehnen, es glatt zu streichen. Die gerade Nase glich der Sloanes, dasselbe galt für die tief liegenden Augen. Obwohl Elise ihre Farbe nicht erkennen konnte, hätte sie ihr Leben darauf verwettet, dass sie von diesem eigentümlichen, ins Grau gehende Braun der Pekannuss war. Doch am deutlichsten verriet sein Mund seine Verwandtschaft mit Sloane. Ein perfekt geformter Mund, wie von Meisterhand gemeißelt, ein Mund, der sich zu einem zynischen Grinsen verziehen konnte oder fest verschlossen blieb, um Ärger zu vermeiden. War der Junge Sloanes Neffe? Ein Cousin? Sein Sohn? Letzteres schien am wahrscheinlichsten und gleichzeitig am unwahrscheinlichsten. Elise hatte Sloane seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen, allerdings vieles über ihn gehört. In Miracle Springs lebten genug Tysons, um sie auf dem Laufenden zu halten, auch wenn Sloanes Mutter vor Jahren gestorben war. Elise wusste, dass er sich einen Namen als Autor gemacht hatte. Mehr noch, sie hatte alle seine Bücher gelesen. Sie wusste auch, dass sein Privatleben weniger erfolgreich verlaufen war. Auf eine Ehe folgte ein Jahr später die Scheidung. Soweit Elise wusste, war kein Kind aus dieser Verbindung hervorgegangen. Aber selbst wenn sie sich irrte, wäre das Kind erst fünf oder sechs Jahre alt. Dieser Junge aber war ein Teenager. Doch woher sollte plötzlich ein Cousin oder Neffe mit Sloanes Körper und Gesicht auftauchen? Ich kenne doch sämtliche Tysons, dachte Elise. Dieser Junge jedoch war neu in der Stadt. Als hätte er ihre Blicke gespürt, drehte der Junge sich um und blickte zu Elise herüber. Elise konnte den Blick nicht abwenden, obwohl die Höflichkeit es geboten hätte. Stattdessen lächelte sie zaghaft. „Hallo.“ Elise rechnete damit, dass der Junge nicken und weggehen würde. Mit verschrobenen ältlichen Damen zu reden war unter Teenagern nicht gerade ein beliebtes Freizeitvergnügen. Doch stattdessen kam er näher. „Hallo“, erwiderte er. „Du bist neu hier, nicht wahr?“, fragte sie, von seinem Gruß ermutigt. „Ja. Wir sind letzte Woche angekommen.“ Und ich kriege nichts mehr mit, dachte Elise, sonst wüsste ich jetzt, wer du bist. „Ich bin Elise Ramsey, Englischlehrerin an der Miracle Springs Highschool. Wirst du hier zur Schule gehen?“ „Glaub schon. Wenn die mich nehmen“, sagte der Junge unbefangen. „Ich heiße Clay.“ „Schön, dich kennenzulernen, Clay.“ Er nickte, als sei es nur allzu verständlich, dass ihn kennenzulernen schön war. „Welche Klasse unterrichten Sie?“ „Die zehnte. In welche gehst du?“ „Weiß ich noch nicht. Die haben keine Ahnung, was sie mit mir anfangen sollen.“ Elise runzelte die Stirn. „Wie alt bist du?“ „Fünfzehn.“ „Die meisten Fünfzehnjährigen sind in der Zehnten. In welcher Klasse warst du in deiner alten Schule?“ Clay lächelte. „Ich bin nie zur Schule gegangen.“ Mit dieser Antwort hatte Elise nicht gerechnet. „Das ist ungewöhnlich“, sagte sie so unbeteiligt wie möglich. „Da haben Sie wahrscheinlich recht.“ Clay stand jetzt neben ihr. „Was lernt man in der Zehnten in Englisch?“ „Ich lege großen Wert aufs Schreiben“, antwortete sie, während sie sein Gesicht aus der größeren Nähe mit unverhohlenem Interesse betrachtete. Seine Augen hatten tatsächlich die gleiche Farbe wie Sloanes. Nach all den Jahren erinnerte sie sich noch genau daran, wie Sloanes Augen aussahen. „Schreiben?“ „Kreatives Schreiben. Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke. Wir lesen auch viel.“ Clay nickte. „Würde mir gefallen. Ich schreibe auch. Mit dreizehn habe ich einen Roman angefangen. Dann kam ich nicht weiter und hätte Hilfe gebraucht. Aber zu der Zeit lebte kein Schriftsteller auf der Ranch.“ „Auf der Ranch?“ „Der Destiny Ranch in New Mexico. Da bin ich aufgewachsen.“ Der Name kam ihr bekannt vor. Elise konnte sich aber nicht erinnern, woher sie ihn kannte. „Den Namen habe ich schon einmal gehört.“ „Die Zeitungen haben viel über uns geschrieben.“ Clay zeigte auf eine Gruppe Jugendlicher, die am Wasser standen. „Gehen die alle auf Ihre Schule?“ „Die alle und noch mehr. Unsere Highschool ist die einzige im Bezirk, deshalb kommen auch Schüler aus der Umgebung mit dem Bus. Du wirst viele neue Freunde finden.“ Noch während sie das sagte, fragte sich Elise jedoch, ob das stimmte. Würde Clay mit seinem Pferdeschwanz, seiner sonderbaren Mischung aus erwachsener Intelligenz und kindlicher Offenheit nicht auffallen, fragte sich Elise, an einer Schule, wo aufzufallen das schlimmste Verbrechen war? Aber Clay hatte ihre optimistische Vorhersage bereits achselzuckend abgetan. „Hauptsache, ich finde jemanden, mit dem ich reden kann.“ „Clay“, rief jemand hinterm Steg. „Clay!“ Ohne sich umzudrehen, wusste Elise, wen sie zu sehen bekommen würde. Irgendwie war der Tag auf diesen Moment hinausgelaufen. Die bedeutungsschwere Stille, die sie mit Bildern ihrer einsamen Zukunft gequält hatte, Sloanes Stimme auf dem Bürgersteig, Sloanes Abbild in dem Jungen, der nun neben ihr saß. Alles Vorwarnungen auf das Zusammentreffen, das noch bevorstand. „Sloane ruft nach mir“, Clay erhob sich. „Ich gehe besser. Er hasst es, zu warten.“ Nicht „Onkel Sloane“ oder „Papa“. Auch kein förmliches „mein Vater“. „Clay“, sagte sie, plötzlich ängstlich, „meinst du Sloane Tyson?“ Der Junge nickte. Die nur zu vertraut aussehenden Wangen zuckten, seine Haltung war plötzlich angespannt. „Ja. Bis später.“ Elise hob ihre Hand zum Gruß, als Clay fortging. Sie wusste: Den Kopf zu drehen war alles, was sie tun musste. Bloß eine leichte Drehung des Kinns, und sie würde – endlich wieder – den einzigen Mann erblicken, der ihr je etwas bedeutet hatte. Es überraschte Elise jedoch nicht, dass sie stattdessen weiter auf die sprudelnde türkisfarbene Quelle und die tobenden Kinder am Strand starrte. Nein, es war keine Überraschung, dass ihr der Mut fehlte, wenn es um Sloane Tyson ging. Siebzehn Jahre waren vergangen. Elise war – wie die Stadt, die Sloane so hasste – im Grunde immer noch die Gleiche. Risiken mochte sie nicht eingehen, wagte nicht nach dem zu greifen, was sie haben wollte. Sie hatte sich nicht verändert seit dem Tag, an dem sie Sloane gesagt hatte, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihn zu heiraten und Miracle Springs für immer zu verlassen. Minuten verstrichen, ehe Elise schließlich aufstand und den Heimweg antrat. Das Lachen und Rufen, das vom Strand herüberdrang, spendete ihr keinen Trost mehr. Vielmehr erinnerte es Elise daran, was alles in ihrem Leben fehlte. 2. KAPITEL „Ich habe eine nette Frau bei den Quellen kennengelernt“, erzählte Clay seinem Vater, obwohl Sloane sich gar nicht nach seinem Tag erkundigt hatte. Schon als kleines Kind hatte Clay gelernt, dass er, wenn er von sich erzählen wollte, einen dafür empfänglichen Erwachsenen suchen und das Gespräch anfangen musste. Da Sloane der einzig verfügbare Erwachsene war, musste er genügen, auch wenn sein Blick verschlossen und seine Arme fest vor der Brust verschränkt waren, als sie die Faith Street hinuntergingen. Clay, der Körpersprache meisterlich zu lesen verstand, gab der Unterhaltung nicht mehr als eine fünfzigprozentige Chance auf Erfolg. Einen Versuch war es aber wert. „Schön“, erwiderte Sloane. Clay versuchte es erneut. „Sie ist Englischlehrerin an der Highschool.“ Sloane nickte, aber seine Schritte wurden länger. Clay, der für sein Alter recht groß war, musste sich beeilen, um Schritt zu halten. „Sie heißt Elise Randall oder so ähnlich.“ „Ramsey. Elise Ramsey. Ja, ich kenne sie.“ „Hoffentlich komme ich in ihre Klasse.“ Diesmal nickte Sloane nicht einmal mehr. Er war nicht nah genug gewesen, um die Frau, die neben Clay auf der Bank gesessen hatte, erkennen zu können, aber sein Bauchgefühl hatte ihm gesagt, dass es sich tatsächlich um Elise Ramsey handelte, die dort mit seinem Sohn geredet hatte. Es wäre die ideale Gelegenheit gewesen, sie anzusprechen. Er hätte ihr ein ungezwungenes Hallo zurufen und so den Knoten lösen können, der sich jedes Mal in seinem Magen bemerkbar machte, wenn ihr Name erwähnt wurde. Elise Ramsey, um Himmels willen. Siebzehn Jahre waren vergangen, die sich anfühlten wie ein Dutzend Leben. Wieso benahm er sich dann wie ein pubertierender Teenager, dessen Verstand ausgeschaltet war, weil ihn die Gefühle überwältigten? Harmloser Small Talk, der Austausch einiger Nettigkeiten war alles, dessen es bedurfte, um Elise an den rechten Platz in seiner Gedankenwelt zu rücken. Je länger er wartete, umso schwerer würde es werden. Schließlich war sie für ihn nichts weiter als eine Frau aus einem Nest in Florida, eine Lehrerin, deren größtes Vergnügen wahrscheinlich darin bestand, im einzigen Restaurant der Stadt zu speisen oder in Ocala ins Kino zu gehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie das Wertesystem von Miracle Springs übernommen und war nun, da sie sich nicht mehr um ihre Mutter kümmern musste, verzweifelt auf der Suche nach einem Ehemann, während ihre biologische Uhr immer vernehmlicher tickte. Sloane schüttelte den Kopf. Warum versuchte er so krampfhaft, sich selbst davon zu überzeugen, dass Elise nicht mehr die warmherzige, intelligente und sensible Frau sein sollte, die er gekannt hatte? Natürlich war sie vor siebzehn Jahren eigentlich noch keine Frau gewesen. Als er sie kennenlernte, stand sie auf der Schwelle, von einem Backfisch zu einer erwachsenen Frau zu werden. Gemeinsam hatten sie diese Schwelle überschritten, und mittlerweile mussten die Jahre die Wandlung vollendet haben. Es gab eigentlich keinen Grund zu glauben, dass der Zauber, der Elise umgeben hatte, verschwunden war. Allerdings gab es auch keinen Grund zu glauben, dass das, was an ihr nicht so zauberhaft gewesen war, nicht mehr da war. Unter ihrer Warmherzigkeit, ihrer Intelligenz und Sensibilität verbarg sich eine Frau, die zu schwach war, sich zu behaupten. Am Ende hatte sie den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Schlagartig wurde Sloane bewusst, dass er ihr das nie verziehen hatte. „Sloane?“ In Gedanken versunken gab Sloane ein Brummen von sich. „Ob du als Junge auch zu den Quellen gegangen bist?“, fragte Clay geduldig. Erwachsene mochten es nicht, wenn man gereizt klang. Sloane bildete da sicherlich keine Ausnahme unter all den Menschen, die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren um Clay gekümmert hatten. Sloane merkte, dass Clay zurückfiel, und ging etwas langsamer. „Ich habe da so gut wie gelebt, als ich in deinem Alter war. Hattest du Spaß?“ „Ich bin nicht reingegangen.“ „Warum nicht?“ „Ich kann nicht schwimmen.“ Sloane wendete abrupt den Kopf. Es gab so vieles, das er nicht wusste; sein Sohn war praktisch ein Fremder. „Wahrscheinlich hattest du in der Wüste kaum Gelegenheit dazu“, räumte er ein. „Es tut mir leid, dass ich das nicht wusste, Clay.“ Clay hörte das Bedauern in Sloanes Stimme. „Was hättest du daran ändern können?“, fragte er erstaunt. „Außerdem dachte ich, ich lerne es bei Gelegenheit.“ „Ich werde jemanden finden, der es dir beibringt.“ „Danke, aber ich bringe es mir selbst bei.“ „Wie willst du das denn bewerkstelligen?“, fragte Sloane mit echtem Interesse. „Ich habe mir schon viele Sachen beigebracht. Ich habe da ein System.“ Clay hielt einen Moment inne. „Soll ich es dir verraten?“ „Schieß los.“ Derart ermutigt begann Clay seine Erklärung: „Zuerst musst du alles in Einzelteile zerlegen. Schwimmen zum Beispiel. Du suchst dir genau den Teil davon raus, den du lernen willst. Willst du mehr als einen Teil lernen, musst du dir vorher genau die Reihenfolge überlegen.“ „Und dann?“ Sloane war klar, dass Clay ihm mehr sagen wollte, als wie sein Lernsystem funktionierte. Er erzählte seinem Vater vielmehr, wie er aufgewachsen war. Allerdings war Sloane sich nicht sicher, ob er das wirklich hören wollte. Aber wie hätte er Clay das erklären sollen? „Dann musst du jemanden beim Schwimmen beobachten. Dabei darfst du dich aber nur auf den Teil konzentrieren, den du lernen willst, und musst alles andere ausblenden. Sobald du in Worten ausdrücken kannst, was du siehst, und es dir merken kannst, versuchst du es selbst. Aber nicht vorher, sonst gerät man schnell in Schwierigkeiten.“ „Was hast du dir alles auf diese Weise beigebracht?“ Clay zögerte. Die Unterhaltung war bislang so gut gelaufen, dass er sie nun nicht verderben wollte, indem er zu viel sagte. „So einiges. Brot backen, Reiten …“ „Das hat dir niemand beigebracht?“ „Keiner hatte Lust dazu. Sie sagten, in der richtigen Umgebung würden wir alles von selbst lernen.“ Die letzten Worte klangen so, als sagte Clay einen auswendig gelernten Lehrsatz auf. „Seite zweiundzwanzig der antiautoritären Bibel“, sagte Sloane im Versuch, seinen Ärger zu verbergen. „Ich hatte eine gute Kindheit“, verteidigte Clay seine Erziehung. „Ich war glücklich.“ Auf dem Weg nach Hause ballte Sloane immer wieder die Hände zu Fäusten, während beide schwiegen. Kam das Thema auf die Destiny Ranch und darauf, was die Kommune dort für seinen Sohn getan oder auch nicht getan hatte, brannten ihm schnell die Sicherungen durch. Wie war es bloß möglich, dass sein Sohn – ein Sohn, von dessen Existenz er noch nicht einmal gewusst hatte – fünfzehn Jahre isoliert bei einer unsteten Gemeinschaft aus Aussteigern in der Wüste New Mexicos hatte verbringen müssen? Natürlich trug auch Sloane Schuld daran. Er hatte Clay gezeugt, hatte nicht bedacht, dass Willow, Clays Mutter, nicht verhütete. Damals war er neunzehn gewesen und in glückseliger Unkenntnis über den wichtigsten Lebensgrundsatz: Was man sät, das erntet man. Trunken vor Freiheit war er gewesen, trunken angesichts der Unmenge von Frauen, die sich ihm hingaben, trunken vor Freude über ein Leben ohne die Fesseln, die er mit Miracle Springs zurückgelassen hatte. Und jetzt zahlte er den Preis dafür. Nein, das stimmte nicht ganz. Clay hatte den Preis bezahlen müssen. Sloane würde lediglich für den Rest seines Lebens Zeuge dessen sein. Er musste einen Weg finden, die Last der Schuld und des Ärgers loszuwerden, die ihn jedes Mal überkam, wenn er an seinen Sohn dachte, und die immer drückender wurde. Sloane bog in die Clarity Street ein, ohne auf die neugierigen Blicke zu achten, mit denen die Nachbarn ihn und Clay taxierten. „Ich werde dir schwimmen beibringen“, sagte Sloane knapp, als sie an der Treppe zu dem Haus angekommen waren, das er für das kommende Jahr gemietet hatte. „Morgen früh, als Allererstes.“ Clay sah seinen Vater im Haus verschwinden. „Einverstanden“, meinte er, obwohl niemand da war, der ihn hören konnte. Dann folgte er Sloane ins Haus. Elise wusch sich das Haar und zog einen Mittelscheitel. Kurz darauf lag sie draußen auf einer Decke und ließ sich die spätnachmittägliche Sonne auf die Haare scheinen, statt einen Föhn zu benutzen. Lustlos blätterte sie in einer alten Zeitschrift. Die Trockenheit, die bereits seit über drei Monaten anhielt, hinterließ bereits ihre Spuren im Hinterhofgarten. Elise überlegte, ob sie den Sprinkler anstellen sollte, und entschied sich dagegen. Sie hätte die Decke wegbewegen müssen, und das erschien ihr zu viel der Mühe. „Vertrocknet doch“, sagte sie zu den Blättern, „ich pflanze dann Kakteen.“ Im leichten Luftzug nickte die Kaladie neben ihr, und Elise schloss resigniert die Augen. Mit Pflanzen zu sprechen war schon schlimm genug, Antworten zu erhalten hieß, dass sie am Tiefpunkt angelangt war. So niedergeschlagen und verlassen hatte sie sich zuletzt nur unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter gefühlt. Damals hatte sie geweint und sich befreit gefühlt. Heute gab es keine Tränen. Wie hätte sie auch um etwas weinen sollen, das vor zwei Jahrzehnten zu Ende gegangen war? Seit Jahren war Sloane nicht mehr Teil ihres Lebens, und mit ihm waren alle Hoffnungen fort. Nun war die Hoffnung gemeinsam mit Sloane zurückgekehrt. Das Schicksal schien ihr etwas sagen zu wollen, aber in einer Sprache, die sie nicht verstand. Ihr Verstand sagte ihr, dass Sloanes Rückkehr nach Miracle Springs an diesem Wendepunkt ihres Lebens Zufall war. Was sonst? Fünfunddreißig Jahre hatte sie in dieser Kleinstadt gelebt, deren Gründung einem Wunder zu verdanken war – so wollte es zumindest die Stadtschreibung. Doch Elise hatte nie an Wunder geglaubt. Jedenfalls nicht für sich selbst.
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