Klassiker wieder gelesen Den größeren Zusammenhang sehen

Klassiker wieder gelesen
Andersen, T. (Hrsg.) (1990/2011). Das Reflektierende
Team: Dialoge und Dialoge über die Dialoge (5. Aufl.).
Dortmund: Verlag Modernes Lernen; 179 S., E 17,90.
Den größeren Zusammenhang sehen
Tom Andersen bringt uns zu Beginn seines Buches seine Heimat Norwegen und
Nordnorwegen nahe. Danach werden Aufbau und Arbeitsweise der Organisationen der psychosozialen Versorgung erklärt. Es folgt der Abschnitt »Unsere
Geschichte«, bevor wir mit den grundlegenden Ideen systemischen Denkens, zum
Beispiel Bateson, vertraut gemacht werden. Das soll dem Leser helfen, die
Herausforderungen durch Sprache, die Akte der Beschreibung und des Erklärens, aufeinander einwirkende Dialoge sowie die mit Veränderungsprozessen
einhergehenden Beschränkungen und Entwicklungen zu bestehen. Worum es
ihm geht, mündet in der Überschrift: »Wie können wir am hilfreichsten zuhören
und denken?« Auf Seite 54 beginnt die Beschreibung des reflektierenden Teams
und es verwundert nicht, dass es im Laufe des Buches auf eine Einladung zur
Einnahme einer reflektierenden Position hinausläuft.
In der Ursprungsversion des Konzeptes wird das festgefahrene System (z. B.
Familie und Therapeut) plus Interviewer durch ein reflektierendes Team (z. B. aus
drei Personen bestehend) ergänzt. Wenn das Interviewsystem daran interessiert ist,
bietet das reflektierende Team nach einiger Zeit seine Ideen in der Form an, dass
sich die Beteiligten unterhalten und dabei aus den verschiedenen Aspekten einige
tragende Versionen hervorbringen können. Nachdem das Team seine Reflexionen
präsentiert hat, sprechend die Mitglieder des Interviewsystems darüber. Anfänglich
agierte das reflektierende Team noch hinter der Einwegscheibe und es ergab sich
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ein Wechselspiel von Zuhören und Reflexionen präsentieren über technische
komplizierte Wege.
In der Weiterentwicklung dieses Grundgedankens konnte auf einen Einwegspiegel zwischen den beiden Systemen verzichtet, der Kreis der Teammitglieder
reduziert und die Anzahl der Wechsel der Dialoge über die Dialoge kontextbezogen variiert werden. Kontinuierlich sehr wichtig bleibt, dass die Rahmenbedingungen der Dialoge (re-)konstruiert werden. Über »angemessen ungewöhnliche
Fragen« (S. 65), die geniale Stärkung der Position des Zuhörens und den systematischen, unmittelbar erlebbaren Wechsel der Positionen von Selbstreflektieren und
Hören von Reflexionen entsteht eine neue Qualität im therapeutischen Prozess.
Andersen und seine Mitautoren plädieren dafür, durch reflektierende Kommunikation sich selbst (das eigene Team, die eigene Kommunikationsstruktur) als Teil
des größeren Zusammenhangs zu betrachten, der ein Teil der Lösung und der
Nichtlösung ist. Sie machen ernst mit der Kybernetik zweiter Ordnung und beziehen den therapeutischen Prozess systematisch in die Beobachtung ein, so entsteht
die reflektierende Kommunikation über die Fallkommunikation, wobei der Fall als
eine »Kommunikation über« verstanden werden kann.
Wir können heute vieles genauer und sicherer beschreiben. Wir sind weiter, was
die Fragen des Konstruktivismus und unseres Bewusstseins betrifft (Blackmore,
20121). Auch was die gesellschaftlichen Hintergründe von sozialen Konflikten angeht, zum Beispiel die Spreizung von Armut und Reichtum, liegen bedeutende
empirische Untersuchungen vor (Wilkinson u. Pickett, 20102). Die Diskurse zur
Bedeutung von Anerkennung und Umverteilung bieten hervorragende Reflexionspotenziale (Fraser u. Honneth, 20033).
Aber: Der Mut und die Anregung, über unsere Lösungswege nachzudenken, die
ich in Andersens Buch gespürt habe – da habe ich nicht den Eindruck, dass wir
weiter sind. Ich finde das Buch immer noch aufregend und hochaktuell – wann
erlebt man schon einmal zuhören? Die Botschaft: Es ist an der Zeit, Neues zu
denken und zu wagen, den eigenen Kommunikationsprozess zu beobachten, hat an
Herausforderung nicht verloren. Auf nach Nordnorwegen! Die Einladung richtet
sich an alle Sehnsüchtigen, Funktionäre, Haltungsspezialisten, Textausleger,
Theorievergesser des systemischen Denkens. Wir können auf der Reise ausführlich
über (Nord-)Norwegen und warum wir dort nicht ankommen, reden.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Wilfried Hosemann, Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit (DGSSA); E-Mail: [email protected]
1 Blackmore, S. (2012). Gespräche über Bewusstsein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
2 Wilkinson, R., Pickett, K. (2010). Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins.
3 Fraser, N., Honneth, A. (2003). Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch
philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Reflektierende Teams in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie und in der klinischen Ethikberatung
Systemische Ansätze hatten um 1980 im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie (aus dieser Perspektive kommentiere ich Andersens Buch) Fuß gefasst, sie
waren auch mit den gewohnten hierarchischen Strukturen noch gut vereinbar: Da
brachen Konstruktivismus und die Kybernetik zweiter Ordnung herein und wirbelten bei denjenigen, die sich damit auseinandersetzten, einiges durcheinander,
angefangen von Autopoiese und prinzipieller Nichtinstruierbarkeit bis hin zur
partnerschaftlichen Beziehungsdefinition zwischen Ratsuchenden und Experten.
Das Konzept und die Haltung einer reflektierenden Position, die Tom Andersen
klar, sanft und zugleich bestimmt anbot, versprachen in dieser Verstörung praktische und alltagstaugliche Lösungen in der klinischen Arbeit. Und so stürzten wir
uns auf das reflektierende Team als klinische Methode in der ambulanten Kinderund Jugendpsychiatrie.
Was ist daraus geworden? Ich möchte auf drei Aspekte hinweisen (wobei ich
mir im Klaren darüber bin, dass dies eine Einschränkung vieler anderer möglicher
Aspekte darstellt):
1. Die Auswirkungen der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens: Die goldenen Zeiten, in denen sich drei bis vier Fachleute für ein Paar
oder eine Familie regelmäßig Zeit nehmen konnten, gingen vorbei, das Angebot,
Ratsuchenden ein reflektierendes Team zur Seite zu stellen, wurde in dem Maße
mehr und mehr zur Ausnahme, als die Mindestzahl von Patienten, die ein Mitarbeiter/eine Mitarbeiterin zu versorgen hatte (»Kranken- bzw. Überweisungsscheine«), zur wirtschaftlichen Notwendigkeit wurde. Tom Andersen hat am
Ende seines Buches bereits auf die Optionen der Arbeit »ohne Team« hingewiesen, Sicherheit, Anregungen, Entlastung, Ermutigung, Unterstützung, die das
Team vermittelt, gehen aber verloren … Reflektierende Settings haben sich nach
meiner Erfahrung zunehmend in Richtung Supervision und Gruppenarbeit (zum
Beispiel das Konzept der »reflecting families« der Aschendorfer Klinik) verlagert
– ein Beleg für das vielfältige Potenzial der von Andersen entwickelten reflektierenden Haltung.
2. In den zurückliegenden zwanzig Jahren haben im klinisch-psychiatrischen
und kinderpsychiatrischen Bereich jenseits systemischer Positionen und systemischer Therapie prägende Entwicklungen stattgefunden, die mit den Stichworten evidenzbasierte Medizin, Leitlinienentwicklung und störungsspezifische
Therapien beschrieben werden können. Parallel dazu – unter anderen von Grawe4
vorangetrieben – gibt es Tendenzen einer Konvergenz der verschiedenen Therapieschulen. Untersuchungen über Wirksamkeitsfaktoren, als Beispiel seien
4 Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F. (2001). Psychotherapie im Wandel. Göttingen:
Hogrefe.
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klinische Konstellationen genannt, in denen Angst eine zentrale Rolle spielt,
machen deutlich, dass Exposition und Übung von entscheidender Bedeutung für
eine Linderung der Beschwerden sind. Das hat zur Konsequenz, dass in der
praktischen klinisch-therapeutischen Arbeit anliegen- und kontextorientierte
Ansätze, die auf Sprache und Bedeutungen fokussieren, durch erprobte andere
wirksame Verfahren und Vorgehensweisen ergänzt werden müssen, um – in systemischer Sprache – der Komplexität des Problemsystems und der therapeutischen Aufgabe der Reduktion von Leid gerecht werden zu können. Unsere anfängliche naive Vorstellung, mit dem zur Therapiemethode reduzierten Reflecting Team einen Großteil unserer therapeutischen Aufgaben absolvieren zu
können, hat damit eine berechtigte Korrektur erfahren.
3. Schließlich soll eine Erweiterung vorgestellt werden: Stella Reiter-Theil und
Ludwig Reiter haben die Möglichkeiten erkannt, die reflektierende Haltung und
die Strukur des ursprünglichen Reflecting-Team-Vorgehens für klinische Ethikkonsultationen zu nutzen. Wir hatten das Glück, in Göttingen an der Entwicklung
eines solchen Konsultationsmodells beteiligt zu sein (Höger et al., 19975).
Bei ethischen Problemen, die eine Konsultation veranlassen könnten, geht es
meist um Konflikte zwischen zwei prinzipiell gleichrangigen ethischen Prinzipien
(vgl. Beauchamp u. Childress, 20096), insbesondere wenn eine Verletzung des
Respekts vor der Patientenautonomie zugunsten einer angestrebten Hilfeleistung oder Schadensvermeidung erwogen wird. Die Nutzung des Reflecting Teams
liegt nahe, weil zum einen dessen wertschätzende Kommunikation zu üblichen
diskursiven Verfahren der Ethik passt, zum anderen die therapeutische Haltung
des Nichteingreifens in als autonom definierte Beziehungsstrukturen mit dem
genannten ethischen Prinzip des Respekts vor der Autonomie des Patienten
korrespondiert. Nach einer Reihe von Erprobungen hat sich folgendes Modell als
passend erwiesen:
– Phase 1: Eine Therapeutin stellt einen Fall vor, bei dem aus ihrer Sicht eine
Indikationsstellung für eine Ethikkonsultation vorliegt.
– Phase 2: Ein reflektierendes therapeutisches Team knüpft an den therapeutisch- behandlungstechnischen Teil der Fallpräsentation an, anschließend folgen Reflexionen durch ein reflektierendes ethisches Team, die die ethische
Fragestellung aufgreifen und mittels des Prinzipien- Ansatzes von Beauchamp
und Childress analysieren.
– Phase 3: Die Reflexionen werden von der Fallpräsentatorin aufgegriffen; anschließend erfolgt eine Synthese im Gespräch aller Beteiligten.
5 Höger, C., Reiter-Theil, S., Reiter, L. et al. (1997). Fallbezogene ethische Reflexion.
Ein Prozessmodell zur Ethikkonsultation in der Kinderpsychiatrie und Psychotherapie.
System Familie, 10, 174 – 179.
6 Beauchamp, T. L., Childress, J. F. (2009). Principles of Biomedical Ethics. Oxford u.
New York: Oxford University Press.
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Dieses Modell ist in Weiterbildung und in klinischen Ethikkomittees praktikabel;
es gewinnt seinen Nutzen durch die respektvolle Art der Kommunikation und die
klare Strukturierung des Wechsels zwischen reflektierender und zuhörender
Haltung.
Die Mitteilungen Tom Andersens, zusammengefasst in seinem Buch »Das
Reflektierende Team«, verhalfen zu vielen hilfreiche Entwicklungen in Beratung,
Supervision und Therapie. Eine Rückbesinnung auf die Grundlagen, die er gelegt
hat, bleibt unverzichtbar – sein Buch ist weiterhin ein Klassiker.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Christoph Höger, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen, Von Siebold-Str. 5,
37075 Göttingen; E-Mail: [email protected]
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