DIE DRITTE SEITE 3 Der Sonntag · 1. November 2015 Es hilft, darüber zu sprechen Die Bestatterinnen Doris Hochstrasser-Koch und Karin Koch Sager setzen sich dafür ein, dass der Tod kein TABUTHEMA bleibt forderndes: „Jetzt reiß dich mal zusammen“ seien der falsche Weg. Man müsse den Trauernden die Möglichkeit geben, ihren Weg selbständig zu beschreiten, weil sie aus der eigenen Leistung die Kraft schöpfen müssten, um weiterzumachen. Der Tod reißt Menschen oft völlig unvermittelt aus dem Leben. Gerade deshalb sollte man sich zu Lebzeiten mit ihm beschäftigen, findet Doris Hochstrasser-Koch. Wer sich klar überlegt, was er will, hilft seinen Angehörigen: „Seine Wünsche aufzuschreiben, was nach dem Tod passieren soll, kann auch Streit in der Familie vermeiden.“ Aus beruflicher Erfahrung weiß sie, dass viele Menschen den Angehörigen nach dem Tod nicht zur Last fallen wollen und sich daher für eine Verbrennung und ein pflegeleichtes Urnengrab entscheiden. Aber ist es wirklich das, was man will? Und wollen nichtvielleicht auch die Angehörigen bewusst ein Grab, das sie besuchen können, um Trost zu finden? Es hilft, darüber zu sprechen. KATHRIN GANTER D er Tod gehört zum Leben. Ein banaler Satz, tausend Mal ausgesprochen. Aber der Tod, sagt Doris HochstrasserKoch, habe fast keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft: „Wenn wir geboren werden, gehen wir irgendwann auch wieder. Wir würden bewusster leben, wenn wir uns das klarmachen würden.“ Der Tod hat sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Und sie hat den Tod ihr ganzes Leben lang begleitet: Gemeinsam mit ihrer Schwester Karin Koch Sager führt sie in dritter Generation das familieneigene Bestattungsunternehmen in Wohlen im Kanton Aargau. Die Erlebnisse der Schwestern hat die Journalistin Franziska K. Müller in dem Buch „Die Bestatterinnen – Gestorben wird immer“ aufgezeichnet. Es ist ein Buch über Trauer und Freude; über zwei Schwestern, die im Tod mehr sehen als das Ende eines Lebens. Was Tod bedeutet, lernten sie früh: nicht nur, weil ihre Eltern die Toten bestatteten. Als ihr Bruder Peter starb, war Karinvier Jahre alt, Doris 15. Acht Kinder hatte die Familie, und der Haupterwerb war nicht das Bestattungswesen, sondern die Landwirtschaft. Es war kein leichtes Leben, sondern harte Arbeit, das Bestattungsunternehmen aufzubauen und zu führen, zumal die Kochs auch weiter in der Landwirtschaft tätig waren und ein Fuhrunternehmen leiten. Karin und Doris haben es gemeistert. Mit ihren Familien, mit schier endloser Zuversicht und mit einer unglaublichen Energie. Die beiden Frauen versprühen viel Lebensfreude, Wärme und Humor. Ihre Lieblingsfarben sind Knallorange wie die Astern und Rosarot wie die Nelken der Blumenkränze. Von Morbidität, wie man sie bei jemandem vermuten könnte, der tausende Tote gesehen hat, ist bei ihnen nichts zu spüren. Wenn Doris HochstrasserKoch im Buch ihre Arbeit schildert, klingt der Respekt vor jedem Einzelnen an: „Rein und unschuldig liegen sie vor mir, egal, ob sie nur ein paar Monate oder über hundert Jahre alt geworden sind; ob ein Körper gefürchtet war, gehasst vielleicht, weil er Schlechtes tat, und was für ein Leben er führte, darf mich nicht interessieren. [...] Ich wasche jeden Körper mit Wasser, Seife und Schwamm, schneide Nägel, epiliere manches Damenbein und bei ganz jungen Männern verwerfe ich die Idee, den zarten Flaum über der Oberlippe ein erstes und letztes Mal zu rasieren. Ich nehme alle notwendigen hygienischen Maßnahmen mit großer Vorsicht vor, trockne den Körper mit weichen Tüchern und desinfiziere ihn, bevor ich Arme und Beine, Rücken und Brustkorb mit einer fein duftenden Lotion einreibe.“ – Särge als Symbole der Endlichkeit – Hell und freundlich ist das Bestattungsunternehmen der Kochs eingerichtet. In einem Raum sind Särge und Urnen ausgestellt, Grabschmuck ziert das Schaufenster. Es war eine bewusste und wohl überlegte Entscheidung, den Ausstellungsraum mit einer großen Glasfront zu versehen. Die Särge sollten als Symbole der Endlichkeit einen öffentlichen Platz bekommen. Die Waren sind mit deutlichen Preisschildern versehen. – Das Leben ist ein Geschenk – Doris Hochstrasser-Koch und Karin Koch Sager leiten ein Bestattungsunternehmen im schweizerischen Wohlen. Der Tod, sagen sie, habe sie den Umgang mit dem Leben gelehrt. FOTO: RENÉ RUIS (ZVG) Niemand, erklärt Doris Hochstrasser-Koch, soll in einem Trauerfall umständlich nach Preisen fragen müssen. Nicht zugeben müssen, dass er sich den teuren Sarg nicht leisten kann und nicht geizig scheinen will. Manchmal, wenn sie bemerke, dass sich jemand damit quält, dann zeige sie einen günstigen Sarg und verweise darauf, dass das das beliebteste Modell sei. Auch die Pathologie, der Vorbereitungsraum für Verstorbene, ist trotz aller hygienischen Anforderungen kein steriler Raum. Für die trauernden Angehörigen gibt es einen kleinen Zen-Garten und einen Aufbahrungsraum, den die Trauernden zu jeder Tages- und Nachtzeit betreten können. In einem glasverkleideten, gekühlten Katafalk können die Toten aufgebahrt werden, damit sich ihre Familie und Freunde von ihnen verabschieden können. waren, umso mehr ging der Abschied verloren“, sagt Doris Hochstrasser-Koch. „Aber die Menschen brauchen die Möglichkeit, Abschied zu nehmen.“ Schon für Kinder sei es wichtig, dass der Tod nicht tabuisiert werde. Als Doris HochstrasserKochs Mann 2011 bei einem Unfall ums Leben kam, wurden die Kinder in der Familie mit einbezogen, ihre Fragen beantwortet: „Kinder verstehen so viel und doch nicht alles, verfügen über keine Bewältigungsstrategien und benötigen auch darum die Unterstützung, die Ehrlichkeit und den Trost durch andere. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass alles andere die Angst schürt und den Tod zu einem großen Gegner heranwachsen lassen kann.“ Die Kinder durften den ANZEIGE – Kinder brauchen Ehrlichkeit und Trost – Abschied ist für die Schwestern ein wichtiges Thema: Doris, geboren 1955, und Karin, Jahrgang 1966, erlebten in ihrer Kindheit noch die Trauerkultur, in der Tote zu Hause aufgebahrt wurden: „Obwohl wir wussten, was uns [Kinder] erwartete, handelte es sich um eine Mutprobe, wenn wir den Schieber, der auf dem Sargdeckel auf Kopfhöhe angebracht war, öffneten. Die eingefallenen Gesichter der Verstorbenen kamen zum Vorschein und klebten, nur einen Hauch von unseren neugierigen Augen entfernt, direkt am dünnen Fensterglas, was ihnen ein geisterhaftes Aussehen verlieh und uns laut kreischend davonrennen ließ.“ Doch dann kamen die Kühlhäuser auf, später die Krematorien und brachten eine Distanz zwischen die Toten und die Lebenden. „Je weiter weg die Toten Sarg mit Kreide und Buntstiften bemalen. Sie zeichneten Engel und Blumen, aber auch einen Kirchturm mit riesigem Ziffernblatt und rückwärtslaufender Zeit, den Verstorbenen lächelnd auf einer pinkfarbenen Wolke: „Einmal wurde es plötzlich sehr still. Als ich nachsah, saßen die sonst so lebhaften Drei- bis Zwölfjährigen auf der Bank neben dem Katafalk und hielten sich bei den Händen. Als ich nachfragte, ob es sich um ein Spiel handle, antworteten sie: ,Nein. Wir beten für den Großpapi.‘“ Zwar nähmen immer mehr Menschen die Möglichkeit in Anspruch, den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Viele seien jedoch geprägt von dem verkrampften Umgang mit dem Tod. „Tote will man nicht sehen, weil man es nicht wahrhaben will“, sagt Doris HochstrasserKoch. „Wenn man einen Toten sieht, entstehen Emotionen.“ Doch in einer Zeit, in der man jung und schön bleiben muss, in der man funktionieren soll, ist kaum Raum für Vergänglichkeit und Trauer. „Männer sind noch bessere Meister im Verdrängen als Frauen“, sagt sie. – Zugang zu den eigenen Gefühlen finden – Im Buch schildern die Schwestern das Schicksal einer Familie, deren 14-jähriger Sohn starb. Niemand sei gekommen, um sich vor der Beerdigung von dem Jungen zu verabschieden: „Der Vater des Knaben sah in diesem Abschied keine Heilung, sondern eher eine Bedrohung, und im guten Glauben, seine Frau, die nächsten Angehörigen und die Schulfreunde seines Sohnes vor allen traurigen Gefühlen, die mit der Trauer einhergehen, schützen zu müssen, verhinderte er die Konfrontation und somit einen Abschied, der das Unglück oft erst zu einem fassbaren Ereignis macht.“ Auch als zwei Jahre später ein neugeborenes Kind derselben Familie starb, verhinderte der Vater den Abschied. „Jahre später erfuhren wir, dass die Frau unter schweren Depressionen litt und inzwischen in einer Institution lebte.“ Ob das allein an den Schicksalsschlägen lag oder auch daran, dass die Trauer keinen Platz hatte, sich zu entfalten, darüber spekuliert Doris Hochstrasser-Koch nicht. „Aber ich begann mich zu fragen, wie ich den Hinterbliebenen behilflich sein könnte, damit sie ihren Verstorbenen furchtloser begegnen, den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen finden und somit eine Voraussetzung schaffen können, um den Tod anzunehmen und die Trauer zu bewältigen.“ Rituale sind wichtig für die Angehörigen. Auch die Beerdi- Sich über den Tod Gedanken zu machen, erleichtere, ihn als natürlich zu akzeptieren und die Angst davor abzubauen, sagt Doris Hochstrasser-Koch. Sterbehilfe, wie sie in der Schweiz legal ist, sieht die Bestatterin kritisch: „Wir haben ein geschenktes Leben. Dürfen wir uns da einfach drüber hinwegsetzen?“ Auch Leiden, schwere Krankheiten, die den Wunsch auslösen, das Leben zu beenden, könnten einen im letzten Moment etwas sehen, etwas erkennen lassen. „Ich glaube daran, dass wir vor unserem Tod abgeholt werden.“ Doris Hochstrasser-Koch bezeichnet sich selbst als gläubig: „Wenn man an gar nichts glaubt, ist es schwierig zu sterben, weil man alles zurücklassen muss. Wenn man das Gefühl hat, dass es weitergeht, sieht es anders aus.“ Wer über den Tod nachdenkt, befasst sich automatisch mit dem Leben. So kommt Doris Hochstrasser-Koch am Ende des Buches zu dem Schluss: „Ich sehe meiner Zukunft mit Zuversicht und Freude entgegen, bin zuversichtlich und vertrauensvoll für alles, was noch kommen wird. Ich habe gelernt, bedächtig und tolerant mit dem Leben umzugehen, Veränderungen anzugehen und die vielen Möglichkeiten, die sich immer wieder bieten, auch zu nutzen. Der Tod, so sind Karin und ich uns einig, lehrte uns den Umgang mit dem Leben. Und dafür sind wir ihm dankbar.“ gung, die Ansprache durch einen Pfarrer oder einen Trauerredner gehören dazu. „Diese Rituale haben mit Loslassen zu tun“, erklärt Doris Hochstrasser-Koch. Sie erleichtern die erste Phase der Trauer, das Nicht-wahrhabenWollen. Die Schweizer Psychologie-Professorin Verena Kast definiert Trauer in vier Phasen. In der zweiten Phase brechen die Emotionen auf, Wut, Zorn, Angst, Schuldgefühle und Schmerz entladen sich. In der dritten Phase suchen Trauernde nach dem Verstorbenen, auf Bildern, an Orten und in Erinnerungen. In der vierten Phase akzeptiert der Trauernde den Verlust und kann sich Neuem öffnen. Doris Hochstrasser-Koch vergleicht diesen Prozess mit einer langen Treppe, deren erste Stufe sehr hoch ist, die zahlreichen folgenden werden flacher. Für die Menschen im Umfeld ist der Umgang mit Trauernden nicht leicht. Der Tod macht sprachlos: „Es ist schwierig, etwas zu jemanden zu sagen, der gerade einen geliebten Menschen verloren hat“, weiß Doris Hochstrasser-Koch. „Aber zuhö- > DIE BESTATTERINNEN – Geren und reden, einfach da sein, storben wird immer, Franziska K. das ist heilsam.“ Gute Ratschläge Müller, Wörterseh-Verlag, 208 Seiwie „Kopf hoch“, aber auch ein ten, 19,90 Euro.
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