Warum mehr Kaiserschnitt-Geburten als früher? (Erika Bolt) Meine Tierschutzarbeit führt mitunter zu interessanten Erfahrungen zur „Volksmeinung“ über unsere kleinen Hunde. Eine junge Frau, die als freiwillige Mitarbeiterin beim Tierschutz mithelfen wollte, meinte am Telefon „Hauptsache, es geht nicht um Rassetiere, die sind ja alle degeneriert und können nicht einmal mehr normal gebären“. Ich hab sie eingeladen, im Sommerhalbjahr beim Zähmen und Sozialisieren der eingefangenen wild geborenen Katzenwelpen zu helfen, die ganz sicher rein natürlich zur Welt gekommen sind, denn ohne das hätten sie und ihre Katzenmutter nicht überlebt. Wie steht es denn bezüglich Gebärfähigkeit unserer zu Unrecht als degeneriert verdächtigten Papillons? Die Rasse ist viel älter als die moderne Kleintiermedizin, konnte sich mit normalen Geburten wohl über Jahrhunderte erhalten. Bis vor ca. 70 Jahren ging es Hündinnen, die nicht gebären konnten, wie den freilebenden Kätzinnen: die nicht mögliche Geburt auch nur eines Welpen, der im Bauch der Mutter verblieb, führte in der Regel zum Tod der ganzen Katzen- oder Hundefamilie (wenn man von Einzelfällen absieht, wo eine Mumifizierung des Ungeborenen erfolgte). Seit nunmehr 50 Jahren züchte ich Papillons und sehe eine sehr positive Entwicklung für die Züchter, die Hundemütter und auch für das Überleben der Welpen – gerade weil heute rascher zur Schnittentbindung gegriffen wird Vor 50 Jahren war ein Kaiserschnitt riskant Wann die ersten Kaiserschnitt-Geburten in der Schweiz bei Hündinnen erfolgten, weiss ich nicht exakt. Paula und Annelies Waldner aus Walzenhausen erzählten mir vor vielen Jahren, dass sie etwa 1953 bei einer King-CharlesHündin den ersten Kaiserschnitt in St. Gallen machen liessen und Hündin und Welpen überlebten. In den 1960er Jahren war eine Kaiserschnitt-Geburt riskant für die Hündin und die Welpen, weil die Narkose mit Barbituraten erfolgen musste. Es gab keine Narkosegeräte oder Narkosegas. Entsprechend versuchten Tierarzt und Züchter wenn immer möglich den Eingriff zu vermeiden, um den Tod der Hundemutter durch Atemstillstand unter Narkose zu umgehen. Röntgenapparate in der Tierarztpraxis gab es nicht, es war nicht einfach, die Situation bei Geburtsproblemen einzuschätzen. Zum Einsatz kamen in der Regel zuerst Wehenmittel, falls Teile eines Welpen durchs Becken gingen, wurden Geburtszangen eingesetzt, was viele Welpen nicht überlebten und schmerzhaft war für die Hündin. Das Ziel war stets, möglichst wenig Risiko für die Hundemutter, auch wenn es dem einen oder andern Welpen das Leben kostete. Etwa ab 1972 konnte man eine Hündin mit Geburtsproblem in der Kleintierpraxis röntgen und abschätzen, ob die Ungeborenen eine geburtstaugliche Grösse haben. Das Mittel der Wahl war immer noch Wehenmittel, doch mit neuen Narkosesubstanzen, die weniger zu Atemstillstand der Hündin führten als Barbiturate, wurde das Risiko beim Kaiserschnitt kleiner. Der Einsatz von überwachenden Narkosegeräten mit Isofluran als Narkosegas bei den meisten Tierärzten ab etwa 1992 reduzierte das Sterberisiko für die Hündin beim rechtzeitig erfolgten Kaiserschnitt ganz erheblich und die Angst der Züchter vor dem Eingriff wurde immer kleiner. Geringes Operationsrisiko für die Hündin fördert die Zahl der Kaiserschnittgeburten Bei uns Züchtern hat die Erfahrung, dass die Geburt durch Kaiserschnitt kaum noch ein Risiko für die Hündin ist, ihr stundenlange Wehen, Schmerzen und absolute Erschöpfung erspart, dass bei rechtzeitigem Eingriff alle Welpen des Wurfes überleben und die Hündin sie auch säugen kann, zu einer ganz neuen Einstellung geführt! War es früher häufig, dass bei den Zwerghunden der erste Welpe des Wurfes tot zur Welt kam (als „Wegzoll“ für die nachfolgenden Wurfgeschwister geopfert wurde), möchte man heute sich und der Hündin solche Erfahrungen ersparen. Das Überleben der Welpen, das einst keine Priorität hatte, steht heute viel mehr im Fokus. Das führt dazu, dass man bei Anzeichen von Geburtsproblemen nicht lang zuwartet, sondern zum Tierarzt geht. Die Erwartung des Züchters ist, dass der Tierarzt den in Schwierigkeiten steckenden Welpen rettet und auch die Hündin gut aus der Geburt hervorgeht. Diese Anspruchshaltung des Züchters führt dazu, dass sofort ein Kaiserschnitt eingeleitet wird und mit etwas Glück verliert man keinen Welpen des Wurfes. Die Züchter-Ideologie der 1960-er Jahre, wo der in Schwierigkeiten steckende Welpe bei Problemgeburten geopfert wurde, ist heute verschwunden. Das soll man nicht als gut oder schlecht werten! Die Frage ist, soll und darf man die Möglichkeiten der modernen Tiermedizin nutzen, auch wenn das in der Statistik dazu führt, dass mehr Welpen per Kaiserschnitt geboren werden als vor 50 Jahren? Ich meine JA! Ich hab es erlebt, das Zittern und Bangen, ob eine Schwergeburt noch gut ausgeht, hab es erlebt, dass eine arme Hündin zwei oder drei relativ grosse Welpen unter starken Schmerzen mit Wehenmittel zur Welt bringen musste und dann nur mit Glück einer überlebte, die andern unter der Austreibung erstickten! Diese Zustände von damals wünsch ich mir nicht zurück, auch wenn die statistische Kaiserschnitt-Rate meiner früheren Züchterjahre „besser“ aussieht als die heutige Statistik. Wie gross ist die Kaiserschnitt-Rate in Papillons? 50 JAHRE PAPILLONZUCHT V. ROTMONTEN: KAISERSCHNITT -RATE 1966-75 1976-85 1986-95 2006-2015 9,3% 87,2% 12,8% 85,7% 14,3% 1996-2005 90,7% Normalgeburt 93,0% 7,0% 5,6% 8,0% 92,0% 94,4% Kaiserschnitte in % der Würfe Ø ALLE 50 JAHRE Über alle 50 Jahre mit rund 300 Würfen ergibt sich eine durchschnittliche Kaiserschnitt-Rate von 9.3%. Es ist deutlich zu sehen, dass ab dem Zeitpunkt, als vor 20 Jahren das Sterberisiko für die Hundemütter dank Inhalationsnarkose eigentlich fast Null war, auch bei mir mehr Schnittentbindungen erfolgten. Teils hängen diese auch mit grösseren Würfen zusammen. Wenn eine Hündin nach der Geburt von 3-4 Welpen erschöpft ist und unter Wehenschwäche leidet, kann es sein, dass sie auf Wehenmittel nicht anspricht, sodass ein Kaiserschnitt nötig wird. Es waren in den letzten 20 Jahren ab und zu Würfe mit 5-6 Welpen, wo eine Schnittentbindung nötig wurde. Meine statistischen Daten reichen nicht aus, um zu belegen, dass ganz kleine Würfe mit nur 1-2 relativ grossen Welpen und grosse Würfe mit 5-7 Welpen vermehrt zu Kaiserschnitten führen, aber eine Tendenz dazu ist sichtbar. Qualzucht?? Uns Kleinhundezüchtern werfen „Tierschützer“ ab und zu „Qualzucht“ vor, weil es bei unseren Rassen immer mehr Kaiserschnitte brauche! Der Vorwurf ist unberechtigt. Ich denke, wenn ein Züchter wie vor 50 Jahren unbedingt die Eingriffe vermeiden möchte, kann man das wie damals tun und opfert stillschweigend Welpen, die wegen Sauerstoffmangel tot geboren werden oder nach der Geburt infolge Fruchtwasseraspiration sterben. Wir machen das heute nicht mehr und sind damit bezüglich „Bewältigung von Geburtsrisiko“ effektiv auf dem gleichen Dampfer wie die Gattung „homo sapiens“. Ein Kaiserschnitt war auch für uns Frauen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nur Rettung in höchster Not. Entsprechend wenige solche Eingriffe wurden gemacht, dafür wurden mehr Kinder tot geboren oder hatten durch Sauerstoffmangel unter der Geburt bedingte Schäden. Und heute? Die Kaiserschnitt-Rate beim Menschen ist hierzulande bei etwa 35% der Geburten. Jedes Risiko für das Ungeborene und die Mutter wird minimiert, der Kaiserschnitt gilt als schonendste und sicherste Geburt für das Kind! Auf den Vorwurf von Qualzucht bei meinen Papillons wegen Kaiserschnitten antworte ich darum mit der Gegenfrage, ob dem Gesprächspartner bekannt sei, dass bei Menschenmüttern heute fast dreimal so viele Kaiserschnitte vorgenommen werden als bei unserer kleinen Hundemüttern. Wir geben zu, dass es mehr Schnittentbindungen sind als vor 30-50 Jahren. Aber nicht, weil unsere Hündinnen weniger gebärfähig sind, sondern weil wir damit Welpenverluste vermeiden und eine schwere. schmerzhafte Geburt für die Hündin schonend zu Ende gebracht wird. Ich bin überzeugt, dass ein Züchter nicht leichten Herzens einem Kaiserschnitt zustimmt, wenn eine Normalgeburt möglich ist. Der Nachteil der Schnittentbindung ist, dass man dies zwei Mal, maximal ein drittes Mal machen kann, doch dann muss man diese Hündin aus der Zucht nehmen. Das zarte Gewebe des Papillons kann zu Narbenbrüchen neigen, man sollte darum gut überlegen, ob man eine Hündin nach Kaiserschnitt wieder belegen lässt. Die Entfernung der Gebärmutter beim zweiten Kaiserschnitt einer Hündin kann eine sehr gute Lösung sein.
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