U ser hei irchspie Sichtigv r Wa dhause r 98 8 2015 Kriegsende 1945 Ein aufgefundenes Tagebuch von Kaspar Süggeler Es war Pfingsten 1945, der 20. Mai. Der Frühling hatte überall das Kirchspiel mit frischem Laub und Blüten überzogen. Pastor Muder zelebrierte in kostbarem roten Messgewand mit großer Messdienerschar in fahnen- und blumengeschmückter Pfarrkirche das feierliche Pfingsthochamt. Doch der äußere Schein trog. Es war eine der elendsten Zeiten, die dem Kirchspiel je beschert waren. Zwar waren seine drei Dörfer bei Kriegsende großenteils unversehrt geblieben, und doch fanden die nun vereinzelt heimkehrenden Sichtigvorer Kriegsgefangenen nicht mehr die vertraute Heimat, sondern ein in der Atmosphäre total verändertes Dorf wieder. In den Straßen bewegten sich mehr Fremde als Einheimische. Das rührte vor allem von den Hunderten Polen, die die Amerikaner im Kloster und den Hoeschbaracken zusammengepfercht hatten. Noch nicht in ihre Länder zurückgeführte Russen, Ukrainer und Angehörige anderer Völker zogen durch oder hielten sich auf. Zogen die einen nach Osten, trafen aus dieser Richtung jetzt mehr und mehr deutsche Heimatvertriebene ein. Es gab im Kirchspiel fast kein Haus, in dem nicht Evakuierte oder ab jetzt auch Vertriebene mit wohnten. Zwischen all diesen patrouillierte die neue Obrigkeit, das amerikanische Militär in den grünen Fahrzeugen mit dem weißen Stern. Kaspar Süggeler, der Müller und Heimatchronist, kam nach wochenlanger Arbeit und Aufregung an diesen beiden Pfingsttagen zu etwas mehr Ruhe und Besinnung. Nun setzte er sich hin, um das, was er an Ungeheuerlichem mit Kriegsende und Zusammenbruch erlebt hatte, für die Nachwelt niederzuschreiben. Als er die schäbige Schreibkladde aus Pappdeckel und billigem Papier aufgeschlagen hatte, mögen sich gleich einige Bilder und Ereignisse auf- und vorgedrängt haben: - Die Detonationen bei den Brückensprengungen - Die an die Mühlen-Panzersperre befohlenen Volkssturmmänner Kaspar Süggeler um 1940 - Die bei Haus Mülheim auf Sichtigvor gerichteten Kanonenrohre - Der Bürgermeister als lebendes Schutzschild auf dem Jeep Er nahm dann den Bleistift und begann mit dem Anfang vom Kriegsende im Kirchspiel- und schrieb, und schrieb, bis er nach 12 eng bekritzelten Seiten den Stift aus der Hand legte. Pfingsten 1945 Nunmehr lebt die Gemeinde seit 6 Wochen unter amerikanischer Besatzung. am Freitag, den 6. April war es soweit. Nachdem in den Abendstunden des 5. April die amerikanischen Panzer aus Richtung Altengeseke, wo schwere Kämpfe stattfanden und eine Reihe Gebäude zerstört wurden über Ostheide auf Boltenhof, Echelnpöten, Tommeshof vorrückten, war mit dem Einmarsch in unser Möhnetal am nächsten Tag zu rechnen. Auch in Echelnpöten, wo mit umgekehrten Fronten - die amerikanischen Sherman Panzer standen im Tommeshof (Schirk), die deutschen Tigerpanzer in Gurris Hof Echelnpöten - gekämpft wurde. Es wurden an allen vier Echelnpötener Höfen schwere Schäden angerichtet. Das Wohnhaus auf Mittrops Hof wurde wie ein Sieb durchlöchert. Gurris Wohnhaus, in das sich der Tigerpanzer in der halben Panzerlänge durch die dicke Bruchsteinmauer hinein geschoben hatte, um Deckung zu finden, wurde durch Einschläge fast ganz zerstört. Heute und wohl noch auf lange Zeit hinaus liegt der schwere Panzer, von der eigenen Besatzung vor der Kapitulation gesprengt, unbeweglich an seiner alten Stelle. Bei Anbruch der Dunkelheit und für die Nacht zum 6. April hatten die Amerikaner Vorposten bis zu den so genannten "Haartannen" am Steinbruch, 300 m nördlich von Haus Mülheim vorgeschoben. Hier kamen einzelne hiesige Zivilisten mit den Vorposten in Berührung, doch blieben diese unbehelligt und auf freiem Fuße. Auch aus Richtung Mellrich über Waldhausen, das kampflos eingenommen wurde, waren in dieser Nacht Panzereinheiten bis Taubeneiche und Vorposten auf das "Storksfeld" vorgerückt. Eine Panzerbesatzung übernachtete in Schäfers Hause am "Roten Kreuze" und hat sich hier recht übel benommen. Sie feierten mit mitgebrachten ... ..., trieben ihre Orgien und plünderten. Gleichzeitig setzte von diesem Tage an für unsere Gegend eine neue Plage ein. Die in den letzten Tagen aus dem Industriegebiet kommenden Trecks an Tausenden von Russen zogen hier durch, in Weiterleitung nach Osten und Norden. Die letzten ankommenden Kolonnen kamen infolge der amerikanischen Front aus Norden und Osten nicht mehr weiter und blieben in der Höhe auf den Haarhöfen liegen. Auch in Echelnpöten lagen in diesen Tagen 1500 Russen. Die Rüben- und Kartoffelmieten waren in 2 Tagen aufgezehrt. Noch während und kurz nach der Beschießung von Echelnpöten begannen diese Menschen zu plündern, als noch die wenigen Einwohner verängstigt und apathisch in ihren Kellern saßen. Nach kurzer Zeit besaßen die Leute kam mehr, als was sie am Leibe trugen. Heute nach 6 Wochen sieht man in Echelnpöten kein Stück Geflügel und nur ganz wenige Schweine. Zahlreiche Rinder und Pferde wurden abgeschlachtet oder bei der Beschießung verletzt. Die vier Gehöfte sind sehr arm geworden, mit Schirks (Tommes) Hof ist es ebenso. Doch sind keine Personen beschädigt. Im nahen Brüllingsen wurde in diesem Tagen der Hofbesitzer Schulte-Böhmer, da er eine Pistole bei sich trug, von einem Amerikaner erschossen. Anmerkung: Das Kirchspiel geriet in den Ruhrkessel Das Kriegsgeschehen auf der Haar, die Ausgangslage für die Eroberung des Möhnetals, war Teil einer der größten Militäroperationen dieses Krieges, nämlich der Einkesselung des wichtigsten deutschen Industriegebiets, des Ruhrgebiets. Was sich auf der Haar und dann unten im Möhnetal an Kämpfen zwischen Amerikanern und Deutschen ereignete, war Folge und Auswirkung der vom Rhein ausgehenden Zangenbewegung amerikanischer und britischer Armeen. Die südliche, von der Brücke von Remagen aus gestartete Einkesselungsarmee (1.US) hatte sich durch das Lahntal bis Marburg, dann nach Norden schwenkend durch das Sauerland bis Brilon (29.3) durchgekämpft. Die 9. US-Armee hatte sich nach dem Rheinübergang bei Wesel (23.3.) nördlich des Ruhrgebiets bis Lippstadt vorgekämpft, wo sie sich in der Nähe des Wasserturms Die Kampfgruppe Goodrich der 8. US-Panzerdivision stößt vom Rand des Ruhrkessels mit den aus Brilon vorgestoßenen Ameri(Geseke) in das Innere bis zum Möhnetal vor. Die Reste der dt. 116. Panzerdivision kanern am 1. April gegen 16 Uhr zur ziehen sich ohne größeren Widerstand (Echelnpöten!) in den Arnsberger Wald zurück. Schließung des Ruhrkessels traf. (nach W. Mues "Der große Kessel" Erwitte 1984, S.261) Hellweg, Haar und Möhnetal lagen also ab 1. April innerhalb dieses Kessels, und da die darin eingeschlossenen deutschen Soldaten mit dem sofortigen Einmarsch der Amerikaner rechnen mussten, sprengten sie schon an diesem 1. Ostertage hastig die beiden Möhnebrücken von Sichtigvor. In der Tat drang schon am 3.4. eine Kampfgruppe der 8. US-Panzerdivision über Hoinkhausen - Berge bis Altenrüthen (4.4.) vor. Am 5.4. wandte sie sich westwärts und nahm ohne deutsche Gegenwehr Effeln, Uelde und Waldhausen. Als sich die Fahrzeuge am Nachmittag des 5. Aprils Echelnpöten näherten, gerieten sie unerwartet in den gezielten Beschuss zweier deutscher Panzer bei Gurris (Echelnpöten). Es kam zu dem verhängnisvollen Panzergefecht, bei dem es nach Kaspar Süggeler zwar unter den deutschen Zivilisten keine Toten, aber um so mehr unter den im Freien lagernden russischen Kriegsgefangenen gab. Da die Amerikaner die Toten und Verwundeten sofort abtransportierten, sind Zahlen nie bekannt geworden. Als amerikanische Vorposten sich noch gegen Abend (5.4.) bis an die "Haartännekes" (S-Kurve) vorschoben, begann für Soldaten und Bewohner auf Haus Mülheim eine lange bange Nacht. ("Unser Kirchspiel" Nr. 42) Der dekorierte Weltkriegsteilnehmer im Gänsestall eingesperrt Die Kriegsereignisse des nächsten Tages konnte Kaspar Süggeler großenteils aus eigenem Erleben aufschreiben. Er war am 6. April gegen Mittag zu dem besetzten Haus Mülheim aufgebrochen, um just heute, wie er beteuerte, "geschäftlich mit dem Bauer Kemper auf Haus Mülheim zu sprechen". Es war ihm offensichtlich peinlich, dass die Amerikaner ihn ohne viel Federlesens mit anderen zivilen "Schlachtenbummlern" in den Gänsestall sperrten, der damals wie ein Käfig in den Innenhof ragte. Mehrere Stunden musste er im Stroh stehend ausharren, und so hat er seine Episode auf dem Gutshof, wenigstens in seiner Tagebuchschilderung, einem anderen in den Mund gelegt: Am Freitag, den 6. April. In Sichtigvor, Mülheim ist die Lage in diesen Tagen wie folgt.: Die 3 Panzersperren, die auf Anordnung von Partei vom Volkssturm seit 14 Tagen bei Schulte-Nölken Hof an der Prov. Straße, an der Mühle von Nagel-Doornick zwischen nordöstl. der Mühle und der Klostermauer und an der Kreisstraße bei Haus Mülheim zwischen südöstl. Scheunenecke und Eichen angelegt wurden, sind von Deutschen Soldaten besetzt und geschlossen. Ein Stabsfeldwebel, 2 Unteroffiziere und ca. 20 Mann halten Herausgegeben vom Arbeitskreis für Heimatpflege im Kirchspiel Mülheim/Möhne Willi Hecker/Ludwig Marx (alle Ausgaben sind im Internet unter: http://www.heimatverein.sichtigvor.de/ zu erhalten) die Wache bei der Sperre Haus Mülheim und Mühle Mülheim mit Quartier in der Hoesch-Baracke im Klostergarten. In den frühen Morgenstunden treffen im Ort an der Mühle weitere Soldaten einer Kampfformation mit Richtung Haus Mülheim ein. Ein Oberfeldwebel, der das Ritterkreuz trägt, und der Oberfeldwebel Böhm von Sichtigvor, sind dabei. Bald ziehen diese in Richtung Allagen angeblich zum Kampfeinsatz Brüllingsen. Weitere Gerüchte verlauten, dass der Wald südlich von Sichtigvor von starken SS-Einheiten besetzt sein soll, doch bestätigen sich diese nicht. Über Belecke kommt die Nachricht, dass die Stadt von SSTruppen verteidigt werden soll. Für die Einwohner, die besonders in der Nähe der Sperren ihren Wohnsitz haben, ist die Lage ziemlich aufregend, zumal der Stabsfeldwebel erklärt, dass die Sperren unter allen Umständen verteidigt werden. Die Soldaten liegen, mit "Panzerfäusten" und "Panzerschreck" im Anschlag, auf ihren Posten ... Bis 11 Uhr Vormittag ereignet sich nichts. Die Soldaten haben vor einer Stunde vorübergehend die Sperre verlassen und erkunden rückwärtige Stellungen im SüdAls Zwölfjähriger beobachtete Kaspar Eickhoff am 5. April 1945 von dieser Stelle teil von Sichtigvor. In Mülheim ist die (Trinkwassertunnel) am westlichen Ortsrand Waldhausens die amerikanische Beschießung Echelnpötens. Von den massenhaft auf dem Gefechtsfeld liegen gelassenen PanTruppe seit 3 Uhr in der Nacht in der zer-Kartuschen (105mm) brachte der Zwölfjährige diese beiden nach Hause. Sie dienten, Richtung auf den Wald fort, und ist nicht im Sinne von "Schwertern zu Pflugscharen" schon am 1. Julisonntag 1945 bei der gromehr zurück gekommen. Gegen 11 Uhr ßen Prozession des Kirchspiels als Blumenvasen im Straßenaltar der Eickhoffs. kommt das Kommando Sichtigvor zur Sperre Mühle zurück, um sie neu zu besetzen, und da sie von Zivil geöffnet war, erneut zu schließen. Plötzlich stiebt alles wie elektrisiert auseinander und in Deckung, um sich dann beschleunigst nach Sichtigvor, ins Südteil desselben zurückzuziehen. Die Soldaten hatten die Nachricht erhalten, dass 3 feindl. Shermanpanzer, 2 ... Panzer und einige Panzerspähwagen mit ca. 100 Mann Besatzung um 11 Uhr auf das Gehöft Haus Mülheim aus Richtung Tommeshof eingerollt sind. Wieder wird nun jeden Augenblick, wie schon am Tage vorher, das Anrollen ins Dorf erwartet. Jedes Haus hält die weiße Fahne bereit. Doch ereignet sich vorläufig weiter nichts. Jegliche Arbeit ruht. Die Leute stehen in Trupps beisammen und diskutieren, jeder in seiner Auffassung, die Lage. Zwei Sichtigvorer Einwohner (Zivilisten) kommen unfreiwilliger Weise mit den Amis auf Haus Mülheim schon in Berührung. Der eine schildert das Erlebnis wie folgt: "Ich hatte geschäftlich mit dem Bauer Kemper auf Haus Mülheim etwas zu besprechen, und wollte ohne bestimmte Kenntnis von der Tatsache, dass der Hof schon vom Feind besetzt war, dies schnell erledigen. Kurz vor dem Hof angekommen, kommen 2 Amis aus ihrer Deckung, schussbereit, und eskortieren mich zum Hofe. Schon eingesperrten anderen Zivilisten wurde ich beigestellt, von einem Ami mit schussbereitem Gewehr bewacht. Etwas lächerlich kam mir die Bewachung vor und wirklich abenteuerlich, einfache harmlose Zivilisten, dabei ein Junge von dreizehn Jahren, in solch scharfer Art zu bewachen. "Not speak" fuhr uns jeden Augenblick der Ami mit seinem ausgeprägten Mischlingsgesicht an, sobald einer von uns Männern wagte, den anderen auch nur anzusehen. Ungemütlich und langweilig wurde die Situation, bis ich endlich auf wiederholtes Drängen bei dem Posten ... ... erwirkte, dass ich dem Kampfoffizier vorgestellt wurde. Auf dem Gutshof ist ein Kommen und Gehen von Meldern und Befehlempfängern. Die Soldaten liegen faulenzend in ihren Panzern oder rauben Geflügel und Eier. Die Funk- und Radiogeräte sind in ewiger Tätigkeit und Befehle und Meldungen fliegen hinüber und herbei, dem Ohr gut hörbar, doch schließlich kaum verständlich. Dem Dolmetscher schildere ich den Grund meines Hierseins und mache ihm klar, dass ich dringend zurück zu meinen Geschäften muss. Der Offizier hat zunächst wenig Verständnis dafür, doch erreiche ich, dass er mich für 25 min beurlaubt unter Abgabe meiner Versicherung, dass ich umgehend zurückkomme. Das geschieht prompt. Der Offizier dankt bei meiner Meldung und überweist mich für die weitere Stunde bis zu meiner Entlassung dem Hausherrn als dessen Gast. Inzwischen ist es nachmittags 4 Uhr geworden, der Gemeindevorsteher von Mülheim, Hofbesitzer Schulte-Nölke, erscheint auf dem Gute, um seine Gemeinde zu übergeben. Er wird dem Kampfoffizier vorgeführt und im Nebenzimmer höre ich folgendes Gespräch: "Wer sind Sie und warum sind Sie gekommen?" - "Ich bin der Gem. Vorsteher von Mülheim und ich möchte meine Gemeinde übergeben.!" - "Sind in Mülheim noch deutsche Soldaten?" - "Es waren Heinrich Schulte-Nölke bis heute Nacht 3 Uhr ca. 10 Mann im Ort. Sie sind dann in Richtung auf den Wald Bürgermeister von Mülheim 1935 - 1948 nach Süden abgezogen!" - "Sind Sie sicher, dass unser Einmarsch nicht mehr ge- fährdet ist?" - "Jawohl!" - "Danke, bitte nehmen Sie Platz!" Es vergeht eine weitere halbe Stunde. Der Kommandant wird ungeduldig. Der Bürgermeister Flocke von Sichtigvor ist trotz wiederholter Aufforderung durch Boten zwecks Übergabe von Sichtigvor nach dem Gutshof Haus Mülheim zu erscheinen, nicht eingetroffen. Er fordert den Hofherrn auf, letztmals einen Boten zu Flocke zu schicken. In 30 Minuten soll das Dorf unter Schuss genommen werden. An die vier Panzer gehen die diesbezüglichen Befehle und hierauf zeigen bald die Rohre der 8.8 Geschütze hinüber nach Sichtigvor. Es ist eine aufregende Situation. Niemand der anwesenden Zivilisten wagt ein lautes Wort. Der Kommandeur im Nebenzimmer trommelte nervös auf die Tischplatte. Da, endlich kurz vor Ablauf der gestellten Frist, erscheint die Botin mit dem Bürgermeister Flocke. "Sie wollen das Dorf Sichtigvor übergeben?" - "Jawohl!" - "Sind im Dorf deutsche Soldaten? Sind Sie sicher, dass nicht gekämpft wird?" - "Im Ort waren bei meinem Abgang ca. 20 Mann und ein Stabsfeldwebel. Nach langen Verhandlungen mit dem Feldwebel hat er versprochen, sich sofort kampflos zurückzuziehen." - "Sie haften mit Ihrem Kopf dafür, dass nicht Widerstand geleistet wird. Andernfalls werden Sie erschossen!" Inzwischen ist es 1/2 6 Uhr nachmittags geworden. Schulte-Nölke von Mülheim ist nach Hause entlassen worden. Flocke wird bedeutet, sich auf den Kühler eines Spähwagens, knapp vor der Mündung der MGs zu postieren. Der Bürgermeister steigt ein, und dann rollte der gesamte Spähwagenpulk mit dem Wagen des Bürgermeisters an der Spitze, hinunter ins Dorf. Anmerkung: Zu dem "Spähwagenpulk" gehörten als Kugelfang der nachfolgenden Jeeps die erst 15-jährigen Sichtigvorer Hubert Hillebrand, Heinz Kellerhoff und der als Evakuierter auf Haus Mülheim wohnende Karl Friedrich Funke. Als dessen Mutter, Frau Clemens Beckmann, ihren Sohn auf das Fahrzeug aufsteigen sah, erhob sie dagegen so lautstarken Protest, dass die Amerikaner ihn wieder herunter ließen.1 Der 15-jährige Gymnasiast Paul Fehndrich, Sohn von Maria Köster aus der Wirtschaft Köster-Mennekes, diente den Amerikanern mittlerweile als unentbehrlicher Dolmetscher. Er wurde einer der wichtigsten Augenzeugen ("Unser Kirchspiel" Nr.42). Nach seiner Aussage standen von der Panzersperre Mühle, als die amerikanischen Jeeps Richtung Mülheim auf die Möhnestraße einbiegen wollten, nur noch die "Pfeiler". Morgens noch von deutschen Soldaten mit Panzerfaust und Panzerschreck besetzt, müssen Sichtigvorer Einwohner (vielleicht sogar der Volkssturm) die aus Baumstämmen errichtete Panzersperre nachmittags eilends abgebaut haben. An der östlichen Ortsgrenze Mülheims machte der Konvoi kehrt, um über den Damm nach Sichtigvor vorzustoßen. Die von der Wehrmacht zerstörten Brücken erfüllten ihren Zweck, die Jeeps mussten vor der "Eisernen" halten, und die Amerikaner nebst Dolmetscher überschritten den Mühlengraben auf dem schon gezimmerten Notsteg. Eben hinter der nächsten "Steinernen" Brücke, an der früheren Milchbank, gingen die Amerikaner eilends in Deckung, als sie deutsche Soldaten jenseits der Bahngleise erspähten. Den 15-jährigen Paul Fehndrich schickten sie dann mit einem weißen Tuch in der Hand als Parlamentär vor. Es kam dann zu der von Kaspar Süggeler geschilderten denkwürdigen Begegnung zwischen den Amerikanern und den letzten deutschen Soldaten in Sichtigvor: Die Invasion von Sichtigvor-Mülheim erfolgt, am 6. April 1945 abends um 1/2 6 Uhr ... Ich bin mit weiteren Zivilisten aus der "Gefangenschaft" auf dem Gute Haus Mülheim entlassen und gehe hinunter ins Dorf ... Im Dorfe Sichtigvor rollen die Geschehnisse weiterhin wie folgt ab: Die Amerikaner sind mit Bürgermeister Flocke bis an die Ortsgrenze gegen Mülheim gefahren ohne Widerstand zu finden, sind dann zurück nach Sichtigvor, wo ihre Fahrt vor der nördlichen ("Eisernen") Möhnebrücke, die gesprengt im Wasser liegt, aufgehalten wird. Der Kampfoffizier mit Bürgermeister Flocke, dem Dolmetscher (Paul Fehndrich!) und gefolgt von 30 bis 40 am. Soldaten überschreiten den Notsteg der Brücke in Richtung zur nächsten zerstörten Brücke ("Steinerne Brücke"). Plötzlich sieht Flocke Fritz Flocke 200 m voraus in Gegend des Bahnhofsgeländes deutsche Soldaten. Wie der Blitz Bürgermeister von Sichtigvor 1937 - 1945 sind alle "Amis" in Deckung. Der Dolmetscher ruft den deutschen Soldaten zu, sie sollen sich ergeben, da jeder Widerstand zwecklos sei. Es fällt kein Schuss. Auch Flocke rät noch mal zur Übergabe und ruft hinüber, der Stabsfeldwebel möge als Parlamentär erscheinen unter Zusicherung seines Abzugs und Übergabe seiner Leute. Eine Weile vergeht, dann kommt der Feldwebel heran. "Wollen Sie Ihre Soldaten übergeben?" - "Jawohl, ich möchte keine Menschenleben mehr opfern!" Er winkt seine Leute heran, sie geben die Waffen ab und stehen die Hände über dem Kopf, teilnahmslos, beiseite. "Wollen Sie selbst sich auch ergeben?" fragt der Dolmetscher den Feldwebel. "Nein, ich möchte meine Waffen behalten und mich kampflos zurück ziehen!" Der amerikanische Leutnant gibt dem Feldwebel eine Cigarette, reicht ihm kameradschaftlich die Hand. Die beiden grüßen stramm - All right! - Heil Hitler! - Der deutsche Soldat zieht sich, im vollen Besitz seiner Waffen, ohne seine Soldaten einsam zurück in Richtung Sichtigvor und den Wald. Die waffenstarrenden Amerikaner sehen ihm eine Weile nach, die Zivilisten ebenfalls. Die Situation wirkt eigenartig. Müde und niedergeschlagen ziehen die entwaffneten deutschen Soldaten mit den Amis in Richtung Haus Mülheim davon. Seit dieser Stund hat der letzte waffentragende deutsche Soldat das stille Dorf verlassen! ... Fortsetzung des Kaspar Süggeler-Tagebuchs 1945 in "Unser Kirchspiel" Nr. 99 mit - Amerikaner in Mülheim und Sichtigvor die erste Nachkriegszeit mit Plünderungen und Not 1 mündliche Mitteilung von Hildegard Kruse, geb. Funke Herausgegeben vom Arbeitskreis für Heimatpflege im Kirchspiel Mülheim/Möhne Willi Hecker/Ludwig Marx (alle Ausgaben sind im Internet unter: http://www.heimatverein.sichtigvor.de/ zu erhalten)
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