Impulse. Ich war fremd… - Caritasverband für den Rhein

2 / 2015
FÜR DIE PASTORAL
ICH WAR FREMD …
Migration – Asyl – Flucht
EDITORIAL
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
ehrenamtlichen und hauptamtlichen Dienst
unserer Erzdiözese,
„Ich war fremd … – Migration, Flucht, Asyl.“ So
lautet der Titel unseres neuen Heftes der Impulse,
ganz bewusst ein biblisches Wort als Einstieg aus dem
Matthäusevangelium: „Ich war fremd und ihr habt
mich aufgenommen“. Dies bedeutet, die Entfremdung
wird wirklich – Schritt für Schritt – überwunden, die
Aufnahme, die Annahme ist erfolgt bzw. findet statt.
Hier gibt es allerdings im Evangelium auch den „Gegensatz“ im wahrsten Sinne des Wortes: „ihr habt
mich nicht aufgenommen“. Das sind nun nicht irgendwie zwei Varianten, die situativ angewandt werden
können, hier geht es um alles, um uns selbst, nämlich
darum, wo wir selbst endgültig landen werden (vgl.
Mt. 25/31– 46).
Migration bedeutet eigentlich Wohnsitzverlagerung,
insofern man überhaupt einen Wohnsitz als Ausgangsbasis hat. Hier gibt es sowohl für Immigration
– da will ich hin – als auch für Emigration – da will
ich weg – ganz unterschiedliche Gründe und Motivationslagen, durchaus auch zeitbedingt in Umkehrbewegungen, wie wir es gerade in Europa erfahren. Auch
deshalb sind vorschnelle Bewertungen sehr kritisch
zu sehen.
Christen und Christinnen sind Menschen, die ihren
endgültigen Wohnsitz in Gott verankert wissen,
Menschen also, die die alles entscheidende Migrationsbewegung in Jesus Christus vollzogen haben.
Wer in Gott in einem unkündbaren Zuhause wohnen
darf, hat den Auftrag, diese rettende und endgültige
2
Migrationsbewegung zu unterstützen; d.h. gerade für
die Menschen im Rahmen aller unserer Möglichkeiten
besonders da zu sein, die unfreiwillig aus ihrer Not
heraus zu uns kommen. Hier dürfen wir nicht „fremdeln“. Es geht darum, ausgehend vom gemeinsamen
Hauptwohnsitz aller Menschen in Gott, hilfesuchende
Migranten – unabhängig von ihrer eigenen Herkunft
und Glaubensüberzeugung – bewusst als Kirche
diakonisch zusammen mit Kooperationspartnern
kompetent zu unterstützen und dort, wo es adäquat
ist, auch pastoral zu begleiten, sie erfahren zu lassen,
dass sie zu uns gehören.
Durch den Fokus auf die speziellen Herausforderungen in der Flüchtlingsarbeit dürfen dabei unsere
muttersprachlichen Gemeinden nicht aus dem Blick
geraten, im Gegenteil.
Unser Heft will mit den Zugängen und den Erfahrungen die ganze Vielfalt in den Blick nehmen und
gerade dadurch Mut machen zur Konkretion: „Ich
war fremd und ihr habt mich aufgenommen“.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Andreas Möhrle
Domdekan und Rektor des
Erzbischöflichen Seelsorgeamtes
für die Pastoral
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INHALT
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Meditation
Wider den Stammtisch! – Christliches zur Flüchtlingsthematik
von Daniel Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Zugänge
Migration
von Jochen Oltmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Migration als Lernaufgabe – Praktisch-Theologische Perspektive
von Regina Polak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Migration und Heterogenität
von Elke Tießler-Marenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Eine Kirche in vielen Sprachen und Völkern
von Stefan Schohe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Erfahrungen
Rickenbach aktiv für Flüchtlinge – Ehrenamtliche gestalten eine zivilgesellschaftliche Aufgabe mit
von Anneli Ahnert und Alexander Gromann-Bross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
„Nah an Menschen von weit weg“
von Gerhard Lück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Kirchenasyl in der Seelsorgeeinheit Brühl-Ketsch
von Martina Gaß und Walter Sauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Vertrauensperson, Anwalt, Betroffener
Interview mit Heinz Vogel und Kemal Ahmed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Die Nähstube als Ort der Begegnung,Verständigung und des gemeinsamen Lernens
von Michaela Günter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Solidarität mit osteuropäischen Pflegehelferinnen und Pflegehelfern
von Michaela Lampert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Interkulturelles Café im Kinderhaus Arche Noah
von Nadia Bickel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Wenn Verständigung möglich wird – Pforzheim ist Spitze
von Tobias Gfell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Medien zum Thema
Material und Medien
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für die Pastoral
Meditation
Meditation
Zugänge
für die Pastoral
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MEDITATION
Wider den Stammtisch!
CHRISTLICHES ZUR FLÜCHTLINGSTHEMATIK
Eine jesidische Familie flieht von herannahenden
Terroristen des IS.
Seit Monaten sehen wir Bilder, die eigentlich nicht
auszuhalten sind aber dennoch merkwürdig dumpf
an uns vorbei ziehen. Wer vermag es, seine Empathie
auch nur bei diesem einen Bild zuzulassen? Erreicht
uns doch täglich ein nicht endender Strom unerträglicher Bilder, verknüpft mit Horror-Nachrichten.
Daneben beherrscht seit Monaten eine groteske
Debatte unsere Gesellschaft: Wer darf herein nach
Europa? Gar niemand? Nur die „echten“ Flüchtlinge,
die unter Krieg und Vertreibung leiden? Wer ist
bereit, wie viele aufzunehmen?
Vor über 2000 Jahren ist eine ähnliche Familie auf der
Flucht gewesen.
Diese Familie hatte nichts. Der Mann war keine hochqualifizierte Fachkraft, die für die Produktivität des
Aufnahmelandes hilfreich gewesen wäre. Dann war da
auch noch ein Neugeborenes, das erst mal nur isst,
schreit und nichts leistet.
Was wäre gewesen, wenn die Ägypter die Grenze abgeriegelt hätten, wenn die Familie wieder nach Palästina verfrachtet worden wäre? Dann wäre es schnell
vorbei gewesen mit unserem Religionsstifter und alle
von uns hätten heute einen anderen Job.
Die Erzählung von der Flucht nach Ägypten ist eine
der ersten Erzählungen über Jesus Christus. Sie
macht deutlich, was sich durch Jesu Botschaft und
Handeln hindurch zieht: Gott steht auf der Seite
der von Gewalt Bedrohten, Geknechteten und Verfolgten.
Diese Erkenntnis ist pastorale Binsenweisheit und
schnell ausgesprochen. Auch der Auftrag, der sich
daraus für alle Christinnen und Christen ableitet, ist
schnell formuliert.
Das Verständnis für diese Erkenntnis und ihre ganze
Tragweite fällt da schon schwerer. Denn wer dies
wirklich ernst nimmt, kann nicht mehr weiter machen wie bisher.
Vielleicht ist es gerade in Zeiten der Neuorientierung
in veränderten Seelsorgeeinheiten eine heilsame
Irritation, sich für einen kurzen Moment auf diese
jesidische Familie und ihr Schicksal einzulassen. Bei
allem, was an täglichem Hamsterrad-Lauf berechtigt
ist, blitzt so ganz kurz das auf, was unser eigentlicher
Auftrag ist: Einsatz für die von Gewalt Bedrohten,
Geknechteten und Verfolgten.
Vielleicht ist diese Irritation so stark, dass im Rahmen
eines ohnehin knappen Zeitbudgets nach Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Auftrags gesucht wird.
Dabei geht es weniger darum, neue Veranstaltungsformen zu entwickeln und Initiativen zu starten. Sondern es geht darum, als Privatperson und als Vertretung der Kirche vor Ort Position zu beziehen in der
aktuellen Debatte im Freundeskreis, beim Stammtisch oder in der Gesprächsrunde. Fest steht dabei:
Christliche Positionen sind wichtiger denn je!
Daniel Dombrowsky
Referent für Ministrantenpastoral im Erzbischöflichen
Seelsorgeamt
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für die Pastoral
Zugänge
Zugänge
für die Pastoral
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ZUGÄNGE
Migration
Sind wir in Europa mit einer unüberschaubaren Zuwanderung aus dem „Süden“ konfrontiert?
Was sagen die Statistiken aus? Und: Was versteht man eigentlich unter Migration? Der
einführende Beitrag von Jochen Oltmer klärt Begriffe und räumt mit Vorurteilen auf. (Red.)
Migration bildete in den vergangenen Monaten erneut ein zentrales Thema politischer und medialer
Diskussionen in Deutschland und Europa. Trotz der
hohen und konstanten Aufmerksamkeit blieb die
Wahrnehmung räumlicher Bevölkerungsbewegungen,
wie schon in den Vorjahren, extrem selektiv: Im Vordergrund standen die Aufnahme und Unterbringung
von Flüchtlingen sowie die Bedingungen und Folgen
der Gewährung von Asyl angesichts eines deutlichen
Anstiegs der Zahl der Schutzersuchen. Zwischenzeitlich wurde außerdem die Zuwanderung aus den neuen EU-Staaten Rumänien und Bulgarien unter dem
Stichwort ‚Armutsmigration‘ ein Schwerpunkt von
Berichterstattung und politischen Debatten. Immer
wieder ging es um Bewegungen, die als (potentielle)
Gefahr für Sozialsysteme, innere und äußere Sicherheit, aber auch gesellschaftlichen Frieden in Bundesrepublik und EU eingeschätzt wurden. Die Tatsache,
dass Europa nur ein Rinnsal der umfangreichen
Fluchtbewegungen aus und in den Kriegs- und Krisenzonen der Welt erreichte, geriet demgegenüber
ebenso wenig in den Fokus wie die Normalität der
europäischen Migrationssituation mit ihren millionenfachen räumlichen Bewegungen.
Was ist Migration?
Der Begriff Migration verweist auf räumliche Bewegungen von Menschen. Er meint jene Muster regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für
die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus
denen Veränderungen sozialer Institutionen resultieren. Mithin wird nicht jede Form räumlicher Bewegung als Migration verstanden, das gilt insbesondere
nicht für touristische Aktivitäten und andere Aufenthalte andernorts von kurzer Dauer, so zum Beispiel
auch im Fall von Tages- oder Wochenpendlern.
Migrantinnen und Migranten streben danach, durch
räumliche Bewegungen Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten sowie Arbeitsmarkt- oder Bildungschancen
zu verbessern bzw. sich neue Chancen andernorts
zu erschließen. Migration bildet hier ein Element der
Lebensplanung und verbindet sich häufig mit (erwerbs-)biographischen Grundsatzentscheidungen wie
Partnerwahl und Familiengründung, Wahl von Ausbildungs- oder Studienplatz, Beruf oder Arbeitsplatz;
der überwiegende Teil der Migranten ist also jung.
Migration kann aber auch eine Entsendung im Rahmen von Organisationen und Institutionen (z. B.
multinationale Unternehmen, diplomatischer Dienst,
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für die Pastoral
Zugänge
Kirchen) umfassen oder als ‚lifestyle migration‘ auf
räumliche Ziele ausgerichtet sein, die höhere Lebensqualität und Selbstverwirklichung zu bieten scheinen.
Während in einem solchen Kontext die Handlungsmacht des Einzelnen zur Umsetzung eines Migrationsprojekts hoch ist, gilt das für andere Konstellationen
weit weniger; denn Migration stellt auch eine mögliche Reaktion auf Krisen dar, etwa dort, wo Abwanderung Ergebnis von Umweltzerstörung oder akuter
wirtschaftlicher und sozialer Notlagen ist.
Institutionelle Akteure, insbesondere staatliche, quasi- oder überstaatliche Einrichtungen beobachten und
bewerten vor dem Hintergrund spezifischer Interessen und Ziele das Migrationsgeschehen und beeinflussen es mit unterschiedlich leistungsfähigen Instrumenten. Sie kanalisieren Migrationsbewegungen, ziehen Grenzen und kategorisieren Migranten. Ihre Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen
können die Handlungsmacht und damit die Freiheit
und Freizügigkeit von Einzelnen oder Kollektiven so
weit beschränken, dass Formen von Zwangsmigration (Flucht, Vertreibung, Deportation) die räumliche
Mobilität dominieren.
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Herkunftsräume und Zielgebiete von Migration sind in
der Regel über Netzwerke, also über durch Verwandtschaft, Bekanntschaften und Herkunftsgemeinschaften
zusammengehaltene Kommunikationssysteme miteinander verbunden. Migrantennetzwerke vermitteln
Wissen über Chancen und Gefahren der Ab- bzw.
Zuwanderung, über räumliche Ziele, Verkehrswege sowie psychische, physische und finanzielle Belastungen.
Verwandte und Bekannte sind in der Regel die erste
Station neu ankommender Migranten. Netzwerke
bieten Orientierung und Schutz, vermitteln Arbeitsund Unterkunftsmöglichkeiten, helfen bei Kontakten
mit Behörden. Sie haben mithin ein hohes Gewicht im
Kontext von Ankunft und Integration.
Integration bedeutet das permanente Aushandeln von
Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen
oder rechtlichen Teilhabe. Es handelt sich um einen
Prozess langer Dauer, der in der Regel Generationen
umfasst. Sehr unterschiedliche staatliche Kategori-
sierungen von Migranten ermöglichen und steuern
den Einbezug in oder den Ausschluss aus gesellschaftlichen Teilbereichen. Weil der Migrationsprozess
allerdings grundsätzlich ergebnisoffen bleibt, stellt
die dauerhafte Ansiedlung andernorts nur eine der
möglichen Ergebnisse von Migrationsbewegungen dar.
Vielmehr bildet Fluktuation, z.B. zirkuläre Bewegung
oder Rückwanderung, immer ein zentrales Kennzeichen von Migration.
Dimensionen von Migration
Die deutschen und europäischen Debatten um Migration vermitteln den Eindruck, riesige Migrationsströme seien auszumachen und würden insbesondere Europa aus dem globalen ‚Süden‘ kommend erreichen.
Dem ist nicht so. Die Migrationsverhältnisse in Europa sind vor allem geprägt durch die Zuwanderung aus
anderen europäischen Staaten und aus Staaten, die
ein vergleichbares Wohlstandsniveau haben. Das lässt
sich auch am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland illustrieren: 80 bis 90 Prozent aller Zuwanderer,
die in den vergangenen Jahren Deutschland erreichten, kamen aus europäischen Ländern, nur rund drei
Prozent beispielsweise 2012 und 2013 aus Afrika.
Trotz der in vielen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und politischen Feldern auszumachenden fortschreitenden Globalisierung bleibt die Zuwanderung nach
Deutschland in aller Regel europäisch.
Ohnehin muss festgehalten werden: Der Umfang
der globalen grenzüberschreitenden Migration ist in
den vergangenen Jahren auf einem niedrigen Niveau
relativ stabil geblieben. Neueste Studien zeigen, dass
zwischen 1990 und 2010 im Zeitraum von jeweils fünf
Jahren nur ca. 0,6% der Weltbevölkerung staatliche
Grenzen überschritten haben. In absoluten Zahlen
heißt das etwa für 2005–2010: 41,5 Millionen grenzüberschreitende Migrationen weltweit. Obgleich
auch in den kommenden Jahrzehnten die Bevölkerung
in den ärmeren Ländern anwachsen und in den Industrieländern stagnieren wird, geht die UN davon
aus, dass der Umfang der Migration aus den weniger entwickelten in die besser entwickelten Länder
nicht weiter steigen wird. In den zwei Jahrzehnten
von 1985 bis 2005 gab es noch einen Zuwachs der
Migration aus den weniger entwickelten in die entwickelten Länder der Welt. Für den Zeitraum 2000
bis 2005 ermittelte die UN 17,6 Millionen Migranten,
die aus weniger entwickelten in entwickelte Länder
wechselten, darunter 8,1 Millionen aus Asien, 6 Milli-
Zugänge
onen aus Lateinamerika und 3,1 Millionen aus Afrika.
Für das Jahrfünft 2005 bis 2010 beobachtete die UN
bereits einen Rückgang auf 16,6 Millionen. Dieser
Trend setzte sich fort und soll sich fortsetzen: Für
2010 bis 2015 spricht die UN von 12,5 Millionen,
2025 bis 2030 nur noch rund 11 Millionen Migranten.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Umfang
der Bewegungen aus dem ärmeren ‚Süden‘ in den
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dass der ärmeren › Süden‹ inWelt
aus dem en › Norden‹ der wird.
reich er weiter abneh men
zukünftig
reicheren ‚Norden‘ der Welt zukünftig weiter abnehmen wird, in den vergangenen Jahrzehnten aber
ohnehin bereits relativ gering war – eine Feststellung, die gänzlich den häufig lautstark vorgebrachten
Auffassungen über die vermeintliche Bedrohung
›westlicher‹ Gesellschaften durch Massenzuwanderungen aus den weniger entwickelten Weltregionen
widerspricht. Die Raten der grenzüberschreitenden
Migration sind selbst in Großregionen niedrig, in denen kaum oder keine formalen Migrationsbarrieren
bestehen: Nur zwei Prozent aller Bürger der Europäischen Union leben in einem anderen Staat der EU,
obgleich bereits die Römischen Verträge von 1957
Freizügigkeit als Ziel der europäischen Integration
festgeschrieben und über viele Jahrzehnte hinweg die
Bewegungen zwischen den europäischen Staaten erleichtert (und gefördert) worden sind. Selbst die viel
diskutierten EU-Osterweiterungen haben dabei keine
signifikanten Veränderungen herbeigeführt, vielmehr
sind die europäischen Mobilitätsraten seit ca. 30 Jahren stabil.
Das schließt allerdings (sich stets wandelnde)
Schwerpunkte der EU-Binnenmigration nicht aus: Die
Bundesrepublik ist aktuell das Hauptziel. In Deutschland lebten 2013 3,1 Millionen Angehörige anderer
EU-Mitgliedstaaten, die hier 3,8% der Bevölkerung
stellten. Davon kamen mehr als die Hälfte (1,8 Millionen) aus Ländern, die bereits vor 2004 EU-Mitglied
waren, darunter vor allem Italien (550.000) und
Griechenland (316.000). Aus den 2004 der EU beigetretenen acht Staaten Osteuropas sowie Malta und
Zypern lebten 2013 927.000 Angehörige in Deutschland, Polen dominierte mit über 600.000. Rumänien
für die Pastoral
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und Bulgarien, 2007 in die EU aufgenommen, bildeten
Herkunftsländer von 414.000 Migranten in der Bundesrepublik, wobei Rumänen mit 267.000 die Bulgaren (147.000) deutlich überragten.
Zu beachten bleibt die hohe Fluktuation: In der Regel ist auch die Migration aus den osteuropäischen
EU-Beitrittsländern auf temporäre Aufenthalte in
Deutschland ausgerichtet, weshalb hohe Zuwanderung mit hoher Abwanderung korrespondiert: So
stand der Zuwanderung von 135.000 Rumänen 2013
die Abwanderung von 86.000 gegenüber, 59.000
Bulgaren wanderten zu, 39.000 wieder ab. Diese Tendenz gilt nicht nur für die jüngst aufgenommenen EUMitglieder, auch die polnische Zuwanderung lag 2013
bei 197.000, die Abwanderung bei 125.000. Die hohe
Fluktuation ergibt sich nicht zuletzt aus der wachsenden Attraktivität des Hochschul- und Wissenschaftsstandortes Deutschland: Unter den Migranten aus
Bulgarien und Rumänien finden sich z. B. zahlreiche
Studierende und Nachwuchswissenschaftler, die
einen Aufenthalt in der Bundesrepublik zur Weiterqualifizierung nutzen. Nach Angaben des Instituts der
deutschen Wirtschaft in Köln brachten im Zeitraum
von 2001–2011 29 % aller Zuwanderer aus der EU
zwischen 25 und 65 Jahren einen Hochschulabschluss
mit, unter den Rumänen und Bulgaren lag der Anteil
bei 25%, während er in der bundesdeutschen Bevölkerung mit 19% deutlich niedriger liegt. Vor diesem
Hintergrund lässt sich auch keine spektakulär hohe
Erwerbslosigkeit ausmachen: Die Erwerbslosenrate
erreichte in der Bundesrepublik im August 2014 insgesamt 7,8%, bei Rumänen und Bulgaren 9,2 %, wobei
die Rate der quantitativ dominierenden Rumänen mit
6,5% die bundesdeutsche Rate unterschritt – und
weit unterhalb derjenigen aller Ausländer lag (15,1%).
Perspektiven
Vor diesem Hintergrund muss festgehalten werden:
Weil es keinen ‚Massenansturm‘ von Migranten auf
die europäischen Grenzen gab und gibt und auch zukünftig ein solcher nicht zu erwarten steht, entbehren viele Ängste im Blick auf die Folgen von grenzüberschreitender Migration der Grundlage. Zugleich
müssen viele restriktive Strategien und Praktiken im
Umgang mit Migration aus dem globalen ›Süden‹ als
Symbolpolitik verstanden werden – sie behaupten,
umfängliche ‚Migrationsströme‘ behindern und verhindern zu können, die aber gar nicht im vorgestellten Maße existieren.
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für die Pastoral
Zugänge
Tendenzen der Öffnung und der Schließung beherrschen gleichzeitig die Migrationspolitik in Europa
sowie die medialen und öffentlichen Debatten. Die
EU und die Bundesrepublik Deutschland haben in
den vergangenen Jahren zahlreiche unterschiedliche
migrationspolitische Instrumente entwickelt, ohne
jemals ausgehandelt zu haben, welche mittel- und
langfristigen Ziele für die verschiedensten Formen
von Migration (EU-Freizügigkeit, Anwerbung von
Hochqualifizierten und Arbeitskräften in Mangelbereichen, Bildungs- und Ausbildungsmigration, Umgang mit temporärer Zuwanderung, Asyl) mit diesen
Instrumenten erreicht werden sollen. Die fehlende
Zielformulierung minimiert nicht nur die Wirkung
der Instrumente, sondern lässt auch große Unsicherheit in der europäischen Bevölkerung zurück, die alle
Fragen von Migration und Integration betreffen. Die
EU verweist stets vehement auf europäische Werte.
Sie müssen auch als Leitbild für eine europäische Migrationspolitik fungieren.
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Jochen Oltmer
Universität Osnabrück
Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle
Studien
Zugänge
für die Pastoral
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Migration als Lernaufgabe
PRAKTISCH-THEOLOGISCHE PERSPEKTIVEN
Das reiche Europa hat Schwierigkeiten, die Realität von Migration, Flucht und Vertreibung
als Normalität anzuerkennen. Theologisch gehört Migration zur inneren Dynamik der Kirche
selbst, wie schon die biblischen Erzählungen bezeugen. Die Aufnahme von Migranten heute
ist Teil des Selbstvollzugs von Kirche, bezeugt ihre Treue zum Evangelium, dient ihrem
Aufbau und ist für alle die Chance, die Wirklichkeit Gottes auf neue und vertiefte Weise zu
erfahren. (Red.)
Lernaufgabe: Migration als Normalität
anerkennen lernen
Migration ist keine Abirrung, sondern eine Konstante
der Menschheitsgeschichte. Massenmigrationen haben in den vergangenen 500 Jahren eine Hauptrolle
im Kolonialismus, in der Industrialisierung, in der
Bildung von Nationalstaaten und in der Entwicklung
des kapitalistischen Weltmarktes gespielt. Damit verbunden waren Vertreibung, Deportationen, Gewalt,
Unrecht und Ungerechtigkeit. Zugleich wurde dabei
der fruchtbare Austausch von Ideen und Werten, kulturellen und religiösen Traditionen gefördert. Ohne
Migration gab und gibt es keine gesellschaftliche Innovation.1
Gleichwohl weist die zeitgenössische Migration neuartige Merkmale auf. Man kann von einem „Zeitalter
der Migration“ sprechen:
Neu ist die Quantität des Phänomens. Obwohl nur 3%
der Weltbevölkerung migrieren, ist nach Schätzungen
der UNO die Zahl der internationalen Migranten
zwischen 2000 und 2013 von ca. 150 Millionen auf
232 Millionen weltweit gestiegen. 2 Nicht mitgezählt
sind die Saison- und Binnenmigranten, die nicht legal registrierten Migranten oder die Nachkommen
von Migranten. Zudem ist seit 2012 die Anzahl von
Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen
um rund sechs Millionen auf über 51 Millionen Menschen gestiegen, das ist die höchste Zahl seit Ende
des Zweiten Weltkriegs – nicht zuletzt verursacht
durch den Krieg in Syrien. 3 Die Millionen Umweltflüchtlinge, zahlenmäßig nicht erfasst, sind in dieser
Statistik ebenso wenig berücksichtigt. Migration,
Flucht, Vertreibung haben längst die Grenzen demographischer Erfassung gesprengt.4
Neu ist die Qualität des Phänomens. Die „SuperDiversifizierung“5 globaler Migration führt zu einem
nicht mehr überschaubaren Ausmaß an Pluralisierung. Diese erschüttert traditionelle Vorstellungen
von Staat, Nation, Ethnie sowie Recht und Identität.
Zeitgenössische Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten fördern „transnationale Migration“ und
obaler Migration
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Die „Super m nicht mehr überschaubaren
führt zu eine an Plu ralisierung.
A usmaß
lassen Mehrfachzugehörigkeiten entstehen, die nicht
mehr in die klassischen Formate von „Heimat“ und
„Fremde“ passen. Rund um den Globus findet eine
„transnationale Revolution“ statt, die Gesellschaften
und Politiken neu formt. Migration fördert Entgrenzungsprozesse. Ein dabei entstehendes komplexes
System aus sozialen Interaktionen, institutionellen
Strukturen und informellen Netzwerken zwischen
entsendenden, aufnehmenden und Übergangsländern
fördert zugleich eine wachsende Vernetztheit zwischen den Nationen dieser Erde. Daher ist Migration
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für die Pastoral
Zugänge
sozioökonomisch und politisch bedeutsam wie nie
zuvor.
Neu ist daher auch die Aufmerksamkeit, die Politiker diesem Phänomen zollen. Leider gar nicht neu ist freilich die
Art und Weise dieser Aufmerksamkeit: Der politische
Widerstand gegen Migration ist heftig wie nie zuvor und
paart sich mit menschenfeindlichen Diskursen und Praktiken. Noch nie war er so eng mit nationalen Sicherheitsdiskursen und politischem Konflikt verbunden.
Europa wurde im 20. Jahrhundert zum Einwanderungskontinent und hat sich in eine Migrationsgesellschaft gewandelt. Die massenhaften Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Einwanderungen im Zuge der Dekolonialisierungsprozesse,
die Arbeitsmigration der 60er- und 70er-Jahre sowie
die erleichterte Binnenmigration innerhalb der Europäischen Union haben dazu wesentlich beigetragen.
Westeuropa reagiert seit den 1990er Jahren auf diese
Entwicklungen mit massiver Angst – so die offizielle Erklärung – vor unkontrollierbaren Zuströmen
der Armen aus dem Osten und dem Süden. Diese
Angst explodiert, seit die Ertrunkenen vor Lampedusa nicht mehr übersehen werden können und die
Flüchtlings“ströme“ aus dem Nahen Osten nicht aufhören. Sie äußert sich politisch in der Verschärfung
von Grenzkontrollen, von Einwanderungsgesetzen
und Betonung der Sicherheitspolitik. Diese schwächt
das intensive Engagement zahlreicher NGO´s im Bereich von Integrationsprojekten und Flüchtlingshilfe.
Das im globalen Vergleich reiche Europa hat Schwierigkeiten, die Realität von Migration, Flucht und Vertreibung als Normalität anzuerkennen. Migration gilt
vor allem als Problem und Störung. Die restriktivste
Einwanderungs- und Asylpolitik wird diesen Transformationsprozess freilich nicht aufhalten können. Die
erste Lernaufgabe besteht daher darin, Migration als
Normalität anzuerkennen und eine neue Perspektive
zu entwickeln, die Migration als Chance und Potential
zur Entwicklung Europas wahrnimmt.
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Lernaufgabe: Menschenfeindlichkeit entlernen
Zu viele Menschen, Gesellschaften und Staaten greifen derzeit auf Denk- und Verhaltensweisen zurück,
die sich als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“6 bezeichnen lassen. Diese Menschenfeindlichkeit
ist vor allem in Einwanderungs- und Übergangsländern sowie im reichen Westen der Welt im Wachsen. Antisemitismus7 und Islamophobie 8 , die Antipathie gegen Minoritäten und Migranten9 steigt. Dazu
trägt vor allem der rechtspopulistische politische
Diskurs bei, der in die Mitte der europäischen Gesellschaften eingedrungen ist. Die „Fremden“ werden
zu den Urhebern jener zahlreichen ökonomischen,
sozialen, gesellschaftlichen und politischen Krisenphänomene erklärt, die durch Migration beschleunigt sichtbar werden: Armut, politisches Unrecht
und soziale Ungerechtigkeit, mangelnde Teilhabe
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am Gemeinwesen und dessen Ressourcen sowie die
Unfähigkeit, in Verschiedenheit friedlich zusammenzuleben. Ist es die Angst vor Armut und Ohnmacht,
die mit den Fremden ausgegrenzt wird? Oder sind
es schlicht Aggression, Hass, Neid und der Wunsch,
nicht in seiner Lebensweise gestört werden zu wollen? Und was ist mit der Angst der Fremden, über die
nie gesprochen wird?
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen Ausländer, Asylsuchende oder Migranten ist keinesfalls
eine naturgesetzlich „normale“ Reaktion. Sie wird
durch politischen Diskurs und politische Entscheidungen erzeugt und hat historische Wurzeln in den
Ideologien und Praktiken des Kolonialismus und
Nationalismus. Im kollektiven Gedächtnis europäischer Gesellschaften liegen diese Narrative über die
Fremden – Juden, Andersgläubige, Menschen aus dem
Osten – nach wie vor bereit – und werden derzeit
wieder durch politische Diskurse reaktiviert. Auch
die Kirchen in Europa sind von diesen Entwicklungen
betroffen. Fremdenängstliche Einstellungen hängen
signifikant mit traditionellen religiösen Selbstverständnissen zusammen: Je religiös konservativer eine
Person ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass diese „Fremde“ ablehnt.10
Wie lassen sich solche Menschenfeindlichkeiten entlernen? Von der praktischen Antwort auf diese Frage
hängt der Friede in Gesellschaft und Welt ab.
Lernaufgabe: Eine theologische Perspektive
auf Migration lernen
Aus der Sicht des Glaubens ist Migration ein „Zeichen der Zeit“11. Sie verändert das Bewusstsein der
Zugänge
Menschheit über sich selbst und kann darin Gottes
Präsenz auf neue Weise erschließen – in der Vielfalt
der kulturellen Ausdrucksformen der Schöpfung, aber
auch im Aufruf zu mehr Gerechtigkeit. Basierend auf
der Verbundenheit und Solidarität der Gläubigen mit
allen Menschen können Gläubige in diesem Zeichen
der Zeit nach Gott suchen und ihn finden. Dies geschieht, indem Gläubige z.B. gemeinsam mit den Migranten um deren Würde und Anerkennung kämpfen,
weil sie den Mangel an Gerechtigkeit als menschliche
Gottesferne erkennen.
Das Lehramt der Katholischen Kirche hat diese Sicht
auf Migration bereits 2005 in seiner Instruktion Erga
migrantes Caritas Christi12 formuliert: „Wir können
also das gegenwärtige Migrationsphänomen als ein
sehr bedeutsames Zeichen der Zeit betrachten, als
eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des
Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt.“13 Aus der Sicht des katholischen Lehramtes
gehören die Migrationen der Gegenwart sogar zur
Heilsgeschichte Gottes mit der Menschheit: „Der
Übergang von monokulturellen zu multikulturellen
Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in
der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine
günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer
universalen Gemeinschaft zu verwirklichen. […] Die
Christen sind daher aufgerufen, […] die Achtung vor
der Identität des Anderen zu bezeugen und zu praktizieren.“14 Migration ist ein Aufruf zu Solidarität und
Gerechtigkeit.
Die Sicht des Lehramtes wurzelt in der biblischen
Migrationstheologie. Die biblischen Bücher sind zu
einem Großteil im Kontext von Migration entstanden. Im Alten Testament ereignet sich in der Geschichte von Exil, Vertreibung, Wanderung, Fremdsein und Diaspora die Offenbarung Gottes. Diese
Geschichte beginnt mit der Vertreibung Adams und
Evas aus dem Paradies (Gen 3), führt von der Neuansiedlung Noahs und seiner Nachkommen nach der
Sintflut (Gen 8), dem Aufbruch von Abraham und Sarah aus Haran (Gen 12), Jakobs Flucht vor Esau nach
Haran (Gen 28), Josephs Verschleppung nach Ägypten (Gen 37) bis zur Übersiedlung der ganzen Sippe
Jakobs nach Ägypten (Gen 46). Sie gipfelt im Auszug
der Israeliten aus Ägypten und den Durchzug nach
Palästina (ab Ex 12), reicht von den Exilserfahrungen
nach dem Untergang Israels im 8. und 6. Jahrhundert
v. Chr. bis zur endgültigen Vertreibung der Juden aus
für die Pastoral
2/2015
Judäa mit der zweiten Zerstörung des Tempels um
135 v. Chr. Diese Ereignisse wurden als „Lernerfahrung und Erfahrungsschatz genutzt und verarbeitet“15
und biblische Theologie wird zu einer „Theologie der
Migration“. Migranten-Identität wird zum Bestandteil
des Glaubensbekenntnisses. Die eigene Leidenserfahrung wird zu einer „empathischen Xenologie“16, die
sich im Gebot der Gastfreundschaft und einer differenzierten Gesetzgebung für Fremde verdichtet. Diese findet ihren Höhepunkt im Gebot, den Fremden
zu lieben wie sich selbst: „Wenn bei dir ein Fremder
in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken.
Der Fremde, der sich bei dir aufhält, soll euch wie ein
Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich
selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (Lev 19,34)
Auch das Neue Testament ist von Migrationserfahrung geprägt. Jesus ist als Wanderprediger in Galiläa
unterwegs, sein Leben beginnt mit der Flucht nach
Ägypten und ist von Heimatlosigkeit geprägt. Diese
Heimatlosigkeit wird auch für seine Jünger zur Verpflichtung, damit sie das Reich Gottes verkünden
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können. Das Selbstverständnis als „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) gehört zum
Selbstverständnis der ersten Christen. Paulus, der
erste „international“ wandernde Apostel betont die
unhintergehbare Einheit der Menschen in ihrer Verschiedenheit in Christus (z.B. Gal 3,28; Kol 3,10–11).
Die Verantwortung für den Fremden wird zum ethischen Gebot und darin zum spirituellen Begegnungsort mit Christus selbst (Mt 25). Bis in die Patristik
hinein kennt die junge Kirche eine Spiritualität der
Migration: Sie versteht sich als universale Kirche,
die als Pilgerin unterwegs ist, darin ein Zeichen der
Hoffnung darstellt. Sie ist bereit zur Aufnahme unterschiedlichster Menschen und Völker in deren Vielfalt
und ist bei allen Differenzen gemeinschaftsbildend.
Eine solche Sicht auf Migration ist alles andere als
selbstverständlich. Sie kann nicht moralisch verordnet
werden, sondern bedarf spiritueller Erfahrung und
Verankerung. Dafür braucht es gläubige Gemeinden
und Gemeinschaften, in denen das Zusammenleben
mit Migranten innerhalb und außerhalb der Kirche
13
2/2015
für die Pastoral
Zugänge
erprobt wird. Migration ist konstitutiv für die Gestalt, die innere Struktur der Gemeinschaft und die
Lebensdynamik der Kirche. Deshalb ist es nicht die
Gemeinde bzw. Pfarre, die Migranten aufnimmt. Es
verhält sich umgekehrt: Die Aufnahme des Migranten,
des Reisenden, des Pilgers auf ihren Straßen macht
die Pfarrei erst zu einer solchen. Migration ist kein
kontingentes Problem der Kirche, das es intern und
extern sozial und politisch zu lösen gilt. Sie gehört
zur inneren Dynamik der Kirche selbst. Die Aufnahme von Migranten ist nicht bloß ein gutes Werk der
Kirche, sondern gehört zu ihrem Selbstvollzug.
Erga migrantes formuliert dies so:
„Die Aufnahme des Fremden, die der frühen Kirche
eignet, bleibt also ein dauerhaftes Siegel der Kirche
Gottes. Sie bleibt gleichsam gekennzeichnet von einer
Berufung zum Exil, zur Diaspora, zur Zerstreuung unter die Kulturen und Volksgruppen, ohne sich je völlig
mit einer von ihnen zu identifizieren, denn andernfalls würde sie aufhören, eben Angeld und Zeichen,
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Sauerteig und Verheißung des universalen Reiches zu
sein als auch eine Gemeinschaft, die jeden Menschen
ohne Vorzug von Personen und Völkern aufnimmt.
Die Aufnahme des Fremden gehört also zum Wesen
selbst der Kirche und bezeugt ihre Treue zum Evangelium.“17
14
Lernaufgabe: Katholisch werden18
Migration dient dem Aufbau der Kirche: „Die Migrationen bieten den einzelnen Ortskirchen die
Gelegenheit, ihre Katholizität zu überprüfen, die
nicht nur darin besteht, verschiedene Volksgruppen
aufzunehmen, sondern vor allem darin, unter diesen
ethnischen Gruppen eine Gemeinschaft herzustellen. Der ethnische und kulturelle Pluralismus in der
Kirche stellt keine Situation dar, die geduldet werden
muss, weil sie vorübergehend ist, sondern eine ihr
eigene strukturelle Dimension. Die Einheit der Kirche ist nicht durch den gemeinsamen Ursprung und
die gemeinsame Sprache gegeben, sondern vielmehr
durch den Pfingstgeist, der Menschen aus unter-
schiedlichen Nationen und verschiedener Sprache zu
einem einzigen Volk zusammenfasst und so allen den
Glauben an denselben Herrn verleiht und aufruft zur
selben Hoffnung.“19
Das Zusammenleben von Menschen mit und ohne
Migrationsgeschichte eröffnet der Kirche ein kreatives Experimentierfeld für Innovationen. Die Vielfalt
der religiösen und kulturellen Ausdrucksformen und
Gaben bereichert Katholizität. Dabei werden Konflikte, Vorurteile und Wunden auf allen Seiten aufbrechen. Aber dies ist notwendig, denn nur so werden
Prozesse der Heilung, der Versöhnung und eines
Einswerdens in Verschiedenheit überhaupt möglich.
Migration ist der Aufruf zu jenem Universalismus, der
nur in einer vielfältigen Praxis an konkreten Orten
wirklich werden kann. Er zeigt sich in einer multikulturellen Kirche, einem „Volk Gottes aus den Völkern“, einer wahrhaft katholischen Kirche.
Was bedeutet die globale Migration jener, die nicht
zur Kirche gehören bzw. keine Christen sind, für den
Glauben, die Theologie, die Kirche? Die Migration
der religiös und kulturell „Anderen“ ist eine epochal
neuartige praktische und theologische Herausforderung. Migration verweist in diesem Kontext auf
die „Außenseite“ der Katholizität: Wie lässt sich die
Universalität in Bezug auf die „Anderen“ der Kirche
und des Christentums denken und leben? Die Verantwortung für globale und lokale, politische und
rechtliche, soziale, ökonomische und kulturelle Gerechtigkeit sowie für ein friedliches Zusammenleben
in Verschiedenheit wird in diesem Zusammenhang
zur Nagelprobe des christlichen Glaubens im Kontext
einer pluralen Migrations-Welt. Sie wird zum zentralen Ort der Erfahrung Gottes.
Die christlichen Kirchen sind in diesem Zukunftslaboratorium schon länger Akteure. Aus der Fülle einige
Beispiele: Die Evangelische Kirche in Deutschland
und die Deutsche Bischofskonferenz haben 1997
in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft
Christlicher Kirchen ein „Gemeinsames Wort zu
den Herausforderungen von Migration und Flucht“ 20
herausgegeben: Der Text „[…] und der Fremdling,
der in Deinen Toren ist“ bietet historische, biblische,
ethische, theologische und politische Überlegungen
und Praxisvorschläge. Der Zentralausschuss des
Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf legte 2005
in seinem Papier zur „Praxis der Gastfreundschaft in
einer Zeit neuer Migrationsformen“ 21 eine Analyse
der Situation und konkrete Handlungsvorschläge
vor. Darin bekennen sich die christlichen Kirchen zu
Zugänge
einer Kultur der Begegnung, der Gastfreundschaft
und herzlichen Aufnahme von Migranten. Konkrete
Maßnahmen innerhalb der kirchlichen Gemeinden
(Begegnungsräume, Ausbildungsprogramme, multikulturelle Dienste, […] werden ebenso aufgezählt wie
gesellschaftliche und politische Forderungen benannt:
Interreligiöser Dialog, Grundrechte, Integration,
Asylrecht usw.). 2010 starteten die Konferenz Europäischer Kirchen und die Churches‘ Commission for
Migrants in Europe das „Jahr der Europäischen Kirchen für Migration“ 22 mit zahlreichen Aktionen. Die
CCME publizierte auch eine Studie, die die Migrationssituation für alle Staaten Europas kompakt darstellt und praktische Antworten christlicher Kirchen
auf Migration dokumentiert. 23
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Frage der Migra nten
für die Pastoral
2/2015
– durch forcierte internationale Zusammenarbeit zu
bekämpfen. Die Katholische Soziallehre sieht Migration vor allem als eine Chance für die Entwicklung
gerechter internationaler Beziehungen innerhalb der
Menschheitsfamilie. Die bereits erwähnte Instruktion
Erga migrantes widmet sich neben den katholischen
Migranten auch dem Verhältnis zu Migranten anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, zu
muslimischen Migranten sowie der Notwendigkeit
des interreligiösen Dialogs. So liegt von Seiten der
Kirchenleitungen bereits eine Fülle von konkreten
und praktischen Ideen vor, wie auf der lokalen Ebene
von Gemeinden und Gemeinschaften Migration zur
Chance werden kann, das Zusammenleben in Vielfalt,
Verschiedenheit und Gerechtigkeit neu zu lernen
und darin die Wirklichkeit Gottes heute auf neue,
vertiefte Weise zu erfahren. Sie harren einer breiten
pastoralen Rezeption.
Die Katholische Kirche gehört zu den ersten internationalen Organisationen, die sich mit der Frage
der Migranten befasst hat. Der Päpstliche Rat für die
Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs24 publiziert jährlich Schreiben zu Fragen der Migration.
Papst Johannes Paul II. hat sich vehement für die
Verhinderung illegaler Immigration ausgesprochen,
zugleich aber auch gefordert, deren Ursachen – globale soziale Ungerechtigkeit und politische Instabilität
Regina Polak
Institut für Praktische
Theologie, Katholisch-
Theologische Fakultät der
Universität Wien
1 Vgl. dazu Castles, Stephen/Miller, Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern
World. 4. Auflage. New York/London 2009. Vgl. auch http://www.age-of-migration.com/ [15.06.2015]; Bade, Klaus
(Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn/Wien 2007.
2 Vgl. United Nations, International Migration: http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/publications/wallchart/index.shtml [15.06.2015]; als internationale Migranten gelten Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt
mindestens ein Jahr außerhalb ihres Herkunftslandes haben.
3 UNO-Flüchtlingshilfe: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html [15.06.2015].
4 Vgl. International Organization for Migration: http://www.iom.int/ [15.06.2105].
5 Vgl. Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity : http://media.mmg.mpg.de/ [15.06.2015]. Vielfalt nimmt zu, weil immer mehr Menschen aus verschiedenen Ländern sich überall auf der Welt verteilen.
15
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für die Pastoral
Zugänge
6 Vgl. das Langzeitprojekt der Universität Bielefeld zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (2002 – 2012) unter
der Leitung von Wilhelm Heitmeyer: http://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/ [15.06.2015]. Unter dem Titel
„Deutsche Zustände“ erscheint seit 2002 jährlich im Suhrkamp eine Publikation der Ergebnisse.
7 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, FRA-Erhebung zu Wahrnehmungen und Erfahrungen der jüdischen
Bevölkerung im Zusammenhang mit Antisemitismus, u.a.. Publikationen zum Antisemitismus in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union: http://fra.europa.eu [15.06.2015].
8 Für Deutschland: Religion Monitor: Understanding common ground. Special Study of Islam, 2015. An overview of the
most important findings: http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Religionmonitor_Specialstudy_Islam_2014_Overview_20150108.pdf [15.06.2015].
9 Rosenberger, Sieglinde/Seeber, Gilg: Kritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration, in: Polak,
Regina (Hg.): Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990 – 2010: Österreich im Vergleich. Wien u.a.
2011, 165-190.
10 Arts, Wil/Halman, Loek: Value Research and Transformation in Europe, in: Polak, Regina (Hg.): Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990 – 2010: Österreich im Vergleich. Wien u.a. 2011, 79-99, 85ff.
11 Vgl. Polak, Regina/Jäggle, Martin: Gegenwart als locus theologicus. Für eine migrationssensible Theologie im Anschluss
an Gaudium et Spes, in: Tück, Jan-Heiner (Hg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. 2. Auflage.
Freiburg 2012, 550-580.
12 Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs: Instruktion Erga migrantes caritas Christi,
URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/migrants/documents/rc_pc_migrants_doc_20040514_erga-migrantes-caritas-christi_ge.html [15.06.2015].
13 Erga migrantes 14.
14 Erga migrantes 9.
15 Dehn, Ulrich/Hock, Klaus: «Mein Vater war ein heimatloser Aramäer» . Religionswissenschaftliche und theologische
Anmerkungen zum Thema Migration.“ In: ZMiss 1–2, 99-114, 111.
16Ebd.
17 Erga migrantes 22.
18 Polak, Regina: Migration und Katholizität, in: Regina Polak/Wolfram Reiss (Hg.): Religion im Wandel. Transformationsprozesse religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration – Interdisziplinäre Perspektiven. Reihe: Religion and
Transformation in Contemporary European Society 9, Wien 2014, 233-296.
19 Erga migrantes 103.
20 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.): (1997) „[…] und der Fremdling, der in
Deinen Toren ist.“ Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht: http://
www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/gem-texte/GT_12.pdf [15.06.2015].
21 Anzufordern beim Ökumenischen Rat der Kirchen : http://www.oikoumene.org [15.06.2015].
22 Migration2010: URL : http://migration2010.eu/ [15.06.2015].
23 Churches´ Commission for Migrants in Europe (CCME) & Nova Research Centre. Jackson, Darrell/ Passarelli, Alessia:
Mapping Migration. Mapping Churches´ Responses. Europe Study. Brüssel 2008.
24 Vgl. Päpstlicher Rat für die Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs: http://www.vatican.va/roman_curia/
pontifical_councils/migrants/index_ge.htm [15.06.2015].
16
Zugänge
für die Pastoral
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Migration und Heterogenität
Deutschland ist dabei, das Bewusstsein einer Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln,
Wissen über die jeweils „Anderen“ und die Vergewisserung seiner selbst tragen zum Abbau
von Ängsten und Vorurteilen bei. Beheimatung und Zusammenhalt zu fördern ist ein Beitrag
der Kirche in dieser Entwicklung.(Red.)
In Deutschland gibt es eine große Vielfalt an Lebensentwürfen, Kulturen oder Glaubensorientierungen.
Diese Vielfalt und die Zuwanderung von Menschen
aus anderen Kulturkreisen macht manchen Menschen
Angst und wird abgelehnt. Andererseits wird weitere
Einwanderung gefordert, um Fachkräftelücken zu
schließen und zur Abmilderung des demographischen
Wandels beizutragen. Verträgt eine Gesellschaft
trotz dieser positiven Effekte von Migration aber
vielleicht nur ein bestimmtes Maß an Vielfalt? Studien
und die Praxis in vielen Einwanderungsländern zeigen, dass nicht Heterogenität den gesellschaftlichen
Zusammenhalt gefährdet, sondern ein unzeitgemäßes
Verständnis des „Wir“. Zusammenhalt entsteht nicht
durch Homogenität, sondern durch das Bewusstsein, dass Gesellschaft nur in ihrer Verschiedenheit
funktioniert. Ein erster Schritt dahin ist, die Realität
zu kennen. Deshalb wird im Folgenden die Migration
nach Deutschland skizziert und dabei auch das eine
oder andere liebgewonnene Bild in Frage gestellt.
Migration als Zeichen der Zeit?
Das noch relativ junge 21. Jahrhundert bringt weltweit viele Bewegung. Derzeit gibt es ca. 230 Millionen
Menschen, die ihr Heimatland verlassen haben. Das
sind in absoluten Zahlen so viel wie nie zuvor. Blickt
man auf die Weltbevölkerung als Ganzes, liegt der
der Anteil der Migranten/innen1 aber seit langem relativ konstant bei rund drei Prozent.
Die Migrationsbewegungen, die weltweit zu beobachten sind, entsprechen nicht der verbreiteten Vorstellung, es handele sich vor allem um arme Menschen,
die in wohlhabendere Staaten fliehen. Tatsächlich
wanderten nur ca. 35 Prozent aus einem wenig entwickelten Land in den „reichen Norden“. Die größten
Wanderungsbewegungen finden regional innerhalb
Europas und innerhalb Asiens statt.
Deutschland ist ein Einwanderungsland
Deutschland mag nicht darum geworben haben, aber
Einwanderung findet schon immer statt. Derzeit sind
die Einwanderungszahlen auf dem höchsten Stand seit
17
1
Unter dem Begriff Migranten/-innen werden im Folgenden alle Personen zusammengefasst, die grenzüberschreitend migrieren.
2/2015
für die Pastoral
Zugänge
den 1990er Jahren. 2013 lag der Zuwanderungssaldo
bei 430.000 Personen. Die Hauptherkunftsländer
liegen, wie seit Jahrzehnten, in Europa (einschließlich
Türkei). Aus afrikanischen Staaten kamen nur 6 %,
aus Asien 15%.
Deutschland ist kein Land der unkontrollierten Einwanderung. Ausländer, die nicht aus einem anderen
EU-Staat stammen, benötigen eine Aufenthaltserlaubnis, die es zum Zweck der Erwerbsstätigkeit gibt, für
ein Studium, für den Familiennachzug oder aus humanitären Gründen. Für die Einreise ist zumeist ein
Visum nötig, vor dessen Erteilung geprüft wird, ob
alle Voraussetzungen für den gewünschten Aufenthalt
erfüllt sind. Eine der wichtigsten Voraussetzungen
für eine Aufenthaltserlaubnis ist, dass der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen
gesichert ist. Auch wer visumsfrei einreisen darf, wie
z. B. aus Serbien oder den USA, benötigt für einen
längeren Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis, die nur
erteilt wird, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Bei
Flüchtlingen werden bei der Einreise- und der Aufenthaltserlaubnis Abstriche bei der Pflicht zur Einreise mit Visum und bei der Lebensunterhaltssicherung
gemacht.
Die Einwanderungszahlen, je nach Aufenthaltszweck,
variieren stark. Der Anteil der Studierenden ist beispiesweise bei Einwandernden aus China, den USA
und Indien besonders hoch. Einen hohen Anteil an
den einwandernden Arbeitskräften haben u. a. die
Ukraine und Bosnien-Herzegowina. Bei der Türkei
liegt mit 36 % der Anteil der Aufenthaltstitel zum
Zweck der Familienzusammenführung am höchsten.
Das Bild, dass Zuwanderung vor allem über die Familienzusammenführung stattfindet, entspricht nicht
den tatsächlichen Gegebenheiten.
Die Mobilität der EU-Bürger/innen
EU-Staatsangehörige genießen innerhalb der EU
Freizügigkeit. In Deutschland stellen sie seit langem
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die mit Abstand größte Zuwanderungsgruppe. In
den letzten 3 Jahren lag der Anteil bei über 60%.
Polen ist seit den 1990er Jahren das zugangsstärkste
Land. Im Jahr 2013 wurden 197.009 Zuzüge festge-
stellt – damit kamen allein aus Polen mehr Menschen
nach Deutschland als Asylsuchende, von denen 2013
109.000 neu registriert wurden.
Flüchtlingsaufnahme in Deutschland und in
der Europäischen Union
Statistisch und sprachlich wird zwischen Flüchtlingen
und Asylsuchenden unterschieden. Flüchtlinge sind
demnach Menschen, die vor Verfolgung oder Krieg
fliehen, und Asylsuchende sind Menschen, die in
einem anderen Land förmlich um Asyl nachsuchen. In
den letzten Jahren sind weltweit die Flüchtlingszahlen
in Folge von Kriegen, wie in Syrien, oder wegen der
Verschärfung der Menschenrechtslage, wie in Eritrea,
deutlich gestiegen. Die drei Hauptherkunftsländer
2013 waren Afghanistan, Syrien und Somalia. Rund
80 Prozent der 16,7 Millionen grenzüberschreitend
Geflohenen blieben in der Region. Die Zahl der Asylsuchenden ist weltweit mit 1,1 Millionen sehr viel
geringer. Sie fliehen zumeist in die Industriestaaten.
Hauptaufnahmeländer waren in den letzten Jahren
Deutschland, USA, Frankreich und Schweden.
Sieht man, wie gering im weltweiten Vergleich die
Zahl der Flüchtlinge in der EU ist, scheint der Vorwurf der Abschottung zu stimmen. Dennoch kommen Flüchtlinge über zumeist sehr gefährliche Wege.
Haben sie einen Staat der EU erreicht, bestimmt
die Dublin-Verordnung, dass sie ihren Asylantrag in
dem ersten EU-Staat, den sie betreten, stellen müssen. Wer weiter wandert, wird in das Ankunftsland
zurückgeschickt. Allerdings ist ein angemessener
Umgang mit Asylsuchenden nicht in allen EU-Staaten
gesichert. Deshalb darf beispielsweise nach Griechenland niemand zurücküberstellt werden. Es wird
seit Jahren darüber diskutiert, ob dieses System zu
einer Überlastung der südlichen EU-Staaten führe.
Blickt man auf die Zahl der Asylsuchenden, sieht
man allerdings, dass Deutschland und Schweden seit
Jahren in absoluten Zahlen und im Verhältnis zur
Einwohnerzahl mehr Flüchtlinge aufnehmen als Italien
oder Griechenland. Allerdings berücksichtigen diese
Zahlen nicht, wie viele Menschen nach ihrer Ankunft
zunächst untergebracht und versorgt werden müssen. In Italien sind 2014 beispielsweise ca. 170.000
Menschen angekommen. Die Zahl der Asylsuchenden
betrug „nur“ 65.000. Die anderen Flüchtlinge dürften
in der EU weitergewandert sein. Die Randstaaten
der EU brauchen also derzeit nicht unbedingt eine
Zugänge
Entlastung bei den Asylverfahren, sie benötigen aber
Unterstützung bei der Seenotrettung und der Erstversorgung von Flüchtlingen.
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In Deutschland leben Flüchtlinge, die, wie einige Tausend Iraker und über 20.000 Syrer, im Rahmen von
Kontingenten nach Deutschland einreisen durften.
Sie haben von Anfang an eine Aufenthaltserlaubnis
und dürfen arbeiten. Daneben gibt es Flüchtlinge, die
ihre Flucht selbst organisieren (meist mit Hilfe von
Schleppern) und in Deutschland ein Asylverfahren
durchlaufen. Während des Verfahrens werden sie
zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung, später
in Gemeinschaftunterkünften oder Wohnungen
untergebracht. Lange Zeit durften Asylsuchende
in Deutschland nicht arbeiten. Mittlerweile haben
sie nach 3 Monaten Aufenthalt Zugang zum Arbeitsmarkt. Solange sie sich nicht selbst versorgen
können, erhalten sie Leistungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Wird im Asylverfahren
ein Schutzbedarf festgestellt, erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis, ansonsten müssen sie Deutschland
verlassen. In Einzelfällen kann der weitere Aufenthalt
geduldet werden. Für Ausländer, die sich mit einer
solchen Duldung jahrelang in Deutschland aufhalten,
wurden in den letzten Jahren verschiedene Bleiberechtsregelungen geschaffen.
2014 wurden in Deutschland 173.072 Asylanträge
gestellt, für 2015 werden über 400.000 erwartet.
Bis zu den 1990er Jahren kam der größte Teil derjenigen, die in Deutschland Asyl suchten, aus einem
osteuropäischen Staat oder der Türkei. Seit den
Balkan-Kriegen in den 1990er Jahren zählten die
Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien zu den
Hauptherkunftsländern. Aus diesen Staaten kamen
auch in den letzten Jahren viele, die aber in Deutschland nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Daneben
sind Russland, Iran, Irak, Syrien und Afghanistan sowie der Sudan, Somalia und Eritrea Hauptherkunftsländer.
Ein Blick auf die Altersstruktur von Asylsuchenden
und die Verteilung der Geschlechter zeigt, dass insge-
für die Pastoral
2/2015
samt (junge) Männer überrepräsentiert sind. Bei den
Staaten, aus denen Flüchtlinge (relativ) sicher über
Land nach Deutschland kommen können, liegt der
Frauen- und Mädchenanteil relativ hoch.
Vielfalt mit und ohne Migrationshintergrund
Der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“
umfasst alle seit 1950 nach Deutschland eingewanderten Deutschen, ihre Kinder und alle Personen
mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Der Begriff
gilt vielen als Synonym für „Ausländer“, es sind aber
deutlich über die Hälfte Deutsche (58 %). Auch das
Bild, die Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund sei türkischen Ursprungs oder muslimischen Glaubens, ist falsch. 18 % stammen aus der
Türkei, 51,2 % aus einem anderen europäischen Land,
aus Asien 17,8 und aus Afrika 3,2 %. Der Anteil der
Christen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland
und bei Menschen mit Migrationshintergrund beträgt ca. 60 %. Der Anteil der Katholiken ist genau
deckungsgleich. Die geschätzt 4 Millionen Muslime in
Deutschland entsprechen einem Bevölkerungsanteil
von ca. 5%. Bei Menschen mit Migrationshintergrund
liegt der Anteil bei ca. 22 %.
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Die in Deutschland lebenden Muslime orientieren
sich in ihren Einstellungen und Lebensweisen mehrheitlich an den hiesigen Werten, wie insgesamt Menschen mit Migrationshintergrund das gleiche Spektrum an Werteorientierungen und Milieus abdecken
wie Deutsche ohne Migrationshintergrund. Auch die
Unterschiede in der sozialen Lage sind nicht so groß
wie oft angenommen wird. Lediglich das Milieu der
konservativen Mittel- und Oberschicht ist bei Menschen mit Migrationshintergrund kaum vorhanden,
die „gehobene Mitte“ etwas weniger ausgeprägt als in
der Gesamtbevölkerung. In den finanzschwachen Milieus sind Menschen mit Migrationshintergrund etwas
überrepräsentiert.
Menschen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt etwas familienorientierter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Sie leben öfter in Mehrpersonenhaushalten, es gibt weniger Alleinerziehende und
19
2/2015
für die Pastoral
Zugänge
mehr männliche Alleinverdiener. Das Streben nach
einem gleichberechtigten Leben und familiärer Arbeitsteilung ist bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund etwa gleich stark ausgeprägt.
Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Deutschland ist dabei, das Bewusstsein einer Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln. Nachrichtensprecher oder Moderatorinnen mit Migrationshintergrund
bestimmen das Bild dieser Gesellschaft ebenso mit,
wie die türkischstämmige Generalsekräterin der SPD
oder der ehemalige deutsch-britische Ministerpräsident Niedersachsen. Unsere Gesellschaft funktioniert gut in dieser Verschiedenheit. Dennoch gibt es
Ängste. Dagegen hilft mehr Wissen über die jeweils
„Anderen“. Wichtig ist aber auch, sich seiner selbst
zu versichern. Wer eine stabile Identität hat, kann
mit seinen Ängsten besser umgehen und ist offener
für andere. Die Kirche kann dazu beitragen, indem
sie Räume schafft, die Selbstwerterfahrung in der
Differenz ermöglichen und damit Beheimatung und
Zusammenhalt fördern.
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Differenz er ammenhalt fördern.
und Zus
Elke Tießler-Morenda
Referentin für Grundsatzfragen der Migrations- und
Integrationspolitik beim
Deutschen Caritasverband
ZAHLEN UND WEITERE INFORMATIONEN
• Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, www.bamf.de => Infothek => Statistiken
• Bertelsmann Stiftung, RELIGIONSMONITOR, 08.01.2015, https://www.bertelsmann-stiftung.de/en/topics/aktuelle-meldungen/2015/januar/religion-monitor/
• Europäische Grenzschutzagentur (Frontex), http://frontex.europa.eu => Trends and routes
• MDG-Milieuhandbuch 2013, Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus, Im Auftrag der
MDG Medien-Dienstleistung GmbH, Heidelberg/München,
Januar 2013
• Sinus-Studien: http://www.sinus-akademie.de/service/downloads/migration.html
• Statistischen Bundesamt, www.destatis.de => Zahlen Fakten => Bevölkerung => Wanderungen
• Statistisches Amt der Europäischen Union, http://ec.europa.eu/eurostat
• Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), http://www.unhcr.de/service/zahlenund-statistiken.html
Zugänge
für die Pastoral
2/2015
Eine Kirche in vielen
Sprachen und Völkern
SEELSORGE FÜR MENSCHEN ANDERER MUTTERSPRACHE
Seit Jahrzehnten gibt es in den deutschen Diözesen „Missionen anderer Muttersprache“.
Welche Rolle spielen sie in der Neuausrichtung der Pastoral und welche Perspektiven
ergeben sich für die Migranten- und Ausländerseelsorge? (Red.)
Sechzig Jahre nach dem ersten Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Italien zur Anwerbung
sog. Gastarbeiter im Dezember 1955 – es folgten
bald weitere, u.a. mit Spanien, Portugal, Griechenland, Marokko, Jugoslawien und der Türkei – und der
kirchlichen Reaktion darauf in Form der Errichtung
muttersprachlicher Missionen in vielen Diözesen hat
sich inzwischen die Situation gewandelt. Deutschland
ist ein Einwanderungsland geworden; ein knappes
Fünftel der Bevölkerung ist anderer Staatsangehörigkeit oder hat eine Migrationsgeschichte.1
Im folgenden Beitrag geht es zunächst um Größenordnung und Strukturen der Seelsorge für Menschen
anderer Muttersprache und dann um die Frage, in
welcher Form und an welchem Ort muttersprachliche Seelsorge in den deutschen Diözesen vor dem
Hintergrund der Neustrukturierung und Neuorientierung der Pastoral weiterhin zu leisten ist; dies unter den erschwerenden Bedingungen der mangelnden
Verfügbarkeit von Priestern aus den Herkunftsländern der Migranten, einer massiven qualitativen und
quantitativen Veränderung von regulärer Migration
und der Verknüpfung der seelsorglichen Betreuung
der „regulären Migranten“ mit der aktuellen Flüchtlingsthematik.
Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland
Den Ergebnissen des Zensus 2011 zufolge leben in
Deutschland 80,2 Mio. Menschen. 6.169.360 von ihnen haben keinen deutschen Pass und werden in der
Bevölkerungsstatistik als Ausländer geführt. Weitere
9.037.650 Menschen mit deutschem Pass haben einen
sog. Migrationshintergrund, sind also Personen, die
selbst zugewandert (seit dem 01.01.1955) oder Nachkommen von Zuwanderern sind, also auch Eingebürgerte und Kinder mit mindestens einem im Ausland
geborenen und nach dem 01.01.1955 auf das Gebiet
der heutigen Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Elternteil. Etwa 19 % der Bevölkerung in
Deutschland sind also mit einer anderen oder einer
weiteren Muttersprache als Deutsch aufgewachsen.
Katholische Ausländer
Nach dem Zensus 2011 sind unter den Ausländern
1,579 Mio. Katholiken; das entspricht
einer Quote von 25,6 %. (3,8 % nennen eine Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche; 70,6 % fallen
unter „Sonstige, keine, keine Angaben“ – das sind
alle Personen, die keiner oder einer anderen Religi-
21
2/2015
für die Pastoral
Zugänge
onsgemeinschaft als der körperschaftlich verfassten
katholischen oder evangelischen Kirche angehören
oder die das nicht offenlegen wollen. Die ca. 1,6 Mio.
Katholiken sind bei den Einwohnermeldeämtern als
katholisch registriert, unterliegen also der Kirchensteuerpflicht.)
Der Anteil der Katholiken an der gesamten Wohnbe-
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völkerung in Deutschland liegt nach den Ergebnissen
des Zensus 2011 bei 30,8 %. Folgt man vorsichtig
der Annahme, dass unter den Menschen mit Migrationshintergrund der Anteil der Katholiken in etwa
dem in der Gesamtbevölkerung entspricht, ergibt
sich eine weitere Gruppe von 2,8 Mio. Katholiken
mit Migrationshintergrund, so dass Katholiken mit
ausländischem Pass und mit Migrationshintergrund
zusammen ca. 4,4 Mio. von 24,7 Mio. katholischen
Christen in Deutschland ausmachen, also etwa 19 %.
Derzeit wird zusammen im Sekretariat der DBK eine
Regelabfrage nach Zahl und Herkunft der Katholiken
anderer Nationalitäten bei den Statistikreferaten der
Diözesen eingeführt. Erste Einzelergebnisse deuten
auf einen noch höheren Anteil hin; besonders auffällig
ist auch die hohe Zahl von Katholiken mit doppelter
Staatsbürgerschaft.
22
Wanderungsbewegungen
Jedes Jahr sind große Wanderungsbewegungen zwischen Deutschland und dem Ausland zu verzeichnen. In den letzten 15 Jahren sind jährlich fast eine
Million Menschen aus dem Ausland nach Deutschland zugezogen; gleichzeitig haben aber jährlich auch
zwischen 600.000 und 700.000 Menschen die Bundesrepublik wieder verlassen. Der überwiegend positive Wanderungssaldo ist in 2013 auf ca. 430.000
Menschen gestiegen. Mehr als 1,2 Mio. Menschen
sind neu nach Deutschland zugewandert, während
ca. 790.000 Personen das Land wieder verlassen
haben. Für 2014 werden weiter steigende Zahlen
prognostiziert. Der größte Teil dieser Wanderungsbewegungen ist der EU-Freizügigkeit geschuldet,
nach der sich alle EU-Bürger in jedem Mitgliedsland
Arbeit suchen dürfen und auch dort bleiben können,
wenn sie eine dauerhafte Beschäftigung gefunden
haben. 2
Besonders viele Zu- und Fortzüge gab es aus und
nach Ländern mit überwiegend katholischer Bevölkerung in 20133 :
Land Zuzüge Fortzüge Saldo
Polen 197.009 124.071 72.938
Italien 60.651 27.789 32.862
Ungarn 58.993 34.681 24.312
Spanien 44.119 20.126 23.993
Kroatien 25.200 12.701 12.499
Portugal 14.494 7.354 7.140
Slowakei 14.932 9.917 5.015
Gesamte Wanderungen 1.226.496 789.193 437.303
Diese großen Wanderungsbewegungen machen deutlich, dass ständig wieder neue erste Generationen
von Ausländern in Deutschland und in den Missionen
ankommen, also nicht statisch von einer (mehr oder
weniger gelungenen) Integration der dritten, vierten
oder fünften Generation der Ausländer ausgegangen
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und in den Missionen
werden darf (und einer damit gedanklich implizierten
künftigen Verzichtbarkeit muttersprachlicher Seelsorge). Die Zahl von katholischen Migranten in Deutschland wird wie die allgemeine Mobilität auf hohem
Niveau bleiben oder noch weiter wachsen. Paradox
formuliert: Migration und ständiger Wandel sind eine
Strukturkonstante unserer Gesellschaft geworden.
Aktuell geltende Richtlinien und Strukturen
der Migrantenseelsorge in Deutschland
Der Codex Iuris Canonici4 von 1983 weist dem
Bischof für seine Diözese die Verantwortung für
die Seelsorge zu. Der einschlägige Can 383 CIC bestimmt: „§ 1. In der Ausübung des Hirtendienstes
(munus pastoris) hat sich der Diözesanbischof um alle
Gläubigen zu kümmern, die seiner Sorge anvertraut
werden, gleich welchen Alters, gleich welchen Standes oder welcher Nation, ob sie in seinem Gebiet
wohnen oder sich dort nur auf Zeit aufhalten; er hat
Zugänge
den apostolischen Geist auch denen zuzuwenden, die
wegen ihrer Lebensumstände aus der ordentlichen
Seelsorge nicht hinreichend Nutzen ziehen können,
wie auch jenen, die von der religiösen Praxis abständig geworden sind …“
Maßgeblich für die Seelsorge für Katholiken anderer
Muttersprache in der deutschen Kirche sind derzeit
vor allem folgende Texte:
• „Eine Kirche in vielen Sprachen und Völkern.
Leitlinien für die Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprache“ vom 13.03.20035,
• „Erga migrantes caritas Christi.“ Instructio des
Päpstlichen Rates der Seelsorge für Migranten
und Menschen unterwegs vom 3. Mai 20046.
In derzeit deutlich mehr als 400 muttersprachlichen
Gemeinden (i.d.R. missiones cum cura animarum,
der gebräuchlichen Adaption von can. 516 § 2 CIC
auf die Migrantenpastoral) in etwa 35 Sprachgruppen
versuchen die deutschen Diözesen den katholischen
Migranten die Möglichkeit zur Pflege ihrer eigenen
religiösen Tradition und zugleich die Beheimatung
unter dem Dach der deutschen Ortskirche zu geben.
In diesem Arbeitsfeld sind ca. 500 Priester aus aller
Welt tätig, zum Teil auch nebenamtlich.
Die größten Sprachgruppen sind die kroatisch, polnisch, italienisch, spanisch und portugiesisch sprechenden Katholiken.
In jedem der 27 deutschen (Erz-)Bistümer ist ein
Diözesanbeauftragter für die fremdsprachige Seelsorge/Internationale Seelsorge/Ausländerseelsorge
benannt. In der Regel handelt es sich um einen Referenten im Seelsorgeamt oder im Personalreferat; in
manchen Bistümern übernimmt die Aufgabe auch der
Leiter des Seelsorgeamts selbst.
Die Finanzierung der einzelnen Missionen und muttersprachlichen Gemeinden obliegt dem jeweiligen
Bistum; die Priester werden dabei selbstverständlich dem regulären Diözesan- und Ordensklerus im
Bistum gleichgestellt. Die Finanzierung der überdiözesanen Aufgaben (wie etwa der Unterhalt der
Delegaturen oder der Apostolischen Exarchie der
Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche) erfolgt
über den Haushalt des Verbandes der Diözesen
Deutschlands.
für die Pastoral
2/2015
Form, Ort und Beitrag der muttersprachlichen Seelsorge und ihrer Missionen im Kontext der Neustrukturierung und Neuorientierung der Pastoral in den deutschen Diözesen
Aus einem Bündel von Motiven heraus haben die meisten deutschen Bistümer eine Reform ihrer Pastoralstrukturen in Angriff genommen. Sie reagieren damit
auf den Rückgang der Katholikenzahl, die Verringerung der Zahl der Priester und die zu erwartende
Verringerung der regelmäßigen Einnahmen, aus denen
die Kosten für Strukturen und Personal bestritten
werden müssen. Die Rechtsstruktur-Reform führt u.
a. zur Aufhebung und/oder zur Zusammenlegung von
Pfarreien, zur Veräußerung von Gebäuden, zur Profanierung von Kirchenräumen und zur Schaffung neuer
und größerer Einheiten – insgesamt zu einem völlig
neuen Bild von Pfarrei.
Neuorientierung der Pastoral meint auf diesem
Hintergrund vor allem die Notwendigkeit einer
theologischen und spirituellen Vertiefung der Veränderungsprozesse in den Diözesen. Zugleich sind
die Veränderungen eine Chance, die Ergebnisse des
II. Vatikanums aufzugreifen und das notwendige Zueinander von Diensten und Charismen und dem geweihten Amt im Gottesvolk in den Blick zu nehmen
und neu zu beschreiben.
Die Pfarrei ist die kirchenrechtliche Größe, in der
eine Ortskirche organisiert ist und die durch einen
Pfarrer geleitet werden muss. Gesellungsformen unterhalb, innerhalb oder jenseits der Pfarrei wie z.B.
Gemeinden, auch muttersprachliche Gemeinden,
Gemeinschaften oder Verbände sind Orte, an denen sich die Getauften ihrer Berufung neu bewusst
werden. Die neue Pfarrei ist die Gemeinschaft von
Gemeinschaften.
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Die Neu-Realisierung der Aussagen des Zweiten
Vatikanums von der „wahren Gleichheit, in der allen
Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum
Aufbau des Leibes Christi“7 fällt auch deutschsprachigen Gemeinden und Pfarreien schwer; muttersprachliche Missionen sind traditionell noch stärker
auf den Priester als Seelsorger, Leiter und Integrationsfigur ausgerichtet. Die muttersprachlichen
23
2/2015
für die Pastoral
Zugänge
Gemeinden bedürfen daher gerade in diesem Prozess der Neuorientierung der Pastoral, der äußere
Strukturen und Binnenbeziehungen verändert und
in oft auch konflikthafte Bewegung bringt, einer besonderen, geduldigen Unterstützung. Oft lösen diese
Pastoralstrukturveränderungen in vielen der den
territorialen Ortspfarreien oder Seelsorgesystemen
nach- oder zugeordneten Missionen Verunsicherung
aus, sie werden aber auch als Chance und Herausforderung begriffen.
Perspektiven der Ausländerseelsorge
Auch im Prozess der Fortentwicklung von der Mission für Gastarbeiter zur Gemeinde von Katholiken
anderer Muttersprache mit heterogenen Herkünften
und sozialen Situationen 8 steht die fortdauernde
Geltung der Kernaussagen der „Leitlinien für die
Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprache“ der
Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahre 2003
nicht in Frage:
Die fremdsprachigen Gemeinden sind Teil der
Ortskirche mit einem eigenen Auftrag.
Als lebendige und aktive Gemeinden stellen
sie einen hohen Wert und einen festen Bestand innerhalb der Ortskirche dar.
Sie erinnern die katholische Kirche daran,
dass sie keine Nationalkirche ist und Migranten selbstverständlich zu ihr gehören.
Die katholische Kirche hat weiterhin eine
diakonisch-advokatorische und eine seelsorglich-missionarische Doppelaufgabe.
24
Über den konkreten Ort, die Form und den Beitrag
muttersprachlicher Seelsorge in den neuen Pastoralstrukturen ist in den Sprachgruppen und in der Ortskirche ein intensiver Dialog zu führen.
Im Sinne der Leitlinien muss verstärkt Wert auf die
Sprachkompetenz der muttersprachlichen Seelsorge
gelegt werden. „Zukünftig muss deutlicher werden,
dass Katholiken anderer Muttersprache unter dem
gemeinsamen Dach der Ortskirche beheimatet sind.
Die Priester und hauptamtlichen Laien aus den Entsendeländern sollten mehr als bisher als Brückenbauer für ihre Landsleute verstanden werden. So können
sie sie ermutigen, die Veränderungen in ihrer Biographie auch als eine Berufung aus dem Glauben zu verstehen und in den deutschsprachigen Gemeinden zu
praktizieren. Es ist daher künftig unverzichtbar, dass
die Priester und hauptamtlichen Laien die deutsche
Sprache beherrschen.“ 9 Sonst besteht die Gefahr, dass
ausgerechnet der priesterliche Leiter einer Mission zur
Hauptbremse bei Kooperation und Integration mit den
deutschsprachigen Gemeinden wird, während seine
Gemeindemitglieder in ihrem Alltag in Arbeit, Schule
und Freizeit bereits ganz andere und neue (Misch-)
Identitäten (weder ganz deutsch noch ganz kroatisch,
portugiesisch oder …) entwickelt haben.
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Durch die massive Neuzuwanderung und auch die
vielen Flüchtlinge – sofern sie römisch-katholisch
oder uniert sind – werden die bestehenden muttersprachlichen Gemeinden vor ganz neue Fragen und
Herausforderungen gestellt. Die wenigsten dieser
Neuzugewanderten können etwas Deutsch, manche
sprechen Englisch und kommen damit zurecht, viele
sind aber angewiesen auf Menschen, mit denen sie
sich in ihrer eigenen Sprache verständigen können
und die ihnen bei den ersten Schritten in der „neuen
Welt“ behilflich sind. Diese Menschen, die die eigene
Muttersprache sprechen und sich in vertrauenswürdigen Gruppen treffen, seien es Kirchengemeinden,
Kulturvereine oder andere Gruppierungen und
Netzwerke, sind wichtige Anlaufstellen für die Neuzuwandernden. Sie erhoffen sich dort Informationen,
Hilfen, um sich in der neuen Sprache und im neuen
Land zurechtzufinden – und oft auch ganz konkrete
und handfeste Unterstützung. Die bestehenden muttersprachlichen Communities sind aber zugleich mit
eigenen Themen und Problemen befasst und nicht
unbedingt darauf eingestellt, aus dem Stand zusätzlich
beraterische oder sozialarbeiterische Kompetenzen
aufzubieten.
Viele muttersprachliche (Selbst-)Organisationen,
auch die Gemeinden, haben unersetzliche Beiträge
zu Beheimatung, Bildung, Eigenverantwortlichkeit
und Integration der Menschen aus anderen Ländern
in Deutschland erbracht – und viele der noch bestehenden und nur ruhenden Strukturen konnten im
Angesicht der rasanten Neuzuwanderung revitalisiert
werden und dienen nun als Informations- und Unterstützungsbasis10. Dem enormen solidarischen Engagement der muttersprachlichen Communities gebühren
Achtung und Dank. Ihre Mitwirkung im Netzwerk
Zugänge
von Beratung und Unterstützung ist ausgesprochen
wertvoll und oft unersetzlich – trotzdem ist darauf
zu achten, dass Beratung, Betreuung und Unterstützung von Neuzuwanderern zunächst Aufgabe der
dafür geschaffenen und staatlich verantworteten
Regelsysteme in Ausländerbehörden und Wohlfahrtsverbänden, gerade auch der Caritas, ist und dass
dort auch aus fachlichen und rechtlichen Gründen die
Federführung liegen muss. Eine noch so gut gemeinte
Unterstützung kann etwa im Fall einer Falschberatung zu erheblichen existenziellen und (haftungs-)
rechtlichen Folgen führen. Die enge Verzahnung von
Regelsystemen und muttersprachlichen Communities
in geeigneten – und noch auszubauenden – Netzwerken beugt diesen Gefahren vor und mobilisiert die
notwendigen Unterstützungsressourcen.
für die Pastoral
2/2015
Fazit: Angesichts des deutlichen Anstiegs der regulären Zuwanderung und auch vieler neu nach
Deutschland kommender katholischer Flüchtlinge gibt
es weiterhin großen Bedarf an geeigneten Formen
muttersprachlicher Seelsorge in Deutschland.
Stefan Schohe
Nationaldirektor für die
Ausländerseelsorge,
Deutsche Bischofskonferenz
Bonn
1
Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn hat zu dieser Thematik eine sehenswerte Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ konzipiert, die noch bis zum 9. August 2015 in Bonn zu sehen
ist, danach von Oktober 2015 bis April 2016 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. „Immer bunter. Einwanderungsland
Deutschland. Begleitbuch zu Ausstellung. Nünnerich-Asmus-Verlag Mainz 2014, ISBN 978-3-943904-92-5
2
Vgl. Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30.07.2004 und die entsprechenden Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates.
3
Vgl. Statistisches Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Wanderungen/Wanderungen.html
4
Codex Iuris Canonici – Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe mit Sachverzeichnis. Kevelaer
2001, 5. Aufl.
5
Eine Kirche in vielen Sprachen und Völkern. Leitlinien für die Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprache. Arbeitshilfen Nr. 171, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003.
6
Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs: Erga migrantes caritas Christi – Die Liebe
Christi zu den Migranten. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 165, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004.
7
Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium 32; in: Rahner, Karl; Vorgrimler, Herbert: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg 1971, 7.Aufl., S 163.
8
Ein Beispiel: In der Gründungsphase der ersten ausländischen Missionen in den 50er und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es im Blick auf die Seelsorge keine Differenzierung zwischen Herkunftsland und Sprache. Spanischsprachige
Gastarbeiter kamen aus Spanien, portugiesischsprachige aus Portugal usw. Inzwischen hat sich der Auftrag der muttersprachlichen Gemeinden weiterentwickelt: Die Aufgabenstellung der Missionen richtet sich auf Menschen aus der
ganzen Sprachgruppe – eine spanischsprachige Mission etwa hat heute mehr als 20 verschiedene Nationalitäten unter
ihren Mitgliedern. Das bedeutet, dass auch innerhalb solcher Missionen eine unerhört hohe Integrations- und Verständigungsarbeit zwischen unterschiedlichen Traditionen, Dialekten, Herkunftssituationen und auch Nationalismen geleistet werden muss, die noch viel zu wenig Beachtung und Würdigung findet.
9
Eine Kirche in vielen Sprachen und Völkern. Leitlinien für die Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprache. Arbeitshilfen Nr. 171, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003, S. 14.
Beispielhaft zu nennen ist hier die „Confederación de Asociaciones Españolas de Padres de Familia en Alemania“, der
Bund der Spanischen Elternvereine in der Bundesrepublik Deutschland e.V., einer wesentlich durch die Spanischsprachigen Katholischen Missionen in Deutschland und ihr Referat für Schulfragen und Erwachsenenbildung mit dem ab
1972 erscheinenden Mitteilungsblatt CARTA A LOS PADRES (Brief an die Eltern) initiierten Einrichtung.
Siehe: http://www.confederacion.de/
10
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für die Pastoral
Zugänge
Zugänge
für die Pastoral
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ERFAHRUNGEN
Rickenbach aktiv für Flüchtlinge
EHRENAMTLICHE GESTALTEN EINE ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
AUFGABE MIT
Nimmt eine politische Gemeinde Flüchtlinge auf, ruft das bei Einwohnern vielfältige Reaktionen hervor: Vorbehalte und Ablehnung, aber auch Zustimmung und Unterstützungsbereitschaft! In Rickenbach wird mit kirchlich ehrenamtlichem Engagement das Gemeinwesen
mitgestaltet. (Red.)
Herbst 2013, Rickenbach im Landkreis Waldshut,
eine kleine Gemeinde im Hotzenwald mit fast 4000
Einwohnern. Der Gemeinderat stimmt der Einrichtung einer Gemeinschaftsunterkunft (GU) für 60
Flüchtlinge in einer Immobilie der Caritas zu. Vorausgegangen ist eine öffentliche Debatte, u. a. im Rahmen
einer Bürgerversammlung, an der über 100 Personen
teilnahmen und bei der zum Teil große Vorbehalte
geäußert wurden und die Möglichkeit eines Gelingens von Integration der Flüchtlinge in Frage gestellt
wurde. Andere Stimmen betonen die positiven
Erfahrungen mit Flüchtlingen in einem Teilort und
einige der Gemeinderäte betonen die Verpflichtung
für die Gemeinde, Flüchtlinge aufzunehmen. Nach
dem schließlich einstimmigen Ja des Gemeinderates
laden Bürgermeister und Caritasverband zu einer
Informationsveranstaltung zu Flucht und Asyl ein.
Durch diesen Prozess wird der Boden dafür bereitet,
dass die Bürgerinnen und Bürger die Flüchtlinge nicht
vorrangig als Belastung und Bedrohung wahrnehmen,
sondern als Bereicherung und Chance für das Gemeinwesen.
Die Gestaltung einer Willkommenskultur wird zur
Aufgabe der gesamten Dorfgemeinschaft und bringt
unterschiedliche Menschen zusammen. Schon im
Januar bildet sich ein Kreis von ehrenamtlichen
Helferinnen und Helfern und nimmt, als die ersten
Flüchtlinge ankommen, Kontakt auf. Von Anfang an
sind Vertreter des Pfarrgemeinderates mit engagiert
und setzen so ein deutliches Zeichen der Solidarität
der Kirche mit Menschen in einer Notlage. Insgesamt
bringen sich 30 Frauen und Männer im Alter von
16 – 84 Jahren ein. Darunter der PGR-Vorsitzende,
der Zuständige für den Caritasausschuss der Pfarrei,
mehrere Lehrerinnen, der Seniorchef eines Einzelhandelsgeschäftes, ein Firmenchef, Hausfrauen, eine
Schülerin mit ihrer Mutter, Nachbarn der Gemein-
27
2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
schaftsunterkunft. Darunter sind auch Personen, die
sich bei der ersten Bürgerversammlung ablehnend
geäußert hatten.
Die Ehrenamtlichen klären mit den Flüchtlingen
deren Wünsche und Bedarf auf Hilfe und Unterstützung. An erster Stelle stehen der Erwerb von
Sprachkenntnissen und das Kennenlernen der Region, insbesondere der näheren Umgebung, aber auch
von Busverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten oder
der Ansprechpersonen in den Behörden. Die Schule
wird angefragt und erklärt sich von Anfang an bereit,
Unterrichtsräume für den Sprachunterricht zur Verfügung zu stellen. Mitarbeiterinnen des Einzelhandels
unterstützen die Flüchtlinge bei ihren Einkäufen und
weisen insbesondere auf preisgünstige Waren und
Sonderangebote hin.
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Die Ehrena mtl h e und B edarf auf Hilfe und
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Fahrdienste werden angeboten, z. B. zur Moschee,
zum Fleischer, der Halal-Fleisch anbietet, oder zum
Kleiderlager. Familienpaten begleiten Alleinerziehende aus afrikanischen Ländern, Spielnachmittage für
Kinder aus der GU und der Nachbarschaft werden
angeboten und angenommen, Sprachangebote werden gemacht.
Nach und nach kommen immer mehr Flüchtlinge an.
Von deren Seite wird der Wunsch nach sportlicher
Betätigung geäußert. Daraufhin nehmen Ehrenamtliche Kontakt mit den örtlichen Sportvereinen auf
und die Flüchtlinge werden zum Training eingeladen.
Fahrdienste durch Ehrenamtliche werden aufgebaut.
Inzwischen nehmen Trainer und andere Vereinsmitglieder die Flüchtlinge zum Training mit. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Gemeinschaftsunterkunft
wird von Ehrenamtlichen ein Sporttreff eingerichtet
und durch Spenden von Sport- und Fitnessgeräten
aus der Bevölkerung kann einmal wöchentlich eine
dreistündige Trainingsmöglichkeit in der Turnhalle
angeboten werden.
Die Selbstversorgung der Flüchtlinge und deren Eigeninitiative werden unterstützt durch ein Gartenprojekt. Einer der Ehrenamtlichen stellt ein großes
Grundstück mit Garten zur Verfügung, das von fünf
jungen Flüchtlingen gemeinsam mit weiteren Ehrenamtlichen bestellt wird. Sie graben um, bepflanzen
das Gelände mit Kartoffeln, Salaten, Kräutern, bauen
zwei Gewächshäuser für Tomaten und Gurken. Was
geerntet wird, kommt allen in der Gemeinschaftsunterkunft zugute.
In den Jugendräumen der Pfarrei findet einmal pro
Monat das Café International statt, ein Treffpunkt
von Ortsansässigen und Flüchtlingen. Wie sehr sich
die Pfarrei mit Flüchtlingen solidarisiert, zeigt eine
interne Diskussion über mögliche Kirchenasyle, die
bereits weit vor der Zuweisung von Flüchtlingen geführt wurde und die mit einem schriftlichen Beschluss
für ein Kirchenasyl im begründeten Einzelfall abgeschlossen wurde.
Das große Engagement der Ehrenamtlichen braucht
fachliche Begleitung und Unterstützung, vor allem
durch Information und Schulungsangebote in spezifischen Fragen der Asyl- und Flüchtlingsgesetzgebung,
Moderation von Austauschtreffen, Kontakte mit
Behörden und Unterstützung der Pfarrei in Fragen
des Kirchenasyls. Diese Unterstützung wird durch
die Gemeindecaritas des Caritasverbandes Waldshut
gewährleistet.
In beeindruckender Weise zeigen die engagierten
Ehrenamtlichen: Kirche gestaltet das Gemeinwesen
vor allem durch das ehrenamtliche Engagement mit
– dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen,
sich mit anderen auf den Weg begeben und so etwas
verändern.
Anneli Ahnert
Referentin für Engagement/
Gemeindecaritas, Gemeindecaritas, Caritasverband
Hochrhein
Alexander
Gromann-Bross
Referent für Gemeindecaritas,
Caritasverband Freiburg
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
„Nah an Menschen
von weit weg“
Der Flüchtlings-Helferkreis in Engen-Welschingen begleitet mit Hilfe der Caritas
Singen-Hegau Menschen auf dem Weg in der Fremde in unserer Nachbarschaft. (Red.)
„Weit weg ist manchmal näher, als du denkst.
Denn die Flüchtlinge, die unser Land erreichen
und um Asyl bitten, werden auf die Landkreise und
Kommunen verteilt. Da wird die Welt plötzlich
kleiner. Und die Hilfe für Flüchtlinge wird auch
für die Bevölkerung im Landkreis Konstanz
ganz konkret. Die notleidenden, verfolgten,
asylsuchenden Menschen kommen in unsere
unmittelbare Nachbarschaft.“
Mit diesen Worten bereitete der Pfarrer der
Seelsorgeeinheit Oberer Hegau, Dekan Matthias
Zimmermann, im vergangenen Sommer im Pfarrblatt
die Gemeindemitglieder in Engen-Welschingen
darauf vor, dass jetzt Fremde auf der Flucht im leer
stehenden Pfarrhaus Geborgenheit und Sicherheit
finden sollen. Immerhin sei in dem schon ein Jahr
unbewohnten Haus Platz für 24 „Menschen von
weit weg“. Gemeinsam mit dem Pfarrgemeinderat
in Welschingen wurde entschieden, dem Landkreis
Konstanz das Pfarrhaus als Gemeinschaftsunterkunft
für Flüchtlinge anzubieten.
„Die Entscheidung in unserem Gremium fiel
einheitlich“, erinnert sich die PGR-Vorsitzende
Manuela Dreher. „Für uns war einleuchtend, dass
wir als Kirche ein Zeichen des Willkommens für
Flüchtlinge setzen müssen.“ Schade sei gewesen,
dass die Entscheidung erst gefallen sei, als das
Pfarrhaus leergeräumt war: „Da hätten wir einige
entsorgte Einrichtungsgegenstände für die Flüchtlinge
gebrauchen können.“ Von den Räumlichkeiten her
bot sich an, zwei Wohnungen mit je einer Küche
einzurichten. Im Keller gab es zusätzliche Dusch- und
Toilettenmöglichkeiten. Nachdem der Mietvertrag
mit dem Landkreis unter Dach und Fach war, sei
alles recht schnell gegangen und das Haus mit
Flüchtlingsfamilien, zwei bis drei je Wohnung, aus
Syrien und Indien in den Sommerferien 2014 bald voll
gewesen.
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„Für uns war ei Willk ommens für Flüchtlinge
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Die Sozialarbeiter vom Landratsamt hätten die
Flüchtlinge begrüßt und ihnen erste Hinweise auf
Einkaufsmöglichkeiten gegeben. Die PGR-Vorsitzende
war dann die erste Kontaktperson seitens der
Pfarrgemeinde. „Eigentlich wollten wir zu einem
Infoabend für die Gemeinde vor dem Einzug der
ersten Flüchtlinge einladen“, sagt Manuela Dreher,
„doch das war wegen der Ferienzeit nicht möglich.“
Als dann im September 2014 in den Pfarrsaal
geladen wurde, kamen rund 100 Bürgerinnen
und Bürger – 1.400 Einwohner hat Welschingen
insgesamt. Es habe im Saal eine gute Stimmung, ein
richtiges „Willkommensklima“, geherrscht. Der
Leiter der Eingliederungsbehörde im Landratsamt
habe grundsätzliche Informationen gegeben und die
zuständigen Sozialarbeiter der Behörde vorgestellt.
29
2/2015
30
für die Pastoral
Erfahrungen
Ein Flüchtlingshelferkreis mit Brückenfunktion
Und dann präsentierte der Pfarrgemeinderat
sein Konzept eines Flüchtlingshelferkreises.
Da das Erlernen der deutschen Sprache eine
Grundvoraussetzung für das Leben und Arbeiten hier
ist, konnten Deutschlehrer darlegen, wie sie sich den
entsprechenden Deutschunterricht vorstellen und
welche Unterstützung sie dabei von Ehrenamtlichen
gebrauchen konnten. Der Helferkreis sah wichtige
Aufgaben darin, den Flüchtlingen mit Einkaufsfahrten
nach Engen bei der Alltagsbewältigung zu helfen –
in Welschingen gibt es nur noch einen Bäcker und
einen Metzger. Inzwischen hat sich ein regelmäßiger
Fahrdienst etabliert. Als weitere wichtige Aufgabe
stellte sich die Begleitung von Flüchtlingen bei
Arztbesuchen und Behördengängen heraus.
Damit die Tage des Wartens auf den Fortgang
im Asylverfahren nicht endlos wurden, sollte der
Helferkreis nach Beschäftigungsmöglichkeiten,
besonders für die Männer, suchen.
Nachdem das Aufgabenspektrum für einen
Flüchtlingshelferkreis ausführlich dargestellt war,
meldeten sich fünfzehn Frauen und Männer zur
ehrenamtlichen Mitarbeit bereit. Daraus bildete
sich ein Organisationsteam mit den vier Frauen
Manuela Dreher, Lisa Klein, Doris MarschallHöfler und Miglena Abrasheva vom Caritasverband
Singen-Hegau, das nun die Fäden der vielfältigen
Hilfs- und Betreuungsangebote in die Hand nahm.
Dieses Koordinationsteam ist sehr wichtig, damit
ein Überblick besteht, wer mit welchen Flüchtlingen
Kontakt hat und welchen Unterstützungsbedarf es
gibt. Doris Marschall-Höfler erzählt schmunzelnd:
„Es ist ja gut, wenn die Menschen aus der Fremde
hier so wohlwollend aufgenommen werden. Doch es
ist sicher nicht sinnvoll, wenn sich zu viele kümmern
und verwöhnen und dabei den Blick ins normale
Leben verstellen.“ Das Orga-Team informiert
sich mit regelmäßigen E-Mails über Neuigkeiten
aus der Gemeinschaftsunterkunft im Pfarrhaus
und dem Gemeinwohl. „Wir können Stimmungen
aufnehmen“, weiß Doris Marschall-Höfler, „und uns
auf Gespräche, die neue Einsichten erschließen,
einlassen.“
Der Flüchtlingshelferkreis kommt regelmäßig zum
Austausch und zur Planung von Veranstaltungen
zusammen. So gab’s schon einen Nikolausabend,
Kochabende mit dem Austausch von fremden und
heimischen Rezepten und einen bunten Abend. Mit
viel Freude ließen sich die Flüchtlinge auf Fastnacht
ein und konnten mit den Geheimnissen der
alemannischen Fasnet vertraut gemacht werden. Im
örtlichen Sportverein sind einige integriert und die
Kinder bekommen über Kindergarten und Schule
gute Kontakte. Und immer wieder wird überlegt,
wie die Sprachkenntnisse noch verbessert werden
können. Manchmal gestaltet sich die Fluktuation
in der Gemeinschaftsunterkunft problematisch,
wenn durch einen Auszug begonnene Hilfen nicht
fortgeführt werden können. Auch darüber wird im
Kreis gesprochen. Dann ist es gut, wenn die zuständige
Sozialarbeiterin vom Landratsamt dabei ist.
Wichtig ist die fachliche Begleitung der
Caritas
Miglena Abrasheva vom Caritasverband Singen-Hegau
übernimmt im weiten Feld der Flüchtlingsbetreuung
in Welschingen und in der Region durch ihre
Arbeit besonders mit den Ehrenamtlichen eine
wichtige Rolle: „Ich erfülle den Platz einer wichtigen
Schnittstelle zwischen Flüchtlingen, Ehrenamtlichen
und Behörden. Ganz bedeutsam ist es, immer die
richtigen Informationen weiterzugeben und auf
die Ausgewogenheit von Nähe und Distanz zu
achten.“ Sie schätze den ehrenamtlichen Einsatz
des Helferkreises sehr hoch ein: „Dadurch sind die
Flüchtlinge hier in Welschingen sehr gut aufgehoben.“
Manuela Dreher kann anderen Pfarrgemeinderäten
nur empfehlen, sich dem Schicksal von Flüchtlingen
in den Gemeinden zu widmen: „In der offenen
und persönlichen Begegnung kann die Gemeinde
nur gewinnen.“ Dadurch seien bei ihnen manche
Skeptiker verwandelt worden. Sie weiß die fachliche
Begleitung durch die Caritas zu schätzen und hofft
inständig, dass die zunächst auf zwei Jahre befristete
Stelle bei der Caritas Singen-Hegau bestehen bleibt.
„Ich möchte nur jeder anderen Gemeinde raten,
bei ihrer Helferkreisarbeit die Hilfe der CaritasExperten in Anspruch zu nehmen. Dabei können alle
nur gewinnen.“
Gerhard Lück
Journalist, Kirchzarten
(leitete 31 Jahre die Pressestelle des Diözesan-Caritasverbandes Freiburg)
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Kirchenasyl in der
Seelsorgeeinheit Brühl-Ketsch
Eine von Abschiebung bedrohte Familie aus dem Iran findet Kirchenasyl, liebevolle Aufnahme
und Heimat in Ketsch. (Red.)
Eine Freundin in Teheran erzählte Vajiheh von einer
Gruppe, die sich mit der Bibel beschäftige. Vajiheh
entdeckte in diesem Kreis von Christen ein neues
Frauenbild. Sie nahm ihren Mann Mohammad, der
sich nur im Untergrund bewegen konnte, mit in
diesen Kreis, um die Bibel näher kennen zu lernen.
Doch dann wurden sie verraten und mussten mit
ihrer Tochter Melina fliehen. Durch einen Schleuser
kamen sie nach Frankfurt, jedoch mit einem Visum
für Italien. Verwandte der Familie leben in Brühl.
Dort fanden sie ihre erste Bleibe. Hier wollte
die Familie auch getauft werden. Nach einigen
Gesprächen wurde deutlich, dass sie wesentliche
Inhalte der Bibel und des kirchlichen Lebens kannten,
sodass wir am 1. Advent 2013 ihre Taufe feiern
konnten.
Dann ging ihr Weg in das Asylheim nach Karlsruhe
und später nach Heidelberg. In dieser Zeit kamen
sie immer wieder zu unseren Gottesdiensten. Ende
Mai 2014 wurde das Asylverfahren abgelehnt. Sie
sollten nach Italien abgeschoben werden. Sie mussten
befürchten, dort als Obdachlose zu leben oder in
den Iran abgeschoben zu werden, wo Haft oder
Todesstrafe auf sie wartete.
Der Rechtsanwalt, der sie betreute, fragte bei uns
an, ob wir die Familie in das Kirchenasyl aufnehmen
könnten. Die Wohnung im Pfarrhaus Ketsch stand
leer. Der Pfarrgemeinderat stimmte zu. Wir sahen
unsere moralische Verantwortung für die Menschen,
die wir durch die Taufe in unsere Kirchengemeinde
aufgenommen haben.
Dann musste alles sehr rasch gehen. Die Familie
stand vor der Pfarrhaustüre in Ketsch. Die beiden
Zimmer und Diele mussten möbliert werden, eine
Kochgelegenheit gefunden, eine Waschmaschine
gekauft, fürs Essen gesorgt werden. Eine große
Spendenbereitschaft unterstützte das Kirchenasyl
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finanziell. Der Rechtsanwalt wurde uns zu einer
großen Stütze in allen rechtlichen Angelegenheiten
und als Übersetzer. So sehr sich die Familie über
ihre Bleibe freute, so bedrückend wurden für sie
die Monate des Abwartens mit einer ungewissen
Zukunft und der Trauer über die endgültige Trennung
von ihrer Herkunftsfamilie. Sie waren praktisch in
ihren vier Wänden gefangen. Nur der Pfarrgarten
und der Weg zur Kirche hinter schützenden Mauern
bot ihnen ein wenig Freiheit, die auch mit großen
Ängsten behaftet war. Umso wichtiger wurden neben
dem Besuch von iranischen Freunden Kontakte zu
Menschen aus der Pfarrgemeinde.
Viele boten ihre Hilfe an, die es zu koordinieren galt:
31
2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
Eine ehemalige Lehrerin vermittelte Grundzüge der
deutschen Sprache – auch eine Gelegenheit, über den
Glauben zu sprechen und ihn zu vertiefen. Andere
kamen zu Besuch, um das bei der Deutschlehrerin
Erlernte im Gespräch zu praktizieren; andere
tauschten beim gemeinsamen Kochen landestypische
Speisen und Gewohnheiten aus oder lenkten sie mit
Bastelarbeiten ab. Eine „Ersatzoma“, die sich mit
ihren Enkelinnen Michelle und Angela zum Gespräch,
Spiel oder alltagspraktischen Dingen zur Verfügung
stellte, war schnell gefunden und ist bis heute eine
wichtige Bezugsperson. Ebenso bekam Melina
Flötenunterricht von Anna und deren Oma.
Von Gruppierungen, die sich im Pfarrheim regelmäßig
oder zu einzelnen Festlichkeiten trafen, wurden
Vajiheh, Mohammad und Melina eingeladen, wie
zum Beispiel zu wöchentlichen Turnstunden der
Kolpingsfamilie. Immer wieder fanden sich Menschen,
die bei medizinischen Problemen unentgeltlich halfen.
Da Melina nicht in den Kindergarten gehen konnte,
machten wir es umgekehrt: So weit es möglich war,
machte sich eine Kindergartengruppe wöchentlich
auf den Weg ins Pfarrheim, um dort mit Melina zu
spielen, was ihr den Einstieg in den Kindergarten
später sehr erleichtert hat.
Es war auch für die Kindergartenkinder eine
wertvolle und spannende Erfahrung.
Taufkerzen verziert, die wir den Tauffamilien
überreichen. Und bei dem ein oder anderen
thematischen, durch Pfarreigruppen gestalteten
Gottesdienst banden wir die drei aktiv mit ein.
Die Familie ist so durch viele Begegnungen in unserer
Pfarrgemeinde heimisch geworden.
Am 19.11.2014 kam dann nach langem Warten die
erlösende Nachricht, dass die Abschiebung nach
Italien aufgehoben ist. Und am 14.12.14 konnte
der Rechtsanwalt der Familie mitteilen, dass der
Asylantrag angenommen wurde und sie als freie
Menschen in Deutschland leben dürfen – ein
wunderbares Weihnachtsgeschenk für uns alle!
Nach den Weihnachtstagen begann der Weg zu
den Ämtern. Viele Anträge müssen gestellt werden.
Geduld ist gefragt, bis Geld fließt und die Familie
sich selbst finanzieren kann. Eine Gemeindewohnung
konnte gefunden werden. Den Übergang dorthin
werden wir weiter begleiten. Melina besucht den
Kindergarten und wird in diesem Jahr eingeschult.
Ihre Eltern drücken die Schulbank und verbessern
ihre Deutschkenntnisse. Offen ist, wo sie Arbeit
finden werden. Einen Platz in der Kirchengemeinde
und bei den Menschen, die sich für sie einsetzten,
haben sie bereits gefunden.
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32
Aber die Seelsorgeeinheit war nicht nur die
Gebende, sondern unsere Kirchenasyl-Gäste wollten
auch etwas zurückgeben; ihre Dankbarkeit über die
liebevolle und treue Fürsorge drückte Vajiheh in
einem selbstgemalten Christusbild aus, das seither
in der St. Sebastianskirche steht. Das Überreichen
dieses Bildes in einem Gottesdienst haben sie mit
folgenden Worten kommentiert: „Ihr habt uns
nicht gekannt, habt uns trotzdem aufgenommen
und uns ein neues Zuhause gegeben. Wir danken
euch von ganzem Herzen für die Herzlichkeit
und Menschlichkeit. Als Zeichen unseres Dankes
überreichen wir euch dieses Bild als Symbol tiefster
Verbundenheit.“
Auch haben sie gerne kleinere Arbeiten für die
Pfarrgemeinde übernommen, zum Beispiel bei
der Vorbereitung der Caritassammlung. Sie haben
Martina Gaß
Pastoralreferentin,
Seelsorgeeinheit
Brühl-Ketsch
Walter Sauer
Pfarrer, Seelsorgeeinheit
Brühl-Ketsch
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Vertrauensperson, Anwalt,
Betroffener
Kemal Ahmed unterstützt im Auftrag der Kirchengemeinde St. Margarethen in Waldkirch
Roma-Familien, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Er ist selbst ein Roma, der mit
seiner Familie vor politischer Verfolgung aus Mazedonien geflohen ist. Zusammen mit Pfarrer
Heinz Vogel berichtet er in einem IMPULSE-Interview von seinen Erfahrungen. (Red.)
Redaktion
Herr Ahmed, inwiefern unterstützen Sie andere
Roma-Familien?
Kemal Ahmed
Ich helfe bei Behördengängen oder bei Arztbesuchen,
indem ich dolmetsche. Aber darüber hinaus bin ich
eine Vertrauensperson für Roma und für andere
Flüchtlinge aus den Balkanländern. Viele vertrauen
sich eher mir an als einem Sozialarbeiter. Im Landkreis Emmendingen leben zurzeit etwa 250 Flüchtlinge, die vom Balkan kommen.
Redaktion
Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?
Kemal Ahmed
Ich lebe mit meiner Familie seit 2011 in Deutschland,
aber während des Jugoslawienkrieges 1991 sind meine
Eltern mit mir nach Deutschland geflohen. Ich habe
damals als Kind einige Jahre in Kenzingen gelebt und
dort auch die Schule besucht.
Redaktion
Herr Pfarrer Vogel, wie kam der Kontakt mit Herrn
Ahmed zustande?
Heinz Vogel
Wir haben in Waldkirch eine Roma-Familie, die von
Abschiebung bedroht ist, nachdem ihr Asylantrag
abgelehnt wurde. Im vergangenen Jahr gab es hier u.
a. von der evangelischen und der katholischen Gemeinde eine breite Unterstützung für ihre Petition
zugunsten eines humanitären Bleiberechts. Herr Ahmed hat damals gedolmetscht. Wir haben dann überlegt, wie wir ihn für eine Unterstützung der Flüchtlingsfamilien gewinnen und sein Engagement vergüten
können. Schließlich konnten wir ihn auf der Basis geringfügiger Beschäftigung einstellen. Wir kooperieren
dabei mit dem Diakonischen Werk Emmendingen und
mit anderen Seelsorgeeinheiten im Elztal.
Redaktion
Wie ist die Anstellung in der Gemeinde aufgenommen worden?
Heinz Vogel
Sehr positiv. Der Einsatz für Flüchtlinge gehört zu
unserem Seelsorgeauftrag. Zum Beispiel organisiert
der Familienausschuss der Kirchengemeinde einmal
im Monat ein „Café International“, das auch von
Flüchtlingen mit ihren Familien besucht wird. Oder im
Gottesdienst wird die Familie, für die sich viele Gemeindemitglieder durch Unterzeichnung der Petition
eingesetzt haben, wahrgenommen. Und seit Herr
Ahmed im Pfarrhaus ein Büro hat, begegnen wir hier
des öfteren Roma-Familien, die zu einem Gespräch
mit ihm hierher kommen.
Redaktion
Welche Auswirkungen auf das Leben der Gemeinde
sehen Sie?
Heinz Vogel
Zum einen führen uns die Roma-Familien, die hier ins
Pfarrbüro oder ins „Café International“ kommen, die
33
2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
soziale Realität der Flüchtlinge, manchmal auch die
spürbare Angst vor Abschiebung, ganz konkret vor
Augen. Zum anderen zeigen sie uns eine Form des
familiären Zusammenhalts, die wir ins Deutschland
weitgehend verloren haben. Es ist ein interkulturelles
Lernen, das übrigens durch unser multikulturelles
Team noch gefördert wird: Seit Jahren lebt im Pfarrhaus ein afrikanischer Priester, der in Freiburg promoviert; der Kaplan ist Portugiese, ein Pastoralreferent hat indische Wurzeln.
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Redaktion
Herr Ahmed, Sie haben sich ja vorher schon für andere Flüchtlinge engagiert. Was hat sich durch die
Anstellung für Sie geändert?
Kemal Ahmed
Es ist ein großer Unterschied, ob ich als Privatperson Kemal Ahmed eine Familie zum Rathaus begleite
oder das im Auftrag der Kirchengemeinde tue. Wenn
ich im Auftrag der Kirche handle, begegnet man mir
in den Behörden mit viel mehr Respekt. Aber das
gilt auch für die Flüchtlinge: Man vertraut mir auch
deshalb, weil die Kirche einen guten Ruf hat. Ich bin
Vertreter der Kirche und zugleich einer von ihnen.
Das schafft Akzeptanz und Vertrauen. Auch in der
Stadt Waldkirch bin ich bekannter geworden. Menschen sprechen mich an: „Sind Sie nicht der Herr
Ahmed von der Kirchengemeinde?“ Das hilft für meine Arbeit. Ich kann mich viel besser für die Familien
einsetzen. Ich bin häufig ein Anwalt für die Interessen
der Familien, nicht im juristischen Sinne, sondern im
Sinne sozialer Unterstützung. Da ist es gut, wenn ich
das im Auftrag der Kirche tun kann.
Redaktion
Sie sind selbst Flüchtling. Wie ist Ihre Situation?
34
Kemal Ahmed
Der Asylantrag für meine Familie und mich wurde
abgelehnt, aber dagegen haben wir geklagt; das Verfahren läuft noch. Wir genießen Abschiebeschutz,
weil ich eine persönliche Bedrohung nachweisen
konnte, die über die allgemeine Diskriminierung als
Roma hinausgeht: Ich bin Kameramann und habe in
Mazedonien politisch heikle Dokumentationsfilme
produziert, unter anderem über den Aufstand der albanischen Bevölkerungsgruppe 2001, aber auch über
getötete Roma-Kinder und Organhandel. Ein Verbleib
wäre zu gefährlich geworden; durch die Flucht haben
wir uns der Gefahr entzogen. Ich lebe mit meiner
Frau und unseren drei Kindern inzwischen in Waldkirch in einer kircheneigenen Wohnung. Dank des
Abschiebeschutzes müssen wir nicht jeden Morgen
mit der Angst aufstehen, vielleicht heute abgeschoben
zu werden. Aber unser Aufenthaltsstatus ist nicht
geklärt. Auf Dauer können wir von der geringfügigen
Beschäftigung nicht leben, deshalb suche ich eine
Vollanstellung.
Redaktion
Und wie sieht die Zukunftsperspektive für die Flüchtlingsarbeit hier in Waldkirch aus?
Kemal Ahmed
Mein Vertrag bei der Kirchengemeinde ist zunächst
bis Sommer befristet, und ich suche ja auch eine andere Arbeit. Aber unabhängig von meiner Person:
Die Zahl der Flüchtlinge aus dem Balkan wird nicht
so bald abnehmen. Gerade auch Roma-Familien brauchen weiterhin die Unterstützung, noch jahrelang.
Heinz Vogel
Pfarrer, Seelsorgeeinheit
Waldkirch
Ahmed Kemal
Waldkirch
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Die Nähstube als Ort der
Begegnung, Verständigung und
des gemeinsamen Lernens
Frauen unterschiedlicher Nationalitäten zu dem einzuladen, was sie können, darin liegt der
zündende Gedanke für ein Nähcafe in Heidelberg. Das Interesse der Frauen und die positiven
Auswirkungen auf den Alltag der Teilnehmerinnen geben der Idee der Initiatorinnen recht.
(Red.)
Was spricht Frauen unterschiedlicher Nationalitäten
an? Wie sieht eine Gruppe aus, die interkulturell
und generationsübergreifend arbeitet? Wie
kann man an der Umsetzung von persönlichen
Vorstellungen der Teilnehmerinnen und von außen
definierten gesellschaftlichen Erwartungen arbeiten
und gleichzeitig die Mitarbeit der Teilnehmerinnen
sicherstellen? Auf welchem Weg mache ich die
Beratungsangebote von Wohlfahrtsverbänden
und städtischen Einrichtungen bei Migrantinnen
bekannt? Wie kann ich Frauen in der Berufsfindung
unterstützen?
Unsere Antwort: Eine Nähstube für Frauen in
einem Stadtteil mit mehr als 95 Nationalitäten, der
manchmal als sozial schwierig gesehen wird.
Die Anfänge
Ich arbeitete seit vielen Jahren beim Caritasverband
Heidelberg im Migrationsdienst und hatte neben
der Beratungsarbeit mehrere Jahre eine PatchworkGruppe mit Spätaussiedlerinnen geleitet, als ich
2007 gebeten wurde, in einem Stadtteil ein neues
Angebot einzurichten und entschied mich für eine
Frauengruppe mit dem Schwerpunkt „Nähen“.
Im Stadtteil überzeugte diese Idee schon dadurch,
dass es kein Sprachkurs war. Das Konzept, Frauen
einzuladen, etwas zu tun, das sie können oder lernen
möchten und sie nicht darauf hinzuweisen, was
sie nicht können, nämlich deutsch sprechen oder
verstehen, wurde sofort als überzeugendes Argument
akzeptiert.
Das Ziel des Angebots war es, die Teilnehmerinnen
in ihrem Alltag, in ihrer persönlichen und
beruflichen Entwicklung zu unterstützen und als
Anknüpfungspunkt das gemeinsame Interesse am
Nähen zu nutzen. Für die Teilnehmerinnen lag der
Schwerpunkt beim Nähen und Handarbeiten, für
mich als Gruppenleiterin beim sozialen Miteinander
und in der Vermittlung in entsprechende Beratungsund Hilfsangebote.
Auf dem verteilten Flyer der Nähstube war eine
Nähmaschine abgebildet mit der Einladung an alle
interessierten Frauen im Stadtteil teilzunehmen.
Treffpunkt war zweimal wöchentlich ein beim
Stadtteilverein gemietet Raum, in dem wir
Nähmaschinen und Materialien lagern konnten. Die
Teilnehmerinnen kamen aus eigenem Interesse. Schon
in den ersten Monaten kamen Teilnehmerinnen aus
Deutschland, Polen, Russland, China, Philippinen,
Türkei, Iran zusammen. Einige sprachen Deutsch,
andere nicht.
Die Entwicklungen in der Nähstube
Die Teilnehmerinnen lernten sich gegenseitig kennen.
Sie unterstützten einander und zeigten ihr Können,
es wurde zugeschaut, nachgefragt und dabei viele
Gemeinsamkeiten entdeckt. „Was? Türkisch und
Rumänisch heißt das beides mal „Pense“ wenn du
eine Naht machst?“. Am deutlichsten zeigte sich
das Sprach-Entwicklungspotential der Gruppe als
eine Chinesin zum ersten Mal kam. Sie zeigt auf die
Nähmaschine auf der Einladung und konnte kein
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2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
Wort Deutsch. Eine Türkin nahm sich ihrer an, zeigte
ihr unsere Nähmaschinen und sah zu, was sie nähen
wollte. Nebenbei fragte sie mit vielen Gesten nach
Alter, Kindern und Ähnlichem. An diesem Morgen
lernte die Türkin, wie professionell genäht wird.
Die Chinesin konnte es ihr nicht erklären, nahm
ihr aber die Sachen aus der Hand, legte sie unter
die Nähmaschine und machte sie ruckzuck fertig.
Anschließend wussten wir also, dass die Chinesin
um die vierzig war, eine Tochter hatte, super nähen
konnte, aber kein Deutsch sprach. Sie brauchte nur
eine Maschine, weil sie keine besaß. Ein Jahr später
kam sie lachend vorbei und meinte: „Können Sie
sich noch an mich erinnern? Ich mache jetzt Tai-ChiKurse für eine Frauengruppe hier“.
Oft brachten die Frauen ihre Nachbarinnen
oder Freundinnen mit. Die Frauen konnten
ihre traditionellen Handarbeiten oder Schnitte
mitbringen, zeigen und daran weiterarbeiten. Das
Nebeneinander der verschiedenen Kulturen und
Sprachen ließ Raum für eigene Entwicklungen. Jede
konnte von den anderen Lernen und die eigenen
Werte überprüfen und darstellen. Jede hatte ihre
eigene Identität und niemand wurde in Frage gestellt.
Auch Kopftuch tragen war keine Frage. Wer will
trägt eines, fertig.
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36
Schön war ein Ereignis, als eine Afghanin ihr Kopftuch
wechselte. Sie trug ein schönes auf der Straße und
eines zum Arbeiten. Sie legte das Kopftuch auf die
Haare macht zwei, drei Bewegungen und das Tuch
saß fest. Und dann fragte eine deutsche Frau sie,
wie sie das gemacht hätte damit das Tuch nicht
rutscht. Die Afghanin war stolz, ihr das zeigen
zu dürfen und nicht kritisiert zu werden. Dieses
herzliche und unkomplizierte Umgehen miteinander
pflegte die Gruppe in allen Details. Jede machte
ihre Arbeiten so, wie sie es konnte und wollte. Jede
zeigte gerne, was sie kann, aber niemand muss es
deswegen auch so machen. Von anderen Frauen zu
lernen und miteinander zu sprechen, funktioniert
auch mit wenig gemeinsamer Sprache, aber mit
viel Aufmerksamkeit füreinander. Das Verstehen
kommt beim Bemühen um den anderen. Die Sprache
ist ein wichtiger Aspekt, sowohl Deutsch als auch
die Sprachen, mit denen die Teilnehmerinnen sich
untereinander verständigen, weil die verschiedenen
Sprachen, die jemand spricht, auch ermöglichen, dass
er oder sie anderen etwas erklärt. Beispielsweise
wenn eine Türkin auch kurdisch spricht, ist das ein
Teil der Verständigung zwischen den Völkern. Für
die Näh-Gruppe war die Sprachvielfalt immer eine
Herausforderung, die sich gemeinsam gut meistern
ließ.
Die gemeinsamen Fortschritte
Durch das gegenseitige Kennenlernen hat sich für
viele Frauen auch ihr Stadtteil verändert. Sie gehören
zu einer Gruppe dazu, werden über Aktionen im
Stadtteil informiert, nehmen bei Interesse daran teil
oder leisten einen Beitrag zum Gelingen der Aktion.
Die Nähstube wurde zu einem Ort der Begegnung,
der Verständigung über kulturelle und sprachliche
Grenzen hinweg und des gemeinsamen Lernens.
Darüber hinaus wurde sie zu einem weiteren
Knotenpunkt im Netzwerk im Stadtteil
Emmertsgrund. Unsere Teilnehmerinnen besuchten
das internationale Frauencafé, wurden durch die
Heidelberger Dienste in der beruflichen Bildung
gefördert, nahmen am Integrations-Sportprojekt teil,
engagierten sich beim Stadtteilfest und dem örtlichen
Weihnachtsmarkt und besuchten Sprachkurse im
Stadtteil. Es entstand ein Terrain, auf dem sich die
Frauen immer sicherer bewegen konnten.
Mittlerweile ist die Nähstube in das neue
Seniorenzentrum im Stadtteil eingebunden
und arbeitet auch dort mit einem
generationenübergreifenden Konzept. Und noch
immer ist diese Gruppe ein Einstieg für Migrantinnen
in andere Angebote, ein Türöffner für Frauen.
Michaela Günter
Sozialpädagogin
Caritasverband Heidelberg
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Solidarität mit osteuropäischen
Pflegehelferinnen und
Pflegehelfern
In der Seelsorgeeinheit Markdorf erhalten Pflegehelferinnen und Pflegehelfer aus Osteuropa
vielfältige Unterstützung vom Besuchsdienst der Caritas-Konferenzen (CKD). So beginnt die
weltweite Solidarität an der nächsten Haustür. (Red.)
Als ehrenamtliche Besuchsdienstmitarbeiterin der
Caritas-Konferenz Bermatingen-Ahausen besucht
Frau Gerda Dilger regelmäßig alte, kranke Menschen
zu Hause. Bei ihren Besuchen trifft sie immer wieder
auch auf Pflege-Helfer/innen aus Osteuropa. Frauen
und Männer, die ihre Heimat verlassen, um sich in
Deutschland kostengünstig und in der Regel rund
um die Uhr um pflegebedürftige alte Menschen zu
kümmern. Durch zahlreiche Gespräche mit diesen
Menschen erfuhr Frau Dilger von deren Nöten und
Sorgen, von Heimweh und Einsamkeit und dem Leben, das sie in ihrer Heimat zurückgelassen haben.
Diese Berichte lösten in Frau Dilger eine große
Betroffenheit aus und es entstand der Impuls, die
Helfer/innen in ihrem Alltag zu begleiten und zu
unterstützen. Frau Dilger nahm Kontakt zu anderen Besuchsdienstgruppen auf und stellte ihre Idee
beim „Runden Tisch“ im Dekanat Linzgau vor. Beim
„Runden Tisch“ treffen sich Vertreter/innen der Caritaskonferenzen, karitativ ehrenamtlich Engagierte
und Verantwortliche der Kirchengemeinden sowie
der Geschäftsführer des Ortscaritasverbandes. Dabei
machte sie die Erfahrung, dass auch andere Besuchsdienstmitarbeiter/innen die Einsamkeit und Nöte der
Helfer/innen wahrnehmen. Ziel war es Helfer/innen
aus Osteuropa miteinander in Verbindung zu bringen,
ihnen Gelegenheit zum Austausch zu geben, sie zu
Veranstaltungen in der Gemeinde einzuladen und auf
Orte aufmerksam zu machen, an denen sie sich treffen können.
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Als Ort für Angebote und Treffen steht heute das
Mehrgenerationenhaus in Markdorf zur Verfügung.
Neben dem Austausch über ihre Lebenssituation einmal im Monat besteht das kostenlose, wöchentliche
Angebot eines Deutschkurses für die Helfer/innen.
„Die Chance in der Landessprache kommunizieren
zu können, ist das Wichtigste bei der Integration
und auch bei der Pflege der alten Menschen“, so Frau
Dilger. Damit die Helfer/innen an den Treffen teilnehmen können, haben zunächst Ehrenamtliche der
Caritaskonferenz in dieser Zeit die Betreuung der
Pflegebedürftigen übernommen. Diese Entlastung hat
allerdings auf Dauer zu einer Überlastung der Ehrenamtlichen geführt, so dass die Betreuung nun über
stundenweise bezahlten Einsatz der örtlichen Sozialstationen und Nachbarschaftshilfe abgedeckt wird.
Die Kosten hierzu müssen vom Arbeitgeber der Helfer/innen übernommen werden. Frau Dilger bedauert
37
2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
sehr, dass es nur wenige Arbeitgeber gibt, die bereit
sind, diese Auszeit und Unterstützung für ihre Helfer/
innen zu finanzieren.
Die Kooperation mit dem Mehrgenerationenhaus hat
sich ebenfalls weiterentwickelt. Im Mehrgenerationenhaus werden häufig Kleiderspenden, sowie Spielsachen abgegeben. Ein Teil davon erhalten die Helfer/
innen, die diese mit großer Dankbarkeit an ihre Kinder, Enkel und Familien in der Heimat weiterleiten.
Das Mehrgenerationenhaus in Markdorf ist verkehrstechnisch gut zu erreichen. Für all diejenigen, für die
die Erreichbarkeit dennoch schwierig ist, bieten die
ehrenamtlich Engagierten einen Fahrdienst an. „Uns
ist es wichtig, dass unser Angebot so barrierefrei wie
möglich angenommen werden kann“, betont Frau Dilger, „alle Angebote sind kostenlos“. Deswegen ist die
Akquise von Spendengeldern ein wichtiger Baustein
in der Organisation des Angebotes. Zu Beginn standen Projektfördermittel des Diözesanverbandes zur
Verfügung. Des Weiteren konnte durch die Teilnahme an einem Ehrenamtspreis weitere Mittel generiert
Familien und
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werden. Die Auszeichnung durch den Sozialpreis von
Innovatio war nicht nur finanziell ein Gewinn, sie ist
auch eine große Anerkennung für das außergewöhnliche ehrenamtliche Engagement.
Die ehrenamtlich Engagierten investieren viel Zeit
und Kraft in das Projekt. „Ich bereue dieses Projekt
trotz all der Aufregung und zahlreicher Widerstände nicht“ lautet die Zwischenbilanz von Frau Dilger.
Mit großer Begeisterung wirbt sie bei ortsansässigen
Arbeitsagenturen, Besuchsdienstgruppen, Verbänden
und im Gottesdienst beim Caritassonntag für das
Projekt. Ziel ist es, dass möglichst viele Familien und
Helfer/innen von den Angeboten erfahren und durch
eine Teilnahme davon profitieren können.
Gerne würde Frau Dilger die Helfer/innen noch mehr
in das Gemeindeleben einbeziehen. Aber die Teilnahme sowohl an den Gottesdiensten als auch zum Be-
38
spiel das Singen im Kirchenchor sind durch die wenige freie Zeit, die den Helfer/innen bleibt, kaum möglich. Am besten gelingt dies, wenn die zu pflegende
Person ebenfalls an der Pfarreiaktivität teilnimmt.
„Eine Helferin besucht jeden Sonntag gemeinsam mit
der zu pflegenden, dementen Frau den Gottesdienst.
Sie empfangen gemeinsam die Kommunion und die
Gemeinde respektiert die unruhige, alte Dame“, berichtet Frau Dilger.
Im Rahmen des Projektes „Neue Wege ehrenamtlichen Engagements fördern“, das durch die Glücksspirale gefördert wird, fungiert das Projekt im Verband als „best practice“ Beispiel. Angesteckt von der
Idee und den positiven Erfahrungen gibt es bereits
drei weitere CKD Besuchsdienste im Erzbistum
Freiburg, die ein Angebot für Pflegehelfer/innen aufbauen. Frau Dilger unterstützt die Gruppen mit ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz und erworbenen
Fachwissen.
Durch die Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der Verleihung des Innovatio-Sozialpreis wurde ein Mehrgenerationenhaus in Berlin auf das Projekt aufmerksam sowie eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Friedrich-Schiller-Universität in Jena. „Vielleicht wird
das Projekt bald Teil einer Dissertation über die Pflegekrise in Deutschland“, berichtet Frau Dilger stolz.
„Ich freue mich sehr über das vielfältige Interesse
an unserem Projekt und hoffe, dass es noch weitere
Nachahmer zur Unterstützung von Pflegehelfer/innen
geben wird.“
Michaela Lampert
Diplom Sozialpädagogin,
Haus des Lebens, Freiburg
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Interkulturelles Café im
Kinderhaus Arche Noah
„MEIN ALLERLIEBSTES KUSCHELTIER“
Ein Best-Practice-Beispiel aus der interkulturellen Pädagogik – nicht nur für Kinder! (Red.)
„Ich begrüße euch ganz herzlich! Ich bin Minouche
und sitze sonst bei der Gabi im Büro“. Minouche,
unsere kuschelige Bürokatze, geht mit Frau Burger
unserer Leitung an der Hand zu jedem Cafébesucher
und begrüßt ihn persönlich. „Ich bin Marina“, stellte
sich ein Mädchen Minouche vor und küsst sie sanft
auf die Stirn. Heute sind 21 Gäste zu zählen, darunter
5 unserer Mütter. Die Kinder sind zwischen 3 und 10
Jahre alt. Nach einer ausgiebigen Vorstellungsrunde
führt Frau Burger das heutige Thema des
5. Interkulturellen Cafés „Mein allerliebstes
Kuscheltier“ ein, zu dem jedes Kind sein Kuscheltier
mitbringen dürfte. Vorausgegangen war der Idee eine
Kuscheltieraktion („Teddy Bear Toss“) vom EHC
Freiburg. Die Kuscheltiere wurden vom Publikum
auf die Eisfläche geworfen und von den Spielern und
der Jugendmannschaft eingesammelt. Diese gingen
anschließend als Spende u. a. an unser Kinderhaus.
Frau Burger erklärte anhand eines Eishockeytrikots
und eines Fotos, das die symbolische Übergabe auf
dem Eis zeigt, wie es zu den Kuscheltieren kam,
die wir in unserer dialogischen Stuhlkreismitte
aufgebaut hatten. Frau Brendler, unsere Fachkraft
für Sprachbildung, wollte danach von den Kindern
wissen, welche Kuscheltiere sie mitgebracht hatten,
bevor die Tiere im Korb in der Mitte genauer
angeschaut werden sollten. Die Kinder erzählten
reihum, wie ihr Kuscheltier heißt und wann sie es
besonders brauchten. Roberto erzählte uns von
seiner bunten Eidechse, die er auf Mallorca im Urlaub
gekauft hatte. Stolz geht er zu jedem Cafébesucher
und zeigt seine Eidechse.
Nachdem der Korb leer war – Kinder die kein
eigenes Kuscheltier dabei hatten, haben sich hier
bedienen können – wurde dieser durch eine große
Weltkarte ersetzt, auf der alle Kontinente unserer
Erde zu sehen sind. Unsere Fachkraft für Migration,
Frau Bickel, erfragte, nachdem jedes Kind zu Wort
gekommen war, welches etwas zu seinem Kuscheltier
sagen wollte, von Kindern, wie unsere Gruppentiere
eigentlich heißen, ob die Kinder sie gemeinsam
zusammen aufzählen könnten. Nach und nach
nannten die Kinder die Namen unserer Gruppen im
Kinderhaus. Sie zählten die Pinguine, die Kängurus,
die EisEulen, die Eulen, die Krokodile, die Koalas
und die Giraffen auf. Danach sollten die Kinder
gemeinsam überlegen, wo die Gruppentiere eigentlich
wohnen, auf welchem Kontinent sie beheimatet sind.
Die Fachkraft für Migration hatte kleine Karten von
den Gruppentieren dabei, die die Kinder nehmen
und dann auf den entsprechenden Kontinent
legen konnten. Nachdem alle Tiere mit vereinten
Kräften ihr Zuhause gefunden hatten, durften
sich alle am „tierischen Buffet“ stärken. Unser
Buffet bestand aus selbstgebackenen Tierkeksen,
Tierkuchen, Schlangengurken und anderen tierischen
Kulinaritäten. Bei einer Tasse Kaffee haben wir auch
von unseren Müttern erfahren können, dass auch sie
selbst Kuscheltiere hatten, die sie durch ihre Kindheit
begleitet hatten. Unsere Gäste kamen aus Serbien,
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2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
Äthiopien, Italien, Sri-Lanka, Spanien, Schweiz,
Griechenland, Niederlande, Russland, Marokko und
Deutschland. „Mein allerliebstes Kuscheltier“ kann
eben nicht nur „trösten“ sondern auch „verbinden“.
In einer Kooperation von Leitung, Fachkraft für
Sprachbildung sowie Fachkraft für Migration
ist das Interkulturelle Café (I. C.) geplant und
durchgeführt worden. Bevor es stattfand, haben
unsere Kolleginnen und Kollegen die Eltern
informiert. Zudem hat eine Informationswand, die
von Kuscheltieren umgeben war, in unserem Foyer
auf das Café per Aushang hingewiesen. Im Vorfeld
wurden mit unseren Kindern Gruppentiere gebacken,
die den Eltern in der Abholzeit mit einer Einladung
zum I. C. gereicht wurden. Im Morgenkreis wurde
ca. 2 Tage vor dem I. C. der Termin mit den Kindern
thematisiert.
Das Projekt und die Ziele unseres Interkulturellen
Cafés ist vor ca. zwei Jahren entstanden, als unsere
Leitung, Frau Burger, eine Zusatzausbildung zur
Elternbegleitern absolviert hat. Sie entwickelte
gemeinsam mit der Fachkraft für Migration die
Projektidee vom Interkulturellen Café. Schon
damals hatten wir einen Anteil von Kindern mit
Migrationshintergrund von fast 60%. Die Vision vom
Café war es, dass sich Eltern und Kinder mit und
ohne Zuwanderungsgeschichte in einer unbefangenen
Atmosphäre in vertrauten Räumlichkeiten begegnen
können, um miteinander in Kontakt zu kommen.
Die Gemeinsamkeit, die alle Eltern in diesem Café
verbinden würde, wäre, dass mindestens eins ihrer
Kinder in unserem Kinderhaus betreut wird.
Wir als konfessionelle Kindertageseinrichtung
orientieren uns am christlichen Menschenbild.
Auf Basis dieser Grundlage haben wir ein
Migrationskonzept entwickelt. Dieses beinhaltet
folgende Ziele der interkulturellen Pädagogik, da
es uns nicht nur darum geht, Wissen über andere
Kulturen und Religionen zu erwerben, sondern auch
respektvoll mit Menschen mit Migrationshintergrund
umzugehen:
Vorurteilsfreier Blick
40
Wir wollen Kinder mit Migrationshintergrund
in ihrer Gesamtentwicklung wahrnehmen, ihre
bisherige Entwicklung wertschätzen und ihre
individuellen Kompetenzen stärken, anstatt den Blick
ausschließlich auf die fehlende Sprachkompetenz zu
richten.
Sichtbarmachen von Kulturen und Religionen in der
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Migrationsh intergrund
Einrichtung für alle Beteiligte
Unser Kinderhaus wird von vielen Kindern mit
Migrationshintergrund besucht. Daher ist es uns
wichtig, auch ihre Kulturen, Religionen und Sprachen
in unserer Einrichtung sichtbar zu machen.
Friedfertiges und tolerantes Zusammenleben aller
Kulturen und Nationalitäten fördern
In unserem regelmäßig stattfindenden Interkulturellen
Café möchten wir unseren Eltern mit und ohne
Migrationshintergrund Raum geben, ihre Kultur zu
leben und die Möglichkeit bieten, mit Eltern aus
unterschiedlichen Kulturen in Kontakt zu kommen
und auf diesem Wege interkulturelle Begegnungen
bewusst initiieren.
Nadia Bickel
Fachkraft für Migration
Caritasverband Freiburg
Erfahrungen
für die Pastoral
2/2015
Wenn Verständigung
möglich wird
PFORZHEIM IST SPITZE
Eine Antwort auf die Frage, wie Kirchengemeinden mit Migration umgehen sollen: Das tun,
was sie immer schon tun, den Glauben in Gemeinschaft leben und in Offenheit Orte der
Begegnung für Menschen zu bilden.(Red.)
Derzeit sind wir bundesweit die Stadt mit den
meisten Menschen mit Migrationshintergrund.
Ca. 49 %, das sind bei 120.000 Einwohnern etwa
58.000 Menschen, die entweder, wie die rund
25.000 Ausländer, keinen deutschen Pass haben
oder die selbst bzw. einer ihrer Vorfahren nach
1949 in Deutschland zugewandert sind. Einen
Migrationshintergrund haben also sowohl der
irakische Basil, der vor Jahren aus Mossul kam, als
auch die deutsche Tamara, deren Oma 1955 aus der
Sowjetunion einreiste.
Bei den Ausländern gehen in den letzten Jahren
die Zahlen der Türken oder Italiener, die mit
einem Fünftel bzw. einem Sechstel die größten
Gruppen ausmachen, leicht zurück. Wohingegen
sich die Zahl der Iraker seit 2007 verdreifachte
(2.000 Personen). Mit jeweils über 1.000 Personen
sind auch die Gruppen der Kroaten, Polen und
Portugiesen groß. Zum Teil ortsansässige katholische
Missionen anderer Muttersprache kümmern
sich um Italiener, Portugiesen, Polen, Kroaten,
Vietnamesen und chaldäisch-katholische Iraker
und treffen sich seit 2010 halbjährlich auf Einladung
von Dekan Bernhard Ihle im Missionsrat. Gelungen
sind dadurch zum Beispiel eine Verstetigung der
Beteiligung an Fronleichnam, die Einbindung von
Chaldäern und Polen bei der ökumenischen Langen
Nacht der Kirchen oder das gemeinsame Gedenken
von Portugiesen, Italienern und Deutschen am 23.
Februar, der Zerstörung Pforzheims vor 70 Jahren.
Gemeinsam feiern wir Lichterprozessionen und
Missionsfeste auf dem Marktplatz.
Die Bereitschaft, sich auf diese Kooperation
einzulassen, ist vorhanden. Für diesen Missionsrat
auch Vertreterinnen und Vertreter der
deutschsprachigen Gemeinden zu gewinnen, hat
sich nur zum Teil verwirklichen lassen. Was diese
Zusammenarbeit erleichtert, ist ein Bewusstsein
des gemeinsamen Katholisch seins – wenngleich
es große Unterschiede im Verständnis dessen
gibt, wie Katholisch sein „geht“ – das deutsche
Sprachvermögen der Beteiligten und die ähnlich
gelagerten Themen. Dazu gehören Zukunftsfragen,
Spracherziehung der Kinder, verständliche Katechese,
riesige Zuständigkeitsgebiete und die Not und
Zerreißproben innerhalb der Familien, die deutsche
und die heimische Kultur zusammenzubringen. Im
Missionsrat ist für diesen Erfahrungsaustausch eine
Plattform gegeben, ebenso eine unkomplizierte
Vernetzung mit den kommunalen Stellen wie zuletzt
mit der Integrationsbeauftragten der Stadt.
Unabhängig von diesem Missionsrat, zum Teil
unter Beteiligung einzelner Missionen, geschah und
geschieht Integration in den deutschsprachigen
Kirchengemeinden dadurch, dass sie „normale“
Kirchengemeinden sind. Orte, an denen im
Miteinander die deutschen Sprachkenntnisse
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2/2015
für die Pastoral
Erfahrungen
entwickelt werden, an denen Alltagskultur
beiläufig gelernt wird, an denen Freundschaften
und Bindungen entstehen, die Arbeitsplätze
bieten und Beteiligung ermöglichen. Wenngleich
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B egegnu
es für manche sehr ungewohnt ist, sich in der
Gemeindepastoral zu engagieren. Doch trugen und
tragen Kirchengemeinden dazu bei, in Pforzheim
anzukommen und Heimat zu finden.
Insofern ist Gemeinden auf die Frage, wie sie mit
Migration umgehen sollen, zu empfehlen, das zu
tun, was sie idealtypisch immer schon taten: am
gemeinsamen Interesse, Glaube in Gemeinschaft
zu leben, anzuknüpfen und in Offenheit Orte der
Begegnung zu bilden.
Gleichwohl gibt es auf allen Seiten Widerstände und
Hürden. Oft auch Unsicherheit, denn wie gelingt ein
Kontakt, wenn Sprachhindernisse hemmen? Gute
Katechesemodelle kommen an ihre Grenzen, wenn
Elternbriefe, Elternbücher und Kirchenführungen
nicht verstanden werden. Wie bereichert, wie
katholisch-glücklich hat man sich aber nicht schon
gefühlt, wenn Verständigung dann doch irgendwie
möglich wurde.
Hürden liegen auch in den Kirchen- und
Priesterbildern. Dort wundert man sich, wenn der
Pfarrer ermahnt, in den Gottesdienst zu kommen,
hier wundert man sich, wenn der Pfarrer das nicht
tut. Dementsprechend sind zum Beispiel Kinder
häufig in den Gruppen der deutschsprachigen
Gemeinden eingebunden, gelegentlich werden sie
dann aber für die „eigentliche Katechese“ in die
muttersprachliche Gemeinde gehen. Manchmal
auch gegen den Wunsch der Kinder, die um der
gewollten Identität und des Zusammenhaltes willen
den Erwachsenen folgen. Auch bei der gemeinsamen
Nutzung von Kirchen- und Gemeinderäumen gibt es
gelegentlich Interessenkonflikte, da es um Identitäten
(was „gehört“ uns?), Feierkultur und um Bilder von
Ordnung geht.
42
Noch viel interessanter wird der Blick auf das
Migrationsphänomen, wenn man beispielsweise
im Umkreis von wenigen hundert Metern um die
Herz Jesu Kirche nicht nur eine evangelische Kirche
und mehrere Freikirchen findet, sondern auch die
Synagoge, den Hindutempel und eine Moschee. Die
Gefahr ist groß, dass man trotz aller räumlichen
Nähe unter sich bleibt. Doch viele Beteiligte bieten
Dialogformen an. Bundesweit ist zum Beispiel die
Woche der Brüderlichkeit dem christlich-jüdischen
Dialog gewidmet – so auch in Pforzheim. Hier kommt
jedoch hinzu, dass zusätzlich Veranstaltungen mit
Muslimen, Aleviten und Hindus geplant werden.
Diese Erweiterung ist inhaltlich eigentlich abzulehnen,
in Pforzheim drängt sie sich aber auf. Öffentliche
Jugendtrialogforen suchen den Kontakt zwischen
jungen Christen, Juden und Muslimen herzustellen,
ein interreligiöser Stadtplan entstand bei der 72
Stunden-Aktion 2013 (www.relimap-pforzheim.
de) und 2015, unter Federführung eines Teams
um Schuldekan Hauser im Hildagymnasium, fuhr
der „berühmte“ Goldstadtbus mehrere religiöse
Stätten an und Schülerinnen und Schüler lieferten
recherchierte Innenansichten der Religionen.
Diese Beschreibung ist längst nicht umfassend
– im Blick auf die fast 70% Menschen mit
Migrationshintergund bei den unter 16Jährigen,
fehlt z.B. die Sicht der Kindergärten – und
sie stellt erste Ansätze, zarte Pflänzchen dar.
Das pilgernde Gottesvolk und die Menschen
mit Migrationshintergrund, da gibt es viele
Gemeinsamkeiten zu entdecken und es ließe sich
noch eine Menge voneinander lernen.
Tobias Gfell
Dekanatsreferent
im Dekanat Pforzheim
Material und Medien
für die Pastoral
2/2015
Medien zum Thema
An erschreckenden und bewegenden Bildern über das Schicksal von Flüchtlingen fehlt es uns nicht. Deren Not ist
in unseren Medien täglich präsent: bedrückend, bedrohlich, herausfordernd. Ohnmacht kommt bei nicht wenigen
von uns auf. Wer es als Flüchtling nach Europa geschafft hat, ist nicht unbedingt willkommen im erhofften „gelobten
Land.“ Deutlich ist: Migration und Integration, Toleranz und Verständnis für zunächst Fremdes sind gefordert. Welchen Beitrag können wir dazu durch Bildungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen leisten?
Und: Helfen „gute“ Filme, um – über die Bilder der tagesaktuell berichtenden Medien hinaus – ein Bewusstsein für
die Situation von Fremden unter uns zu wecken? Die Mediathek für Pastoral und Religionspädagogik hat einem
umfangreichen Medien-Tipp „Flüchtlinge heute“ im Internet bereit gestellt. Daraus werden drei besondere Filme
in diesem Beitrag vorgestellt.
Migration und Integration: „Einfache Fahrt“
Das Intro in diesen bemerkenswerten Dokumentarfilm endet mit der Titeleinblendung: „One Way. A Tuareg Journey“. Schon dieser Einstieg beeindruckt: Häufige Bildwechsel von Italien in den Niger und umgekehrt. Städtisches Umfeld in kalter Jahreszeit, wüstenhafte Landschaft mit Ziegen im Sonnenlicht. Bruder und Schwester,
dunkelhäutig in Italien – der kleine Bruder in Niger. Sein älterer Bruder, Sidi, vielleicht
12 Jahre alt, erklärt in bestem Italienisch: „Unser jüngerer Bruder ist in Niger geblieben. Er hat sein Passwort nicht erhalten. Ich sage es anders: Er hat seinen Personalausweis nicht bekommen.“ Der kleine Bruder im Wüstensand bleibt eine Sehnsucht:
„Ich träume jeden Montag von ihm“, so Sidi. Und seine Schwester ergänzt: „Ich jeden
Dienstag“.
Integrierte Migranten in Italien! Armutsflüchtlinge einmal anders! Welche Kontrastbilder zu den im Meer ertrinkenden Bootsflüchtlingen! – Das sind einige meiner Assoziationen, die mir beim Betrachten von „Einfache Fahrt“ kommen. Doch: Fragen bleiben offen, z.B. was das positive
Schicksal dieser Tuareg-Familie in Italien unterscheidet von dem Elend anderer Flüchtlinge, das uns gemeinhin über
die Medien vermittelt wird. Es gilt dieses filmische Portrait als Sonderfall, als Ausnahme zu sehen, als Beispiel, wie Migration und Integration von Afrika nach Europa gelingen kann, wenn … Aber: Auf die dafür notwendigen Bedingungen
gibt „Einfache Fahrt“ weder im Blick auf diese konkrete Familie noch generell eine Antwort. In dieser Offenheit liegt
– zumindest - Potential für Gespräche.
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für die Pastoral
Medien
Materialzum
und Thema
Medien
Dass nicht alles als heile Welt erscheinen soll, macht der Film z.B. durch Interviews und einen kurzen FernsehAusschnitt aus einer Parlamentsdiskussion deutlich: nicht nur die „Lega Norte“ fordert ein „Italien den Italienern“.
Auch Sidis Sicht und Gefühlslage ist ambivalent: „Als ich in Italien ankam, erschien mir alles wunderschön. Mir tat nur
Leid, dass mein Bruder nicht bei uns war. Jetzt, wo ich diese Welt kennen gelernt habe, fehlt mir die meine.“ Es gelingt
schließlich, die Papiere für den kleinen Bruder zu bekommen. Bewegend ist, wie die Kamera ihn begleitet im Flugzeug,
auf seiner Zugfahrt im Winter Italiens, bei einem Besuch im Supermarkt.
„Einfache Fahrt“ ist vielfach prämiert worden. Er hätte auch meine Stimme bekommen! – Eine noch nicht genannte
Besonderheit: Immer wieder hat Sidi die Kamera selbst in der Hand, dreht die Bilder für diesen Film und führt Interviews. Lassen wir dazu den Filmregisseur, Fabio Caramaschi, selbst zu Wort kommen: „Ich traf die Hauptpersonen dieser Geschichte vor fast 10 Jahren. Um Zugang zu ihrer Welt zu bekommen, bedurfte es eines langsamen Vertrauensaufbaus und auch vieler Filmaufnahmen. Ich gab dem Erzähler Sidi die Kamera, die ich für meinen ersten Film benutzt
hatte, um ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst auszudrücken und um gleichzeitig dem Zuschauer eine Innensicht
der Geschichte zu ermöglichen. Sidis Aufnahmen mit der DVCam … nehmen unsere Zuhörer mit in die Intimität der
kleinen Tuareg-Gemeinschaft in Italien, eine Welt, zu der Außenstehende normalerweise keinen Zugang haben. Die
Kamera ist für Sidi nicht nur ein Wegbegleiter geworden, dem er seine Geheimnisse und Wünsche anvertraut. Sie ist
auch eine Verbündete, um sein eigenes Schicksal zu entdecken, das zwischen der neuen italienischen Wirklichkeit und
dem Heimweh nach den Weiten seines Herkunftslandes gefangen zu sein scheint.“
Heimat und Identität: „Sores & Sirin“
Nacht. Hubschrauber-Geräusche und Schüsse. Beine, die auf der Flucht sind. Ein Text
wird eingeblendet: „Iraki Kurdistan 2003“. Es sind zwei, die da fliehen, aber nur zwei
Füße, die den Boden berühren. Ein Junge trägt ein Mädchen auf seinem Rücken. Seine
Schwester, wie sich zeigen wird. Blut ist zu sehen. Es geht den Berg hinauf. Erschöpfung
ist zu erleben. Der Junge ruft: „Großvater“. Dann liegen beide erschöpft auf der steinigen Erde. Ein neuer Tag bricht an. Sie werden gefunden.
Jetzt springt der Film um 5 Jahre nach vorne: Der Junge, Sores sein Name, wird geweckt
und zwar von seiner Pflegemutter. Sirin, seine Schwester, kommt ins Zimmer. Was zwischen der Flucht und diesem Heute geschehen ist, spart der Film aus. Sores und Sirin
wurden offensichtlich gerettet und nach Deutschland gebracht. Ihre Pflegemutter kümmert sich liebevoll um sie. Spuren von damals erlittenen Verletzungen sind aber noch
sichtbar: Sirin trägt eine Augenklappe und Sores, ihr Bruder, hat Probleme mit einem
Bein. Er humpelt. – Was ich hier beschrieben habe, dauert im Film keine 2 Minuten, weitere 20 folgen.
Das mit der Aufenthaltsgenehmigung ist schwierig. Sie muss jährlich erneuert werden. Sirin wendet dabei einen Trick
an: Sie stellt ihr Problem mit den Augen gravierender dar, als es in Wirklichkeit ist. Erneut wird eine Verlängerung
ausgesprochen. Sores, ihr Bruder, weiß um die Unehrlichkeit seiner Schwester. Zudem zieht es ihn zurück in seine
Heimat: ins irakische Kurdistan. Sirin ist hier aber gut integriert: Sie hat Freundinnen und kleidet sich auch wie diese.
Einen Schleier trägt sie nicht.
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Sores hatte Kontakt mit seinem Großvater aufgenommen und dieser kommt nach Deutschland, um seine beiden
Enkel abzuholen. Ein vielschichtiger Konflikt tritt nun zutage: „Heimat“ ist für Sores und Sirin nicht mehr das gleiche.
Kulturell-religiöse Tradition ihres Herkunftslandes und ihr Leben in Deutschland stehen in Spannung zueinander.
Medien
Materialzum
undThema
Medien
für die Pastoral
2/2015
Hinzu kommt, dass die Rechtsberatung folgende Auskunft erteilt: „Im Irak herrscht kein Kriegszustand mehr. Der
Rückführung steht somit nichts mehr im Weg. Das ist ja auch der ganz normale Ablauf.“
Am Ende des Films eröffnet uns die Kamera einen Blick in einen voll besetzten Bus mit überwiegend fröhlichen
Menschen, der eine weite Reise beginnt: zurück in den Irak. Der Großvater ist zu erkennen. Ob auch seine Enkel mit
dabei sind, zeigt sich erst beim Schauen dieses packenden Kurzspielfilms.
„Sores & Sirin“ bringt folgende Themen in den Blick: Fluchtursachen, die zur Aufgabe von Heimat führen; Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge; Identitätssuche. – Im guten Begleitmaterial zur DVD lesen wir: „Filme verdichten und
verknappen Wirklichkeit. In SORES & SIRIN geht es primär um die menschliche und psychologische Seite der Themen Flucht,
Identität, Familie, Heimat, Asyl! … SORES & SIRIN ist keine Dokumentation, sondern ein fiktionaler Film. Der Schwerpunkt
liegt auf der Darstellung der menschlich-emotionalen Seite des Themas, das komplexe Bleiberecht in Europa und besonders
jenes in Deutschland filmisch adäquat darzustellen, würde den Rahmen eines 20 Min. Kurzfilms sprengen und kann demnach
nur verkürzt dargestellt werden. Insbesondere der Schluss … ist in der Realität so nur schwer vorstellbar. Aber es kann in Zusammenhang mit dem Film eine Verbindung hergestellt werden zwischen der menschlichen Seite einer Duldung in Deutschland
und dem Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt. Dabei ist es durchaus sinnvoll darüber zu diskutieren, inwieweit Recht zu
Unrecht wird, wenn es die Würde des Menschen nicht an die erste Stelle setzt.“
Vertreibung und Teilen: „Der wunderbarste Platz auf der Welt.“
Wenn es doch so einfach wäre, wie es dieser offensichtlich (zunächst) für Kinder
gemachte Trickfilm vermitteln möchte: Die allesamt grünen Frösche in einem Teich
verstehen, dass es gut ist, den rot gefärbten Molch in ihrem Frosch-Teich nicht nur
zu dulden, sondern gar als künftige Bereicherung sehen zu lernen. Aber: Kann diese
märchenhafte Tiergeschichte eingesetzt werden, um über Flucht, Vertreibung, Suche
nach neuer Heimat ins Gespräch zu kommen? „Nein“, werden die einen sagen, denn
der Film vereinfacht und harmonisiert das Schicksal von Flüchtlingen unzulässig. „Ja“,
könnten andere meinen, weil es mit dieser Geschichte gelingt, bereits Schulkindern
der 3./4. Klasse zu vermitteln, was es heißt, ausgestoßen zu werden, und wie wichtig
Freundschaft sein kann, um gemeinsam Schweres zu bewältigen. „Vielleicht“ werden
diejenigen annehmen, die sich mit der Überlegung tragen, den Film „Der wunderbarste
Platz auf der Welt“ bei Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren einzusetzen, um, angesichts der – zurecht! – allgegenwärtigen Präsenz medial vermittelter Schreckensbilder
über Menschen auf der Flucht, zu fragen, wir uns zu diesen Dramen verhalten sollen. Welches Menschenbild leitet
uns dabei?
Die Fragen nach den Einsatzbereichen dieses Filmes mögen komplex sein. Die Geschichte ist es nicht! So fängt es
an: „Boris wohnte zusammen mit den anderen Fröschen in einem kleinen Teich. Dem wunderbarsten Platz auf der
Welt.“ Wir sehen einen relaxed auf dem Blatt einer Seerose liegenden Frosch bis „eines Tages aus heiterem Himmel
der Storch kommt. Boris begreift auf der Stelle, dass er in großer Gefahr ist“ und tritt die Flucht nach vorne an. Jetzt
beginnt eine Odyssee: überall Ablehnung! Zunächst im Karpfen-, dann im Ententeich; dort fehlen ihm die Schuppen,
hier der Schnabel und die Federn. Auch der Versuch einer Anpassung mit künstlich aufgesetztem Schnabel und einem
Feder-Kleidchen scheitert. Boris wird just in dem Moment entlarvt, als eine Ente auf die nur „aufgesetzte“ CharmeOffensive des Frosches herein zu fallen scheint.
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für die Pastoral
Medien zum
Material
und Thema
Medien
Eine Wende nimmt diese Fluchtgeschichte erst in höchster Not. Angekommen an einem Teich, an dem Boris auf einen
roten Molch trifft, werden beide auf einmal von dem Storch bedroht, den Boris kennen gelernt hatte … Auf originellwundersame Weise können sie sich jetzt gemeinsam der Storch-Bedrohung erwehren. Und Boris geht mit seinem
Molch-Freund zurück zum Frosch-Teich, wo die Geschichte ihren Ausgang nahm. Ende gut? Die Frosch-Kollegen tun
sich zunächst mit dem Molch-Fremdling schwer: „Das ist ein Frosch-Teich und du bist nicht grün!“ Doch als Boris
seine Geschichte mit dem gemeinsam errungenen Sieg über den Storch erzählt hatte „verstanden sie. Von nun an
würden sie ihn teilen: den wunderbarsten Platz auf der Welt.“
Thomas Belke
Leiter der Mediathek
für Pastoral und
Religionspädagogik
INFORMATIONEN
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• Einfache Fahrt. Eine Migrationsgeschichte, Dokumentation, 30 Min., mit dt. Untertiteln, Kapitelanwahl,
Begleitmaterial für die Schule, ab 12 Jahren, Ausleihe: Mediathek und Religionspädagogische Medienstellen,
Download über Medienportal
• Sores & Sirin, Kurzspielfilm, 23 Min., deutsche Sprachfassung, z.T. kurdisch mit deutschen Untertiteln, Kapitelanwahl, Begleitmaterial für Schule und Jugendarbeit, ab 14 Jahren, Ausleihe: Mediathek, Download über
Medienportal
• Der wunderbarste Platz auf der Erde, Trickfilm, 8 Min., Kapitelanwahl, umfangreiches Begleitmaterial; ab
8 Jahren, Ausleihe: Mediathek und (ab September) Religionspädagogische Medienstellen, Download über
Medienportal
• Schwerpunkt-Thema „Flüchtlinge heute“: www.mediathek-freiburg.de >>> Medien-Tipp
Material und Medien
für die Pastoral
2/2015
Material und Medien
Nah an Menschen von weit weg
Flüchtlinge begleiten und unterstützen
Erzdiözese Freiburg und ihre Caritas stärken ehrenamtliches Engagement
Eine erste Hilfestellung ist die Broschüre „Nah an Menschen von weit weg. Flüchtlinge begleiten und unterstützen“, die der Diözesan-Caritasverband gemeinsam
mit der Erzdiözese Freiburg herausgegeben hat. Sie bietet erste Informationen und
Hilfsmöglichkeiten für Ehrenamtliche, Helferkreise und Pfarrgemeinden und nennt
dabei ganz konkrete Beispiele einzelner Initiativen aus unseren Regionen.
Immer mehr Menschen in den Kommunen und Pfarrgemeinden engagieren sich
ehrenamtlich für Flüchtlinge und Asylbewerber. Sie fühlen sich durch die Not von
Menschen persönlich herausgefordert.
Aus ganz unterschiedlichen Gründen mühen sich Frauen und Männer an einer
Willkommens-Kultur in unserem Land: aus Menschlichkeit, aufgrund ihrer christlichen Grundhaltung oder auch weil eine solche Kultur dem Ansehen Deutschlands gut tut.
Viele Menschen erinnern sich an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die
eigene Familie gezwungen war, alles stehen und liegen zu lassen und irgendwo anders ganz neu zu beginnen. Sie mahnen ihre Enkel dazu, auf das Schicksal von Menschen genau hinzuschauen, bevor sie sich ein Urteil erlauben.
Vielerorts entstehen Helferkreise und runde Tische, in denen Aktivitäten gebündelt und koordiniert werden sollen, damit die unterschiedlichen Hilfsangebote auch wirklich dort ankommen,
wofür sie gedacht sind.
Dabei stoßen Ehrenamtliche bald an Grenzen: eine sich immer wieder ändernde Rechtslage, unübersehbare
Verfahrensordnungen, Anforderungen an die interkulturelle Kompetenz, bis hin zur Frage, wie ich Menschen
richtig begleite, hilfreich bin, ohne mich aufzudrängen oder auch vereinnahmen zu lassen. Wie gehe ich damit
um, häufig nur eine Beziehung auf Zeit aufbauen zu können.
Um Ehrenamtlichen Hilfestellungen zu bieten, Brücken zu bauen zu den staatlichen Stellen, zu vermitteln und
zu unterstützen, wurden im Rahmen des Projektes „Nah an Menschen von weit weg“ Koordinations- und Unterstützungsstellen in den Ortscaritasverbänden eingerichtet. Vor Ort werden Informationsveranstaltungen
initiiert, die die entstehenden Fragen aufgreifen und zu klären versuchen. Im weiteren Verlauf sollen auch konkrete Schulungsangebote gemacht werden.
Insgesamt 11 Stellen für Hauptamtliche in 22 örtlichen Caritasverbänden der Erzdiözese Freiburg werden bis
zum 1. Juli diesen Jahres im Rahmen des Projektes neu geschaffen.
Vera Borgards, Referentin für Migration und Integration – [email protected]
Alexander Gromann-Bross, Referent für Gemeindecaritas – [email protected]
Dr. Jörg Sieger, Projektreferent „Nah an Menschen von weit weg“ – [email protected]
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2/2015
für die Pastoral
Material und Medien
„Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen“
Als Kirche zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft, Sprache und Religion
Hrsg.: ACK – Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg
Die Handreichung der ACK in Baden-Württemberg bietet für alle diejenigen, die
mit Migrationsfragen – als unmittelbar Betroffene oder als Mitbürgerinnen und
Mitbürger – zu tun haben, konkrete Hilfen und Anregungen. Sie informiert, benennt konkrete Herausforderungen und Möglichkeiten und gibt Anregungen und
zeigt anhand konkreter Beispiele Handlungsperspektiven auf.
Die Broschüre ist in vier Kapitel gegliedert, die folgende Themen aufgreifen:
1. Vom Fremd sein
2. Unsere Gaben und Aufgaben als christliche Kirchen
3. Unsere Lebenswirklichkeit in der pluralen Gesellschaft
4. Unsere Möglichkeiten als christliche Kirchen
Erhältlich ist die Broschüre bei der ACK Baden-Württemberg
[email protected], Tel. 0711 - 243114
www.ack-bw.de
Flüchtlinge im ländlichen Raum
Die Landzeit
1.2015
Das Schwerpunktthema der Landzeit 01-2015 sind die Flüchtlinge im ländlichen
Raum. Die Landvolk- (KLB) wie die Landfrauenbewegung (KLFB) haben eine lange
Geschichte sozialen Engagements. So richten sie in ihrer Zeitschrift, die sie gemeinsam mit der Landvolkshochschule St. Ulrich und dem Referat Kirche und Ländlicher
Raum im Seelsorgeamt veröffentlichen, ihre Aufmerksamkeit darauf, wie der strukturschwache dörfliche Raum mit dieser gesellschaftlichen Herausforderung umgeht.
Bei Interesse bestellen Sie ein Exemplar unter
[email protected]
oder Sie lesen die Landzeit gleich online unter
www.landpastoral.de.
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Material und Medien
für die Pastoral
2/2015
Landpastoral
… wo Milch und Honig fließen
Erntedank 2015
Nahezu jedes Kind hält irgendwann ein Bilderbuch über das Schlaraffenland in
Händen und ergötzt sich an der traumhaften Möglichkeit eines Lebens, das keine Sorgen kennt, aber in einem Überfluss ohnegleichen schwelgt. Demgegenüber
verblasst die Tatsache, dass der Name dieses Landes ursprünglich „das Land der
faulen Affen“ bedeutet. Da ist schon eher präsent, dass die Schilderung des Landes
sich biblischen Motiven verdankt: Gott verheißt dem unterdrückten Volk Israel ein
Land, in dem Milch und Honig fließen.
Was aber einem unterdrückten Volk ein Hoffnungsbild ist, das entpuppt sich
als ungeheure Herausforderung, als dieses Volk im „gelobten Land“ lebt. Denn
Überfluss verlangt, wie Mangel, nicht minder soziale Gerechtigkeit. Vielleicht ist
soziale Gerechtigkeit in einer Situation von Überfluss und Reichtum sogar schwieriger zu verwirklichen als in einer Situation des Mangels, in der es für alle ums
Überleben geht.
Das Thema der Erntedankaktion 2015 verdankt sich sowohl der biblischen Verheißung wie der aus ihr entstandenen märchenhaften Situation im Schlaraffenland. Gerade das Erntedankfest stellt den Feiernden die unglaubliche Vielfalt an Gaben und Möglichkeiten, aber damit eben auch die Herausforderung und den Anspruch
von Vielfalt und Überfluss vor Augen. Genau dieses Gegenüber von Gabe und Aufgabe, von Überfluss und
Gerechtigkeit prägen das Thema und die Texte des diesjährigen Erntedankfestes.
In jeder Gabe wird der Geber sichtbar und erfahrbar. Das ist ein Grundthema von Erntedank. Der Schöpfer
nährt seine Geschöpfe. Aber indem Gott seine Kinder nährt, nimmt er sie zugleich in die Pflicht. Keine Gabe
gehört einem allen, vielmehr gehören alle Gaben allen Geschöpfen. „Leben und leben lassen“ ist darum zu wenig.
„Leben und zum Leben helfen“ ist der Auftrag, der im Erntedankfest wohnt. Dass die Verheißung eines Landes,
in dem Milch und Honig fließen, zunächst einem unterdrückten Volk zuteilwird, gibt diesem Auftrag seinen besonderen Klang.
Diese Hintergründe gehen in einer Überflussgesellschaft wie der unseren rasch verloren. Wenn alles überreichlich vorhanden ist, verliert sich rasch jede Erfahrung von Mangel – das gilt sowohl für den eigenen Mangel wie
den Mangel anderer auf diesem Globus. Erntedank kann darum auch ein Fest sein, das an Gerechtigkeit erinnert:
Gesellschaftlich etwa im Blick auf die meist unsichtbaren Armen unter uns oder auf die Notwendigkeit gerechter
Preise für die Landwirtschaft. Und global angesichts eines weltweiten Hungerproblems, das nicht zuletzt zu
einem Flüchtlingsstrom vieler führt, die noch immer auf jenes Schlaraffenland hoffen, an das wir, erwachsen
geworden, schon lange nicht mehr glauben … vielleicht weil wir die Last erkannt haben, die im „Land der faulen
Affen“ auf uns liegt.
Das Themenheft des Referates Kirche und ländlicher Raum bietet auch 2015 verschiedene Hintergrundinformationen. Texte und Bausteine für Gottesdienst, Predigt und Minibrotaktion.
Das Heft ist erhältlich im Seelsorgeamt, Referat Kirche und ländlicher Raum oder als pdf-Datei unter
www.landpastoral.de
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2/2015
für die Pastoral
Material und Medien
Familienpastoral
Patchwork-Familien
In Patchwork-Familien geht es bunt bis chaotisch zu, kreativ und manchmal
schräg. Lebhafter jedenfalls als in Mutter-Vater-Kind-Familien. Fernsehmacher
mögen das, andere nennen das die „Patchwork-Lüge“. Weil diese Familien
noch häufiger scheitern als andere. Doch die Betroffenen haben eine Chance
verdient. Dabei helfen nur ein klarer Blick und Sensibilität für die Wünsche und
Widerstände aller Beteiligten.
Jenseits von Schönfärberei wie Schwarzmalerei wirft Heft 2/2015 der Zeitschrift
neue gespräche im Schwerpunktthema einen Blick auf die Situation von
Patchwork-Familien. Mit Hochachtung vor der Leistung der Väter, Mütter und
Kinder, die den Mut haben, ihre Patchwork-Familie neu zu erfinden, fragt das
Heft, wie wir als Kirche mithelfen können, dass die Familienmitglieder sich mit
ihren Lebensgeschichten versöhnen und den neuen Wegen trauen können.
Die weiteren Themen des Heftes befassen sich mit der Inklussionsdebatte („Die Revolution der Handicaps“)
und dem Wert einer gemeinsamen freien Zeit für Familien („Ein Samstag ist kein Sonntag“).
„neue gespräche: Partnerschaft – Ehe – Familie“ erscheint viermal jährlich zu Themen, die Familien
beschäftigen. Das Abonnement für vier Hefte pro Jahr kostet 10 Euro, das Einzelheft 3,90 Euro, jeweils zzgl.
Versandkosten. Probe­hefte gibt es bei
www.neue-gespraeche.de.
oder beim Familienreferat in Freiburg, so lange der Vorrat reicht.
www.familienseelsorge-freiburg.de
Bonifatiuswerk
boni kids – Die Sternsinger
Die jahrelang bewährte Kinderzeitung des Bonifatiuswerkes
„Die Sternsinger“ wurde komplett neu überarbeitet.
boni kids, die Sternsinger, das Magazin für kleine und große Christen führt seit dem
15.März durch das Kirchenjahr. Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich und ist im Abo
für 1,50 Euro (für 4 Hefte) erhältlich.
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In jedem Heft können die Kinder ein Fest des Kirchenjahres mit seinem Brauchtum
und Heiligen kennenlernen. Durch spannende Geschichten, die sehr gut zum Vorlesen
oder Selbstlesen geeignet sind, kniffligen Rätseln und Bastelaufgaben kann auf
anregende Weise mehr von den Grundlagen christlichen Glaubens erfahren werden.
Die Hefte können per Mail unter [email protected] bezogen werden.
Material und Medien
für die Pastoral
2/2015
Buchtipps
Assisi für Pilger
Ein spiritueller Reisebegleiter
Helmut Schlegel
Echter-Verlag 2013 – ISBN 978-3-429-03586-0
Assisi, ein herrliches in Umbrien gelegenes, mittelalterlich geprägtes Städtchen, ist
schon als solches eine Reise wert. Mehr noch für den, der sich als Pilger dorthin auf
den Weg macht. Die beiden Heiligen, Franziskus und Klara, die dort gelebt haben,
sind für jede Pilgerin und jeden Pilger Anstoß und Herausforderung, sich mit dem
eigenen Leben und Glauben auseinander zu setzen. Dieser Spirituelle Reisebegleiter
zeigt Lebensstationen, Wege und Ereignisse aus dem Leben der beiden Heiligen auf,
die den Pilgern Zugänge zu ihrer Person, ihren Entscheidungen, ihrer Spiritualität
ihrem Glauben ermöglichen.Verschiedene Themen wie „Gott erfahren“, „Schöpfung
bewahren“, „Frieden stiften“, oder „Kirche bauen“ zeigen die besonderen Zugänge
und Akzente der beiden auf.
Zu all den Orten und Themen enthält der Reiseführer Anregungen, Fragestellungen
und Impulse, sowie weitere Hinweise auf Textquellen.
Der dritte Teil enthält Vorschläge für Gebete für das persönliche und gemeinsame
Gebet und für gottesdienstliche Feiern, die zu einer spirituellen Vertiefung beitragen.
Helmut Schlegel, Leiter des Exezitienhauses der Franziskaner in Hofheim/Taunus, stellt mit seinem Buch den AssisiPilgern einen spirituellen Reisebegleiter an die Seite, der sie in Assisi und darüber hinaus im Alltagsleben inspiriert.
Franz von Assisi – Freiheit und Geschwisterlichkeit in der Kirche
Franziskanische Akzente
Niklaus Kuster
Echter-Verlag 2015 – ISBN 978-3-429-03781-9
Dieses Büchlein ist in der Reihe Franziskanische Akzente erschienen und dem
verpflichtet, zeigt es Akzente auf, die der Ordensgründer, der heilige Franziskus,
selbst gesetzt hat. Akzente von damals, die für das Heute nichts an Aktualität und
Bedeutung eingebüßt haben. So fügt sich an jedes der kurzen Kapitel ein Dialog mit
heute an, der einen Transfer anregt und ermöglicht.
Biographische Einblicke zeigen die persönliche Entwicklung des Giovanni „Francesco“
Bernadone auf, wie er zur wahren Freiheit in den Fußspuren Jesu findet.
Geschichtliche Durchblicke zeigen auf, was die frühe franziskanische Bewegung
kennzeichnet, wie z.B.Vertrauen in die Inspiration jedes Menschen, geschwisterliche
Offenheit, Entfaltungsfreiheit für Frauen, Respekt vor anderen Religionen, etc.
Aktuelle Ausblicke setzen an den drei Schwerpunkten an, die Papst Franziskus bei
seiner Namensgebung hervorhebt: Liebe zur Armut, Einsatz für Frieden und die
ökologische Sorge um die Welt.
Ein kleines Büchlein mit – hoffentlich – großer Wirkung.
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2/2015
für die Pastoral
Material und Medien
Männlich glauben
Eine Herausforderung für den spirituellen Weg
Manfred Gerland
Kreuz Verlag, Freiburg 2014
Im ersten Teil des Buches von M. Gerland werden im Kapitel, „Männer und Religioneine Problemanzeige“, Gründe für die Kirchenferne der Männer dargelegt: Religion
sei zur Frauensache geworden und Männer fühlen sich in einer überwiegend von
Frauen geprägten Atmosphäre in den Kirchen nicht mehr beheimatet. Männer gehen
daher ihre eigenen Wege. Sie glauben anders als Frauen, da ihr Gehirn und ihr Körper anders sind. Sie glauben dabei nicht an etwas ganz anderes, aber ihr Weg unterscheidet sich. Männer bevorzugen andere Zugänge zum Glauben. Vor allem in der
Natur, in der Stille, in Seminaren und Männerwochen sind sie bereit, ihre Berufs- und
Alltagswelt zu verlassen und sich auf Glaube und religiöse Sinnfragen einzulassen. Sie
legen Wert darauf, dies selbstbestimmt und in Freiheit tun zu können.
Nach diesem eher analytischen Blick auf Männer und Glaube, verwendet Gerland
die Legende von Christophorus, der Züge des archetypischen „wilden Mannes“
trägt, als roten Faden für die weiteren Abschnitte des Buches. Auf seinem Weg
der Suche nach der eigenen Berufung wird „Reprobus“, wie er zunächst hieß,
zum Fährmann, zum „Christusträger“. Es erging ihm, wie vielen Männer heute auch: Er konnte mit traditionellen Formen des Glaubens nichts anfangen. Beten und fasten kam für ihn nicht in Frage. Er begab sich auf
seinen eigenen Weg, der zu einer Art Heldenreise wurde, an dessen Ende eine tief greifende Transformation
seines Lebens und Glaubens stand.
Gerland bindet verschiedene Themen, beispielsweise den Umgang mit dem Körper, die Bewältigung von Lebensübergängen, Sexualität, Macht und Ohnmacht, Krise der Lebensmitte in die Geschichte von Christophorus ein und
ergänzt diese mit praktischen Übungen und Anleitungen. Mich hat die „Flussmeditation“, durchführbar als Imaginationsübung, oder einem realen Fluss, in besonderer Weise angesprochen und berührt. In vergleichbarer Weise
habe ich selbst schon, mit einer ähnlichen Übung, damit gearbeitet und konnte dabei gute Erfahrungen sammeln.
Ebenso sind die weiteren Praxisimpulse, sei es die Übung „Gott in meinem Atem“, die bioenergetische Körperübung, die Anleitung „Wie ein Baum“, gut geeignet, sie selbst oder auch in Gruppen durchzuführen.
Dieses empfehlenswerte und anregende Buch von Manfred Gerland hätte einen anderen Titel als „Männlich
glauben“ verdient. Denn der Titel ist zumindest unglücklich gewählt, da dieses Buch nicht nur für Männer geschrieben ist. Gerland weist gleich zu Beginn darauf hin, dass die Attribute „männlich“ und „weiblich“ nicht nur
biologisch zu verstehen sind, sondern damit unterschiedliche Wege des Glaubens beschrieben werden.
Das Buch eignet sich für Männer und Frauen bestens zur eigenen Lektüre, bietet aber auch die Chance, die
einzelnen Abschnitte, z.B. in einer Männer- und Frauengruppe, zu bearbeiten. Die praktischen Anregungen
geben hierzu hilfreiche Impulse.
Norbert Wölfle
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Material und Medien
für die Pastoral
2/2015
Filmtipps
Was wir über den Glauben wissen
DVD, Dokumentarfilm, 45 Min., Deutschland 2014, Eignung ab 14 Jahren
Mediathek-Nr.: 4801652
Das WDR-Magazin mit Ranga Yogeshwar setzt sich in 7 Kapiteln mit dem Phänomen
„Glauben” auseinander:
01. Wunder
02. Religion ist uralt: Herkunft, Entwicklung,Verbreitung
03. Religion ist angeboren
04. Glaube ist gesund
05. Sekte: dunkle Seite des Glaubens
06. Trost der Religionen im Vergleich
07. Zwei Physiker im toleranten Glaubensdialog
Drei Themenschwerpunkte ziehen sich durch die Kapitel:
– Warum glaubt der Mensch? / – Wie sehen die dunklen Seiten des Glaubens aus?
– Wie gehen Glauben und Wissenschaft zusammen?
Karl Leisner
Das Wunder im KZ Dachau + Christ aus Leidenschaft
DVD, Dokumentarfilm, 63 Min., Deutschland 2015, Eignung ab 14 Jahren
Mediathek-Nr.: 4801653
Karl Leisner gehört zu den bekanntesten Häftlingen des KZ Dachau. Seine geheime
Priesterweihe im Lager empfinden viele Mitgefangene als „Wunder in einer
gnadenlosen Zeit”. Die Handauflegung durch den französischen Bischof Piguet wird zur
Handreichung der Feinde. Getrieben vom Bemühen, der Verblendung seiner Zeit etwas
entgegenzusetzen, kämpft Leisner zuvor jahrelang für eine Alternative zur Hitlerjugend.
Die Dokumentation beleuchtet sowohl die KZ-Haft von Karl Leisner als auch seine
Zeit als Jugendschaarführer. In persönlichen Aufzeichnungen kommt er selbst zu Wort.
Darüber hinaus kommentieren jene Bischöfe sein Leben, deren Vorgänger Leisners
Priesterweihe ermöglichten: Der Münchener Kardinal Reinhard Marx, der Münsteraner Bischof Felix Genn und der
französische Bischof Hippolyte Simon.
Ida
DVD, Spielfilm, 79 Min., Dänemark, Polen 2013, Eignung ab 14 Jahren
Mediathek-Nr.: 4801625
Die 18-jährige Anna ist in einem polnischen Waisenhaus aufgewachsen. Im Jahr 1962
steht sie als Novizin kurz vor ihrem Gelübde. Auf Anordnung der Äbtissin besucht sie
davor zum ersten Mal ihre letzte noch lebende Verwandte – Wanda, eine Tante. Die
merkwürdig möndäne wie parteitreue Richterin konfrontiert Anna mit ihrer jüdischen
Herkunft und der Ermordung ihrer Eltern im Holocaust. Auf der Suche nach dem Grab
der Eltern begeben sich die beiden unterschiedlichen Frauen auf eine Reise durch Polen.
Anna fühlt sich darauf nicht mehr bereit, ihr Gelübde abzulegen. Nach dem Selbstmord
ihrer Tante taucht sie kurzfristig ganz in das weltliche Leben ein - um schließlich ins
Kloster zurückzukehren.
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2/2015
für die Pastoral
Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren
Ahnert, Anneli
Referentin für Engagement/Gemeindecaritas, Gemeindecaritas, Caritasverband Hochrhein
Bickel, Nadia
Fachkraft für Migration, Kinderhaus Arche Noah, Caritasverband
Freiburg
Dombrowsky, Daniel
Referent für Ministrantenpastoral,
Erzbischöfliches Seelsorgeamt Freiburg
Gaß, Martina
Pastoralreferentin, Seelsorgeeinheit Brühl-Ketsch
Gfell, TobiasDekanatsreferent, Dekanat Pforzheim
Gromann-Bross, Alexander
Referent für Gemeindecaritas, Caritasverband Freiburg
Günter, Michaela
Sozialpädagogin, Seniorenzentrum Boxberg/Emmertsgrund, Caritasverband Heidelberg
Lampert, Michaela
Diplom Sozialpädagogin, Haus des Lebens, Freiburg
Lück, GerhardJournalist, Kirchzarten
Oltmer, Prof. Dr. Jochen
Professor, Universität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung
und Interkulturelle Studien
Polak, Prof. MMag. Dr. Regina
Assoz. Prof., Institut für Praktische Theologie, Katholisch-
Theologische Fakultät der Universität Wien
Sauer, Pfr. Walter
Pfarrer, Seelsorgeeinheit Brühl-Ketsch
Schohe, Stefan
Nationaldirektor für die Ausländerseelsorge,
Deutsche Bischofskonferenz Bonn
Tießler-Marenda, Dr. Elke
Referentin für Grundsatzfragen der Migrations- und Integrationspolitik sowie für Ausländerrecht und verwandte Rechtsgebiete
Vogel, Pfr. Heinz Pfarrer, Seelsorgeeinheit Waldkirch
und Kemal Ahmet
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Impressum
für die Pastoral
2/2015
Impressum
für die Pastoral
Herausgeber:
Rektor des Erzbischöflichen Seelsorgeamtes
Domdekan Andreas Möhrle
Redaktion:
Dr. Stefan Bonath
Dr. Claudia Fuchs-von Brachel
Dr. Norbert Kebekus
Rainer Moser-Fendel
Wolfgang Müller
Silke Wissert
Satz:
José R. González-Bellón
Druck:
schwarz auf weiss, Freiburg
Bildnachweis:
Titelseite: Stadt Halle (Saale)/Thomas Ziegler
S. 4: REUTERS/Rodi Said
S. 6/26: Eva Raiser-Johanson/Attributsfenster
St. Barbara, München
Glaswerkstätte: Bayrische Hofglasmalerei
Gustav van Treeck
Fotos: Siegfried Wameser
Anschrift der Redaktion:
Erzbischöfliches Seelsorgeamt
Postfach 449
79004 Freiburg
[email protected]
Bezug:
Erzbischöfliches Seelsorgeamt, Vertrieb
Postfach 449, 79004 Freiburg
Tel. 0761-51 44 115, Fax 0761-51 44 76 115
[email protected]
Diese Ausgabe kann nachbestellt werden.
Bestellnummer: 17840715
Preis: 3,– Euro zzgl. Versandkosten
Zum Download steht die Ausgabe unter folgendem
Link zur Verfügung:
www.seelsorgeamt-freiburg.de/impulse
ISSN 1862-3956
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