Theologische Grundlegung - Jahr der Barmherzigkeit im Bistum

DAS HEILIGE JAHR DER BARMHERZIGKEIT –
KULMINATIONSPUNKT EINER „GEWICHTUNGSGESCHICHTE“
Mit seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ („Gott ist die Liebe“) aus dem Jahre 2005 – sie ist somit
genau zehn Jahre alt – hat Papst Benedikt XVI. eine Richtung vorgegeben, die gegenwärtig von
seinem Nachfolger Franziskus in großer Konsequenz weiter verfolgt wird. Aber auch „Deus caritas
est“ hatte diesbezüglich seine Vorläufer, so insbesondere die zweite Enzyklika Johannes Pauls II.
„Dives in misericordia“ („Reich an Erbarmen“) aus dem Jahre 1980 – sie ist somit genau 25 Jahre alt –
und im Allgemeinen das II. Vatikanische Konzil, das wiederum vor genau 50 Jahren zu Ende ging.
Dieses primär von der Kirche handelnde Konzil war durch richtungweisende Worte von Papst
Johannes XXIII., die dieser bei den Eröffnungsfeierlichkeiten im Jahre 1962 gesprochen hatte,
eingeleitet worden: „Heute […] möchte die Braut Christi [also die Kirche] lieber das Heilmittel der
Barmherzigkeit anwenden als die Waffen der Strenge. […] Die katholische Kirche, während sie durch
dieses ökumenische Konzil die Leuchte der katholischen Glaubenswahrheit hoch hält, will sich damit
als eine sehr liebevolle, gütige und geduldige Mutter aller erweisen, voller Erbarmung und mit
Wohlwollen für ihre Kinder, die von ihr getrennt sind“. In diesen Worten, die Papst Franziskus in
seiner Bulle zur Verkündigung des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit „Misericordiae
vultus“ („Das Antlitz der Barmherzigkeit“) selbst zitiert hat (in Abs. 4), ist in nuce bereits viel von dem
erhalten, was das Konzil dann über die Kirche zu lehren wusste: Obwohl die Ekklesia auf den ersten
Blick von Männern bestimmt ist, sei sie, tiefer besehen, doch etwas Weibliches: Die Braut Christi
habe sich durch Fürsorge als gute Mutter zu erweisen. Ihre Mütterlichkeit müsse sich nicht zuletzt
auch auf all jene erstrecken, die von ihr getrennt sind – sei es durch schwachen Glauben, andere
Konfessions- oder Religionszugehörigkeit oder auch durch still vollzogenen Glaubensabfall bzw. offen
bekundeten Atheismus. Die Ekklesia wende sich allen Menschen zu und stehe in ihren Diensten. Sie
wolle vorrangig dem Menschen dienen und so weit wie möglich jedem Kind Gottes Hilfe und
Hoffnung anbieten.
Eine solche klare Konturierung des Kirchenbildes konnte freilich nicht ohne Konsequenzen auch für
das Gottesbild bleiben. Die Kirche verkündet in der Kraft des Hl. Geistes Jesus Christus als
eingeborenen Sohn des Vaters. Die Kirche ist die Kirche Jesu Christi und damit Volk Gottes. Von
Beginn seines Pontifikats an hatte Papst Johannes XXIII. die Barmherzigkeit Gottes und der Kirche
betont. Gott sei zuerst und vor allem der barmherzige Vater. Bereits – drei ganz willkürliche –
flüchtige Blicke in die Kirchengeschichte mögen verdeutlichen, dass das alles keine
Selbstverständlichkeit ist: Der Kirchenvater Laktanz schrieb ein ziemlich beängstigendes Buch mit
dem Titel „De ira dei“ („Vom Zorn Gottes“). Der Katechismus des Jesuitenpaters J. Deharbe von 1847
(„Katholischer Katechismus oder Lehrbegriff“) bezeichnet die Hölle als den Ort, wo der Verdammte
„die ganze Ewigkeit hindurch tausendfache Todesschmerzen leidet, ohne sterben zu können“. In die
Hölle komme aber ein jeder, der von einer Todsünde belastet sterbe – und Gelegenheiten zu solchen
Sünden böten sich jedem Menschen jeden Tag „en masse“! Im Internet lassen sich auch ganz aktuell
eine Reihe von Predigten katholischer Priester finden, denen die gegenwärtige Betonung der
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göttlichen Barmherzigkeit zu weit geht, ja als verantwortungslos einseitig erscheint – dazu nur eine
Kostprobe: „Angesichts der Gerechtigkeit Gottes, meine lieben Freunde, ziemt sich uns die Haltung
heiliger Gottesfurcht, ein Gegenstand der Verkündigung, der im Wort der Heiligen Schrift oft und oft
angesprochen wird, der aber in der nachkonziliaren Kirche völlig vergessen ist.“
Was wäre hierauf zu antworten? Nun, ein allzu naiver „Heilsoptimismus“ würde dem Ernst des
Evangeliums tatsächlich schwerlich gerecht werden. Aber es wäre eine schlimme Simplifizierung,
auch nur einem der Päpste von Johannes XXIII. an, eine solche Leichtfertigkeit unterstellen zu wollen.
Sie alle haben betont, es sei das gesamte Glaubensgut festzuhalten. So schreibt etwa Benedikt XVI. in
seinem ebenso kurzen wie gehaltvollen Motu proprio „Porta fidei“ („Die Pforte des Glaubens“) aus
dem Jahr 2011: „Die Kenntnis des Glaubens führt in das Ganze des von Gott offenbarten
Heilsgeheimnisses ein. Die gegebene Zustimmung schließt also ein, dass man, wenn man glaubt,
freiwillig das gesamte Glaubensgeheimnis annimmt." Zwei Jahre später ist in der von Papst
Franziskus unterzeichneten Enzyklika „Lumen fidei“ („Licht des Glaubens“, Abs. 38 und 48) zu lesen:
„Mittels einer ununterbrochenen Kette von Zeugnissen kommt die Gestalt Jesu zu uns […] Da der
Glaube einer ist, muss er in seiner ganzen Reinheit und Unversehrtheit bekannt werden. Gerade weil
alle Glaubensartikel in Einheit verbunden sind, kommt die Leugnung eines von ihnen, selbst von
denen, die weniger wichtig erscheinen, der Beschädigung aller gleich.“ Es geht somit nicht um eine
Verkürzung des Glaubens und des damit verbundenen Gottesbildes, sondern allein um eine neue
Gewichtung. Blicken wir auf das Konzil und die Zeitspanne zwischen diesem und heute zurück, so
erkennen wir eine Gewichtungs-, keine Entwicklungsgeschichte. Eine Kleinigkeit ist das dennoch
nicht, denn auch „Gewichtsverlagerungen“ sind in der Kirchengeschichte von einiger Wichtigkeit.
Und sie sind immer dann besonders sinnvoll, wenn sie zum ursprünglichen Glauben zurückführen.
„Der liebende Vater im Himmel“ gehörte aber zu den zentralen Bestandteilen früher und frühester
Verkündigung.
Papst Franziskus schließt sich somit in bewusster Gewichtung des christlichen Glaubensguts bruchlos
an seine Vorgänger auf dem Stuhl Petri an. Gott ist erbarmende Liebe! Die Kirche aber sei nicht von
sich aus barmherzig, sondern von Gott her. Angerührt von der Barmherzigkeit Gottes könne auch die
Kirche in ihren lebendigen Gliedern, den Christen, Milde üben und Barmherzigkeit gewähren. Mehr
noch: Sie müsse dies sogar, um dem Geist Gottes, der sein Volk durchwirkt und lenkt, gerecht zu
werden. Und Christen dürften sich insbesondere nicht zu schade sein um bis an die „Ränder“ der
Kirche, wie der Gesellschaft insgesamt, zu gehen. Besagte Gewichtung ist von päpstlicher
Verlautbarung zu Verlautbarung immer noch entschiedener geworden. Findet man in der ersten –
zusammen mit Benedikt XVI. erarbeiteten – Enzyklika „Lumen fidei“ („Das Licht des Glaubens“) das
Thema des barmherzigen Gottes nur indirekt behandelt (v. a. in den Abschnitten über den Glauben
an Gott als Trost im Leiden), so lesen wir gleich in der Einleitung von „Evangelii gaudium“ („Die
Freude des Evangeliums“) aus dem Jahre 2013: „Es tut uns so gut, zu ihm zurückzukehren, wenn wir
uns verloren haben! […] Gott wird niemals müde zu verzeihen; wir sind es, die müde werden, um sein
Erbarmen zu bitten.“ Klarer noch als dies in der voraus gegangenen Enzyklika ursprünglich selbst
ausgesprochen worden war, wird der eigentliche Grund für die Freude der Christen am Evangelium in
der 2015 promulgierten Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr „Misericordiae vultus“ (vgl. Abs. 2)
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bezeichnet: „Dieses Geheimnis der [göttlichen] Barmherzigkeit gilt es stets neu zu betrachten. Es ist
die Quelle der Freude [eigene Hervorhebung], der Gelassenheit und des Friedens.“ Diese Bulle, die in
ihrer Mitte eindrucksvoll einlädt zum Empfang des Sakraments der Versöhnung in einer neuen
intensiven Begegnung mit dem barmherzigen Gott (vgl. Abs. 17), endet mit einer gewaltigen Coda,
die als Kulminationspunkt einer über 50 Jahre währenden Geschichte verstanden werden darf:
„Die Kirche ist berufen, als Erste glaubhafte Zeugin der Barmherzigkeit zu sein, indem sie diese als die
Mitte der Offenbarung Jesu Christi bekennt und lebt. Aus dem Herzen der Dreifaltigkeit, aus dem
tiefsten Inneren des göttlichen Geheimnisses entspringt und quillt ununterbrochen der große Strom
der Barmherzigkeit. Diese Quelle kann nie versiegen, seien es auch noch so viele, die zu ihr kommen.
Wann immer jemand das Bedürfnis verspürt, kann er sich ihr nähern, denn die Barmherzigkeit Gottes
ist ohne Ende.“
Verfasser: Prof. Dr. Sigmund Bonk, Direktor des Akademischen Forums Albertus Magnus
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