User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Diplomarbeit im Fachgebiet Human Computer Interaction vorgelegt von: Studienbereich: Erstgutachter: Zweitgutachter: Jamal Mohsen Informatik Prof. Dr. Karl-Heinz Rödiger Prof. Dr. Frieder Nake © 2015 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Danksagung An dieser Stelle möchte ich allen Professoren, Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern danken, die zum Gelingen dieser Diplomarbeit beigetragen haben. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Rödiger für seine wertvollen Ratschläge, Anregungen und die freundliche Hilfsbereitschaft, die er mir entgegenbrachte, und für die Chance, mich mit einem spannenden und interessanten Thema auseinanderzusetzen. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Frieder Nake für die freundliche Zusage, das Zweitgutachten dieser Arbeit zu übernehmen. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Freunden, die mich ermutigten und aufbauten, wenn die Motivation sank. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, die mir mein Studium ermöglicht und mich in all meinen Entscheidungen unterstützt hat. © Jamal Mohsen User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Zusammenfassung Inhalt dieser Arbeit ist die Thematik der User Experience mit dem Fokus auf der Frage, ob sie eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns darstellt. Nach einem generellen Überblick über das Thema User Experience und über das Ziel der Arbeit in Kapitel 1 wird in Kapitel 2 das Thema Interaktionsdesign vorgestellt. Hierbei werde ich auf die Gestaltung der Benutzungsschnittstelle, die Interaktionselemente, die Einund Ausgabemedien sowie auf eine Definition der Leitideen des Interaktionsdesigns eingehen. Im darauf folgenden Kapitel 3 stelle ich das Hauptthema User Experience vor. Da Usability-Aspekte in der User Experience eine Rolle spielen, möchte ich die beiden Themen einander gegenüberstellen. Außerdem möchte ich die Einflussfaktoren auf die User Experience diskutieren. Anschließend gehe ich in Kapitel 4 auf die theoretischen Ausführungen zum Aspekt der User Experience ein. Darüber hinaus werde ich die Kriterien der User Experience nach verschiedenen Wissenschaftlern darstellen. Das fünfte Kapitel umfasst die verschiedenen Elemente, die für die Gestaltung einer erfolgreichen User Experience eines Produktes berücksichtigt werden müssen. Es wird das Fünf-Elemente-Modell von Garrett präsentiert. Darin wird ausführlich erklärt, was das Modell ist und wie man es in der Praxis benutzen kann. Danach wird in Kapitel 6 die Frage im Titel der Arbeit beantwortet. Dafür wird das Thema User Experience mit vier anderen Disziplinen, die mit User Experience zu tun haben, verglichen. Das siebte Kapitel umfasst einige Gestaltungsprozesse und Methoden der User Experience. Außerdem werden die Evaluationstechniken für die User Experience, insbesondere der sogenannte AttrakDiff2-Fragebogen, diskutiert. Schlussendlich wird in Kapitel 9 eine Zusammenfassung und eine mögliche zukünftige Arbeit dargestellt. © Jamal Mohsen User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis IV 1 Einleitung 1 2 Interaktionsdesign 3 2.1 Gestaltung der Benutzungschnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1.1 Ablauf einer Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1.1.1 „Human action cycle“ von Norman . . . . . . . . . 4 2.1.1.2 Design-Prinzipien von Norman . . . . . . . . . . . . 6 Interaktionsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.2 2.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.2.1 Tastatur und Maus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2.2 Touch und Multitouch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3 Interaktionsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.4 Interaktionselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.4.1 Anordnung von Interaktionselementen . . . . . . . . . . . . . 15 Leitideen des Interaktionsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.5 Ein- und Ausgabemedien 3 User Experience und Usability 19 3.1 Usability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.2 User Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.2.2 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.3 User Experience vs. Usability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4 Einflussfaktoren auf die User Experience . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.4.1 Einfluss der Situation auf die User Experience . . . . . . . . . 28 3.4.1.1 Soziales Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.4.1.2 Physisches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einfluss der Zeit auf die User Experience . . . . . . . . . . . 30 3.4.2 4 Qualitätskriterien für User Experience 4.1 33 Theoretische Ausführungen zum Aspekt von User Experience . . . . 33 4.1.1 Goal Mode und Action Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4.2 Kriterien nach Hassenzahl et al. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4.3 Kriterien nach Overbeeke et al. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 © Jamal Mohsen I User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Inhaltsverzeichnis 4.4 Kriterien nach Jordan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.5 Kriterien nach Norman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.1 Strategieebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.1.1 Strategie definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.1.2 Produktziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 5.1.2.1 Produktinnovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 5.1.2.2 Identifizierung der Produktziele . . . . . . . . . . . 46 Nutzerbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5.1.3.1 Benutzergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5.1.3.2 Kano-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Umfangsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5.2.1 Umfang definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5.2.2 Definition der Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5.2.3 Funktionsspezifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5.2.4 Inhaltliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Strukturebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.3.1 Struktur definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.3.2 Interaktionsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.3.3 Informationsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Rasterebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.4.1 Definition des Rasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.4.2 Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5.4.3 Navigationsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.4.4 Informationsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Oberflächenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.5.1 Definition der Oberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.5.2 Einsatz der Sinne zur positiven Gestaltung von User Experience 68 5.1.3 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 42 5.5.2.1 Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.5.2.2 Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.5.2.3 Geschmack und Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.5.2.4 Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.5.3 Beurteilung des visuellen Designs . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.5.4 Techniken der visuellen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.5.4.1 Farbkontraste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.5.4.2 Farbpaletten und Typografie . . . . . . . . . . . . . 72 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 © Jamal Mohsen II User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Inhaltsverzeichnis 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 75 6.1 User Experience ist dynamisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6.2 CUE-Modell nach Thüring und Minge . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.3 Stellt User Experience eine Neuerung dar? . . . . . . . . . . . . . . . 79 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience 81 7.1 Methode nach Hull und Reid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7.2 Gestaltungsprozess nach Karat und Karat . . . . . . . . . . . . . . . 82 7.3 Methode nach Dix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 7.4 Ermittlung von Hauptmerkmalen des Produktes mittels Laddering . 83 7.5 AttrakDiff2: Ein Fragebogen misst UX . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.5.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.5.2 AttrakDiff2 nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7.5.3 Ergebnisdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8 Zusammenfassung und zukünftige Arbeit 89 9 Literaturverzeichnis 91 9.1 Bücher und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 9.2 Online-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Eidesstattliche Erklärung 97 © Jamal Mohsen III User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Abkürzungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 2.1 Unterseite der Maus [Engelbart/English 1968]. . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Minimalgrößen für berührbare Elemente [Moser 2012]. . . . . . . . . 13 2.3 Auswahl von Daten [Moser 2012]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.4 Die wichtigsten Elemente einer Webseite [Moser 2012]. . . . . . . . . 15 2.5 Wirkungsbereichsbeispiel [Moser 2012]. . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.6 Abhängigkeitsbeispiel [Moser 2012]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.7 Leserichtung des Dialogs [Moser 2012]. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1 Nutzungsrahmen für die Usability nach ISO 9241-11 [Herczeg 2009]. 21 3.2 Ansatzpunkte von Usability und User Experience [Geis 2010]. . . . . 26 3.3 Einfluss der Zeit nach dem Kano-Modell [Moser 2012]. . . . . . . . . 31 4.1 Produktcharaktere [Reeps 2004]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.2 Goal Mode und Action Mode nach Hassenzahl in [Stein 2010]. . . . . 35 4.3 Hierarchy of Consumer Needs in Human Factors ([Reeps 2004], S. 30). 38 4.4 Die drei Ebenen der Wahrnehmungsverarbeitung ([Gersch 2009], S. 28). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5.1 Die fünf Ebenen der User Experience nach Garrett [2012]. . . . . . . 43 5.2 Die Komponenten der Strategieebene [Garrett 2012]. . . . . . . . . . 44 5.3 Die wichtigen Phasen des Ideen-Filters [Moser 2012]. . . . . . . . . . 45 5.4 Benutzergruppierung-Beispiel [Garrett 2012]. . . . . . . . . . . . . . 48 5.5 Die Komponenten der Umfangsebene [Garrett 2012]. . . . . . . . . . 51 5.6 Beispiele der Beziehung zwischen den strategischen Zielen und den Anforderungen [Garrett 2012]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 5.7 Die Komponenten der Strukturebene [Garrett 2012]. . . . . . . . . . 57 5.8 Der Von-oben-nach-unten-Ansatz (oben) und der Von-unten-nachoben-Ansatz (unten) ([Garrett 2012], S.90). . . . . . . . . . . . . . . 60 Die Komponenten der Rasterebene [Garrett 2012]. . . . . . . . . . . 62 5.10 Ein Beispiel der globalen Navigation [Garrett 2012]. . . . . . . . . . 65 5.11 Ein Beispiel der lokalen Navigation [Garrett 2012]. . . . . . . . . . . 66 5.12 Die Komponente der Oberflächenebene [Garrett 2012]. . . . . . . . . 68 5.13 Ein Beispiel der Farbkontraste [Garrett 2012]. . . . . . . . . . . . . . 71 5.9 © Jamal Mohsen IV User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? Abbildungsverzeichnis 6.1 Das User Experience Lifecycle Model ([Thüring/Minge 2014], S. 48). 75 6.2 Das CUE-Modell ([Thüring/Minge 2014], S. 46). . . . . . . . . . . . 77 6.3 Eigenschaften und Zusammenspiel der Disziplinen ([Reeps 2004], S. 48). 7.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 die Ableitung von persönlichen Werten aus Produkteigenschaften [Reeps 2004]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.2 Online-Version des AttrakDiff-Fragebogens (Quelle: www.attrakdiff.de). 86 7.3 Portfoliodarstellung des Projekttyps „Vergleich Produkt A - Produkt B“ (Quelle: www.attrakdiff.de). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . © Jamal Mohsen 88 V User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 1 Einleitung 1 Einleitung In den vergangenen Jahrzehnten traten interaktive Systeme praktisch in allen Bereichen menschlicher Aktivitäten auf. Es wird daher immer wichtiger, Produkte zu gestalten, die einfach, effektiv und angenehm sind und in vielen Fällen Spaß bei der Benutzung machen. Seit dem Beginn der 1980er Jahre ist die Interaktion zwischen Mensch und Computer (MCI) ein wichtiges Forschungsgebiet, welches mit der Zeit immer weiter gewachsen ist. Es wurden viele Leitideen, Ansätze, Theorien und Methoden erstellt, um diese Interaktion zu unterstützten. Bisher lag die Usability (die Gebrauchstauglichkeit) im Zentrum der Aufmerksamkeit der Designer, es wurde also immer versucht, interaktive Produkte, mit denen der Benutzer seine Ziele auf möglichst effiziente, effektive und zufriedenstellende Art erreichen kann, zu gestalten. Benutzer freuten sich früher über ein gebrauchstaugliches Produkt. Dementsprechend reichte Usability aus, diese Rolle zu spielen. Heutzutage sind die Benutzer nicht mehr überrascht, wenn ein interaktives Produkt gebrauchstauglich ist, sondern sie sind negativ überrascht, wenn das Produkt schwer zu bedienen ist (siehe Kapitel 4.4). Außerdem reicht es nicht mehr aus, interaktive Produkte nur nach Effektivität und Effizienz zu gestalten, sondern es wird zur Zeit immer mehr über sogenannte „hedonische“ Qualitätsaspekte wie die Motivation, Stimulation, Identität oder das generellen Wohlbefinden des Benutzers diskutiert. User Experience, was auf deutsch soviel wie „Benutzungserlebnis“ bedeutet, beschäftigt sich mit diesen neuen Aspekten, aber auch mit klassischen Problemen der Usability und des Designs. Die User Experience ist ein relativ junger Ansatz und ein wichtiges Thema bei der Entwicklung von interaktiven Produkten. Da sie ein multidisziplinäres Forschungsgebiet ist, tritt sie stark in Bereiche wie Marketing, Psychologie, Soziologie, Computerwissenschaft, Grafikdesign und Informationstechnologie ein. Als Begriff wurde sie von Donald Norman geprägt (siehe Kapitel 3.2.1). Die User Experience ist ein ganzheitlicher Ansatz, der alle Erlebnisse des Benutzers bei der Verwendung eines Produktes umfasst. Diese Erlebnisse fangen beim Kauf des Produktes an und gehen über den Gebrauch bis hin zum Upgrade und Support [Wagner 2012]. Das Benutzungserlebnis ist ein wichtiges Thema in der MenschComputer-Interaktion. Es spielt bei der Produktentwicklung eine wichtige Rolle, © Jamal Mohsen 1 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 1 Einleitung weil einige dieser Produkte einen so hohen Grad technischen Fortschritts erreicht haben, dass ihre gute Gebrauchstauglichkeit nicht mehr ausreichend ist, um mit anderen Produkten zu konkurrieren. Deswegen ist die Suche nach neuen potentiellen Wettbewerbsvorteilen von Bedeutung. Die User Experience bietet eine Möglichkeit dazu. Ziel der Arbeit ist die Diskussion, ob die User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns darstellt. Um dieses Ziel zu erreichen, wird diese neue Thematik in verschiedenen Facetten vorgestellt. Es werden die wichtigsten Kriterien, Modelle, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience präsentiert. Eine Anmerkung zur Nutzung der Geschlechtsform: Für die bessere Lesbarkeit der Arbeit verwende ich nur eine Form von Personenbezeichnungen. Hier möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass sowohl die weibliche als auch die männliche Form gemeint ist. © Jamal Mohsen 2 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign 2 Interaktionsdesign Interaktionsdesign ist ein „Interdisziplinäres Gebiet, vor allem aus Informatik und Design entwickelt, das sich mit der Gestaltung multimedialer, interaktiver Systeme und dort insbesondere mit der Gestaltung der Benutzungsschnittstelle beschäftigt“ ([Herczeg 2007], S. 261). 2.1 Gestaltung der Benutzungschnittstelle Eine Benutzungsschnittstelle ist das Bindeglied, das die Interaktion zwischen Benutzer und Anwendungsprogramm ermöglicht und den Austausch von Informationen steuert [Schneider 1997]. Ein Benutzer verwendet die Benutzungsschnittstelle, weil er bestimmte Ziele hat und vom System erwartet, dass es ihm dabei hilft, diese zu erreichen [Moser 2012]. Zum Beispiel möchte er ein Dokument drucken, einen Text schreiben oder wissen, wie viel Einwohner es in einer Stadt gibt. Die Aufgabe des Interaktionsdesigns ist es, eine Benutzungsschnittstelle zu gestalten, mit der ein Benutzer seine Ziele auf eine möglichst effiziente, effektive und zufriedenstellende Art erreichen kann [Moser 2012]. In der Gestaltung der Benutzungsschnittstelle (Seite der Entwickler) werden im ersten Schritt die Funktionsblöcke, die in den Anforderungen zusammengehören, definiert. In diesem Fall werden beispielsweise die Eingabeformulare, Datenlisten oder Suchmasken identifiziert. Dann werden diese Blöcke auf verschiedene Eingabemasken verteilt. Danach werden die Funktionsblöcke in einem zweiten Schritte ausgearbeitet. Dazu werden die passenden Interaktionselemente zum Eingeben, Auswählen oder Anzeigen von Informationen auf dem Bildschirm ausgewählt. Die Entwicklung eines guten Interaktionsdesigns ist eine schwere und komplexe Aufgabe. Normalerweise besteht sie aus mehreren Iterationen. Deswegen ist es empfehlenswert, bis die Ideen eine gewisse Stabilität erreicht haben, mit Prototypen (z.B mit Papier) zu arbeiten. Mit Papier (Prototypen) können wir die Benutzungsschnittstellen einfacher anpassen oder ausarbeiten und deutlich schneller erstellen als mit echtem Programmcode oder in einem elektronischen Medium. Die Arbeit mit Prototypen hat viele Vorteile. Wir können zum Beispiel bereits früh Usability-Tests © Jamal Mohsen 3 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign durchführen; wir können damit sogar mehrere Lösungsmöglichkeiten finden [Moser 2012]. 2.1.1 Ablauf einer Interaktion Der Ablauf einer Interaktion zwischen einem Benutzer und einem interaktiven Produkt passiert immer in der gleiche Methode. Der Benutzer hat bestimmte Ziele und möchte sie mithilfe des Produkts erreichen. Normalerweise muss er mehrere Schritte ausführen, um an das Ziel zu gelangen: Der Benutzer führt den ersten Handlungsschritt (Aktion) aus und wartet auf die Reaktion des Systems. Verändert sich der Systemzustand, nimmt er diese Veränderung wahr. Dann interpretiert er diese und bewertet die Ergebnisse anhand der Ziele. Hier kommt die Frage: Hat er seine Ziele erreicht? Wenn ja, dann ist er fertig, und die Interaktion war erfolgreich. Wenn nein, wiederholt er diesen Prozess (nächsten Schritt ausführen, Status interpretieren, Ergebnisse bewerten) so lange, bis seine Ziele erreicht werden [Moser 2012]. Meistens können in der Praxis bei diesem Prozess Probleme auftreten. Dies ist der Fall, wenn der Benutzer nicht weiß, wie er fortfahren kann, oder wenn er auch nicht weiß, ob er seinen Zielen näher gekommen ist, oder er muss noch was tun. Nievergelt [Nievergelt 1983] hat dazu vier einfache Fragen gestellt, die diese Probleme jederzeit überprüfbar machen können. Diese Fragen werden als „4 Ws“ bekannt und später „Nievergelt’sche Fragen“ genannt. - Wo bin ich? (was zeigt mir der Bildschirm?, aktueller Systemzustand, aktuelle Objekte) - Was kann ich hier tun? (mögliche Operationen, Befehle, Interaktionselemente) - Wie kam ich hierher? (vielleicht habe ich eine falsche Taste gedrückt oder eine falsche Operation ausgeführt) - Wohin kann ich sonst noch gehen? (was sind die alternativen Handlungsfelder?) Diese Fragen entscheiden über den Erfolg bzw. Misserfolg der Interaktion mit der Software. Wenn der Anwender jederzeit in der Lage ist, sich diese Fragen zu beantworten, dann reden wir von erfolgreicher Interaktion (vgl. [Nievergelt 1983]). 2.1.1.1 „Human action cycle“ von Norman Norman [Norman 1988], der amerikanische Psychologe, hat für den Ablauf der Interaktion zwischen Menschen und technischen Geräten sieben Schritte unterschieden: © Jamal Mohsen 4 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign 1- Das Ziel formulieren 2- Die Intention (Absicht) formulieren 3- Eine Handlung spezifizieren 4- Eine Handlung ausführen 5- Den Systemzustand wahrnehmen 6- Den Systemzustand interpretieren 7- Das Ergebnis auswerten (Vergleich des erreichten Zustands mit den Zielen) Das Modell des „Human action cycle“ besteht aus diesen sieben Schritten, welche in drei Phasen unterteilt sind. Dabei gehören die Stufen 2 bis 4 zur Ausführungsphase und die Stufen 5 bis 7 zur Auswertungsphase. Die Zielformulierungsphase Am Anfang jeder Interaktion wird ein Ziel definiert, welches erreicht werden soll: Der Benutzer überlegt sich, was er mit Unterstützung eines interaktiven Systems machen möchte. Zum Beispiel möchte er eine Seite drucken oder eine Abbildung scannen. Die Ausführungsphase Nachdem der Benutzer gewisse Ziele formuliert hat, ist eine Handlungsintention entstanden. Der Benutzer muss bestimmte technische Geräte oder Computersysteme und ihre wichtigsten Funktionen kennen, um zu wissen, welche Aktivitäten für ihn zur Verfügung stehen. Nachdem der Benutzer sich für ein Computersystem oder ein technisches Gerät entschieden hat, plant er eine logische Sequenz von Handlungsschritten, mit welchen das Ziel erreicht werden soll. Anschließend beginnt er diese auszuführen. Die Auswertungsphase Wenn die Ausführungsphase fertig ist, also die geplanten Aktionen durchgeführt sind, reagiert das System aufgrund der Aktionen; der Systemzustand wird geändert. Der Benutzer bekommt eine Rückmeldung dieser Veränderung. Der Benutzer nimmt diese Rückmeldung wahr. Anschließend interpretiert er diesen neuen Zustand. Und schließlich wird dieser vom Benutzer bewertet, das heißt, mit dem gewünschten Ziel verglichen. Dieser Ablauf (drei Phasen) wiederholt sich so lange, bis die Ziele erreicht wurden. © Jamal Mohsen 5 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Norman hat in der Ausführungsphase und auch in der Auswertungsphase verschiedene Klüfte festgestellt: Kluft der Ausführung In der Phase der Ausführung kann es zu Problem kommen, dass der Benutzer vor der Schwierigkeit steht, seine Intention mit den realisierbaren, physischen Aktionen umzusetzen. Beispielsweise dann, wenn der Benutzer nicht weiß, welche Aktionen er ausführen muss, um seine Ziele zu erreichen. Oder wenn das System selbst diese notwendigen Aktionen nicht bietet. Dieses Problem wird von Norman unter dem Begriff Kluft der Ausführung zusammengefasst. Kluft der Auswertung In der Auswertungsphase kann das Problem auftreten, wenn der Benutzer den Systemzustand nicht so erfassen kann, wie es notwendig wäre. Gleichzeitig liefert das System kein ausreichendes Feedback. Es stellt sich immer die Frage, wird der Systemzustand richtig interpretiert? Wurde das gewünschte Ziel erreicht? Norman fasst diese Probleme unter dem Begriff Kluft der Auswertung zusammen. 2.1.1.2 Design-Prinzipien von Norman Um die Klüfte bei der Ausführung und der Auswertung zu überwinden, stellt Norman zu seinem Modell sechs Designprinzipien vor [Norman 2005]: Sichtbarkeit Die relevanten Teile der Software sollen zum richtigen Zeitpunkt für den Benutzer deutlich und gut sichtbar sein. Damit er stets deutlich erkennen kann, wo er sich befindet, welche Möglichkeiten er hat und wie er fortfahren kann. Aktion und Wirkung In der Interaktion soll jedes Element klar erkennbar sein, wie und wofür es benutzt wird. Zum Beispiel können benannte Buttons sehr hilfreich sein. © Jamal Mohsen 6 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Feedback Das System soll nach jeder ausgeführten (im Erfolgs- wie auch im Misserfolgsfall) Aktion unmittelbare Informationen ausgeben. Einschränkungen Das System soll nur zulässige und sinnvolle Optionen ermöglichen. Alle anderen sollen vom System ausgeblendet oder gesperrt werden, damit das System den Benutzer bei seiner Zielerreichung unterstützen kann. Konsistenz Gleiche oder ähnliche Aufgaben und Interaktionen sollen mit gleichen oder ähnlichen Objekten, Elementen und Operationen durchgeführt werden können, um die Erlernbarkeit zu verbessern. Affordance Die Übersetzung des Begriffs Affordance ist Angebot zur Nutzung. Damit meint Norman, dass bestimmte Interaktionselemente ein Angebot für eine bestimmte Nutzung darstellen sollen. 2.1.2 Interaktionsstile Nach Shneiderman [Moser 2012] gibt es vier wichtige Interaktionsstile für die Manipulation von Objekten an der Benutzungsschnittstelle: - Menüauswahl - Formulareingabe - Direkte Manipulation - Sprachsteuerung Ein geeigneter Interaktionsstil muss für jedes Softwareprodukt gewählt werden. Dabei spielen die vorhandenen Ein- und Ausgabemedien, das Umfeld und die Aufgabe eine wesentliche Rolle. Menüauswahl In Softwareprodukten mit Menüauswahl liest der Benutzer eine Liste von Einträgen oder Befehlen und wählt den für die Erledigung der Aufgabe passenden aus. © Jamal Mohsen 7 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Die Liste von Befehlen muss gut strukturiert und beschriftet werden, damit der Benutzer in wenigen Schritten mit geringem Merk- und Lernaufwand seine Ziele erreichen kann. Drop-Down-Menüs ist ein relevantes Beispiel. Sie werden oft benutzt, um nicht zu viel Bildschirmfläche zu verbrauchen. Menüauswahl hat wie andere Interaktionsstile Vor- und Nachteile: Vorteile: - Schnelle Erlernbarkeit. - Passt sehr gut für Anfänger und Fortgeschrittene. - Man braucht nicht so viele Tasten zu drücken. - Man kann schnell eine Entscheidung treffen, weil alle Auswahlmöglichkeiten auf einmal angezeigt werden. - Man kann lexikalische Eingabefehler durch vorgegebene Befehle vermeiden. Nachteile: - Kann den Benutzer verlangsamen, wenn er mehrere Listen durchlaufen muss, um eine Entscheidung zu treffen. - Skaliert sehr schlecht bei vielen Einträgen. - Braucht viel Platz auf dem Bildschirm und ist insbesondere für kleine Anzeigen nicht geeignet. - Die Darstellungsgeschwindigkeit muss sehr hoch sein. Formulareingabe Beim Interaktionsstil der Formulareingabe besteht die Benutzungsschnittstelle aus Feldbeschriftungen und den dazugehörigen Eingabefeldern. Wenn Daten eingegeben werden müssen, passt die Menüauswahl eigentlich nicht zu dieser Aufgabe, weil sie teilweise beschränkt ist, die Formulareingabe ist dann eher angemessen. Das Ausfüllen der Formulare wird in der Regel mit der Tastatur erfüllt. Der Benutzer kann dabei den Cursor zwischen den Feldern mit der TAB-Taste (geht auch mit der Maus) bewegen und mit der Eingabetaste (Enter-Taste) das Formular absenden. Der Benutzer muss die Feldbeschriftungen gut verstehen und mit den Fehlermeldungen gut umgehen können. Formulare spielen heute noch eine wichtige Rolle bei der Dateneingabe. © Jamal Mohsen 8 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Vorteile: - Die Dateneingabe ist effizient und einfach. - Benötigt nicht viel Training und ist schnell zu erlernen. - Feldbeschriftungen geben gute Unterstützung und dienen als Hinweise, die den Benutzer durch das Formular führen können. Nachteile: - Verbraucht Bildschirmfläche (benötigt viel Platz auf dem Bildschirm). Direkte Manipulation Unter direkter Manipulation wird die grafische Darstellung von Objekten und Funktionen des Anwendungsprogramms verstanden. Die Manipulation von Objekten erfolgt direkt am Objekt selbst. Bei dieser Art von Interaktion sind die Fehlermöglichkeiten sehr hoch. Deswegen sollten alle Funktionen rückgängig gemacht werden können. Die Voraussetzung für die direkte Manipulation ist die Verfügbarkeit eines Zeigegeräts (Maus) zur Anwahl von Objekten. Vorteile: - Schnell zu erlernen. - Keine oder wenige Gedächtnisbelastungen. - Alle Objekte und Tätigkeiten werden visuell klar auf dem Bildschirm repräsentiert. - Einfache Fehlervermeidung durch das direkte Anzeigen von Ergebnissen - Fördert die Exploration. Nachteile: - Schwer und aufwändig zu programmieren. - Passt nicht gut für kleine Anzeigen. - Passt nicht gut für Experten. © Jamal Mohsen 9 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Sprachsteuerung Sprachsteuerung kann entweder durch natürliche Sprache oder eine Befehlssprache geschehen. Da Natürliche Sprachen nicht erlernt werden müssen, haben sich in letzter Zeit viele Forscher und Entwickler im Bereich NLP1 damit beschäftigt, dass Computer natürliche Sprachen gut verstehen und auf beliebige natürlichsprachliche Sätze richtig antworten können. Trotzdem ist es noch immer sehr aufwändig für Computer, sie zu verstehen. Befehlssprachen hingegen sind für die Verständigung mit dem Computer einfach, haben eine feste Struktur und reduzierte Gruppen von Befehlen. Die Vorteile und Nachteile der Befehlssprachen sind: Vorteile: - Flexibel für Experten. - Erfordern keine speziellen Eingabegeräte. Nachteile: - Schwache Fehlerbehandlung und hohe Fehlermöglichkeiten. - Erfordern hohen Lernaufwand, viel Training und ein gutes Gedächtnis. - Passen für Anfänger nicht gut. 2.2 Ein- und Ausgabemedien Die Ein- und Ausgabemedien spielen die Rolle des Konverters zwischen einem Menschen und einem Computer. Eingabegeräte übersetzen die Aktionen des Menschen in eine Form, welche für den Computer verständlich ist. Umgekehrt wandeln Ausgabemedien die Reaktion des Computers in eine für Menschen verständliche Form um. Die Auswahl der geeigneten Ein- und Ausgabegeräte hängt von verschiedenen Faktoren ab. Moser äußerte: „Jedes Medium hat Vorteile und Nachteile. Seine Wahl muss auf die Aufgabe abgestimmt werden“ ([Moser 2012], S. 132). Bei der Wahl eines passenden Eingabegeräts spielen das Design und die Funktion des Geräts sowie die äußeren Umstände eine entscheidende Rolle [Preim/Dachselt 2010]. Beispielsweise wäre für das Informationsterminal an einem Bahnhof wahrscheinlich eine Touchscreeneingabe und eine vandalismussichere Tastatur eine gute Lösung. Und für kleine mobile Geräte wäre eine Stifteingabe am besten geeignet. 1 Natural Language Processing © Jamal Mohsen 10 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign 2.2.1 Tastatur und Maus In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Eingabegeräten entwickelt worden. Trotzdem sind Tastatur und Maus immer noch die Standard-Eingabegeräte. Sie sind weltweit die am meisten verwendeten Eingabegeräte. An erster Stelle kommt die Tastatur, gefolgt von der Maus [Moser 2012]. Alle modernen Firmen, wie z. B. Apple und Microsoft, haben ihre Betriebssysteme für diese Eingabegeräte optimiert. Die Tastatur Die Tastatur ist das Standard-Eingabegerät, um alphabetische und numerische Daten einzugeben. Die heutigen Rechnertastaturen ähneln sehr den im 19. Jahrhundert entstehenden Schreibmaschinen. Das heute verbreitete Tastatur-Layout geht auf den Herausgeber und Erfinder Christopher L. Sholes zurück, der etwa im Jahr 1870 die erste erfolgreiche Schreibmaschine entwickelte [Preim/Dachselt 2010]. Die bekanntesten heutigen Tastatur-Layouts werden QWERTZ bzw. QWERTY genannt. Sie haben ihre Namen von der Reihenfolge der Buchstaben in der obersten Buchstabenzeile. Die Maus Die Maus ist das Zeigegerät, das weltweit am weitesten verbreitet ist und genutzt wird. In den 1960er Jahren wurde sie als billige Alternative zu Stiften entwickelt. Im Vergleich zu einem Stift war sie im Allgemeinen weniger umständlich und ermüdend zu bedienen [Engelbart/ English 1968]. Dieses Zeigegerät konnte damals durch zwei Räder, die sich an der Unterseite der Maus befanden, in x- und y-Richtung vorund zurückbewegt werden (Abbildung 2.1). Die Bewegung der Maus erfolgt mit der Hand durch das Verschieben des Geräts auf dem Schreibtisch oder auf einer entsprechenden Unterlage, so dass ein Cursor auf dem Bildschirm gesteuert wird. Die Aufgabe der Maus ist es, Elemente oder Regionen einer Benutzungsschnittstelle zu selektieren, zu aktivieren bzw. zu manipulieren. Im Laufe der Jahre wurde die Funktionalität sowie das Aussehen der Maus stark verbessert. Die Ergonomie führte zur Veränderung der äußeren Form des Geräts, sodass man die Maus gut und bequem anfassen kann [Preim und Dachselt 2010]. Die Anzahl der Maustaten und ihre Anordnung haben sich auch im Laufe der Zeit immer weiter verändert. Heutzutage hat jede Maus mindestens zwei Mausknöpfe. Die linke Maustaste ist nötig, um ein Element auf der Benutzerschnittstelle zu selektieren oder einen Befehl auszulösen. Durch das Drücken der rechten Maustaste © Jamal Mohsen 11 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Abbildung 2.1: Unterseite der Maus [Engelbart/English 1968]. kann der Benutzer ein kontextabhängiges Menü, welches verschiedene Befehle zu gewählten Objekten hat, aktivieren. Der Mauszeiger ist normalerweise ein Pfeil. Aber er verwandelt sich in eine andere Form (z. B. in eine Hand oder ein Fadenkreuz ), um anzuzeigen, dass an dieser Stelle eine spezielle Funktion ausgeführt werden kann. Zum Beispiel ändert er sein Aussehen innerhalb eines Textfeldes, um dem Benutzer anzuzeigen, dass er einen Cursor setzen oder einen Abschnitt auswählen kann. Es ist auch möglich, dass ein Interaktionselement seine Form oder seine Farbe ändert, sobald sich der Mauszeiger über ihm befindet. Dies ist der Fall, wenn dieses Objekt mit der Maus geklickt werden kann. Dieses Verhalten des Elements wird HoverEffekt genannt. Eine andere Besonderheit heißt Tooltips: Sie sind Hilfetexte, die angezeigt werden, wenn der Mauszeiger für einige Sekunden über einem Element platziert wird. 2.2.2 Touch und Multitouch Touchscreens haben eine Revolution in der Technologiewelt ausgelöst. In den letzten Jahren wurden bereits fast alle neuen Bildschirme mit Multitouch-Funktionen ausgerüstet. Wir können beispielsweise Smartphones oder Tablet-PCs von Touchscreens nicht mehr trennen. Auch werden Computer- und Laptopbildschirme immer mehr mit Touch-Funktionen ausgestattet. Touchscreens sind Bildschirme, welche eine besondere berührungsempfindliche Oberfläche besitzen. Unter Berührung versteht man, dass ein physischer Kontakt der Finger mit der Oberfläche hergestellt werden muss. Das Erkennungssystem kann die berührten Punkte ermitteln [Dorau 2011]. Im Vergleich zur Maus kann ein Multitouch- © Jamal Mohsen 12 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Screen mehrere Berührungspunkte gleichzeitig erkennen. So kann man zum Beispiel ein Bild mit zwei Fingern vergrößern, verkleinern oder auch umdrehen. Die direkte Manipulation spielt eine wichtige Rolle bei einem Touch-Bildschirm. Das heißt, dass der Benutzer die am Bildschirm angezeigten Objekte mit dem Finger direkt tippen, verschieben, drehen oder mehrere auswählen kann. Sollen alle Interaktionen rückgängig gemacht werden können? Mit der Maus kann der Benutzer von Tooltips und Hover-Effekten profitieren. Er kann vor dem Auslösen wissen, was passiert, wenn er ein Element anklickt. Touch-Bildschirme haben zum Einen diese Besonderheit nicht, und zum Anderen ist die Selektionsgenauigkeit gering, weil die Fingerkuppe relativ groß ist (im Vergleich zum pixelgenau platzierten Mauszeiger). Deswegen macht es Sinn, wenn alle Interaktionen rückgängig gemacht werden können, um die Fehlermöglichkeiten zu vermindern [Moser 2012]. Minimale Elementgrößen Abbildung 2.2: Minimalgrößen für berührbare Elemente [Moser 2012]. Wenn der Benutzer ein Objekt berühren möchte, wird oft das ganze Objekt mit der Fingerkuppe überdeckt. Es kann auch sein, dass der Benutzer ein anderes Objekt falsch selektiert, falls es keinen genügenden Abstand zwischen den Objekten gibt oder sie zu klein sind. Die Minimalgröße eines Objekts sowie der Abstand zwischen den Objekten wurden im Jahr 2006 in einer empirischen Studie untersucht [Parhi/Karlson/Bederson 2006]. Bei der Studie kam zusammenfassend heraus, dass beim Erstellen der Interaktionselemente fünf Grundregeln berücksichtigt werden müssen: 1- Die Größe der normalen Objekte soll mindestens 9 mm sein. © Jamal Mohsen 13 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign 2- Die wichtigen Objekte sollen größer als die normalen Objekte (größer als 9 mm) sein. 3- In Ausnahmefällen kann die Größe des Objekts mindestens 15mm betragen. 4- Die Objekte sollen ausreichende Abstände voneinander haben, um die Treffsicherheit zu verbessern. 5- Die Minimalgröße des visuellen Teils eines Objekts soll mindestens 4,2 mm betragen. Sonst kann der Benutzer dieses Element nicht berühren. 2.3 Interaktionsmuster „Interaktionsmuster sind Bausteine des Designs, die modular kombiniert werden können. Dies spart Zeit, schafft Konsistenz und steigert die Qualität“ ([Moser 2012], S. 138). Wenn wir verschiedene Arten von Anwendungsprogrammen ansehen, stellen wir fest, dass die Interaktionen, die in dieser Software genutzt werden, sich bis zu einem gewissen Grad ziemlich ähnlich sind, obwohl sie sehr unterschiedliche Aufgaben und Ziele haben. Bei Videoprogrammen muss der Benutzer Videos, die er anschauen möchte, aus einer Liste auswählen. Genauso muss er bei Buchhaltungsprogrammen Berichte, die er ausdrucken möchte, aus einer Liste auswählen. Die beiden Systeme sind sehr unterschiedlich in ihren Aufgaben und Zielen, trotzdem haben sie eine ähnliche Lösung für diese Interaktion: Auswahl der Elemente aus einer Liste. Die Lösung dieser Interaktion wurde mit der Zeit immer weiter optimiert und am Ende als Standardlösung benutzt. Die Standardlösung dieser Interaktion und auch die Lösungen anderer ähnlicher Problemstellungen werden als Interaktionsmuster bezeichnet [Moser 2012]. Interaktionsmuster haben unterschiedliche Stufen der Komplexität. Für einfache Interaktionen, wie z. B. das Ausführen eines Befehls, werden in der Regel fertige Interaktionselemente wie der Button, das Kontextmenü oder die Toolbar benutzt. Komplexe Interaktionsmuster sind oft eine Kombination aus mehreren einfachen Mustern. Die Manipulation von Daten kann beispielsweise mit Hilfe von mehreren Standardlösungen wie Kopieren, Einfügen, Undo oder Redo erledigt werden. Beim Aufbauen eines Interaktionsdesigns sind Interaktionsmuster sehr hilfreich. Einerseits können sie die Arbeit des Designers erleichtern, weil er nicht ständig etwas Neues erfinden muss. Andererseits können sie dem Benutzer helfen, da er solche Abläufe oder Applikationen in anderen Softwareprodukten bereits verwendet hat [Moser 2012]. © Jamal Mohsen 14 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign 2.4 Interaktionselemente Interaktionselemente sind alle Elemente, mit denen der Benutzer interagieren kann. Es gibt eine große Vielfalt an Interaktionselementen, wobei jedes Element seinen eigenen Verwendungszweck hat. Für die Auswahl von Daten stehen die Check-Box, die List-Box, der Radio-Button oder das Drop-Down-Menü zur Verfügung (Abbildung 2.3). Bei der Entwicklung einer Plattform wie Windows oder Android werden für viele Interaktionsmuster fertige Interaktionselemente eingesetzt. Das liegt daran, dass die fertigen Interaktionselemente einerseits gut getestet sind und andererseits einen großen Funktionsumfang haben. Abbildung 2.3: Auswahl von Daten [Moser 2012]. 2.4.1 Anordnung von Interaktionselementen 1. Funktionsblöcke anordnen Abbildung 2.4: Die wichtigsten Elemente einer Webseite [Moser 2012]. Beim Erstellen einer Benutzungsschnittstelle oder einer Webseite sollen die wichtigen Funktionsblöcke (Suchmasken, Navigation, Toolbars oder Menüleisten) so angeordnet werden, wie sie gesucht werden. Sie sollen sich möglichst immer am gleichen Ort © Jamal Mohsen 15 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign befinden. Das Suchfeld befindet sich beispielsweise in vielen Webseiten oben rechts (vgl. Abbildung 2.4). Die dem Benutzer vertraute Anordnung spart viel Zeit und senkt den Lernaufwand einer neuen Software oder Webseite. 2. Den Wirkungsbereich aufzeigen Jedes Interaktionselement hat seinen eigenen Verwendungszweck. Es gibt beispielsweise Buttons für die Eingabe, für die Bestätigung oder für das Löschen von Daten. Der Wirkungsbereich jedes Interaktionselements soll für den Benutzer klar sein. Dies ist besonders wichtig, wenn es auf einer Benutzungsschnittstelle mehrere ähnliche Elemente gibt. In Abbildung 2.5 gibt es zwei Löschen-Buttons. Also soll für den Anwender eindeutig sein, welcher Button auf den einzelnen Eintrag und welcher auf den ganzen Datensatz wirkt. Abbildung 2.5: Wirkungsbereichsbeispiel [Moser 2012]. 3. Elemente gruppieren Nach Miller [1956] kann der Mensch gleichzeitig höchstens 7 ± 2 Elemente in seinem Kurzzeitgedächtnis erfassen. Das heißt, der Benutzer kann bis zu sieben Elemente auf einen Blick bemerken. Jedes weiteres Element muss einzeln durchgesehen werden. Dies ist deutlich umständlicher und braucht mehr Zeit. Deswegen sollen je fünf bis maximal neun Elemente unter einem Titel gruppiert werden. In diesem Fall sollen die Benutzer anstatt n Elemente nur log(n) durchsuchen [Moser 2012]. 4. Abhängigkeiten anzeigen In einigen Fällen hängen Interaktionselemente von anderen Elementen ab. Diese Abhängigkeiten sollen für den Benutzer deutlich sichtbar sein: Beispielsweise ist in © Jamal Mohsen 16 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Abbildung 2.6: Abhängigkeitsbeispiel [Moser 2012]. Abbildung 2.6 für den Benutzer klar, dass die Radio-Buttons von der Checkbox abhängen. Und sie werden nur dann aktiv, wenn die Checkbox ausgewählt ist. 5. Die natürliche Leserichtung unterstützen Wenn wir ein Dokument lesen möchten, fangen wir oben links an und enden unten rechts. Interaktionselemente müssen diese Leserichtung berücksichtigen. Der Ablauf einer Interaktion soll oben links anfangen und unten rechts enden (Abbildung 2.7). Falls die Software für Sprachen, die eine andere Leserichtung haben, entwickelt wird, soll dies im Design angepasst werden. Abbildung 2.7: Leserichtung des Dialogs [Moser 2012]. 2.5 Leitideen des Interaktionsdesigns Innerhalb des Entwicklungsprozesses eines interaktiven Produkts treten spezifische Probleme auf. Um eine Lösung für diese Probleme zu finden, verfolgen Interaktionsdesigner bestimmte Leitideen oder Methoden. © Jamal Mohsen 17 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 2 Interaktionsdesign Die Lösungen, welche diese Leitideen anbieten, sind immer benutzerzentriert [Göldner 2014]. Sie gehen davon aus, dass der Benutzer mit seinen Aufgaben, Zielen und Eigenschaften in den Mittelpunkt gestellt werden muss, was bedeutet, dass der Interaktionsdesigner bei jedem Schritt der Produktentwicklung an den Benutzer denken soll. Die Gestaltung früher Prototypen wie beispielsweise interaktive Demos oder Bedienteile sind ein wichtiger Teil des Designprozesses [Göldner 2014]. Damit kann der Interaktionsdesigner sein Konzept mit Hilfe von Benutzern auf seine Benutzbarkeit überprüfen. Der Designprozess eines Produkts erfolgt normalerweise in sechs aufeinanderfolgenden Phasen [Moser 2012]. Diese Phasen oder Schritte variieren je nach Benutzerfeedback und Häufigkeit der Iterationsstufen. © Jamal Mohsen 18 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability 3 User Experience und Usability In der Literatur gibt es keinen einheitlichen Begriff für User Experience, und jeder Autor oder Wissenschaftler benutzt seinen eigenen Begriff. Bis jetzt finden sich viele Begriffe im Zusammenhang mit der User Experience, wie beispielsweise joy of use, emotional design, emotional experience und pleasurable design (für weitere analog benutzbare Begriffe siehe [Reeps 2004], S. 5). In dieser Arbeit werde ich den Begriff User Experience benutzen. Da viele Wissenschaftler User Experience (UX) als eine Erweiterung des traditionellen Usability-Konzept sehen, möchte ich in Kapitel 3.1 einen Überblick über das Thema Usability geben. In Kapitel 3.2 werde ich die Bedeutung von User Experience vorstellen, damit der Leser darin einen guten Einblick hat. Im Anschluss werde ich in Kapitel 3.3 die beiden Themen (Usability und User Experience) vergleichen. Abschließend möchte ich in Kapitel 4.4 die Einflussfaktoren auf die User Experience darstellen. 3.1 Usability Der Begriff Usability lässt sich übersetzen mit Benutzungsfreundlichkeit oder Gebrauchstauglichkeit (Leo Deutsch-Englisch Wörterbuch). In [Lessiak 2007] wurde der Term Benutzerfreundlichkeit als die Übersetzung des Begriffs Usability nicht akzeptiert, weil die Benutzung dieses Begriffs in der deutschen Werbung seiner inhaltlichen, geeigneten Bedeutung entführt wurde. Deswegen wird die Nutzung des Terms Gebrauchstauglichkeit empfohlen. In dieser Arbeit werde ich die beiden Terme Usabiliy und Gebrauchstauglichkeit benutzen. Doch was meint dies genau? Was ist Usability? Gebrauchstauglichkeit ist ein Qualitätsmerkmal eines Systems oder Softwareprodukts, mit dem der Benutzer seine Aufgabe erledigen und seine Ziele auf eine möglichst effiziente, effektive und zufriedenstellende Art erreichen kann. Genauer haben Nielsen und Loranger es wie folgt definiert: © Jamal Mohsen 19 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability „Usability ist ein Qualitätsmerkmal, wie einfach etwas zu bedienen ist. Es geht genauer darum, wie schnell Menschen die Benutzung eines Gegenstandes erlernen können, wie effizient sie während seiner Benutzung sind, wie leicht sie sich diese merken können, wie fehleranfällig der Gegenstand ist und wie er den Nutzern gefällt. Wenn die Nutzer einen Gegenstand weder nutzen möchten noch können, bräuchte er eigentlich gar nicht zu existieren“ ([Nielsen/Loranger 2006], S. xvi). Um ein Produkt als gebrauchstauglich zu bezeichnen, muss es gewisse Eigenschaften erfüllen. Diese Eigenschaften werden in der Norm ISO 9241 beschrieben; sie wurde im Rahmen der International Standards Organisation (ISO) entwickelt, um Qualitätsrichtlinien zur Sicherstellung der Ergonomie interaktiver Systeme zu beschreiben. Sie wurde erstmals mit dem Titel „Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten“ genannt. Im Jahr 2006 wurde sie in „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“ geändert, um die Büroarbeiten zu organisieren und die darauf bestehenden Einschränkungen auszuschließen [Rampel 2007]. Die ISO Norm 9241 gliedert sich in insgesamt 17 Abschnitte, wobei sich die Abschnitte 1 bis 9 primär auf hardware-ergonomische Aspekte und die Abschnitte 10 bis 17 auf software-ergonomische Aspekte konzentrieren [Gotthartsleitner/Eberle/Stary 2009]. Bezogen auf diese Arbeit sind die Abschnitte 10 und 11 interessant. Im Abschnitt 11 wird Gebrauchstauglichkeit folgendermaßen definiert: „das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Benutzer in einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen“ ([Herczeg 2009], S. 160). Die wiederholte Benutzung des Wortes bestimmt zeigt, dass es in der Praxis keine generell gültigen Normen gibt, mit denen man eine hohe Usability erreichen kann. Die Elemente dieser Definition führen zu Fragen nach den wichtigen Aspekten bei der Entwicklung eines interaktiven Produktes: Für welche Art von Benutzer würde man das Produkt entwickeln und was ist ihr Vorwissen? Wie alt sind sie? Wird die Software auf einem Computer oder auf einem mobilen Gerät benutzt? Die in einer frühen Phase einer Entwicklungsperiode genauen Antworten auf diese Fragen führen später zur hohen Gebrauchstauglichkeit des entwickelten Produktes. In anderen Worten sollen die richtigen Antworten zur effektiven, effizienten und zufriedenstellenden Gestaltung des interaktiven Produktes führen [Lessiak 2007]. © Jamal Mohsen 20 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Basiskriterien der Usability Nach der obigen Definition (ISO 9241-11) gibt es drei Leitkriterien oder Maße für die Gebrauchstauglichkeit der Software: Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit. Die drei Leitkriterien werden in einem Benutzungsrahmen gestellt (Abbildung 3.1). - Effektivität heißt, dass die vorliegenden Ziele des Benutzers vollständig, korrekt und genau erreicht werden. - Effizienz bedeutet, dass die erreichte Genauigkeit und Vollständigkeit bei der Zielerledigung möglichst mit weniger Schritte bzw. mit einem vertretbaren Aufwand erfüllt wird. - Zufriedenheit bedeutet, dass die Anwendung des Produkts frei von Beeinträchtigungen ist und bei dem Benutzer positive Reaktionen auslöst [Herczeg 2009]. Die Leitkriterien hängen voneinander ab. Das bedeutet, dass es ohne Effektivität keine Effizienz gibt, und ohne Effizienz gibt es keine Zufriedenheit. Abbildung 3.1: Nutzungsrahmen für die Usability nach ISO 9241-11 [Herczeg 2009]. © Jamal Mohsen 21 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Abbildung 3.1 zeigt, dass die Nutzung des Produktes im Nutzungskontext die drei Leitkriterien reflektiert; die Leitkriterien geben den Grad an, in dem die gewünschten Ziele effektiv, effizient und zufrieden erreicht werden. Der letzte Punkt, die Zufriedenheit also die positive Reaktion des Benutzers gegenüber dem interaktiven Produkt, geht schon ein bisschen in Richtung der User Experience. Später wird dieses Thema noch ausführlicher behandelt. Grundsätze der Dialoggestaltung Die Grundsätze der Dialoggestaltung beziehen sich auf die Interaktion des Benutzers mit dem Softwareprodukt. Im Rahmen der Standardisierung wurden solche Grundsätze in der ISO 9241 Teil 10 (veraltet, da seit 2006 ersetzt durch Teil 110) beschrieben. Obwohl diese Grundsätze oder Kriterien voneinander abhängig sind, lassen sie sich aber genug differenzieren, so dass sie eine wichtige Rolle bei der Analyse und Evaluation von Benutzungsschnittstellen spielen. Nach ISO 9241-110 werden folgende Dialogkriterien genannt (vgl. [Herczeg 2009] und [Triebe/Wittstock 1998]): 1- Aufgabenangemessenheit Als aufgabenangemessen wird ein interaktives System bezeichnet, welches den Benutzer hilft, ohne Belastung durch spezielle Eigenschaften seine Aufgaben effektiv und effizient also vollständig, korrekt und mit einem günstigen Verhältnis von Aufwand und Ergebnis zu erledigen. Dieser Grundsatz stützt die beide Leitkriterien Effektivität und Effizienz im Bezug auf die Erledigung von Aufgaben. 2- Selbstbeschreibungsfähigkeit Ein interaktives System wird als selbstbeschreibungsfähig klassifiziert, wenn der Benutzer den Systemzustand jederzeit erfassen kann. Das heißt, dass er jederzeit nachvollziehen kann, wo oder an welcher Stelle des Programms er sich befindet. Darüber hinaus muss das System ausreichende Rückmeldungen und Erläuterungen, welche für den Benutzer verständlich sind, unmittelbar oder auf Anfrage liefern. Bei der Gestaltung von Erläuterungen und Rückmeldungen müssen verschiedene Sachen beachtet werden. Zum Beispiel müssen sie an die Vorkenntnisse des Benutzers angepasst werden. © Jamal Mohsen 22 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability 3- Erwartungskonformität Ein interaktives System muss so gestaltet sein, dass es einerseits den Erwartungen des Benutzers entspricht und andererseits auch eindeutig für ihn ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Benutzer jederzeit in einer einheitlichen Form die Möglichkeit hat, den Systemzustand zu ändern. Oder auch, wenn die Dialogschritte und die Wirkung der ähnlichen Aufgaben immer einheitlich sind. Wenn ein Computersystem so gestaltet ist, dann entspricht es dem Kriterium der Erwartungskonformität. 4- Lernförderlichkeit Lernförderlichkeit eines interaktiven Systems liegt vor, wenn das System den Benutzer beim Erlernen der Systemfunktionen anleitet und unterstützt. Ein Beispiel dafür wäre, wenn die Lernstrategien wie Lernen am Beispiel innerhalb des Dialogablaufs verwendet werden. 5- Steuerbarkeit Ein interaktives System ist steuerbar, wenn der Benutzer in der Lage ist, es zu kontrollieren (nicht das System den Benutzer kontrolliert). Das bedeutet, dass der Benutzer die Richtung und die Geschwindigkeit des Dialogablaufs beeinflussen kann. Eine Undo-Funktion einer Software wäre ein relevantes Beispiel. 6- Fehlertoleranz Ein interaktives System ist fehlertolerant, wenn es den Benutzer unterstützt, einerseits die Benutzungsfehler zu vermeiden, zum Beispiel durch deutlich verständliche Sicherheitsabfragen, andererseits im Fehlerfall, die gemachten Fehler mit keinem oder minimalem Korrekturaufwand aufzuheben. Bietet ein interaktives System zum Beispiel eine Korrekturfunktion von Eingaben, so ist dies im Sinne der Fehlertoleranz. 7- Individualisierbarkeit Ein interaktives System muss sich sowohl auf die individuellen Fähigkeiten und Vorlieben des Benutzers als auch auf die Erfordernisse der Aufgabe einstellen lassen können. Die Möglichkeit zur Änderung der Schriftfarbe und der Schriftart bietet ein gutes Beispiel für die Individualisierbarkeit. © Jamal Mohsen 23 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability 3.2 User Experience „User experience encompasses all aspects of the end-user’s interaction with the company, its services, and its products“ ([Norman/Nielsen 2010]). 3.2.1 Überblick Geschichtlich war schon in den 1970er Jahren der erste Auftritt der Bezeichnung User Experience (deutsch Benutzungserlebnis) „für die praktischen Erfahrungen und Erlebnisse bei der Benutzung eines interaktiven Systems“ ([Jetter 2006], S. 3). Danach hat Donald Norman im Jahr 1993 User Experience als Begriff geprägt; er bezeichnete seine berufliche Stellung bei Apple mit User Experience Architect. Da Norman eine Stellung innerhalb der Human-Computer-Interaction (HCI) Gemeinschaft besitzt, verbreitete sich der Begriff sehr schnell [Knemeyer/Svoboda 2005]. Donald Norman verdeutlichte 1998 seine Motivation zur Erfindung des Begriffs User Experience in einer Mail Konversation mit Peter Merholz. Donald Norman: „I invented the term because I thought human interface and usability were to narrow. I wanted to cover all aspects of the persons experience with the system including industrial design, graphics, the interface, the physical interaction and the manual. Since then, the term has spread widely. So much, so that it is starting to lose its meaning“ [Jordans 2008]. Ausgehend von dieser Mail ist es zu erahnen, dass es hier um einen mehrschichtigen Begriff geht. Auch Hans-Christian Jetter äußerte, dass die Bedeutung der User Experience nicht nur mit der „Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit bei der Benutzung von Anwendungen“ einzuschränken ist, sondern sie beinhaltet noch wichtige Merkmale wie die hedonische und emotionale Qualität (emotionale Reaktionen des Benutzers), die eine wichtige Rolle spielen, den Umgang des Benutzers mit dem Produkt als angenehm zu bezeichnen ([Jetter 2006], S. 4). 3.2.2 Definition In der Literatur gibt es zahlreiche Definitionen der User Experience. Nach Hassenzahl et al. wurde die User Experience definiert als „all aspects of the user’s experience when interacting with the product, service, environment or facility. [...] It includes all aspects of usability and desirability of a product, system or service from the user’s perspective“ ([Hassenzahl/Burmester/Koller 2008], S. 78). © Jamal Mohsen 24 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Neben der Usability wird in dieser Definition über ein neues Konzept, die desirability gesprochen. Das hat zur Folge, dass Usability allein nicht ausreicht, um als Produkt im Massenmarkt zu bestehen. In anderen Worten gesagt: Alleine macht Usability kein Produkt wünschenswert. Ein Beispiel ist der Titel der Gestaltungsziele des UX-Teams von OpenOffice.org2 Usability, Productivity and Enjoyment. Auch hier ist Usability nicht das gesamte Ziel, sondern eine von drei Konzepten oder Zielen. Die selbe Perspektive kann man in der Erklärung von Nokia klar sehen: „[mobility] is about the delivery of personalized experiences, which add value and pleasure to daily lives“ ([Hassenzahl/Burmester/Koller 2008], S. 78). Im Jahr 2010 wurde User Experience in der ISO 9241-2103 folgendermaßen genormt: „Wahrnehmungen und Reaktionen einer Person, die aus der tatsächlichen und/oder der erwarteten Benutzung eines Produkts, eines Systems oder einer Dienstleistung resultieren“. Anmerkung 1: User Experience umfasst sämtliche Emotionen, Vorstellungen, Vorlieben, Wahrnehmungen, physiologischen und psychologischen Reaktionen, Verhaltensweisen und Leistungen, die sich vor, während und nach der Nutzung ergeben. Anmerkung 2: User Experience ist ein Folge des Markenbilds, der Darstellung, Funktionalität, Systemleistung, des interaktiven Verhaltens und der Unterstützungsmöglichkeiten des interaktiven Systems, des psychischen und physischen Zustands des Benutzers aufgrund seiner Erfahrungen, Einstellungen, Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit sowie des Nutzungskontextes. Anmerkung 3: Die Gebrauchstauglichkeit kann, sofern sie unter dem Blickwinkel der persönlichen Ziele des Benutzers interpretiert wird, die Art der typischerweise mit der User Experience verbundenen Wahrnehmungen und emotionalen Aspekte umfassen. Kriterien der Gebrauchstauglichkeit können angewendet werden, um Aspekte der User Experience zu beurteilen. 2 3 [Geis 2010]. https://www.openoffice.org/ux/ Die Nachfolgenorm der ISO 13407 zur benutzerzentrierten Gestaltung. © Jamal Mohsen 25 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Im Allgemeinen bedeutet das, dass User Experience die subjektiven Empfindungen und Reaktionen eines Benutzers, die vor, während und nach der Nutzung eines interaktiven Produkts entstehen, bezeichnet. Dies sind (nach der ersten Anmerkung) insbesondere Emotionen, Vorstellungen, Vorlieben, Wahrnehmungen und physiologische und psychologische Reaktionen,die aus der tatsächlichen und/oder der erwarteten Benutzung eines Produkts hervorgehen. Die zweite Anmerkung zählt die Faktoren, die diese Reaktionen beeinflussen können, auf. Im Anschluss wird Usability nach der dritten Anmerkung als ein Aspekt von User Experience dargestellt. 3.3 User Experience vs. Usability Meist wird über die Begriffe Benutzungserlebnis und Gebrauchstauglichkeit gleichzeitig gesprochen, da die beiden Begriffe eng verbunden sind. Dennoch kann man zwischen den beiden Begriffen leicht unterscheiden. Um den Unterschied zwischen der Gebrauchstauglichkeit und dem Benutzungserlebnis zu erklären, werde ich zunächst eine kurze Einleitung voranstellen. Die Interaktion zwischen einem Benutzer und einem Dienst oder Produkt erfolgt in drei Phasen (Abbildung 3.2): Abbildung 3.2: Ansatzpunkte von Usability und User Experience [Geis 2010]. 1- Phase vor der Nutzung: Beinhaltet die Erwartungen des Benutzers von einem Produkt. Hierbei spielen Aspekte wie Design und Marke eine wichtige Rolle. © Jamal Mohsen 26 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability 2- Phase während der Nutzung: Diese Phase bezeichnet die Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Produkt, die der Benutzer während der Nutzung gemacht hat. In dieser Phase können sowohl aufgabenorientierte Aspekte wie Aufgabenangemessenheit, Erlernbarkeit und Steuerbarkeit, als auch nicht-aufgabenorientierte Aspekte wie Freude auftreten. 3- Phase nach der Nutzung: Bezeichnet die vom Benutzer nach der Nutzung des Produkts gemachten Reflexionen. Diese Phase beinhaltet emotionale Aspekte wie Zufriedenheit, Glück oder Enttäuschung. Ausgehend von dieser Einleitung können wir sagen, dass die Gebrauchstauglichkeit nur in der zweiten Phase relevant ist. Außerdem beschreibt sie nur einen Teilbereich der Phase während der Nutzung, die aufgabenorientierte Aspekte beinhaltet. Das Benutzungserlebnis umfasst hingegen als gesamtes Erlebnis (Experience) alle drei Phasen. Es geht über den bloßen Umgang mit dem Produkt hinaus. Es befasst sich auch mit den emotionalen Aspekten, die vor, während und nach der Nutzung auftreten [Müller 2013]. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Gebrauchstauglichkeit und dem Benutzungserlebnis ist, dass bei der Gebrauchstauglichkeit die aufgabenbezogenen Aspekte wie die Bedienbarkeit und die Erlernbarkeit im Mittelpunkt stehen. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zur User Experience, bei der nicht aufgabenbezogene Aspekte wie Spaß, Freude und Schönheit in den Vordergrund treten (siehe Kapitel 4.1.1 und Kapitel 4.2). Ein weiterer Unterschied zwischen der Gebrauchstauglichkeit und dem Benutzungserlebnis ist die Subjektivität des Benutzungserlebnisses bzw. die Objektivität der Gebrauchstauglichkeit: Da Usability ursprünglich aus der Arbeitswissenschaft entstand, legt sie großen Wert auf Objektivität. User Experience hingegen legt großen Wert auf Subjektivität bzw. wahrgenommene Qualität. Nach Hassenzahl/Burmester/Koller [2008] ist Subjektivität eine wichtige Charakteristik des Benutzungserlebnisses, weil sie die zukünftige Nutzung des Produkts bestimmt. Das heißt, dass die wahrgenommene Qualität (die Subjektivität) bestimmt, ob der Benutzer ein Produkt ansprechend oder interessant findet und es in Zukunft gerne benutzen würde. Ein wichtiges Ziel der Gebrauchstauglichkeit ist es, Einschränkungen aufzuheben und Stress zu minimieren. Das führt aber nicht unbedingt zu Zufriedenheit oder positiven Erlebnissen. User Experience hingegen ist darauf ausgerichtet, Erlebnisse positiv zu gestalten. Hassenzahl et al. konstatieren: „Das Fehlen von Usability führt zwar zur Unzufriedenheit, aber ihre Anwesenheit nicht zur Zufriedenheit, sondern nur zu einem neutralen Zustand“ ([Hassenzahl/Burmester/Koller 2008], S. 79). Das Erreichen von Zufriedenheit bzw. eines positiven Zustands des Benutzers wird © Jamal Mohsen 27 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability durch andere Aspekte, wie Joy of Use generiert. Das Benutzungserlebnis lässt sich schwieriger messen als die Gebrauchstauglichkeit: User Experience basiert auf subjektiven Emotionen und Gefühlen des Benutzers, die schwer zu messen sind. Für Usability gibt es verschiedene Kriterien, welche die Evaluierung der Benutzungsschnittstelle ermöglichen. Für eine gute und erfolgreiche Benutzung eines Produkts spielt Usability eine wesentliche Rolle. Für den kommerziellen Erfolg eines Produkts steht das Benutzungserlebnis dieses Produkts im Vordergrund. Außerdem ist es nach Meinung einiger Wissenschaftler erlaubt, die Kosten der Gebrauchstauglichkeit durch das Benutzungserlebnis zu ersetzen [Reeps 2004]. Z. B. könnte der Entwickler ein paar Schritte (Schnittstellen) hinzufügen, und so das System oder das Softwareprodukt komplexer machen, um ein Ziel zu erreichen. Dies kann aber wiederum den Grundsätzen der Gebrauchstauglichkeit widersprechen, denn das Produkt soll der Aufgabe angemessen sein, denn das Ziel soll mit wenigen Schritten und so wenig Aufwand wie möglich erreicht werden. Andererseits kann das aber auch Vorteile haben. Die Neugier des Benutzers könnte stimuliert werden, das Produkt tiefer gehend zu entdecken und weiter zu benutzen. Anhand der in diesem Kapitel besprochenen Informationen können wir meiner Meinung nach nicht sagen, dass User Experience und Usability als Konzepte oder Themen vergleichbares Gewicht besitzen. Usability ist vielmehr eine Voraussetzung bzw. ein Bestandteil der User Experience. Ohne Usability können wir keine User Experience erlangen, weil es unmöglich ist, dass Benutzer Spaß, Freude und Zufriedenheit an einem nicht gebrauchstauglichen Produkt haben (siehe Kapitel 4.4). 3.4 Einflussfaktoren auf die User Experience Die gesamte User Experience ist eine Gruppe von mehreren Erlebnissen, die vor, während und nach der Nutzung eines interaktiven Produkts entstehen. Es gibt verschiedene Faktoren, die jedes einzelne von diesen Erlebnissen beeinflussen. 3.4.1 Einfluss der Situation auf die User Experience Die Situation des Benutzers hat großen Einfluss auf das Erlebnis, das der Benutzer mit dem Produkt hat. Wenn der Benutzer seine Ziele mit Hilfe eines interaktiven Produkts erreichen möchte, wird er es in einem gewissen Nutzungskontext verwenden. Die Situation beschreibt den Zeitpunkt, zu dem der Benutzer das Produkt angewendet hat. Die Erwartungen des Benutzers sind von dieser Situation abhängig (in Kapitel 3.4.2 wird das Thema Erwartungen genauer behandelt). Ein relevantes © Jamal Mohsen 28 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Beispiel ist das Mobiltelefon: Wenn es in der Freizeit benutzt wird, hat der Benutzer andere Erwartungen und Ziele, als wenn es für das Geschäft verwendet wird. In der Freizeit wird es meistens benutzt, um Freunde zu kontaktieren, Musik zu hören, Spiele zu spielen usw., während für das Geschäft die Benutzung ausschließlich von den Anforderungen der Arbeit abhängig ist, wie z.B. Kunden anzurufen oder E-Mails zu lesen oder zu schreiben. Darüber hinaus kann die Benutzung des Produkts oder des Systems im falschen Nutzungskontext Ärger oder sogar Frustration beim Benutzer erzeugen (siehe Kapitel 3.4.1.1). Deswegen sehen wir, dass die Erwartungen und die Ziele des Benutzers an das selbe Produkt sehr unterschiedlich sein können, wenn es in unterschiedlichen Situationen verwendet wird [Moser 2012]. Das hat zur Folge, dass wir bei der Gestaltung des Produkts den Nutzungskontext berücksichtigen müssen. Wenn wir den Nutzungskontext verstehen, können wir besser verstehen, was der Benutzer erwartet. 3.4.1.1 Soziales Umfeld Bei der Entwicklung eines Softwareprodukts muss das soziale Umfeld, in dem das Produkt verwendet wird, bewusst sein, weil es das Benutzungserlebnis stark beeinflussen kann [Moser 2012]. Beispielsweise bieten viele Systeme eine Vorschau des Inhalts der eingegangenen Nachricht auf dem Bildschirm. Einerseits kann dies für den Benutzer sehr hilfreich sein, wenn er z.B. zu Hause ist. Anderseits kann das zu peinlichen Situationen führen, wenn er z.B. in einem Meeting eine private Nachricht bekommt. Deswegen müssen die Bedürfnisse des Benutzers (Sicherheit oder Privatsphäre) berücksichtigt werden. 3.4.1.2 Physisches Umfeld Wie schon in Kapitel 2.2 erwähnt, erfolgt die Interaktion mit einem Softwareprodukt durch die Ein- und Ausgabemedien (Tastatur, Maus, Bildschirm usw.). Hier ist es wichtig zu sagen, dass wir bei der Gestaltung der Benutzungsschnittstelle nicht nur die vorhandenen Medien berücksichtigen müssen, sondern auch das physische Umfeld. Die Benutzungsschnittstelle eines Softwareprodukts muss mit dem physischen Umfeld kompatibel sein. Wenn wir beispielsweise ein per Touchscreen bedientes Softwareprodukt für ein Unternehmen entwickeln, und die Mitarbeiter die Software mit Handschuhen verwenden sollen, dann müssen wir wahrscheinlich die Elemente des Softwareprodukts ein wenig größer machen, so dass sie mit Handschuhen bedient werden können. Ein weiteres Beispiel ist, wenn der Bildschirm in schlechten Lichtverhältnissen steht. Dann müssen wir hellere Farbkontraste verwenden, damit der Mitarbeiter besser ablesen kann [Moser 2012]. © Jamal Mohsen 29 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Ausgehend von diesen Beispielen müssen wir bei der Gestaltung eines Softwareprodukts das physische Umfeld kennen. Sonst wird das Produkt von Kunden oder Benutzern abgelehnt, was am Ende zu schlechter User Experience führt. 3.4.2 Einfluss der Zeit auf die User Experience Die Erfahrung des Benutzers mit einem Produkt variiert mit jeder Nutzung. Sie ist das aus den persönlichen Erlebnissen des Benutzers resultierende Wissen. Gleichzeitig kann dieses Wissen aus berichteten Erlebnissen einer anderen Person gesammelt werden. Die Erfahrungen des Benutzers haben große Wirkung auf dessen Entscheidungen oder Erwartungen. Durch dieses Wissen kann er besser berechnen, wie hoch der Preis des erwünschten Produkts sein darf, welche Funktionen es haben kann, was als nächstes auf dem Markt kommen kann usw. [Moser 2012]. Bei jedem Kontakt mit einem interaktiven Produkt hat der Anwender ein Erlebnis, das sich unmöglich wiederholen kann. Es „kann sich zwar in einer ähnlichen Form wiederholen, doch dasselbe Erlebnis wird es nie zweimal geben“ ([Moser 2012], S. 6). Das ist so, weil sich - wie schon erwähnt - seine Erfahrung nach jedem Kontakt mit dem Produkt ansammelt oder verändert. Die Erlebnisse, welche der Benutzer mit einem Produkt hat, beginnen sogar vor der tatsächlichen Nutzung des Produkts. Sie beginnen beispielsweise, wenn er die Werbung des gewünschten Produkts im Fernsehen oder in der Zeitung gesehen hat. Danach folgen weitere Erlebnisse, wie z.B. der Besuch des Geschäfts, Vorabklärungen oder Preisvergleiche. Am Ende stehen der Kauf, das Auspacken und die Nutzung des Produkts. Weitere mögliche Kontakte, die Erlebnisse beim Benutzer erzeugen, sind ein Besuch der Website, der vorhandene Lieferservice oder ein Anruf beim Support. Hier ist wichtig zu wissen, dass jedes dieser Erlebnisse einen Teil zum gesamten Benutzungserlebnis beiträgt. In einem Unternehmen sind meist verschiedene Personen aus verschiedenen Abteilungen, wie Marketing-, Support- oder Entwicklungsabteilung, für die Gestaltung dieser Erlebnisse verantwortlich. Für den Benutzer gibt es jedoch nur das Produkt. Er will wahrscheinlich nicht wissen, dass sein neu gekauftes Softwareprodukt keine Online-Aktivierung besitzt und dass er es nicht nutzen kann, weil sich die Leute in der IT-Abteilung und die Leute in der Entwicklungsabteilung missverstanden haben [Moser 2012]. Schon ein einziges negatives Erlebnis kann Ärger oder Frustration beim Benutzer über das gesamte Produkt verursachen; im Resultat besteht die Gefahr, dass das Produkt abgelehnt wird. Um diese Erlebnisse allesamt positiv zu gestalten, müssen die User-Experience-Designer die Erwartungen des Benutzers erkennen. © Jamal Mohsen 30 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Mit dem Thema Erwartungen hat sich Noriaki Kano, Professor an der Universität Tokio, intensiv beschäftigt. Er hat Ende der 1970er Jahre ein Modell entwickelt, das später nach ihm Kano-Modell genannt wurde. Dieses Modell stellt eine Methode dar, um den Einfluss der Benutzeranforderungen auf seine Zufriedenheit zu bestimmen. Das Modell unterscheidet zwischen drei verschiedenen Arten von Erwartungen: Die Basis-, Leistungs- und Begeisterungsanforderungen [Moser 2012]. An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Überblick zu diesem Thema geben, da ich den Einfluss der Zeit auf die Erwartungen behandeln möchte. Das Kano-Modell wird dann in Kapitel 5.1.3.2 genau erklärt. Abbildung 3.3: Einfluss der Zeit nach dem Kano-Modell [Moser 2012]. Die erste Art von Features sind die Basisfeatures. Sie sind grundlegend und selbstverständlich, sodass sie vom Benutzer implizit erwartet werden. Sind sie vorhanden, führt dies nicht unbedingt zu Zufriedenheit. Sind sie hingegen nicht vorhanden, führt das zu Unzufriedenheit. Zum Beispiel muss ein Auto voll fahrbereit sein; mit einem Mobiltelefon muss man telefonieren können. Die Leistungsfeatures sind diejenigen Produkteigenschaften, die der Kunde bewusst kauft. Die Erfüllung dieser Anforderungen führt zum Profimodell des Produkts im Gegensatz zum Einsteigermodell. Diese Features sind normalerweise der Grund für den Kunden, das Produkt zu kaufen. © Jamal Mohsen 31 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 3 User Experience und Usability Die Begeisterungsfeatures sind die Produktmerkmale, die vom Benutzer nicht erwartet werden. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Konkurrenz des Produkts mit ähnlichen Produkten. Die Erwartungen des Benutzers an ein Produkt verändern sich im Laufe der Zeit, weil sich die Technik kontinuierlich entwickelt und die Produkte immer weiter verbessert werden. Das bedeutet, dass die Begeisterungsmerkmale eines Produkts nach einer bestimmten Zeit zu den Leistungsmerkmalen gehören. Diese wiederum werden später Basismerkmale (vgl. Abbildung 3.3). © Jamal Mohsen 32 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience 4 Qualitätskriterien für User Experience Da die Definition von User Experience sich von Wissenschaftler zu Wissenschaftler unterscheidet, möchte ich in diesem Kapitel die verschiedenen Qualitätskriterien der User Experience darstellen. Zuerst möchte ich in Kapitel 4.1 die theoretischen Ausführungen zum Aspekt von User Experience verdeutlichen. Danach möchte ich in den Kapiteln 4.2 bis 4.5 anhand von vier Sichtweisen der Thematik die unterschiedlichen Kriterien der User Experience diskutieren. Abschließend möchte ich in Kapitel 4.6 eine kleine Zusammenfassung darstellen. 4.1 Theoretische Ausführungen zum Aspekt von User Experience Damit man die Erfolgschancen bei der Gestaltung einer positiven User Experience gewährleisten oder erhöhen kann, muss man Erkenntnisse sowohl aus der Informatik als auch aus anderen Fachgebieten, wie Psychologie und Marketing, gleichermaßen berücksichtigen. Im Folgenden möchte ich auf die psychologischen Theorien der User Experience von Hassenzahl eingehen, welche Reeps [2004] in ihrer Masterarbeit wiedergibt. 4.1.1 Goal Mode und Action Mode Ehe ich Goal Mode und Action Mode erkläre, möchte ich zunächst eine kurze Einleitung voranstellen. Durch die Gestaltung eines interaktiven Produkts weisen wir diesem Produkt bestimmte Features zu, welche einen gewissen Charakter vermitteln sollen [Reeps 2004]. Bei der Interaktion des Benutzers mit dem Produkt wird ein subjektives Charakterbild erzeugt. Die Features des Produkts sowie die persönlichen Erwartungen des Benutzers beeinflussen die Erzeugung dieses Bildes stark. Die Übereinstimmung dieses Produktcharakters mit der Intention des Designers ist kein Muss, weil er nicht alle persönlichen Erwartungen des einzelnen Benutzers wissen kann. In der Realität gibt es verschiedene Produktattribute oder Produktqualitäten, die einen Einfluss auf den Charakter des Produkts haben. Hassenzahl differenziert die © Jamal Mohsen 33 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Qualitäten eines Produkts in zwei Unterkategorien: die pragmatischen (oder ergonomischen) und die hedonischen4 Qualitäten. Die pragmatischen Qualitäten beschreiben die Funktionalität des Produkts. Wenn diese Qualitäten sehr stark sind, wird das Produkt vom Benutzer als gut funktionierendes Produkt betrachtet [Reeps 2004]. Hingegen repräsentieren die hedonischen Qualitäten den Unterschied von User Experience zur Gebrauchstauglichkeit. Die hedonischen Qualitäten sind das wichtigste bestimmende Merkmal für die User Experience, weil sie das Vergnügen oder die Freude an einem Produkt repräsentieren. Hassenzahl unterteilt die hedonischen Qualitäten wiederum in drei Unterkategorien: Stimulation, Identifikation und Evocation [Reeps 2004]. 1- Stimulation: Von jedem Produkt wird erwartet, dass dieses neue Erkenntnisse, Eindrücke, Möglichkeiten oder Einblicke vermittelt, damit sich der Benutzer weiterentwickeln kann. Die Stimulation aufgrund aufregender oder neuer Funktionalitäten, Inhalte oder Interaktionsstile kann die Motivation und die Aufmerksamkeit erhöhen, was in der Folge bei Problemen zu neuen Lösungsansätzen führen kann. 2- Identifikation: Das Produkt entspricht der Darstellung des Selbst im sozialen Leben. Insofern muss das Produkt den Benutzer darin unterstützen, seine Individualität auszudrücken bzw. seine Identität zu vermitteln. 3- Evocation: Das Produkt muss Erinnerungen wachrufen, die dem Benutzer wichtig sind. Obwohl die pragmatischen und die hedonischen Qualitäten unabhängig voneinander sind, bilden sie zusammen den Charakter des Produkts. Wenn die pragmatischen Qualitäten stark sind, dann wird das Produkt als ACTProdukt bezeichnet. Wenn die hedonischen Qualitäten andererseits überwiegen, wird das Produkt als SELF-Produkt bezeichnet (siehe Abbildung 4.1). ACT-Produkte sind aufgabenorientierte Produkte. Der Benutzer sieht sie als Mittel zum Erreichen seines Ziels. Wenn dieses Ziel wegfällt oder sich ändert, wird das Produkt als nutzlos angesehen und hat keinen Wert mehr. Im Vergleich zu den ACT-Produkten bleiben die SELF-Produkte auch bei Wegfall oder Veränderung des Ziels interessant, weil sie beim Benutzer einen persönlichen Wert erlangen [Reeps 2004]. Bei der Gestaltung des Produkts muss der User-Experience-Designer die beiden Bereiche (ACT- und SELF-Produkte) berücksichtigen. Hassenzahl teilt die beiden Aspekte in Goal Mode und Action Mode, damit man sie besser unterscheiden kann [Reeps 2004]. Goal Mode bedeutet, dass der Benutzer 4 Das englisches Wort hedonic bedeutet Lust und stammt aus dem Griechischen. Als hedonisch wird eine Bewertungsmethode bezeichnet, die ein Objekt nach seinen inneren und äußeren Werten bewertet. © Jamal Mohsen 34 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Abbildung 4.1: Produktcharaktere [Reeps 2004]. mit voller Konzentration und Aufmerksamkeit ein Hauptziel verfolgt (vgl. Abbildung 4.2). In diesem Fall sieht er das Produkt (bzw. die Technologie) nur als Mittel zum Zweck, so dass Effektivität und Effizienz eine wesentliche Rolle spielen. Im Vergleich zum Goal Mode spielen beim Action Mode Effektivität und Effizienz keine Rolle, sondern die Aktivität steht im Vordergrund. Hier sind Anregungen aus allen Richtungen erwünscht (vgl. Abbildung 4.2). Abbildung 4.2: Goal Mode und Action Mode nach Hassenzahl in [Stein 2010]. © Jamal Mohsen 35 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Der Goal Mode und der Action Mode sind von der Nutzungssituation abhängig. Die aktuelle Situation bestimmt, welcher der beiden Modi für den Benutzer wichtig ist. Bei der Gestaltung der User Experience ist es wünschenswert, dass das Produkt die Überführung des Benutzers vom Action Mode in den Goal Mode ermöglicht, so dass das Produkt dem Benutzer immer neue Ziele bietet, wenn er sein aktuelles Ziel erledigt hat. 4.2 Kriterien nach Hassenzahl et al. Um gefällige User Experience konstruieren zu können, versuchten Wissenschaftler gewisse Kriterien zu identifizieren. Hassenzahl et al. [Reeps 2004] finden, dass ein Teil der Kriterien für User Experience mit den klassischen Kriterien der Usability übereinstimmt. Ein anderer Teil ist aber auch widersprüchlich. Deswegen differenzieren Hassenzahl et al. die ergonomische Qualität und die hedonische Qualität [Reeps 2004]. Die ergonomische Qualität hat einen Aufgabenbezug und umfasst die Kriterien der Usability wie Nutzbarkeit, Kontrollmöglichkeit und Einfachheit. Die hedonische Qualität hat hingegen keinen Aufgabenbezug und beinhaltet Aspekte wie Neuheit, Originalität, Schönheit eines Softwareprodukts und Freude bei der Benutzung. In einer Studie bemerkten Hassenzahl und al., dass einerseits die beiden Qualitätsaspekte die gleiche Rolle in Bezug auf die Attraktion des Benutzers zu den getesteten Softwareprodukten spielen und andererseits sieht der Benutzer, dass die beiden Qualitätsaspekte unabhängig voneinander sind. Hassenzahl ist der Meinung [Reeps 2004], dass der Spaß einen großen Einfluss auf die Nutzung eines Produktes hat. Aber allein reicht das nicht. Wenn ein Produkt als gebrauchstauglich bezeichnet wird, hilft der Spaß, die Nutzungsdauer zu erhöhen. Ist das System oder das Produkt hingegen unbenutzbar, hat der zusätzliche Spaß keine Wirkung auf das Nutzungsverhalten. In seiner Studie versuchte Hassenzahl, die wichtigen Kriterien, die zum Spaß bzw. zur positiven User Experience führen, zu identifizieren. An dieser Stelle sollen die emotionalen Ergebnisse der Nutzung eines Systems konzeptualisiert werden. Er hat auch festgestellt, dass die Neugier durch den optimalen Grad der Komplexität eines Systems stimuliert werden kann. Wenn das System zu komplex ist, so ist der Benutzer überfordert. Wenn das System aber zu einfach ist, dann fühlt sich der Benutzer gelangweilt [Reeps 2004]. Obwohl Hassenzahl die ergonomische Qualität und die hedonische Qualität unabhängig voneinander sieht, weist er in seiner Studie darauf hin, dass die fehlende ergonomische Qualität durch die vermehrte hedonische Qualität - und umgekehrt ersetzt werden kann. Bei der Gestaltung einer Webseite oder eines Softwaresystems © Jamal Mohsen 36 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience sollen die beiden Qualitätsaspekte berücksichtigt werden. Wenn aber aus irgendeinem Grund ein Aspekt davon nicht behandelt werden kann, dann schlägt Hassenzahl vor, dass wir uns nur auf die Maximierung eines Qualitätsaspekts, der vom Produktziel und vom Aufgabenkontext abhängig ist, konzentrieren sollen [Reeps 2004]. In Konklusion hat Hassenzahl die Kriterien der Gebrauchstauglichkeit erweitert, so dass Freude und Nutzerzufriedenheit im Vordergrund stehen. Dabei soll das Produkt überraschend, auffallend, besonders, beeindruckend, aufregend und interessant sein. Hassenzahl äußerte in ([Reeps 2006], S. 17): „Being both usable and interesting, a software system might be regarded as appealing and as a consequence the user may enjoy using it“. 4.3 Kriterien nach Overbeeke et al. Overbeeke et al. bezeichnen User Experience als eine Verschmelzung von Ästhetik und Usability. Sie sind der Meinung, dass bei der Gestaltung eines Produktes nicht nur auf die optischen Merkmale - und dass das Produkt ein schönes Aussehen oder eine schöne Oberfläche hat - fokussiert werden muss, sondern der Fokus soll auf die Gestaltung schön funktionierender Produkte gerichtet werden. Ihr Ausgangspunkt ist, dass der Benutzer nur an den Erfahrungen und Herausforderungen bei der Nutzung eines Produkts interessiert ist, und nicht am Produkt selbst. Aus diesem Grund ist es für Overbeeke et al. möglich, dass der Benutzer ein Produkt favorisiert, das nur wenige Kriterien der klassischen Usability erfüllt, weil es aufregend, auffallend und überraschend ist. Um ein Produkt im Sinne von User Experience zu gestalten, haben Overbeeke et al. bestimmte Voraussetzungen und Regeln aufgestellt, wie beispielsweise, dass die ästhetische Interaktion mit dem Produkt mehrere Sinne stimulieren muss [Reeps 2004]. 4.4 Kriterien nach Jordan Jordan bemerkte, dass die Benutzer sich früher über ein gebrauchstaugliches Produkt freuten. Anschließend reichte Usability aus, diese Rolle zu spielen bzw. Pleasure5 zu erfüllen. Heutzutage sind die Benutzer nicht mehr überrascht, wenn ein interaktives Produkt gebrauchstauglich ist, sondern sie sind negativ überrascht, wenn das Produkt schwer zu bedienen ist [Reeps, 2004]. 5 Pleasure bei Jordan ist einen analog verwendeten Begriff zu User Experience. © Jamal Mohsen 37 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Jordan sieht User Experience als ganzheitlichen Ansatz, in dem Usability eine wesentliche Rolle spielt. Nach Jordan ist die Gebrauchstauglichkeit eine Grundvoraussetzung für gute User Experience [Reeps 2004]. Das bedeutet, um gute User Experience zu erlangen, muss zuerst die Gebrauchstauglichkeit erreicht werden. Jordan erklärte seine Sichtweise in Anlehnung an die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow, in der er eine Hierarchie der Benutzerbedürfnisse präsentiert (Abbildung 4.3) [Reeps 2004]. Abbildung 4.3 zeigt, dass das übergeordnete Bedürfnis erfüllt wird, wenn das untergeordnete Bedürfnis schon befriedigt ist. Also die Funktionalität eines Produktes ist die Grundlage, damit die Usability erst Bedeutung erlangt. Gleichzeitig ist die Erfüllung der Usability die Voraussetzung, damit das Bedürfnis nach pleasure in die Diskussion kommt. Aus diesem Grund ist User Experience keine Alternative zu Usability, wie es zum Beispiel bei Hassenzahl der Fall ist (siehe Kapitel 4.2). Abbildung 4.3: Hierarchy of Consumer Needs in Human Factors ([Reeps 2004], S. 30). Jordan sieht, dass die Freude bei der Benutzung eines Softwareproduktes durch drei mit dem Produkt verbundene Faktoren oder Leistungen entstehen: Die praktischen, die emotionalen und die hedonischen Leistungen. Praktische Leistungen helfen bei der Entstehung der Freude, wenn die Aufgabe effektiv und effizient erledigt wird. Emotionale Leistungen erklären, wie ein Produkt die Stimmungslage des Benutzers beeinflusst. Wenn zum Beispiel der Benutzer ein Produkt interessant oder aufregend findet, dann führt dies zum positiven Gefühl bei ihm. Die hedonischen Leistungen beschreiben die ästhetische und sensorische Freude, die bei der Benutzung des Produktes entsteht. Dies ist der Fall, wenn der Benutzer ein Produkt als schön empfindet. © Jamal Mohsen 38 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Bei der Gestaltung der User Experience differenziert Jordan zwei Arten von pleasure: Die need pleasures und die pleasures of appreciation. Die need pleasure entsteht, wenn sich der Zustand des Menschen von Unzufriedenheit zu Zufriedenheit ändert, wie zum Beispiel beim Trinken von Wasser, wenn man Durst hat. Die pleasures of appreciation sind unabhängig vom derzeitigen Grad der Zufriedenheit. Sie entstehen, wenn eine Person etwas macht, was einerseits den Zustand der Unzufriedenheit eliminiert, und andererseits eine Quelle positiver, erfreulicher Gefühle ist. Eine solche Quelle ist nach Jordan die Grundlage von User Experience [Reeps 2004]. 4.5 Kriterien nach Norman Anhand seiner Forschung entwickelte Norman eine Drei-Level-Theorie. Der Kerngedanke seiner Studie besteht in der Feststellung, dass das menschliche Gehirn drei Ebenen der Informations- oder Wahrnehmungsverarbeitung hat, die er Visceral Level, Behavioral Level und Reflective Level nennt. Jede dieser drei Ebenen erfordert einen unterschiedlichen Designstil. Um ein erfolgreiches Design zu gestalten, dürfen die Designer keine dieser drei Ebenen vernachlässigen. Visceral Design beschäftigt sich mit dem Erscheinungsbild des Produkts. Behavioral Design beschäftigt sich mit der Freude und Effektivität des Gebrauchs. Reflective Design beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis, der eigenen Befriedigung oder den Erinnerungen. Visceral Design Visceral Design beschreibt den kognitiven Einfluss eines Produkts auf den Betrachter (Benutzer). Hier geht es um schnelle und spontane Urteile von Menschen über ein Objekt (Produkt). Wenn wir etwas als „schön“ bezeichnen, kommt dieses schnelle Urteil aus der Visceral-Ebene. Fangen wir an, nachzudenken, gelangen wir auf die nächste Ebene (Behavioral-Ebene). Das Visceral Design beschäftigt sich mit biologischen Prozessen und beschreibt die Reaktionen bei der Wahrnehmung, die auf der unterbewussten Ebene existieren. Diese Designrichtung ist in der Werbung oder bei Kinderspielzeug von großer Bedeutung [Ross 2004]. Das Visceral Design hängt nicht von der Kultur ab, weil hier nur biologische Prozesse und Reaktionen die Wahrnehmung beeinflussen. Das bedeutet, dass die Wirkung des Visceral Designs überall ähnlich ist [Ross 2004]. © Jamal Mohsen 39 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience Behavioral Design In der zweiten Designrichtung stehen die Freude und die Effektivität der Benutzung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier spielt das Aussehen des Produkts keine Rolle mehr, sondern die Funktionalität. Wenn wir ein gutes Design schaffen möchten, sollte das Behavioral Design von Anfang an ein wichtiger Teil dieses Prozesses sein. Das bedeutet, dass wir zu Beginn die Bedürfnisse des Benutzers kennen müssen. Die Problematik ist hier, dass der Benutzer seine Bedürfnisse nicht genau ausdrücken bzw. artikulieren kann (vgl. [Ross 2004]). In Kapitel 5.1.3 werde ich genau erklären, wie man diese Bedürfnisse erheben kann. In diesem Bereich ist es wichtig, dass das Produkt nicht nur gebrauchstauglich, sondern auch verständlich sein muss [Ross 2004]. Hier spielen Kriterien der Usability wie Erlernbarkeit und Aufgabenangemessenheit eine wichtige Rolle. Reflective Design Hierbei handelt es sich um die Bedeutung des Produkts und seine Verwendung. Diese Designrichtung lässt den Benutzer nachdenken, ob das Produkt zu ihm passt. Hier werden Erinnerungen wachgerufen, welche dem Benutzer ermöglichen, seine Situation zu interpretieren, zu begründen, oder auch mit vergangenen Situationen zu vergleichen. Auf dieser Stufe findet der stärkste Einfluss der Variablen Erfahrung, Kultur und Erziehung statt [Gersch 2009]. Abbildung 4.4: Die drei Ebenen der Wahrnehmungsverarbeitung ([Gersch 2009], S. 28). Abbildung 4.4 zeigt, dass die drei Ebenen der Wahrnehmungsverarbeitung voneinander abhängig sind. Durch die Sinnesorgane ermöglicht das Visceral Level dem Betrachter, eine schnelle Entscheidung zu fällen, ob das betrachtete Objekt gut oder schlecht, sicher oder gefährlich ist, und schickt die entsprechenden Signale zum motorischen System (zu den Muskeln). In diesem Moment beginnt ein affektiver Prozess. Dieser Prozess kann von Kontrollsignalen des Behavioral Level gehemmt oder © Jamal Mohsen 40 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 4 Qualitätskriterien für User Experience gefördert werden. Die Prozesse des Behavioral Level können wiederum von Kontrollsignalen des Reflective Level gehemmt oder gefördert werden. Das Reflective Level hat keine direkte Kontrolle über das sensorische und motorische System, sondern es versucht, das Behavioral Level zu beeinflussen. Nach Norman [Gersch 2009] gibt es verschiedene Faktoren bzw. Voreinstellungen, die die Wahrnehmung des Visceral Levels unbewusst positiv oder negativ beeinflussen können. Beispielsweise können Aspekte wie „warme und angenehm beleuchtete Orte“, „harmonische Musik und Geräusche“ oder „beruhigende Geräusche, einfache Melodien und Rhythmen“ zu positiven Gefühlswahrnehmungen führen. Anderenfalls können Aspekte wie „schiefe Töne“, „plötzliche, unerwartete laute Geräusche“ oder „sehr helles Licht oder Dunkelheit“ die negativen Wahrnehmungen steigern. Diese Voreinstellungen können uns helfen, dem Benutzer ein Produkt in angenehmer Situation zu bieten. Im Allgemein können wir sagen, dass der Benutzer kleine Probleme oder Fehler ignorieren kann, solange ihm das Produkt Spaß und Freude anbietet. 4.6 Zusammenfassung Die in diesem Kapitel dargestellten Kriterien der verschiedenen Forschungsgruppen ähneln sich in vielen Punkten und gehen teilweise ineinander über. Zusammengefasst gibt es sowohl viele schon bekannte Kriterien aus Usability und Design als auch einige neue Kriterien. In diesem Bereich wird klar, dass die User-Experience-Kriterien tatsächlich eine Verschmelzung von Design- und Usability-Kriterien sind. Darüber hinaus soll der Fokus auf Kriterien wie Individualisierbarkeit, Motivationsförderung, Neuheit, Freude bei der Benutzung oder Situationsabhängigkeit gerichtet werden. © Jamal Mohsen 41 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Häufig werde ich in diesem Kapitel auf das Buch „Die Elemente der User Experience“ von Garrett [2012] zurückgreifen. Er bietet einen guten Überblick über die Thematik der User Experience und beleuchtet umfassend die verschiedenen Elemente, die für die Gestaltung guter User Experience eines Produktes berücksichtigt werden müssen. Die meisten Beispiele aus Garretts Buch stammen aus dem Webbereich, trotzdem können wir die in diesem Buch besprochenen Themen, Methoden und Grundsätze auf alle Typen von Softwareprodukte anwenden. Obwohl ich mich in meiner Arbeit nur für interaktive Produkte interessiere, möchte ich hier darauf hinweisen, dass das Thema User Experience auf verschiedene Produkte übertragbar ist, egal ob diese Produkte digital sind oder nicht. Das fängt z. B. mit Automobilen an, geht weiter über Tablets und Smartphones bis hin zu Produktsoftware und Websites. Jesse James Garrett hat ein Fünf-Elemente-Modell entwickelt (Abbildung 5.1). Darin erklärt er ausführlich, was das Modell ist und wie man es in der Praxis benutzen kann. Das Modell besteht aus fünf Ebenen, jede Ebene beinhaltet die wichtigen Konzepte oder Bereiche, die mit der User Experience zu tun haben. Die Behandlung dieser Elemente spielt eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung einer optimalen User Experience. Diese Ebenen sind: 1- Oberfläche 2- Raster 3- Struktur 4- Umfang 5- Strategie Der Aufbau dieser Ebenen erfolgt von unten nach oben. Gleichzeitig sind sie voneinander abhängig: Die übergeordnete Ebene hängt von der untergeordneten Ebene ab. So ist die Oberfläche vom Raster abhängig. Gleichzeitig hängt das Raster von © Jamal Mohsen 42 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) der Struktur ab, diese wiederum vom Umfang, und dieser ist schließlich von der Strategie abhängig. Abbildung 5.1: Die fünf Ebenen der User Experience nach Garrett [2012]. Beim Aufbau dieser Ebenen müssen die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Jede Entscheidung muss zur darunter liegenden und zur darüber liegenden Ebenen passen. Sonst wird das Projekt zu einer Deadline nicht fertig, was mehr Zeit und Geld kostet. In der Praxis ist es empfehlenswert, dass die Arbeit auf der nächsten Ebene bereits beginnt, bevor sie auf der vorherigen Ebene fertig ist [Garrett 2012]. 5.1 Strategieebene Bevor man mit der Gestaltung eines Produkts oder einer Website anfängt, muss man die Strategie klar und deutlich machen. 5.1.1 Strategie definieren Um eine erfolgreiche User Experience zu gestalten, muss zuerst eine eindeutige Strategie vorhanden sein. Nach Garrett liegt der Misserfolg vieler Produkte nicht nur deren User Experience, sondern an der falschen Strategie. Eine klare Strategie bedeutet, dass sie einerseits den Erwartungen des Benutzers an das Produkt entspricht und andererseits den Erwartungen des Unternehmens. Die Strategieebene ist das erste Element von Garretts Modell. Sie besteht aus den Produktzielen und den Nutzerbedürfnissen (Abbildung 5.2). © Jamal Mohsen 43 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Abbildung 5.2: Die Komponenten der Strategieebene [Garrett 2012]. 5.1.2 Produktziele 5.1.2.1 Produktinnovation „Damit aus einer Idee eine Produktinnovation wird,muss sie den Innovationstrichter erfolgreich durchlaufen. Dabei werden unpassende Ideen gefiltert und passende Ideen bis zur Produktreife ausgearbeitet“ ([Moser 2012], S. 34). Jede Erfindung oder Innovation fängt mit einer Idee an. Aber nicht jede Idee kann in der Realität umgesetzt werden. Als erstes muss die Idee geprüft werden, ob sie zu einem erfolgreichen Produkt führen kann (vgl. Abbildung 5.3). Erfolgreiches Produkt bedeutet, dass es gewisse Kriterien erfüllen muss. Moser hat diese Kriterien in folgenden Punkten zusammengefasst [Moser 2012]: 1- Die Idee soll technisch möglich sein. Die zur Produktion benötigten Materialien müssen vorhanden sein. 2- Das Produkt soll aus der wirtschaftlicher Sicht realisierbar sein. Der erwartete Gewinn des Produkts soll höher als die Produktionskosten (Forschungs- und Entwicklungskosten) sein. Außerdem soll das Produkt nicht mehr personelle oder finanzielle Ressourcen erfordern, als wir zur Verfügung haben. 3- Das Produkt soll unsere Geschäftsziele unterstützen. Das Produkt soll dabei helfen, unsere Ziele zu erreichen. 4- Das Produkt soll aus rechtlicher Sicht realisierbar sein. Bevor wir beginnen, irgendeine Idee zu verwirklichen, müssen wir zunächst überprüfen, ob es gesetzliche Rahmenbedingungen gibt, die verhindern, dass das Produkt auf den Markt kommen kann. Relevantes Beispiele sind Datenschutzbestimmungen, Patentrechte, oder benötigte Zertifikate. 5- Das Produkt soll zeitlich realisierbar sein. Es soll die Möglichkeit bestehen, das Produkt zu einer Deadline fertigzustellen. Dies ist der Fall, wenn wir z. B. eine Produktsoftware oder eine Website für ein Marktereignis entwickeln möchten. © Jamal Mohsen 44 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 6- Das Produkt soll aus organisatorischer Sicht realisierbar sein. Wir sollten sowohl das nötige Know-how als auch die nötigen Ressourcen haben. Nachdem wir alle diese Punkte behandelt haben, bleiben die Ideen übrig, welche die größten Möglichkeiten haben, auf dem Markt erfolgreich zu sein. Um das zu erreichen, sollten wir die verschiedenen Risiken bewerten, Gespräche mit allen Stakeholdern führen und unsere Zielgruppe analysieren. Darüber hinaus sollten wir die wichtigsten Merkmale und Funktionen des Produkts identifizieren. Dadurch können wir den Rahmen des Produkts festlegen (vgl. Kapitel 5.2). Abbildung 5.3: Die wichtigen Phasen des Ideen-Filters [Moser 2012]. Um ein Produkt zu einem bestimmten Marktereignis zu entwickeln, z. B. für eine Neueröffnung oder den Saisonstart, ist es nach Moser besser, wenn wir eine sogenannte Roadmap entwickeln. Eine solche Roadmap sollte die wichtigsten Termine beinhalten. Wann soll das Produkt fertig sein? Welche Produkte sollen als nächstes entwickelt werden? Welche Funktionen sollen sie beinhalten? © Jamal Mohsen 45 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Einerseits hilft die Roadmap den Benutzern, da sie absehen können, was auf den Markt kommen könnte (beispielsweise können sie spekulieren, wie das iPhone 7 aussehen könnte), andererseits hilft die Roadmap dem Projektteam, da es einen eindeutigen Plan besitzt [Moser 2012]. 5.1.2.2 Identifizierung der Produktziele Wenn wir eine eindeutige Strategie definieren möchten, sollten wir ganz zu Anfang genau beschreiben, was wir vom Produkt wollen. Sobald unsere eigenen Ziele für das Produkt klar sind, halten wir die Waage zwischen diesen und den Bedürfnissen des Benutzers. In jedem Unternehmen und in jedem Projekt gibt es eine Menge Ideen und Vorstellungen von den Zielen des Produkts. Diese Vorstellungen sind selten in expliziter Form vorhanden und bleiben meistens nur in den Köpfen der Produktentwickler. Deswegen können sie in der Realität sehr unterschiedlich sein [Garrett 2012]. Beim Gespräch über interne strategische Ziele benutzen viele Leute gerne Begriffe wie „Business Drivers“ und „Geschäftsziele“. In [Garrett 2012] wird der Begriff Produktziele bevorzugt, weil dem Autor die beiden anderen Begriffe einerseits als zu weit (wenn es darum geht, was das Produkt erreichen soll) und andererseits als zu eng (nicht alle internen Ziele sind Geschäftsziele) erscheinen. Produktziele können sowohl sehr allgemein, als auch sehr spezifisch sein. - Allgemeine Ziele: Ein Produkt soll beispielsweise dem Unternehmen helfen, Geld zu verdienen, oder die Arbeitszeit zu minimieren und dadurch Geld zu sparen. - Spezifische Ziele sind zum Beispiel die Befriedigung der Bedürfnisse des Benutzers (zum Beispiel das anzeigen der Lesebestätigung bei einem Chat-Tool). Um eine erfolgreiche User Experience zu gestalten, muss zwischen den allgemeinen und den spezifischen Zielen ein Ausgleich gefunden werden [Garrett 2012]. Ein weiterer Faktor, der sehr wichtig ist, wenn wir unsere Produktziele formulieren möchten, ist die Markenidentität. Die Markenidentität umfasst „diejenigen raumzeitlich gleichartigen Merkmale der Marke, die aus Sicht der internen Zielgruppen in nachhaltiger Weise den Charakter der Marke prägen“ ([Burmann/Blinda/Nitschke 2003], S. 16). Wenn über die Marke gesprochen wird, fallen uns sofort andere Begriffe wie Logo, Typografie usw. auf (in Kapitel 5.5 - Oberflächenebene - werden die visuellen Aspekte ausführlich behandelt). Die Markenidentität spielt eine wichtige Rolle einerseits für die Verstärkung der Kundenbindung, und andererseits für die Wertsteigerung des Unternehmens. Sie liefert dem Benutzer einen Eindruck des Unternehmens [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 46 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.1.3 Nutzerbedürfnisse Bei der Entwicklung eines Produkts gelten die Nutzerbedürfnisse als die Sachen oder Merkmale, die von außen an das Produkt kommen. Um die Bedürfnisse unserer Benutzer zu erkennen, müssen wir zuerst wissen, wer sie eigentlich sind und was sie möchten oder erwarten. Wenn wir glauben, dass wir unsere Produkte für Leute (Benutzer) gestalten, die genau so sind wie wir, ist dies total falsch und führt meist zum Scheitern dieser Produkte [Garrett 2012]. In der Realität können die Bedürfnisse der Benutzer sehr unterschiedlich sein. Daher sind sie nicht einfach zu bestimmen. Wenn wir beispielsweise eine Produktsoftware für die interne Benutzung innerhalb einer Firma entwickeln möchten, müssen wir die verschiedenen Ansprüche berücksichtigen. Würde man diese Software für den Massenmarkt gestalten, stiegen diese Ansprüche rasant. In der Praxis müssen wir als ersten Schritt wissen, welche Gruppe von Benutzern wir ansprechen möchten. Sobald wir diese Gruppe definiert haben, können wir ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Ziele genau bestimmen: Dies erfolgt am meistens durch Befragungen und durch die Beobachtung von Reaktionen [Garrett 2012]. Bei einer Gruppe von Benutzern, die sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben, erklärt Garrett, wie wir uns mit dieser Gruppe verhalten sollen: 5.1.3.1 Benutzergruppierung Die Benutzergruppierung hilft uns dabei, die Bedürfnisse der Benutzer besser zu verstehen und zu bearbeiten. Dazu teilen wir unsere Benutzer in kleine Gruppen auf, wobei die Benutzer jeder Gruppe gemeinsame Bedürfnisse und Merkmale haben (vgl. Abbildung 5.4). Die Gruppierung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Normalerweise benutzen Forscher dafür sogenannte demografische Kriterien wie Alter, Geschlecht, Einkommen usw. [Garrett 2012]. Diese Kriterien können sehr spezifisch sein, wie zum Beispiel ein ausgebildeter Mann zwischen 30 und 35, der verheiratet ist und Kinder hat, sie können aber auch sehr allgemein sein (Mann zwischen 20 und 45). Ein weiteres Kriterium ist die Psychografie. Damit können wir die Ansichten der Benutzer zum Produkt beschreiben. In vielen Fällen sind Psychografie und Demografie eng miteinander verbunden. Zum Beispiel haben Personen, die derselben Alterskategorie angehören, den selben Wohnort und das selbe Einkommen haben, ähnliche Gewohnheiten. Dies ist jedoch nicht der Fall bei allen Menschen, die demografisch identisch sind (vgl. [Garrett 2012]). Ein relevantes Beispiel dafür ist, wenn man an © Jamal Mohsen 47 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Abbildung 5.4: Benutzergruppierung-Beispiel [Garrett 2012]. seine Kommilitonen denkt (diese haben in der selben Altersgruppe sehr unterschiedliche Gewohnheiten). Bei der Benutzergruppierung ist sehr wichtig, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gruppen aufzuzeigen. Außerdem zeigt sich manchmal, dass diese Bedürfnisse im Gegensatz zueinander stehen [Garrett 2012]. Wenn wir zum Beispiel ein Softwareprodukt für zwei Gruppen entwickeln möchten, wobei die Benutzer der ersten Gruppe Anfänger sind, die der anderen Experten, sollten wir die Software für die Anfänger wahrscheinlich so einstellen, dass die Interaktion mit einfachen Schritten beginnt und die langsam abläuft. Die Experten (zweite Gruppe) hingegen sehen das als Zeitverschwendung und möchten direkt zur Hauptfunktion gelangen. In der Praxis ist es schwer, zwei Gruppen (zum Beispiel Anfänger und Experten) gleichzeitig zu befriedigen. Deswegen macht es Sinn, sich nur auf eine Gruppe zu konzentrieren. Wenn wir aber beide befriedigen möchten, sollten wir bei der Gestaltung des Softwareprodukts zwei Funktionen zur Verfügung stellen [Garrett 2012]. Unsere Entscheidung auf dieser Ebene beeinflusst den ganzen Prozess der User Experience. 5.1.3.2 Kano-Analyse Eine Kano-Analyse hilft uns dabei, zu erkennen, welche Merkmale des Produkts positive oder negative Emotionen erzeugen können. Um eine gute User Experience zu bieten, sollte das Produkt die Erwartungen des Benutzers erfüllen oder in vielen Fällen übertreffen. Manche Merkmale des Produkts werden vom Benutzer nicht erwartet, können aber dennoch negative Emotionen wecken, wenn sie fehlen. Andere © Jamal Mohsen 48 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Merkmale werden nicht erwartet, können den Benutzer aber trotzdem stimulieren, das Produkt weiter zu verwenden und sie zu entdecken, wenn sie vorhanden sind. Und es gibt Merkmale, von deren Erfüllungsgrad die Zufriedenheit des Benutzers abhängt [Moser 2012]. Das Kano-Modell ist die Grundlage der Kano-Analyse. Das Kano-Modell dient dazu, die Nutzerbedürfnisse oder die Nutzerwünsche zu analysieren. Damit können wir die Zufriedenheit des Benutzers messen. Das Modell unterscheidet folgende fünf Arten von Produktmerkmalen [Moser 2012]: 1- Basis-Merkmale Diese Merkmale sind grundlegend und selbstverständlich. Sie werden vom Benutzer indirekt erwartet. Sie werden ihm erst bewusst, wenn sie fehlen. Wenn die Basis-Merkmale nicht vorhanden sind bzw. die Erwartungen des Benutzers nicht erfüllt werden, entsteht Unzufriedenheit, und es werden negative Emotionen geweckt. Wenn sie hingegen vorhanden sind, also die Erwartungen des Benutzers erfüllt werden, entsteht keine Zufriedenheit, sondern nur ein neutraler Zustand. In diesem Fall werden keine positiven Emotionen geweckt. Ein Beispiel dafür sind die Basis-Merkmale eines Autos wie das Radio, die Rückspiegel oder die Sicherheitsausstattung. 2- Leistungs-Merkmale Diese Merkmale des Produkts sind dem Benutzer bewusst. Sie können sowohl positive Emotionen bei ihm hervorrufen, wenn sie vorhanden sind bzw. die Erwartungen erfüllt werden, als auch negative Emotionen, wenn sie nicht vorhanden sind bzw. die Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Zufriedenheit des Benutzers hängt vom Ausmaß der Erfüllung dieser Merkmale ab. Ein relevantes Beispiel hierfür sind die Leistungs-Merkmale eines Autos, wie der Verbrauch oder die Beschleunigung. 3- Begeisterungs-Merkmale Diejenigen Merkmale, die vom Benutzer nicht unbedingt erwartet werden. Wenn sie vorhanden sind bzw. die Erwartungen des Benutzers hinsichtlich dieser Merkmale übertroffen werden, werden beim Benutzer sehr positive Emotionen erweckt. Beim Fehlen dieser Merkmale werden die Erwartungen des Benutzers nicht übertroffen. Es wird aber keine Unzufriedenheit beim Benutzer hervorgerufen. Es ist wichtig zu sagen, dass sich fehlende Basis-Merkmale nicht durch Begeisterungs-Merkmale kompensieren lassen. Eine nicht erwartete Sonderausstattung eines Autos oder ein © Jamal Mohsen 49 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) besonderes Design sind gute Beispiele. 4- Unerhebliche Merkmale Diejenigen Merkmale, deren Fehlen oder Vorhandensein den Benutzer nicht beeinflusst. Sie führen weder zur Zufriedenheit noch zur Unzufriedenheit des Benutzers. In diesem Sinne wirken z. B. für eine bestimmte Menschen das Schiebedach und das Automatikgetriebe eines Autos. 5- Ablehnungs-Merkmale Sind diese Merkmale vorhanden, führt das zur Unzufriedenheit des Benutzers. Sind sie nicht vorhanden, führt dies aber nicht zur Zufriedenheit. Ein Beispiel in diesem Sinne wäre ein Auto, das einen Unfallschaden oder Rostflecken hat. Anhand dieser fünf Gruppen können wir einfacher die richtigen Entscheidungen für die sinnvollen Merkmale des Produkts treffen. Darüber hinaus können wir wissen, welche Merkmale welche emotionalen Reaktionen beim Benutzer erzeugen. Zentral für eine gelungene User Experience ist es, dass das Produkt beim Anwender möglichst positive Emotionen entstehen lässt und negative verhindert. Es gibt verschiedene Techniken für die Durchführung einer Kano-Analyse. Oft wird sie durch ein strukturiertes Interview oder durch eine schriftliche Befragung erledigt. Zu diesem Zweck müssen wir Menschen aus verschiedenen Gruppen kontaktieren. Dann können wir einen Fragebogen mit einer Liste möglicher Merkmale des Produkts aufstellen. Danach können wir anhand dieser Liste die verschiedenen Benutzergruppen nach ihren emotionalen Reaktionen fragen. Zum Schluss werden die Ergebnisse statistisch bewertet [Moser 2012]. Die wichtige Rolle der Kano-Analyse besteht darin, dass sie uns ermöglicht, die Erwartungen des Benutzers besser kennen zu lernen. Jede der fünf Kategorien hilft uns dabei, die Produktmerkmale aus der Sicht des Benutzers zu priorisieren. 5.2 Umfangsebene Sobald wir unsere Produktziele und die Bedürfnisse unserer Benutzer an das Produkt bestimmt haben, können wir nun planen, wie wir diese erfüllen können. © Jamal Mohsen 50 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.2.1 Umfang definieren Der Umfang ist die zweite Ebene des Fünf-Ebenen-Modells. Hier geht es weiter um abstrakte Themen. In dieser Ebene definieren wir den Rahmen unseres Projekts. Dieser Prozess hat viele Vorteile. Er hilft uns, als Team während der Arbeit am Produkt (Projekt) ein gemeinsames Ziel zu haben. Durch die Definition unserer Anforderungen können wir unseren Designprozess genau beschreiben. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass wir bei der Definition unserer Anforderungen wissen können, welche Möglichkeiten wir haben und was uns zur Verfügung steht [Garrett 2012]. Abbildung 5.5: Die Komponenten der Umfangsebene [Garrett 2012]. Warum müssen wir die Anforderungen definieren? Nach Garrett [2012] gibt es zwei wichtige Gründe, die Anforderungen zu definieren. Der erste Grund liegt darin, dass wir genau wissen müssen, was wir eigentlich entwickeln. Obwohl das ganz einfach und selbstverständlich erscheint, meint Garrett, dass dies in der Praxis zu den meisten Problemen führt. Wenn wir unsere Ziele deutlich aussprechen, hat das zur Folge, dass jedes Team-Mitglied weiß, welche Aufgaben es hat und wann sie fertig sein müssen. So bekommen alle Team-Mitglieder eine konkrete Vorstellung von der Form des fertigen Produkts. Die vorherige Definition unserer Anforderungen hilft uns dabei, die verschiedenen Punkte und Aufgaben effizienter zu verteilen. Wenn jeder alle Punkte (Aufgaben), an denen er arbeiten soll, vor sich hat, kann er wahrscheinlich die Relation zwischen diesen Punkten (Anforderungen) klar sehen [Garrett 2012]. Der zweite Grund der Definition der Anforderungen liegt darin, dass wir wissen müssen, was wir nicht entwickeln. Garrett ist der Meinung, dass nicht alle tollen und wunderschönen Funktionen und Features zu unseren Produktzielen und Nutzerbedürfnissen passen. Bei der Entwicklung eines Produkts tauchen immer neue Ideen und anschließend neue mögliche Produktfeatures auf. Die vorherige Definition der © Jamal Mohsen 51 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Anforderungen lässt uns besser entscheiden, ob diese Features zu unseren strategischen Zielen passen oder nicht. Darüber hinaus empfiehlt Garrett, dass wir diese neuen Features notieren. Wenn dies momentan nicht zu unserer Arbeitpasst, kann es sein, dass es in der nächsten Phase unseres Plans passen würde. 5.2.2 Definition der Anforderungen Wenn wir an die Anforderungen denken, denken wir sofort an die Beschreibung jeder einzelnen Eigenschaft, die in dem Produkt enthalten sein muss. Diese Beschreibung ist von den Subtasks abhängig. Wenn es zum Beispiel um die Implementierung eines sehr komplexen Subtasks geht, könnte diese Beschreibung sehr detailliert sein. Die Anforderungsarten sind normalerweise unterschiedlich zueinander. Es gibt Anforderungen, die nur für ein gewisses Feature gelten. Andere Anforderungen hingegen gelten für das ganze Produkt. Ein relevantes Beispiel hierfür ist die Markenidentität eines Produkts [Garrett 2012]. Nach Garrett können wir die Definition der Anforderungen am besten sowohl von den Stakeholdern als auch von den Benutzern bekommen. Wenn wir mit den Benutzern arbeiten möchten, gibt es verschiedene Techniken, um deren Wünsche und Anforderungen herauszufinden. Somit können wir erfahren, was sie im fertigen Produkt sehen möchten, welche Funktionen, welche Form usw. sie gerne hätten. Wenn wir mit den Stakeholdern arbeiten möchten, können wir mit ihnen innerhalb unserer Organisation besprechen, was in Ihrem Produkt vorhanden sein muss. Egal ob die Quelle der Anforderungsdefinition die Stakeholder oder die Benutzer sind, unterteilen sich die Anforderungen in drei Kategorien [Garrett 2012]: 1- Was wünschen sich die Benutzer explizit? Dies sind die offensichtlichen Funktionen, welche die Benutzer gerne haben möchten. Es geht hier um ganz klare Ideen und Features, die die Anwender in dem fertigen Produkt gerne enthalten sehen möchten. 2- Was möchten die Benutzer wirklich? Wenn die Benutzer das Produkt untersuchen (zum Beispiel durch den Usability-Test), stellen sie manchmal fest, dass sie mit einigen Funktionen oder mit dem ganzen Produkt Schwierigkeiten haben. In vielen Fällen stellen sie sich eine Lösung dafür vor. Wenn wir als Entwickler diese Ideen (Lösungen) untersuchen, können wir wahrscheinlich zu neuen Anforderungen kommen. 3- Die Funktionen, die die Benutzer wünschen, obwohl sie gar nichts von ihnen wissen: Diese Ideen oder Funktionen kommen meist aus Brainstorming-Sitzungen. © Jamal Mohsen 52 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Um diese Anforderungen zu verwirklichen, gibt es in der Praxis verschiedene Techniken, wie zum Beispiel die sogenannten Personas. Sie sind fiktive Benutzer, trotzdem können sie in der Realität existieren, weil sie spezifische Eigenschaften besitzen. Dazu gibt es ein sogenanntes Szenario. Es erzählt eine kleine Geschichte, die beschreibt, wie diese fiktiven Benutzer ihre Bedürfnisse befriedigen können [Meseberg 2011]. Damit können wir auf Anforderungen kommen, die wir befriedigen müssen. 5.2.3 Funktionsspezifikationen Funktionsspezifikationen, oder funktionale Anforderungen, stammen aus dem Softwareentwicklungsbereich. Einige Organisationen unterscheiden zwischen diesen beiden Begriffen. Mit den Anforderungen wird am Anfang des Projekts bezeichnet, was die Produktsoftware machen soll, mit den Spezifikationen wird am Ende des Projekts beschreiben, was die Produktsoftware machen kann [Garrett 2012]. In dieser Arbeit sind mit dem Begriff Funktionsspezifikationen die Anforderungen an die Inhalte gemeint. Warum ist die Beschreibung der Funktionsspezifikationen wichtig? Die Funktionsspezifikationen beschreiben die Funktionen des Produkts aus der Sicht des Benutzers. Eine Funktionsspezifikation hilft uns, unsere Softwares oder Produkte, die wir benutzen möchten, zu planen [Delmonte 2013a]. Das Schreiben einer Funktionsspezifikation hat viele Vorteile: Mit einer natürlichen Sprache kann man viel mehr schneller schreiben als in einer Programmiersprache, somit kann man viel Zeit sparen. Außerdem können wir die Beschreibung (sie ist in einer natürlichen Sprache) besser bearbeiten. Man kann beispielsweise einen Abschnitt (eine Spezifikation) hinzufügen oder löschen, ohne jemand anderen zu verärgern. Ein weiterer Vorteil für die Beschreibung des Softwareprodukts in einer Funktionsspezifikation liegt darin, dass man bei der Kommunikation mit den Team-Mitgliedern und allen anderen betroffenen Personen viel Zeit sparen kann; man braucht die Funktionsspezifikationen nur einmal zu schreiben, dann können alle Beteiligten sie problemlos lesen und verstehen [Delmonte 2013a]. Diese Vorteile gelten nicht nur für die Beschreibung der funktionalen Anforderungen, sondern für die gesamten Anforderungen. Wie sollen die Funktionsspezifikationen geschrieben werden? Oft bleiben die Funktionsspezifikationen nach dem Schreiben in einem Regal oder in einem Ordner, ohne dass jemand Lust hat, sie zu lesen. Nach Maurizio Delmon- © Jamal Mohsen 53 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) te [2013b] ist in diesem Fall der Verfasser schuld. Die Frage ist hier, wie wir die Funktionsspezifikationen formulieren sollen. Obwohl nicht alle Projekte die selbe Komplexität oder Größe besitzen, existieren allgemeine Regeln, welche bei der Beschreibung aller Arten von Anforderungen gültig sind (vgl. [Delmonte 2013b] und [Garrett 2012]): 1- Man muss in klarer und einfacher Sprache schreiben Damit die Funktionsspezifikationen beim Lesen verständlich und interessant sind, darf man keine förmliche Sprache benutzen, sondern Umgangssprache. Wenn ein Satz lang und kompliziert ist, ist es besser, diesen Satz in zwei oder auch drei Sätze aufzuteilen. 2- Man muss amüsant schreiben Ein typisches Beispiel ist, dass man einen Musternamen (Spitznamen) oder den wirklichen Namen des Benutzers anstatt nur Benutzer verwendet, wenn über die Benutzer gesprochen wird. Man kann auch den Leser mit ironischen oder humoristischen Passagen involvieren. 3- Man muss spezifisch schreiben Das bedeutet, dass man die Anforderungen genau beschreiben muss, so dass man keinen großen Raum für die Interpretationen lässt. Wenn es nicht viele mögliche Interpretationen gibt, können wir feststellen, dass diese Anforderung befriedigt ist. 4- Man muss eine subjektive Ausdrucksweise vermeiden Subjektive Ausdrucksweise kann am meisten zu Zweideutigkeit und in der Folge zur Fehlbehandlung der Anforderungen führen. Ein Beispiel, solcher subjektiver Ausdrucksweise: Das fertige Produkt soll ein cooles Design haben. In diesem Fall lässt sich die subjektive Qualität cool schwer verwirklichen. Jeder kann sich unter cool etwas ganz anderes vorstellen. Mit der quantitativen Definition der Anforderungen (zumindest einiger Anforderungen) können wir besser überprüfen, ob diese Anforderungen erfüllt werden. Wenn wir zum Beispiel schreiben, dass das System hohe Performance haben soll, ist das Erfolgskriterium unklar. Wenn wir stattdessen schreiben würden, dass das System den Zugriff von 500 Benutzern gleichzeitig ermöglichen soll, können wir das später © Jamal Mohsen 54 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) einfach messen. Ermöglicht das fertige Produkt nur den Zugriff für 10 Benutzer gleichzeitig, dann ist klar, dass diese Anforderung nicht erfüllt ist. 5- Man muss positiv schreiben Die fünfte Regel ist das positive Schreiben. Das bedeutet, dass man schreiben muss, was das System kann, und möglichst vermeiden sollte zu schreiben, was das System nicht kann. Besser wäre zum Beispiel, wenn man anstatt „Der Benutzer kann in unserem System keine Kinderbücher kaufen.“ schreibt: „Wenn der Benutzer ein Kinderbuch kaufen möchte, leitet ihn das System zu der Seite mit den Kinderbüchern weiter.“ 6- Man muss eine überpräzise Schreibweise vermeiden Die Funktionsspezifikationen sollen von Menschen und nicht von Computer gelesen werden. Aus diesem Grund sollen sie lieber nicht so präzise wie ein langweiliges technisches Handbuch sein. 5.2.4 Inhaltliche Anforderungen Wie bereits am Anfang dieses Kapitels erwähnt, basiert das Fünf-Elemente-Modell von Garrett auf den Webbereich, auch wenn die Möglichkeit besteht, es auf andere Produkte zu übertragen. In diesem Kapitel stammen auch meine Beispiele aus dem Webbereich. Die Typen des Inhalts einer Internetseite können sehr unterschiedlich sein. Wenn zum Beispiel von den Inhalten einer Website die Rede ist, denken wir sofort an Texte. Texte allein reichen aber für eine gute Seite nicht aus. Sie muss multimediale Inhalte wie Fotos, Videos oder Infografiken enthalten. In einigen Fällen kann es sein, dass eine Menge von unterschiedlichen Inhaltstypen (Text, Bild, Video, etc.) nur eine Anforderung erfüllt. Diese verschiedenen Arten von Inhalten müssen aber alle den gleichen Anforderungen entsprechen. Ein Inhaltselement kann beispielsweise aus einem Text mit einem Bild oder einem Video bestehen. Der Umfang jedes Inhaltselements hat große Wirkung auf unsere User-Experience-Entscheidungen. Im allgemeinen meint Garrett, dass unsere inhaltlichen Anforderungen Größenschätzungen des Umfangs, wie z. B. Pixelabmessungen für Bilder, oder wie viele Wörter © Jamal Mohsen 55 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) der Text ungefähr haben soll, beinhalten sollen. Die Planung dieser Inhaltselemente hilft uns, intelligente Entscheidungen zu treffen [Garrett 2012]. In der Praxis findet Garrett, dass wir so frühzeitig wie möglich die Verantwortlichkeiten für die wichtigen Inhaltselemente verteilen müssen. Machen wir das nicht, weist unsere Webseite am Ende wahrscheinlich verschiedene auf Lücken, was zu schlechter User Experience führt. Ein wichtiger Teil ist außerdem die Pflege der Inhalte. Wenn wir die Inhalte unserer Website (oder unseres Produkts) nicht aktualisieren, bekommen wir mit der Zeit eine Website, die die Nutzerbedürfnisse weniger oder nicht mehr erfüllt. Wenn unsere Website Informationen für unterschiedliche Gruppen von Benutzern bietet, ist es sinnvoll zu wissen, welche Personen in den Gruppen sind, um die Inhalte besser zu präsentieren. Informationen für Schüler brauchen einen anderen Ansatz als Informationen für deren Lehrer. Möchten wir die Informationen für beiden anbieten, müssen wir an einen dritten Ansatz denken [Garrett 2012]. Wenn wir diese Sachen früh erkennen, können wir die User Experience besser gestalten. Abbildung 5.6: Beispiele der Beziehung zwischen den strategischen Zielen und den Anforderungen [Garrett 2012]. Garrett äußert, dass die Sammlung von Ideen für die Anforderungen nicht schwer ist, sondern dass jeder, der ein Produkt verwendet, nach gewisser Zeit eine Vorstellung oder eine Idee bekommt für eine neue Funktion oder für die Verbesserung der © Jamal Mohsen 56 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) existierenden Funktionen. Es ist schwer zu wissen, welche Funktionen am besten zu unserem Umfang passen. Die Strategie ist die Grundlage, wenn wir uns für die Anforderungen entscheiden müssen (weil der Umfang darauf aufbaut). Manchmal erfüllt jedes strategisches Ziel mehrere Anforderungen (siehe Abbildung 5.6 links) und manchmal führt eine Anforderung zu mehreren strategischen Zielen (siehe Abbildung 5.6 rechts). Zum Schluss ist auch zu sagen, dass nicht alle Anforderungen erfüllt werden können. Manchmal gibt es technische Hindernisse. Es gibt zum Beispiel keine Möglichkeit, die Dinge im Web berühren zu können, obwohl sich die Benutzer dies gerne wünschen. Andererseits können wir manchmal einige Inhalte nicht umsetzen, weil sie mehr Personal oder mehr Geld benötigen würden [Garrett 2012]. 5.3 Strukturebene Die dritte Ebene des Garrett-Modells ist die Strukturebene. In dieser Ebene gehen wir von den abstrakten Themen und Ansätzen, welche in der Strategie- und Umfangsebene enthalten sind, zu den konkreten Faktoren über. Wir werden hier eine konzeptuelle Struktur für das Produkt entwickeln. 5.3.1 Struktur definieren Wie ich bereits erwähnt habe, kommen wir auf dieser Ebene zu den konkreten Faktoren, die die User Experience beeinflussen. Die Anforderungen alleine schaffen noch keinen Überblick, wie sie zusammenpassen. Die Struktur gibt diesen Anforderungen eine Form: Wie passen die Teile des Produkts zusammen? Wie verhalten sie sich im Zusammenspiel? Das Interaktionsdesign und die Informationsarchitektur bilden die Strukturebene. Abbildung 5.7: Die Komponenten der Strukturebene [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 57 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.3.2 Interaktionsdesign Da ich das Thema Interaktionsdesign bereits in Kapitel 2 ausführlich behandelt habe, möchte ich es in diesem Kapitel innerhalb des Garrett-Modells erklären. Darüber hinaus möchte ich erklären, wie das Interaktionsdesign unsere User Experience bestimmt. Bei der grundlegenden Rolle des Interaktionsdesigns geht es darum, den Benutzer zu verstehen, wie er denkt, wie er sich verhält und was er braucht, um seine Aufgaben mit Hilfe des Produkts besser erledigen zu können. Wenn wir all diese Sachen in der Struktur des Produkts berücksichtigen, erzeugen wir eine gute und erfolgreiche User Experience für unsere Benutzer. Konzeptuelle Modelle Das konzeptuelle Modell beschreibt das Verhalten oder den Eindruck des Benutzers, wenn er mit den Komponenten des interaktiven Produkts interagiert. Um die Entscheidungen des Designs unseres Produkts besser und konsistenter zu treffen, müssen wir zuerst unser konzeptuelles Modell kennen. Wenn wir z. B. eine Website haben, ist es unwichtig, ob unsere Inhaltskomponente ein Objekt oder einen Ort bezeichnet, wichtiger ist es, dass diese Komponente immer die selbe Funktion hat. Sonst verhält sich unsere Website inkonsistent, indem die selbe Komponente mal ein Objekt und mal einen Ort bezeichnet [Garrett 2012]. Das konzeptuelle Modell kann das Produkt als Ganzes oder nur ein Element des Produkts bezeichnen. Als Beispiel stellt Jesse James Garrett die Website von Slate dar. Slate ist eine englische Online-Nachrichten-Website. Als sie erstmals online ging, war ihr konzeptuelles Modell genauso wie ein echtes Magazin, so dass jede Seite eine Seitenzahl, eine vorherige und eine nachfolgende Seite hatte, und der Leser die Seiten durch eine Bedienfunktion umblättern konnte. Slate stellte aber fest, dass dieses konzeptuelle Modell nicht ideal war. Deswegen verzichteten sie später darauf [Garrett 2012]. In der Praxis stehen für eine Komponente des interaktiven Produkts mehrere konzeptuelle Modelle zur Verfügung. Z. B. gibt es beim Online-Verkauf zwei unterschiedliche konzeptuelle Modelle. Die erste Form funktioniert wie ein Einkaufsladen, so dass der Warenkorb einen Behälter darstellt, den der Käufer verwenden kann, um die gewünschten Produkte zu kaufen. Dieses Aufgabe wird erfüllt mit Hilfe von Funktionen wie Legen (die Produkte in den Warenkorb legen) und Herausnehmen (die Produkte aus dem Warenkorb herausnehmen). Die zweite Form stammt ebenfalls aus der realen Welt und funktioniert wie ein Katalog. Dadurch wird der gewöhnliche Warenkorb durch bestimmte Funktionen ersetzt [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 58 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Um eine erfolgreiche User Experience zu gestalten, ist es nach Garrett empfehlenswert, dass wir dem Benutzer nicht mitteilen, welches konzeptuelle Modell wir wählen möchten. Die Kommunikation mit dem Benutzer über unser konzeptuelles Modell muss nicht explizit sein, weil diese Kommunikation dem Benutzer nicht hilft, sie kann ihn in einigen Fällen sogar verwirren. Wir müssen das am besten funktionierende konzeptuelle Modell auswählen, solange dieses sowohl den Bedürfnissen des Benutzers als auch seinen Erwartungen entspricht [Garrett 2012]. Wenn es in mancher Hinsicht den Erwartungen des Benutzers nicht entspricht, kann es den Benutzer meiner Meinung nach auch stimulieren, es zu entdecken. In der Folge erzeugt es eine gute User Experience. 5.3.3 Informationsarchitektur Definition Die zweite Hauptkomponente der Strukturebene ist die Informationsarchitektur. Sie beschreibt die kognitive Verarbeitung der Informationen. Insbesondere bezeichnet sie sowohl die Struktur der dargebotenen Informationen, als auch die Gestaltung dieser Struktur. Obwohl die Informationsarchitektur als Konzept neu ist, ist sie in der Praxis sehr alt. Schon lange versuchten Menschen, die zu vermittelnden Informationen so zu strukturieren und zu gestalten, dass sie für andere Menschen verständlich und nutzbar sind (vgl. [Garrett 2012] und [Wolf 2010]). Informationsarchitektur spielt eine wichtige Rolle sowohl für funktionsorientierte Produkte (z. B. ein Handy) als auch für informationsorientierte Produkte (z. B. für eine Website, die nur Informationen darstellt). Struktur des Inhalts Wenn wir ein informationsorientiertes Produkt haben, stellt sich die Frage, wie die Informationen strukturiert werden sollen, um die User Experience beim Benutzer positiv zu beeinflussen. Das Ziel der Informationsarchitektur im Webbereich ist nicht nur, Informationen zu strukturieren, sie ist auch stark verbunden mit dem Bereich der Gestaltung der Systeme, die es dem Benutzer ermöglichen, diese Informationen effizienter und effektiver zu finden. Darüber hinaus sorgt sie für die Navigation, die den Benutzern hilft, typische Informationen auf der Website zu finden [Garrett 2012]. Wie in allen Bereichen treten in der Informationsarchitektur verschiedene Probleme auf. Um diese Probleme zu überwinden, verwenden wir Klassifizierungssysteme, die die Inhalte der Website und die Nutzerbedürfnisse berücksichtigen. Um ein solches © Jamal Mohsen 59 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) System aufzubauen, haben wir zwei Methoden oder Ansätze: Der Von-unten-nachoben-Ansatz und der Von-oben-nach-unten-Ansatz [Garrett 2012]. 1- Von-unten-nach-oben-Ansatz Basiert auf den Überlegungen auf der Umfangsebene (Inhalte und Funktionalität). Bei diesem Ansatz benutzen wir Kategorien und Unterkategorien. Als ersten Schritt analysieren wir die Inhalte und die funktionalen Anforderungen. Dann gruppieren wir die Komponenten in logische Kategorien. Danach gruppieren wir diese Gruppe wiederum in Kategorien auf einer höheren Ebene. So bekommen wir eine Hierarchie oder eine Struktur, die unsere Produktziele und Nutzerbedürfnisse erfüllt (Abbildung 5.8). 2- Von-oben-nach-unten-Ansatz Basiert auf den Überlegungen auf der Strategie- ebene (Produktziele und Nutzerbedürfnisse). Als ersten Schritt sammeln wir die am weitesten möglichen Ziele, die wir erreichen möchten und verwirklichen können. Diese beinhalten die möglichen Inhalts- und Funktionskategorien. Dann unterteilen wir diese Gruppe in Unterkategorien. So haben wir eine Struktur, welche die inhaltlichen und funktionalen Anforderungen umfasst (Abbildung 5.8). Abbildung 5.8: Der Von-oben-nach-unten-Ansatz (oben) und der Von-unten-nachoben-Ansatz (unten) ([Garrett 2012], S.90). Beide Ansätze sind wichtig und keiner ist besser als der andere: Bei dem Vonunten-nach-oben-Ansatz haben wir eine Struktur, die alle Inhalte widerspiegelt. Diese Struktur ist aber unflexibel, wenn wir andere Inhalte hinzufügen oder ändern möchten. Andererseits ist der Von-oben-nach-unten-Ansatz flexibel für solche © Jamal Mohsen 60 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Änderungen. Er hat aber den Nachteil, dass wir beim Aufbau einer solchen Struktur eine Architektur bekommen, in der wir manchmal wichtige Inhalte übersehen [Garrett 2012]. Viele Leute sehen als Qualitätsmerkmal einer Webseite die Anzahl der Klicks oder die Anzahl der Schritte, die notwendig sind, damit der Benutzer seine Aufgabe erreicht. Deswegen legen sie sich auf der Ebene der Architektur auf eine bestimmte Anzahl von Kategorien fest. Garrett ist der Meinung, dass wir die Anzahl der Kategorien in einem Abschnitt der Architektur nicht bestimmen müssen. Es ist für den Benutzer wichtiger, dass jeder Schritt sinnvoll ist. Für ihn sind neun einfache und sinnvolle Schritte besser als fünf komplexe Schritte [Garrett 2012]. Ein wichtiges Merkmal einer effektiven Architektur ist, dass sie für Hinzufügungen und Änderungen flexibel ist. Wenn wir z. B. eine Website haben, müssen wir sie mit der Zeit immer aktualisieren: Neue Themen hinzufügen, alte löschen, neue Anforderungen definieren usw. In den meisten Fällen meint Garrett, dass die Änderungen an unsere Struktur angepasst werden sollten, bevor wir an eine neue Struktur denken. Die Hauptidee bei der Gestaltung der gesamten User Experience, einschließlich der Struktur der Website bzw. des Produkts ist, dass wir die Anforderungen und Ziele des Benutzers kennen. Außerdem ist es nach Garrett [2012] wichtig, dass wir an eine Überarbeitung unserer Struktur denken müssen, wenn die Ziele der Website geändert oder neu definiert werden. 5.4 Rasterebene In der Strukturebene haben wir allen Anforderungen, die aus den strategischen Zielen abgeleitet wurden, eine Form gegeben. Auf dieser Ebene möchten wir diese Form noch besser formulieren. Die Rasterebene besteht aus den Aspekten des Navigations, Inteface- und Informationsdesigns. Diese Elemente sind sehr eng miteinander verbunden. 5.4.1 Definition des Rasters Die vorige Ebene umfasst das Interaktionsdesign und die Informationsarchitektur, die eine wichtige Rolle spielen, die Funktionalität unserer Website zu definieren. In der Rasterebene bestimmen wir die Form dieser Funktionalität. Insbesondere werden wir uns hier auf die Elemente der einzelnen Seiten konzentrieren. © Jamal Mohsen 61 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Wenn wir dem Benutzer ermöglichen, einen anderen Ort anzusteuern, handelt es sich um ein Navigationsdesign. Mithilfe des Navigationsdesigns kann der Benutzer unsere Struktur, die wir mithilfe der Informationsarchitektur aufgebaut haben, erkennen. Abbildung 5.9: Die Komponenten der Rasterebene [Garrett 2012]. Auf der Funktionsseite besteht das Raster aus dem Interfacedesign (Abbildung 5.9). Da das Interfacedesign innerhalb des Garrett-Modells eine Rolle spielt und mein Rechercheschwerpunkt nicht auf dieser Disziplin liegt, werde ich an dieser Stelle nur einen kurzen Überblick geben, der die Beziehung des Interfacedesigns mit dem Interaktionsdesign innerhalb unserer Gestaltung der User Experience erklärt. Interfacedesign beschäftigt sich mit der Gestaltung von Benutzungsoberflächen zwischen dem Benutzer und der Maschine (dem Produkt). Wenn der Benutzer irgendetwas mit dem Produkt machen möchte, dann fällt diese Aufgabe in das Gebiet des Interfacedesigns. Der Benutzer kann anhand des Interface (Schnittstelle) mit den Funktionen des Produkts, die wir in der zweiten Ebene in der Spezifikation definiert, und in der dritten Ebene im Interaktionsdesign strukturiert haben, interagieren. Die wichtigstee Aufgabe des Interfacedesigns ist die Auswahl der geeigneten Interface-Elemente (wie Eingabefelder und Schaltflächen) für jede Aufgabe und deren Anordnung auf dem Bildschirm [Garrett 2012]. Bei der Gestaltung einer Benutzungsoberfläche müssen wir die schon existierenden Konventionen berücksichtigen. 5.4.2 Konvention Wenn wir eine Benutzungsschnittstelle oder eine Webseite erstellen möchten, befinden sich normalerweise die generell verwendeten Interaktionselemente wie Suchmasken, Navigation, Toolbars oder Menüleisten am gleichen Ort. Diese Anordnung wird im Laufe der Zeit Standard [Moser 2012]. Zum Beispiel befindet sich das Logo einer Website meistens oben links und die Suchmaske oben rechts (siehe Kapitel 2.4.1). Das Ziel der Rasterebene ist das Verfeinern der Form der Website, welche wir in der Strukturebene bekommen haben. Dabei müssen die vorhandenen Konventionen (zum Beispiel das Logo oben links) berücksichtigt werden, weil dies das Vertrauen © Jamal Mohsen 62 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) des Benutzers in unser Produkt unterstützt. Wenn der Benutzer beispielsweise zwei Websites besuchen möchte, Von denen ihm die erste schon vertraut ist, die andere Website jedoch für ihn neu ist, ist Garrett der Meinung, dass sich der Benutzer schnell an die neue Website gewöhnen kann, und dass er sie als vertrautes Produkt annimmt, wenn sie mit der anderen, bereits vertrauten Website konsistent ist und sich an die wichtigsten Konventionen hält. Tatsächlich folgen fast alle Produkte, mit denen Menschen interagieren, zu einem gewissen Maße Konventionen. Z. B. befinden sich bei allen Auto-Herstellern die wichtigsten Interaktionselemente (Hupe, Schaltgetriebe, ...) am gleichen Ort. Die Tastatur-Designs von Telefonen sind ebenfalls ein wichtiges Beispiel für den Sinn von Konventionen. Die Drei-mal-vier-Anordnung der Ziffern wird als Standard bezeichnet, trotzdem gibt es in diesem Bereich viele Experimente, die andere Tastatur-Designs, wie die Zwei-mal-sechs- oder Vier-mal-drei-Anordnung ausprobieren [Garrett 2012]. In der Realität benötigt der Benutzer nur ein paar Sekunden mehr, wenn er einen Anruf mit einem nicht standardgemäßen Telefon tätigt. Diese paar Sekunden sind aber für den Benutzer sehr wichtig. Sie können die Ursache sein, dass der Benutzer äußerst unzufrieden wird und eine negative User Experience bei ihm erzeugt wird[Garrett 2012]. Tatsächlich geschieht es in einigen Fällen, dass sich Konventionen von einem Produkt auf ein anderes übertragen. Z. B. wurde die Drei-mal-vier-Ziffernanordnung des Tastaturlayouts von Telefonen zum Standard für andere Produkte, wie Fernbedienungen und Mikrowellen [Garrett 2012]. Die Wichtigkeit dieses einheitlichen Standards bei unterschiedlichen Geräten liegt darin, dass sich der Anwender leicht daran gewöhnen kann. Das bedeutet aber nicht, dass wir bei der Gestaltung unserer Benutzungsoberfläche den bestehenden Konventionen hundertprozentig folgen müssen. Nach Garrett können wir von diesen Konventionen nur dann abweichen, wenn diese Abweichung sinnvoll ist. Die positive User Experience basiert darauf, dass es für jede Abweichung einen klaren Grund gibt [Garrett 2012]. 5.4.3 Navigationsdesign Das Navigationsdesign spielt für jede Website eine wesentliche Rolle. Gleichzeitig ist die Navigation auch für jedes nicht informationsorientierte Produkt oder für Produkte, die gar keine Websites sind, sehr wichtig. Wenn die gesamte Funktionalität des Softwareprodukts nicht in eine einzige Benutzungsoberfläche gepackt ist, © Jamal Mohsen 63 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) braucht der Benutzer unbedingt Navigationselemente, die ihm helfen, sich besser in der Software zu orientieren [Garrett 2012]. Navigationsdesign muss drei Ziele erfüllen Die Ziele der Navigation jeder Website oder jedes Softwareprodukts, das aus mehreren Benutzungsoberflächen besteht, kann man eigentlich auf die Beantwortung von drei Fragen reduzieren: Wo bin ich? Woher komme ich? Und wohin kann ich gehen? (vgl. [Garrett 2012] und [Dilthey 2000]). 1- Wohin kann ich gehen? Der Benutzer muss die Fähigkeit haben, von seiner Position zu einer anderen zu gelangen. Im Allgemein muss man nicht jede Seite oder jede Benutzungsoberfläche mit allen anderen verknüpfen. Die Navigationselemente müssen so gestaltet werden, dass sie das Verhalten des Benutzers vereinfachen. Meist ist es praktikabel und sinnvoll, dass die oberste Seite der Struktur (Startseite) immer erreichbar ist. 2- Woher komme ich? Bei einer Website beantwortet der Browser diese Frage durch die ZurückSchaltfläche. Es ist sehr wichtig, dass wir in unsere Produkten solche Elemente einfügen. Wenn wir auf den Zurück-Link verzichten, können wir nie wissen, woher der Benutzer gekommen ist. In diesem Fall sollten wir lieber Links wie Zurück zur Hauptseite hinzufügen. Außerdem muss das Navigationsdesign so gestaltet sein, dass es die Relation zwischen den verschiedenen Navigationselementen verdeutlicht. Wir müssen nicht nur eine Linkliste erstellen, sondern wir müssen auch die Beziehung zwischen diesen Links erklären: Welcher ist wichtiger als die anderen? Was sind die Unterschiede zwischen ihnen? Was sind die Gemeinsamkeiten? Diese Informationen ermöglichen dem Benutzer, die Auswahlmöglichkeiten besser zu erkennen. 3- Wo bin ich? Das Navigationsdesign muss so gestaltet sein, dass es dem Benutzer die Relation zwischen den gesamten Inhalten der Website (oder des Produkts) und der momentan besuchten Seite vermittelt. Eine auffallend platzierte Überschrift kann z. B. dem Benutzer kommunizieren, wo er sich gerade befindet. Wenn wir dem Benutzer diese Relation vermitteln können, kann er besser verstehen, welche Auswahlmöglichkeiten ihm zur Verfügung stehen, um seine Ziele zu erreichen. © Jamal Mohsen 64 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Als Verbot bzw. Tabu können wir hier erwähnen, dass keine Seite oder Benutzungsoberfläche ohne Navigationselemente gestaltet werden darf. Andererseits müssen wir vermeiden, eine Seite zu erstellen, zu der wir im normalen Ablauf nicht zurückkehren können. Manche Leute sind der Meinung, dass der Benutzer sich auf einer Website genau wie in einem echten Läden verhält: Er behält eine kleine Karte in seinem Gedächtnis und weiß genau, was die wichtigen und möglichen Schritte (Wege) sind; andere glauben, dass der Benutzer die Struktur der Website sofort nach seinem Besuch vergisst und dass er kein Wissen von einer Website zur anderen mitnimmt [Garrett 2012]. Da es bis jetzt keine Studie gibt, die das abschließend klärt, ist es sinnvoll, dass die Gestaltung der gesamten User Experience, einschließlich der Struktur und der Navigation, darauf basiert, dass der Benutzer kein Wissen über die Struktur in seinem Kopf bemerkt [Garrett 2012]. Beispiele für Navigationssysteme In der Praxis besitzen die meisten Websites mehrere Navigationssysteme, mit denen der Benutzer seine Bedürfnisse und Ziele auf unterschiedliche Weise erfüllen kann. Gute Beispiele sind die globale Navigation und die lokale Navigation [Garrett 2012]: 1- Globale Navigation Sie ermöglicht dem Benutzer, zum großen Umfang des Softwareprodukts oder der Website zu gelangen. Das bedeutet nicht, dass sich auf jeder Benutzungsoberfläche oder auf jeder Seite eine globale Navigationbefinden muss, obwohl diese Idee sinnvoll ist. In Garrett [2012] wird der Begriff persistent verwendet, um Navigationselemente zu beschreiben, die auf sämtlichen Seiten erscheinen. Hier ist es wichtig zu sagen, dass persistente Navigationselemente nicht unbedingt global sein müssen. Mithilfe der globalen Navigation kann der Benutzer die Website von einem Ende zum anderen bewegen (siehe Abbildung 5.10). Anders gesagt, mit einer globalen Navigation kann der Benutzer überall hin gelangen. Ein relevantes Beispiel globaler Navigation sind die Navigationsleisten, welche Links zu allen Hauptteilen einer Website beinhalten. Abbildung 5.10: Ein Beispiel der globalen Navigation [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 65 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 2- Lokale Navigation Im Vergleich zur globalen Navigation gibt die lokale Navigation dem Benutzer nur die Möglichkeit, die in der Struktur benachbarten Seiten zu erreichen. In der Struktur befindet sich eine Eltern-Kind-Relation. Die lokale Navigation bietet dem Benutzer Zugang sowohl zur übergeordneten Eltern-Seite, als auch zu den untergeordneten Kind-Seiten zu gelangen (Abbildung 5.11). Neben der globalen und der lokalen Navigation existieren noch andere Arten von Navigationssystemen, etwa die kontextuelle und die ergänzende Navigation. Alle ermöglichen dem Benutzer, auf verschiedene Art und Weise erfolgreich auf der Website zu navigieren. Abbildung 5.11: Ein Beispiel der lokalen Navigation [Garrett 2012]. 5.4.4 Informationsdesign „Informationsdesign ist die Kunst, Informationen so aufzuarbeiten, dass sie von Menschen effizient und effektiv genutzt werden können“ (Nach Robert e. Horn in [Moser 2012], S. 172). Die Aufgabe des Informationsdesigns ist die Präsentation und Organisation der Informationen, sodass sie für den Anwender gut benutzbar und verständlich sind [Garrett 2012]. Es gibt verschiedene Arten von Informationsdesigns. Deswegen muss der Designer die Entscheidung treffen, welche Art der Präsentation am besten zu den Informationen passt. Er muss beispielsweise entscheiden, ob ein Balkendiagramm oder ein Kreisdiagramm besser für seine Präsentation der Informationen geeignet ist. In einigen Fällen ist es die Aufgabe des Informationsdesigns, die Informationen zu gruppieren und/oder anzuordnen [Garrett 2012]: Wenn wir z. B. diese Liste von Informationen haben: Name Straße Telefon © Jamal Mohsen 66 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Vorname Postleitzahl E-Mail Straße/Hausnummer Geburtsdatum wäre es besser, wenn wir diese Liste so gruppieren und anordnen: - Persönliche Daten Vorname Name Geburtsdatum - Adresse Straße/Hausnummer Postleitzahl Ort - Weitere Angaben Telefon E-Mail Die Grundidee bei dieser Gruppierung und Anordnung der Informationsteile ist, dass sie die Bedürfnisse und die Ziele des Benutzers unterstützen [Garrett 2012]. Informationsdesign spielt beim Interaktionsdesign eine Rolle: Bei der Interaktion mit einem Softwareprodukt soll das System dem Benutzer manchmal Informationen vermitteln. Fehlermeldungen sind ein relevantes Beispiel [Garrett 2012]. Eine weitere Aufgabe des Informationsdesigns ist die Ausschilderung. Diese Idee ist von der realen Welt abgeleitet und ermöglicht es dem Benutzer, zu wissen, wo er sich befindet und wohin er gehen kann. Auf Parkplätzen gibt es z. B. Ausschilderungen mit einer Zahl oder einem Buchstaben, die den Menschen helfen, sich zu erinnern, wo sie ihre Fahrzeuge geparkt haben. Auf einer Website oder in einem Softwareprodukt erfolgt diese Ausschilderung durch bestimmte Beschriftungssysteme oder Symbole, die dem Benutzer ein mentales Bild liefern, wo er ist und wohin er gehen kann [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 67 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.5 Oberflächenebene Die letzte Ebene des Fünf-Ebenen-Modells ist die Oberflächenebene. Auf dieser Ebene konzentrieren wir uns auf das sensorische Design, weil dies dem Benutzer als erstes auffällt. 5.5.1 Definition der Oberfläche Die Oberflächenebene besteht nur aus einer Komponente: Dem sensorischen Design. Das fertige Design fasst Funktion, Inhalt und Ästhetik der Website zusammen. Auf der Rasterebene haben wir uns mit der Anordnung der Interaktionselemente sowie mit der Gruppierung und dem Arrangement der Informationselemente beschäftigt. Auf der Oberflächenebene steht das visuelle Design im Mittelpunkt. So richten wir den Fokus auf eine erfolgreiche visuelle Anordnung und Präsentation dieser Elemente. Abbildung 5.12: Die Komponente der Oberflächenebene [Garrett 2012]. 5.5.2 Einsatz der Sinne zur positiven Gestaltung von User Experience Die Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen) sind unser Tor zur Welt. Durch sie können wir mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen interagieren. Um eine zufriedenstellende und erfolgreiche Interaktion mit einem Produkt zu haben, und um anschließend eine optimale User Experience zu entwickeln, müssen wir uns bei der Gestaltung unseres Produkts auf eine sinnvolle Nutzung der Sinne konzentrieren. Jeder unserer Sinne spielt eine Rolle, wenn wir mit einem Produkt in Kontakt kommen. Das hängt von verschiedenen Dingen ab: vom Produkt selbst und/oder von der Situation. Wenn man z. B. ein T-Shirt kaufen möchte, kann in der Realität sowohl das visuelle Design als auch die Berührung eine Rolle spielen. Beim © Jamal Mohsen 68 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) Online-Kauf hingegen spielt nur das visuelle Design eine Rolle. Im Folgenden möchte ich den Einfluss der Sinne auf die gesamte User Experience behandeln [Garrett 2012]: 5.5.2.1 Sehen „Das visuelle Design ist das Erste, was der Kunde von einem Produkt sieht. Es beeinfl usst die subjektiv wahrgenommene Qualität, lange bevor andere Produktqualitäten zum Tragen kommen.“ ([Moser 2012], S. 218). Visuelles Design spielt bei jedem Produkt eine wichtige Rolle. Seine grundlegende Aufgabe ist die grafische Gestaltung einer Benutzungsschnittstelle. Deswegen konzentrieren sich User-Experience-Designer darauf, wie das visuelles Design die gesamte User Experience beeinflusst. Es ist bekannt, dass nicht alle Anwender den selben Geschmack und die selbe ästhetische Wahrnehmung haben. Deswegen sind die Auffassungen, was ein visuell ansprechendes und cooles Design ist, sehr unterschiedlich. Garrett [2012] ist der Meinung, dass unsere Designentscheidungen nicht unbedingt kompatibel mit dem sein müssen, was für alle Benutzer ästhetisch ansprechend und cool erscheint. Stattdessen müssen diese Entscheidungen an die Entscheidungen auf der darunter liegenden Ebene angepasst werden, weil unsere visuellen Designideen am Schluss gut funktionieren müssen. 5.5.2.2 Hören Geräusche spielen bei vielen Produkten eine wichtige Rolle. Sie können uns bei vielen Produkten Informationen vermitteln. Z. B. gibt es bei einem Auto besondere Töne, die uns informieren, dass das Licht noch nicht ausgeschaltet ist, die Tür offen ist oder der Sicherheitsgurt noch nicht angelegt ist. Außerdem geben Geräusche einigen Produkten eine Art von Persönlichkeit. Z. B. erkennen alle Benutzer die Töne eines iPhones oder eines Samsung Galaxy, wenn der Bildschirm ge- oder entsperrt wird. Ebenso ist der Ton der virtuellen Tastatur vertraut. 5.5.2.3 Geschmack und Geruch Im Bereich Mensch-Maschine-Interaktion legen User-Experience-Designer weder Wert auf Geruch noch auf Geschmack. Doch gibt es einige Gerüche, die beim Benutzer ein gutes Gefühl hinterlassen. Z. B. ist der Geruch eines neuen Autos (viele neue Produkte haben ihren eigenen Geruch) bei vielen Leuten beliebt. Die UserExperience-Designer haben sich für diesen Geruch jedoch nicht bewusst entschieden, © Jamal Mohsen 69 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) der Geruch stammt von den bei der Produktion verwendeten Materialien [Garrett 2012]. 5.5.2.4 Berührung Berührung spielt im Bereich des Industriedesigns eine Rolle. In dieser Domäne beschäftigen sich Industriedesigner als erstes mit der physischen Erfahrung des Benutzers mit den greifbaren Produkten. Die physische Produkterfahrung beinhaltet verschiedene Elemente: Soll das Produkt rund oder viereckig sein? Sollen die verwendeten Materialien aus Metall oder Plastik bestehen? Nicht zu vergessen, dass einige Produkte, wie Mobiltelefone oder auch Videospiele, mit dem Benutzer über der Vibration interagieren [Garrett 2012]. Da nur das visuelle Design bei jedem Produkt eine Rolle spielt, möchte ich mich im weiteren Verlauf dieses Kapitels darauf konzentrieren. 5.5.3 Beurteilung des visuellen Designs Wenn wir das visuelle Design bewerten möchten, sollten wir dem Blick des Benutzers folgen. Wir müssen ganz einfach wissen, wohin der Benutzer zuerst hinsieht. Was fällt ihm auf? Welche Elemente erwecken seine Aufmerksamkeit? Um diese Fragen zu beantworten, benutzen Forscher sogenannte EyetrackingSysteme, mit denen sie alle Punkte auf dem Bildschirm, die die Testpersonen betrachten, erkennen können. Sie können feststellen, wohin der erste Blick der Testpersonen geht, wie sich deren Blick auf der Website bewegt und welche die dominanten Elemente sind. Anstatt dieser komplexen Eyetracking-Systeme reicht in vielen Fällen eine Befragung aus, um diese Informationen zu liefern. Wir können den Benutzer oder auch uns selbst fragen, wohin unsere Aufmerksamkeit auf der Webseite als erstes hingeht, können die dominanten Seitenelemente in der Reihenfolge benennen usw. Garrett hat in seinem Buch verschiedene Tricks vorgestellt, um das dominante oder auffallendste Element der Website bestimmen zu können. Z. B. können wir die Website vom weitem (vom Ende des Raums) betrachten. Oder wir können unsere Augen stark zusammenkneifen, so dass wir die einzelnen Elemente nicht mehr sehen [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 70 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.5.4 Techniken der visuellen Gestaltung Um die Aufmerksamkeit der Benutzer zu wecken und auf bestimmte Elemente der Benutzungsschnittstelle zu lenken, stehen viele effektive visuelle Techniken zur Verfügung, die von User-Experience-Designern verwendet werden, um die Form der Website zu verbessern. 5.5.4.1 Farbkontraste Der Kontrast spielt bei der visuellen Gestaltung einer Website oder eines Produkts eine wesentliche Rolle. Ohne Kontrast können wir die Interaktionselemente nicht voneinander unterscheiden: Der Benutzer nimmt die Website als grau wahr. Er sieht hin und her, ohne eine einzelne auffallende Komponente zu finden. Der Kontrast hilft uns als Designer, die Aufmerksamkeit des Benutzers auf die wichtigen Elemente der Webseite zu lenken. Andererseits hilft er dem Benutzer, die Relation zwischen den verschiedenen Aspekten und den Navigationselementen der Website zu finden [Garrett 2012]. Die Menschen sind so auf die Welt gekommen, dass ihre Aufmerksamkeit sich auf die unterschiedlichsten Elemente richtet. Wir können von diesem instinktiven Verhalten profitieren. Dazu müssen wir die grundlegenden Elemente auffallend gestalten. Wir können beispielsweise die Elemente, die der Benutzer benötigt, mit einer anderen Farbe markieren. Abbildung 5.13 zeigt, dass das Design ohne Kontrast grau oder neutral wirkt (links) und dass es mit Kontrast (rechts) auf den Betrachter anziehend wirkt und für Schlüsselelemente verwendet werden kann. Hier ist es bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass der übermäßige Einsatz von Kontrasten zu überladenem Design führen kann. Abbildung 5.13: Ein Beispiel der Farbkontraste [Garrett 2012]. © Jamal Mohsen 71 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 5.5.4.2 Farbpaletten und Typografie Farben haben einen großen Einfluss auf jedes Softwareprodukt, insbesondere auf seine Ästhetik und Usability. Außerdem spielen sie eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung einer Markenidentität. In der Realität sehen wir, dass manche Marken eine starke Verbindung mit bestimmten Farben haben. Wir können nicht an eine Firma denken, ohne automatisch an ihre Farbe zu denken. Um ihre Marke im Kopf der Leute zu verankern, benutzen beispielsweise Coca-Cola und Kodak seit Jahren die selbe Farbe (Rot, Gelb) [Garrett 2012]. Eigentlich steht diesen Unternehmen eine breite Farbpalette zur Verfügung, die in allen Materialien verwendet wird. Die Grundfarben der Marke sind normalerweise nur ein Teil dieser Farbpalette. In der Regel werden die Farben so ausgesucht, dass sie einerseits nicht miteinander konkurrieren und andererseits gut zusammenpassen [Garrett 2012]. Es ist empfehlenswert, dass unsere Farbpalette ausschließlich die universell verwendbaren Farben beinhaltet. Oft sollten wir kräftigere und hellere Farben für die Vordergrundelemente verwenden, auf die wir die Aufmerksamkeit des Benutzers lenken möchten. Dunkle Farben werden in den meisten Fällen für den Hintergrund des Designs benutzt. Das bedeutet, dass für unauffällige Designelemente dunkle Farben verwendet werden müssen. Die so ausgewählte Farbpalette hilft uns, bessere gestalterische Entscheidungen zu treffen, sodass wir nur aus einer geringeren Anzahl von Farben auswählen müssen [Garrett 2012]. Ein weiteres Merkmal der Markenidentität ist die Typografie. Aufgabe der Typografie ist die Gestaltung der Texte, um einen visuellen Stil zu vermitteln. Die Typografie ist für einige Unternehmen von großer Bedeutung, wenn sie ihre Markenidentität kommunizieren möchten [Garrett 2012]. Ein relevantes Beispiel ist die Marke Volkswagen oder die Marke Deutsche Bahn. Typografie kann sehr hilfreich und effektiv für die Darstellung unserer Identität sein. Deshalb entwickeln manche Unternehmen sogar ihre eigene Schrift. Im allgemeinen haben die Texte nicht nur auf die Markenidentität, sondern auch auf Benutzungsschnittstellen der Softwareprodukte eine grundlegende Wirkung. Die Auswahl der geeigneten Schriftart ist sehr wichtig. Garrett [2012] empfiehlt, keine verschnörkelte Schrift zu wählen wenn wir dem Leser auf einer Webseite einen Fließtext (größeren Text) anbieten möchten„ weil dadurch die Augen der Benutzer schnell ermüden. Wir sollten ganz einfach klare Schriftarten wie Times oder Arial verwenden. Andererseits eignen sich Schriftauszeichnungen (fett, kursiv) für die Überschriften oder für die Navigationselemente. Die Hauptidee bei der Auswahl geeigneter Schrif- © Jamal Mohsen 72 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) ten ist, dass sie mit unseren Zielen kompatibel ist. Wir sollten dem Benutzer ein gutes Design anbieten, in dem alle Schriften gut zusammenpassen. Andererseits sollten wir ihn nicht durch unnötige oder viele unterschiedliche Schriftarten und Schriftgrößen verwirren . Unterschiedliche Schriften sollten wir nur benutzen, um die Unterschiede zwischen Elementen aufzuzeigen [Garrett 2012]. Es existieren zwei unterschiedliche Arten der Typografie: Die Makro- und die Mikrotypografie. Die Makrotypografie befasst sich mit dem Einfluss des gesamten Textlayouts. Die Mikrotypografie befasst sich hingegen mit der Wirkung des einzelne Zeichens [Moser 2012]. 5.6 Zusammenfassung Wie bereits erwähnt, können wir stets dieselben Elemente der User Experience auf ein anderes Produkt übertragen, egal wie komplex dieses Produkt ist. Es ist sehr wichtig, für jedes Projekt zu wissen, wie wir diese Elemente in der Praxis umsetzen können. Wenn wir das von Garrett entwickelte Fünf-Ebenen-Modell betrachten, entsteht vielleicht das Gefühl, dass wir sowohl ein großes Team mit vielen ausgebildeten Spezialisten benötigen, als auch viel Zeit, um ein solches Modell zu entwickeln. Nach Garrett [2012] ist das jedoch kein Muss. Aufgrund seiner Erfahrung ist er der Meinung, dass ein kleines Team manchmal bessere Ergebnisse als ein großes Team erreicht. Der Grund dafür liegt darin, dass ein kleines Team leichter einen gemeinsamen Blick auf die gesamte User Experience werfen kann. Bei einem größeren Team ist es besser, wenn sich jedes Mitglied oder jede kleine Gruppe nur auf einen Teil der gesamten User Experience konzentriert. Eine gelungene User Experience anhand des Fünf-Ebenen-Modells basiert darauf, Lösungen für eine große Anzahl kleiner Probleme zu finden. Es gibt zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche User Experience [Garrett 2012]: 1- Wir müssen das Problem richtig verstehen Wenn wir beispielsweise in unserem Design ein Problem mit einem großen schwarzen Button haben, müssen wir genau wissen, ob das ein Oberflächen-Problem ist (dann sollte der Button z. B. ein bisschen kleiner sein oder eine andere Farbe haben), oder ob es ein Raster-Problem ist (dann sollte sich der Button z. B. an einem anderen Ort auf der Webseite befinden),oder ob es ein Struktur-Problem ist (dann sollte der Button z. B. eine andere Funktion ausführen). © Jamal Mohsen 73 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 5 Elemente Der User Experience (Fünf-Ebene Modell von Garrett) 2- Wir müssen die Konsequenzen der Problemlösung verstehen Wie bereits erwähnt, sind die fünf Ebenen voneinander abhängig. Jede Entscheidung muss zu den darunter liegenden und zu den darüber liegenden Ebenen passen. Beispielsweise ist es wichtig, dass unser Interaktionsdesign gut strukturiert ist, noch wichtiger ist es jedoch, dass das Design die Entscheidungen auf den anderen Ebenen unterstützt und die Bedürfnisse der Benutzer erfüllt. Ein wichtiges Ergebnis des Modells von Garrett ist meiner Meinung nach, dass es deutlich zeigt, dass die Gestaltung einer erfolgreichen User Experience den Zusammenschluss von Wissen aus verschiedenen Disziplinen (Interaktionsdesign, Informationsarchitektur, Navigationsdesign und Informationsdesign) erfordert. © Jamal Mohsen 74 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6.1 User Experience ist dynamisch Das „User Experience Lifecycle Model“ ContinUE (Continuous User Experience) ist ein Modell, das die verschiedenen Phasen der gesamten User Experience darstellt. Darüber hinaus adressiert dieses Modell die wichtigsten temporalen UserExperience-Aspekte, welche die verschiedenen Phasen beeinflussen. Abbildung 6.1: Das User Experience Lifecycle Model ([Thüring/Minge 2014], S. 48). Abbildung 6.1 zeigt, dass das Modell aus sechs Phasen besteht. Die „gestrichelten“ Phasen (Repetitive-Use- und Re-Use-Phase) sind optionale Zusätze. Sie werden nur bei wiederholter Nutzung des Produkts betrachtet. Die Phasen sind nach [Thüring/Minge 2014]: Pre-Use-Phase Wie bereits erwähnt, ist die User Experience bzw. das Benutzungserlebnis die Summe von mehreren kleinen Erlebnissen, wobei ein Teil davon vor der eigentlichen Nutzung stattfindet. Mit anderen Worten bedeutet das, dass jeder Benutzer seine © Jamal Mohsen 75 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? eigenen Erwartungen hat, bevor er mit einem Produkt oder System im physischen Sinne interagiert. Diese Erwartungen können sowohl negativ, wie z.B. Angst, als auch positiv, wie z.B. Hoffnung, sein. Sie basieren auf verschiedenen Faktoren, wie beispielsweise früheren Erfahrungen oder bestimmten Persönlichkeitseigenschaften des einzelnen Benutzers. Wenn negative Erwartungen die positiven dominieren, kommt es unter Umständen nie zu einem tatsächlichen Versuch, das Produkt zu benutzen. Dann wird das Produkt abgelehnt. Das heißt, dass die weiteren Phasen des Modells nicht durchgeführt werden können. Use/Experience-Phase Diese Phase beschreibt die eigentliche Nutzung des Produkts. Nach Abbildung 6.1 (was auch mit dem CUE-Modell (Kapitel 6.2) übereinstimmt) wird diese Nutzung (Interaktion) von Eigenschaften des Benutzers beeinflusst, wie z.B. seinem Vorwissen, seinen Vorlieben oder Erfahrungen, von Produktmerkmalen (aufgabenbezogene und nicht-aufgabenbezogene Qualitäten) und vom Kontext (z.B. Umgebung, Zeitdruck). Post-Use-Phase Diese Phase erfolgt nach der Interaktion zwischen dem Benutzer und dem Produkt. Hier reflektiert der Benutzer das angetroffene Erlebnis und bewertet die unmittelbaren Folgen der Interaktion. Die Bewertung des Produkts oder des Systems wird von Faktoren beeinflusst wie beispielsweise dem Grad der Erfüllung von Erwartungen. Repetitive-Use-Phase Diese Phase ist ein optionaler Zusatz, falls das System mehrmals verwendet wird. Dann werden die ersten drei Phasen mehrmals wiederholt. Das bedeutet, dass sich die Einflussfaktoren der Use/Experience-Phase (der Nutzer, das Produkt und der Kontext) über die Zeit massiv verändern können. Zum Beispiel verändern sich die Fähigkeiten und Erfahrungen des Benutzers durch die wiederholte Nutzung des Produkts. Beispielsweise verlieren Usability-Probleme ihre Bedeutung, wenn der Benutzer lernt, mit ihnen umzugehen. Past-Use-Phase In dieser Phase beurteilt der Benutzer sowohl das Produkt oder das System als auch sein Erlebnis (Experience) als Ganzes. Diese Evaluation kann positiv oder negativ sein. Sie entscheidet, ob der Eintritt in die letzte Phase möglich ist. Das © Jamal Mohsen 76 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? bedeutet, dass diese Phase die Produktloyalität beeinflusst, also ob der Benutzer eine neue Version des Produkts kaufen möchte. Re-Use-Phase Mit Re-Use oder Wiederbenutzung ist die Wiederverwendung eines ähnlichen Systems oder einer neuen Version des Produkts gemeint, nicht die Wiederverwendung des Systems oder des Produkts selbst. Die Grundlage des Übergangs in diese Phase ist eine positive Evaluation der Past-Use-Phase. Während die Pre-Use- und die Post-Use-Phase nur das eigentliche Erlebnis bewerten, beurteilen die Past-Use- und die Re-Use-Phase das Erlebnis im Allgemeinen. 6.2 CUE-Modell nach Thüring und Minge Damit man sich für ein technisches Produkt (z.B. ein Handy) interessiert, muss das Produkt einerseits durch hohe Usability und anderseits durch seine ästhetische Gestaltung überzeugen. Wenn eine dieser beiden Eigenschaften entfällt, kann das zu Frustration oder Desinteresse und in der Folge zur Ablehnung des Produkts führen. Ein Beispiel dafür ist, wenn wir ein Produkt haben, dessen Oberfläche den Benutzer nicht motiviert, es zu nutzen oder wenn sich dieses Produkt nur schwer bedienen lässt. Das Components-of-User-Experience-Modell (CUE-Modell) [Thüring/Minge 2014] beschreibt, welche Komponenten am Entstehen der User Experience beteiligt sind. Abbildung 6.2: Das CUE-Modell ([Thüring/Minge 2014], S. 46). Abbildung 6.2 zeigt, dass sich verschiedene Elemente an der Gestaltung des ganzheitlichen Benutzungserlebnisses des Benutzers beteiligen. Interaktionsmerkmale © Jamal Mohsen 77 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? wie Erlernbarkeit, Aufgabenangemessenheit, Fehlertoleranz sowie der Einfluss der Ästhetik des Produkts auf die Nutzung sind von drei Dingen abhängig [Thüring/Minge 2014]: 1- Produkteigenschaften: Wenn wir über die Features des Produkts sprechen, unterscheiden wir zwischen den aufgabenbezogenen Eigenschaften und der Form des Produkts (Sieht das Produkt anspruchsvoll aus? Ist seine Farbe Interessant? Usw.). 2- Kontext: Hier geht es um das physikalische und soziale Umfeld, in dem das Produkt verwendet wird (siehe Kapitel 3.4.1). 3- Eigenschaften des Benutzers: Hier ist es wichtig zu wissen, wer das Produkt benutzen wird und was seine Fähigkeiten, Vorlieben oder Erfahrungen sind. Diese drei Faktoren bilden zusammen die Interaktionsmerkmale, die später vom Benutzer als positiv oder negativ empfunden werden. In diesem Sinne zeigt das CUE-Modell, dass die positiven und negativen Reaktionen des Benutzers durch die Wahrnehmung aufgabenbezogener und nicht aufgabenbezogener Qualitäten dargestellt werden. Nach ([Thüring/Minge 2014], S. 47) bedeutet der Begriff Wahrnehmung „nicht nur die perzeptive Erfassung, sondern auch das Erkennen und spontane Bewerten der Produkteigenschaften, die sich in Form von Interaktionsmerkmalen zeigen“. Diese spontane Bewertung ist sehr stark mit den emotionalen Reaktionen, die während der Interaktion zwischen dem Benutzer und dem Produkt ausgelöst werden, verbunden. Im CUE-Modell bilden die Wahrnehmung (aufgabenbezogene und nicht aufgabenbezogene Qualitäten) und die Emotionen, die während der Nutzung des Produkts ausgelöst werden, zusammen das Gesamturteil, das einige wichtige Faktoren bestimmt, wie z.B. ob der Benutzer eine neue Version dieses Produkts erwartet und ggf. kaufen wird oder ob das Produkt sehr oft verwendet wird [Thüring/Minge 2014]. Die emotionalen Reaktionen spielen im CUE-Modell eine zentrale Rolle. Einerseits befinden sich die Emotionen in der zentralen Position der Abbildung 6.2; andererseits verbinden sie die Wahrnehmung aufgabenbezogener und nicht aufgabenbezogener Qualitäten durch die bidirektionalen Pfeile. Bidirektionale Pfeile bedeuten, dass beide Arten der Wahrnehmung von Produktmerkmalen die emotionalen Reaktionen wecken. Diese können aber für die Wahrnehmung rückwirkend sein. Bei der Interaktion mit einem Softwareprodukt wäre dies beispielsweise der Fall, wenn der Benutzer ein Problem mit einem bestimmten Knopf hat. Dann werden bei ihm negative Emotionen geweckt. Diese Emotionen können später auf alle ähnlichen Knöpfe wirken, © Jamal Mohsen 78 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? so dass sich der Benutzer bei ihnen immer vorsichtig verhält. Andererseits stellen die Emotionen im CUE-Modell eine Beziehung zwischen der Wahrnehmung aufgabenbezogener und nicht aufgabenbezogener Qualitäten her. An diesem Bezug liegt es nach [Tractinsky/Katz/Ikar 2000], dass die ansprechende Gestaltung eines Produkts seine Usability verbessert. Der Grund dafür ist nach [Tractinsky/Katz/Ikar 2000], dass die ästhetisch ansprechende Gestaltung als „Hallo Effekt“ wirkt. 6.3 Stellt User Experience eine Neuerung dar? Wenn wir die User-Experience-Aspekte betrachten, bemerken wir, dass viele dieser Aspekte schon bekannt sind. Hier ist die Frage, ob User Experience eine Neuerung darstellt, und ob sie schon in einer anderen Disziplin oder in einer anderen Leitidee des Interaktionsdesigns existiert. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst User Experience mit vier anderen Disziplinen, die mit User Experience zu tun haben, vergleichen. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass einige schon existierte Leitideen des Interaktionsdesigns, wie User Centred Design und Emotional Design, bei der Gestaltung einer optimalen User Experience eine Rolle spielen. Die vier ausgewählten Disziplinen sind: Usability Engineering, Software Engineering, Screen Design sowie Brand Design. Sie spielen für die User Experience (laut ihrer Zieldefinition) eine Rolle und sind in der Abbildung 6.3 dargestellt. Abbildung 6.3: Eigenschaften und Zusammenspiel der Disziplinen ([Reeps 2004], S. 48). © Jamal Mohsen 79 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 6 User Experience eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? In Abbildung 6.3 werden die Ziele jeder Disziplin repräsentiert sowie in Relation zueinander gesetzt. Usability Engineering und Software Engineering sind durch Usability miteinander verbunden. Screen Design ist eng sowohl mit Usability Engineering als auch mit Brand Design verbunden. Diese drei Disziplinen sind durch das User Centred Design miteinander verknüpft. Wenn wir das Drei-Level-Modell von Norman in Kapitel 4.5 betrachten, wissen wir, dass die in Abbildung 6.3 dargestellten Disziplinen nur einen Bestandteil der User Experience ausmachen. Für die Gestaltung einer gelungenen User Experience ist das Zusammenspiel aller Disziplinen sehr wichtig, weil es gemäß Normans Modell (in Kapitel 4.5) bedeutsam ist, die drei Level (visceral, behavioral und reflective) zu berücksichtigen. Wie bereits in Kapitel 3.1 erwähnt, werden die Ziele des Usability Engineering in den Abschnitten 110 und 11 in der Norm ISO 9241 dargestellt. Sie legen den Schwerpunkt dabei insbesondere auf den Behavioral Level. Das Ziel des Screen Designs ist es, ein Produkt mit attraktiver Erscheinung zu gestalten. Dabei wird der Visceral Level angesprochen. Brand Design hat als Ziel das Reflective Design [Reeps 2004]. Abschließend kann man sagen, dass keine der Disziplinen des User Centred Designs alle drei Levels unterstützt, sondern dass jede Disziplin nur einen Level als Ziel verfolgt. Deswegen erscheint es sinnvoll, dass wir bei der Gestaltung der User Experience die Kriterien dieser Disziplinen miteinander verknüpfen. Das ist aber nach dem Garrett-Modell in Kapitel 5 nicht ausreichend, weil bei der Gestaltung einer herausragenden User Experience die Koordination von vielen Bereichen, wie beispielsweise Interaktionsdesign, Navigationsdesign, Informationsarchitektur, Marketing, Kundenservice und Produktmanagement erreicht werden muss. Wie bereits in Kapitel 4.4 erwähnt, ist Usability das Basis-Kriterium bzw. die Grundvoraussetzung für eine positive User Experience. Darüber hinaus brauchen wir Genauigkeit in der Evaluation, wenn wir die User Experience beim Benutzer untersuchen möchten. Meiner Meinung nach erklärt das die Verteilung der anderen Leitideen des Interaktionsdesigns, welche ein gebrauchstaugliches Produkt als Ziel haben, in der User Experience. Um eine positive User Experience gestalten zu können, brauchen wir zwar zunächst Usability (um die Gebrauchstauglichkeit des Produkts zu sichern), aber danach brauchen wir überwiegend ästhetische und Design-Fähigkeiten. © Jamal Mohsen 80 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience In den Kapiteln 7.1 bis 7.3 möchte ich einige Gestaltungsprozesse und Methoden der User Experience vorstellen, welche uns helfen können, die Erfolgschancen der Entwicklung eines Produkts im Hinblick auf die User Experience zu gewährleisten oder zu erhöhen. Im Allgemein ähneln die Prozesse und Methoden der Gestaltung einer optimalen User Experience den Methoden der Gestaltung bekannter Usability, mit einigen Änderungen und Anpassungen. Einige Forschungsgruppen haben jedoch für die Gestaltung guter User Experience mit Fachleuten aus anderen Fachgebieten zusammengearbeitet. In Kapitel 7.4 möchte ich eine Befragungstechnik darstellen, die zur Ermittlung von Haupteigenschaften des Produkts sehr nützlich sein kann. Anschließend möchte ich in Kapitel 7.5 die Evaluationstechnik „AttrakDiff2“ präsentieren. 7.1 Methode nach Hull und Reid Kern dieser Methode ist es, dem Benutzer zu ermöglichen, sein eigenes Erlebnis zu konstruieren. Die Herangehensweise ist folgende: Die Benutzer der Zielgruppe nehmen als wichtige und aktive Teampartner an der Produktgestaltung teil. Ihre Funktion ist nicht nur, die Rolle als Testperson oder Informant (Evaluator) zu spielen. Beim Entwicklungsprozess unterstützen die professionellen Designer und andere Mitarbeiter die Benutzer dabei, ihre Bedürfnisse, Ideen oder Vorschläge auszudrücken. Die Entwickler sind verantwortlich dafür, diese Ideen zu realisieren und zu prüfen, ob sie machbar sind. Diese Methode war in vielen Projekten sehr erfolgreich. Die Störung durch den Benutzer bei der Produktgestaltung (wenn der Benutzer nach einer Aktivität nochmals hinterfragt) kann die Kreativität der Entwickler wecken [Reeps 2004]. © Jamal Mohsen 81 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience 7.2 Gestaltungsprozess nach Karat und Karat Am Anfang dieses Prozesses sollten wir die Zielgruppe definieren. Die Bedürfnisse und Wünsche der Zielgruppe können durch Interviews sowohl mit der Zielgruppe selbst als auch mit den Bezugspersonen der Zielgruppe ermittelt werden. Dann vergleichen wir in Benutzertests die Konzept-Prototypen mit schon bestehenden State-of-the-Art-Produkten. Das Ergebnis dieses Vergleichs ermöglicht uns, ein Designkonzept zu erarbeiten. Anschließend können wir die Zufriedenheit der Benutzer durch die Auswertung von Videoaufnahmen der Tests ermitteln, sowie durch Fragebögen und Messungen der Mausaktivität (hier wird gezählt, wie oft sich die Maus über einem selektierbaren Objekt befindet und wie oft dieses Objekt angeklickt wird) [Reeps 2004]. Diese Methode ähnelt den klassischen Methoden zur Gestaltung eines Produkts, die schon im Usability Engineering und im Software Engineering bekannt sind, und die von vielen Entwicklern bevorzugt werden. 7.3 Methode nach Dix Eine andere Methode zur Gestaltung eines Produkts unter Berücksichtigung von User Experience hat Dix vorgeschlagen. Sie ist eine abstrakte Methode, die sehr hilfreich sein kann, um das Ziel des Produkts oder Projekts unter die Lupe zu nehmen. Diese Methode bzw. dieser Prozess besteht aus zwei Hauptphasen: - Deconstruction: Dies ist die erste Phase der Methode. Damit ist gemeint, dass ein bestehendes Produkt analysiert wird, um die Kernpunkte des Erlebnisses zu verstehen, sowie die Materie und die Funktionalität dieses Produkts. - Reconstruction: In dieser Phase wird das Produkt rekonstruiert. Die Rekonstruktion kann auch in einem neuen Medium erfolgen. Ein wichtiger Punkt dieser Phase ist, dass wir bei der Reproduktion der Produktoberfläche die Kernpunkte des Erlebnisses beachten müssen und nicht nur die Oberfläche. Wenn nur das Erlebnis rekonstruiert wird, dann haben wir ein neues Produkt, das dem Original nachempfunden ist, es muss ihm jedoch nicht in jedem Punkt entsprechen [Ross 2004]. Eine Hauptmerkmal dieser drei Methoden ist, dass die Benutzer und ihre Bedürfnisse im Vordergrund stehen, und nicht die Bedürfnisse der Hersteller des Produkts. Das ist deutlich zu sehen, sowohl durch Interviews und Videobeobachtungen (Karat und Karat), als auch durch aktive Mitarbeit der Benutzer (Hull und Reid). © Jamal Mohsen 82 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience 7.4 Ermittlung von Hauptmerkmalen des Produktes mittels Laddering Laddering ist eine von Jordan entwickelte Interview-Methode, welche ursprünglich aus dem Marketing kommt. Diese Methode ermöglicht uns, die Zusammenhänge zwischen den Produkteigenschaften und den Vorlieben und Eigenschaften von Benutzern herzustellen. Der Ablauf dieser Interview-Methode ist folgender: Der Interviewer bittet den Befragten, eine Eigenschaft des Produkts zu nennen, die er besonders positiv oder negativ findet. Der Befragte gibt eine Antwort, danach fragt ihm der Interviewer nach der Begründung dieser Antwort. Der Interviewer wiederholt diesen Prozess, indem er immer wieder „warum“ fragt, bis der Befragte keine begründete Antwort mehr findet. Hier geht der Interviewer oder der Testleiter davon aus, dass er einen für den Befragten grundsätzlichen Wert herausgefunden hat. Dieser Prozess ist iterativ. Der Interviewer fragt den Teilnehmer nach einer weiteren für ihn positiven oder negativen Produkteingenschaft, und wiederholt den Prozess von Anfang an. Das Interview ist zu Ende, sobald der Befragte keine weitere positive oder negative Eigenschaft nennen kann (vgl. [Reeps 2004]). Im Folgenden ist der Verlauf einer Befragung am Beispiel einer Stereoanlage zitiert, um die Methode zu erklären: Investigator: Please tell me something that you don’t like about this product. Participant: I don’t like the colour. Investigator: Why don’t you like the colour? Participant: I don’t like black on stereos. Investigator: Why don’t you like black-coloured stereos? Participant: All stereos are black. Investigator: Why is it a bad thing that this is the same colour as other stereos? Participant: Because it’s boring. I want my stereo to be different. Investigator: Why do you want to have a stereo that is different from others? Participant: I wanna be able to choose something that expresses my own tastes. Investigator: Why do you want to be able to express your own tastes? Participant: I want to be an individual, not just go along with the crowd. Investigator: Why don’t you want to be an individual? Participant: I just do. © Jamal Mohsen ([Reeps 2004], S. 166). 83 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience Abbildung 7.1: die Ableitung von persönlichen Werten aus Produkteigenschaften [Reeps 2004]. Abbildung 7.1 zeigt eine Folge von Werten, die aus der Befragung abgeleitet sind. Hier können wir aus dem Detail der Farbe einer Stereoanlage das Bedürfnis des Teilnehmers nach Individualität ableiten. Dies kann für den Produzenten sehr hilfreich sein, um seine Kunden durch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse (hier: die Anlage in einer anderen Farbe anzubieten) an sich zu binden. Diese Befragungstechnik hat wie alle anderen Techniken auch Nachteile. Ein wichtiger Nachteil ist der Zeitfaktor. Eine solche Befragung kann lange dauern, um die Haupteigenschaften des Produkts mit Hilfe der Zielgruppe zu ermitteln. Einerseits kann das Interview nur mit einem Teilnehmer durchgeführt werden, andererseits ist die Anwesenheit des Interviewers (des Testleiters) notwendig. Außerdem kann es sein, dass sich der Befragte unter Druck gesetzt fühlt, wenn er immer wieder eine Begründung für seine Antwort geben muss. Hier besteht die Gefahr, dass das Interview in eine andere Richtung abgleitet, was zu falschen Eigenschaften im Design führen kann (vgl. [Reeps 2004]). 7.5 AttrakDiff2: Ein Fragebogen misst UX 7.5.1 Überblick AttrakDiff2 ist ein von Hassenzahl und seinen Kollegen entwickelter Fragebogen, der uns hilft, die Qualität eines Produkts zu messen bzw. zu evaluieren. Wie schon in den Kapiteln 4.1.1 und 4.2 erwähnt, teilt Hassenzahl die Produktqualitäten in pragmatische und hedonische Qualitäten ein. Die pragmatische Qualität © Jamal Mohsen 84 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience bezieht sich auf die aufgabenorientierten Aspekte und beinhaltet die Funktionalität (Nützlichkeit) und ihre Bedienbarkeit (Benutzbarkeit). Im Gegensatz dazu bezieht sich die hedonische Qualität auf die nicht aufgabenorientierten Aspekte wie Neuheit, Originalität und Schönheit eines Softwareprodukts sowie auf die Freude bei der Benutzung. Der Fragebogen (AttrakDiff2) selber unterscheidet zwischen vier Bereichen [Hassenzahl/Burmester/Koller 2003]: 1- Pragmatische Qualität (PQ): Umfasst die Kriterien der Usability wie Nutzbarkeit, Erwartungskonformität, Selbstbeschreibungsfähigkeit und Lernförderlichkeit. 2- Hedonische Qualität - Stimulation (HQS): Beschreibt, ob das System oder Produkt fähig ist, das Bedürfnis des Benutzers nach Wachstum und neuen Kenntnissen zu befriedigen. Relevante Produktaspekte sind Kreativität, Originalität und Herausforderung. 3- Hedonische Qualität - Identität (HQI): Beschreibt, ob das Produkt den Benutzer dabei unterstützt, seine Individualität auszudrücken. Relevante Produktattribute sind „verbindend“ oder „fachmännisch“. 4- Attraktivität (ATT): Bedeutet, dass das Produkt im Allgemeinen als positiv oder negativ bewertet wird. Zum Beispiel ist das Produkt gut, attraktiv oder angenehm. Der Fragebogen besteht aus 28 entgegengesetzten Adjektivpaaren, so dass zu jedem der vier genannten Bereiche (PQ, HQS, HQI und ATT) sieben Adjektivpaare gehören. Diese Adjektivpaare stellen jeweils extreme Gegensätze dar, zwischen denen sich eine siebenstufige Skala für die Bewertungsabstufung befindet. Hier handelt es sich um Adjektivpaare wie angenehm - unangenehm, hässlich - schön oder sympathisch - unsympathisch (vgl. Abbildung 7.2). 7.5.2 AttrakDiff2 nutzen Der AttrakDiff2-Fragebogen ist bei der „User Experience Design GmbH“6 im Internet frei verfügbar7 . Die Anwendung des Fragebogens erfolgt in Form einer Onlinebefragung. 6 7 http://www.uidesign.de/ http://www.attrakdiff.de/ © Jamal Mohsen 85 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience Abbildung 7.2: Online-Version des www.attrakdiff.de). AttrakDiff-Fragebogens (Quelle: Die Verwendung des AttrakDiff2-Fragebogens ist nicht kompliziert. Als erster Schritt muss sich der Verantwortliche auf der Webseite anmelden. Danach ist eine Projektanmeldung erforderlich, um AttrakDiff2 nutzen zu können, bzw. um die User-Experience-Qualität von Produkten messen zu können. Es werden drei Projektmöglichkeiten angeboten: 1- Einzelauswertung Beim Projekttyp „Einzelauswertung“ können die Untersuchungsteilnehmer das Produkt nur einmal bewerten. So kann der Entwickler messen, welche pragmatische oder hedonische Qualität sein Produkt besitzt, und im Resultat stellt er fest, ob sein Produkt begehrt, neutral oder überflüssig ist. 2- Vergleich vorher - nachher Beim Vorher-nachher-Vergleich kann der Entwickler ein Produkt von den gleichen oder unterschiedlichen Untersuchungsteilnehmern zu unterschiedlichen Zeitpunkten beurteilen lassen. Er kann beispielsweise eine neue, überarbeitete Version seines Produkts mit der alten vergleichen, oder er kann zwischen der Beurteilung des © Jamal Mohsen 86 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience „ersten Eindrucks“ des Produkts und der Beurteilung nach einer bestimmten Verwendungsdauer vergleichen und somit feststellen, ob das Produkt für die Kunden noch interessant ist. 3- Vergleich Produkt A - Produkt B Dieser Projekttyp ermöglicht dem Entwickler, zwei verschiedene Produkte von den gleichen oder unterschiedlichen Untersuchungsteilnehmern beurteilen zu lassen und dann miteinander zu vergleichen. Damit kann er feststellen, wo jedes Produkt seine Stärken und Schwächen hat. Nachdem der Verantwortliche einen der drei Projekttypen ausgewählt hat, muss er im nächsten Schritt die Kenndaten für das Projekt festlegen, z.B. die Laufzeit der Studie, die Anzahl der Testpersonen oder den Namen des zu testenden Produkts. Außerdem kann der Verantwortliche auswählen, ob seine Studie mit festgelegten Testpersonen, welche ihre Zugangsdaten (ein persönliches Kennwort und der Link zur Untersuchung) per Mail direkt über die Webseite bekommen, oder anonym (z.B. Websurvey) durchgeführt werden soll. Der AttrakDiff2-Fragebogen besteht - wie bereits erwähnt - aus 28 bipolaren Konstrukten, welche in drei Umfrageseiten aufgeteilt sind, von denen eine beispielhaft der Abbildung 7.2 zu entnehmen ist. Sobald der Verantwortliche die Kenndaten für das Projekt festgelegt hat, können die Testpersonen das zu untersuchende Produkt online beurteilen. 7.5.3 Ergebnisdarstellung Die Auswertung des AttrakDiff2-Fragebogens erfolgt automatisch. Die Ergebnisse können auch im Laufe der Untersuchung abgerufen werden. Sie werden als PDFDokument präsentiert und in drei grafischen Darstellungen zur Verfügung gestellt [Hassenzahl/Burmester/Koller 2003]: - Einordnung des Produktes durch eine Portfoliodarstellung - Diagramm der Skalenmittelwerte - Attributprofil © Jamal Mohsen 87 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 7 Gestaltungsprozesse, Methoden und Evaluationstechniken der User Experience Die Portfoliodarstellung liefert eine Zusammenfassung der Ergebnisse für die hedonische und pragmatische Qualität. Vertikal befindet sich die Ausprägung der hedonischen Qualität (unten = geringe Ausprägung). In der Horizontalen ist die Ausprägung der pragmatischen Qualität eingezeichnet (links = geringe Ausprägung). Die Portfoliodarstellung (das Diagramm) ist in neun Sektoren unterteilt, wie beispielsweise selbstorientiert, handlungsorientiert, zu selbstorientiert, zu handlungsorientiert, überflüssig oder begehrt, so dass das zu testende Produkt in einem oder in mehreren dieser Sektoren liegt (vgl. Abbildung 7.3). Abbildung 7.3: Portfoliodarstellung des Projekttyps „Vergleich Produkt A - Produkt B“ (Quelle: www.attrakdiff.de). Abbildung 7.3 zeigt zwei Untersuchungsprodukte A und B. Jedes Produkt wird in Form eines Rechteckes (Konfidenzrechteck) eingeordnet. Je kleiner das Rechteck, desto eindeutiger sind die Beurteilungen der Untersuchungsteilnehmer und desto besser ist es [Hassenzahl/Burmester/Koller 2003]. Außerdem zeigt die Abbildung, dass sich die beiden Produkte signifikant in Bezug auf die pragmatische Qualität unterscheiden, weil die Konfidenzrechtecke in der Horizontalen nicht zu einer Überlappung kommen. In Bezug auf die hedonische Qualität überlappen sich die beiden Konfidenzrechtecke in der Vertikalen, was bedeutet, dass der Unterschied zwischen den beiden Produkten A und B nicht signifikant ist [Hassenzahl/Burmester/Koller 2003]. © Jamal Mohsen 88 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 8 Zusammenfassung und zukünftige Arbeit 8 Zusammenfassung und zukünftige Arbeit Im Rahmen dieser Arbeit wurden mehrere Modelle zur Gestaltung von Produkten unter besonderer Berücksichtigung von User-Experience-Aspekten präsentiert. Bisher gibt es kein einzelnes, erfolgreiches Modell, um eine optimale User Experience zu gestalten. Außer dem Fünf-Ebenen-Modell von Garrett geben die anderen Modelle keine Ideen, wie sie in der Realität umgesetzt werden können. In dieser Arbeit konnten nur die einzelnen Elemente bzw. Kriterien der User Experience vorgestellt werden. Es konnten auch nur Hinweise gegeben werden, wie ein erfolgreiches Produkt im Sinne der User Experience gestaltet werden soll, ohne zu wissen, wie wir diese Hinweise in der Realität verwirklichen können. Diesbezüglich weisen Hassenzahl et al. (in Kapitel 4.2) beispielsweise darauf hin, dass das Produkt einen optionalen Grad von Komplexität besitzen soll, um Neugier beim Benutzer stimulieren zu können. Die Methode, um solche Hinweise oder Ideen in der Praxis umzusetzen, sollte in weiteren Recherchen oder Untersuchungen identifiziert werden. Nach [Reeps 2004] ist es ein Problem, dass sich nicht alle Projekte mit der Gestaltung und mit der Untersuchung der User Experience beschäftigen. Deswegen werden meistens verschiedene Aspekte und Blickwinkel der User Experience vermischt. Im Allgemein wird immer darauf abgezielt, ein Produkt mit positiver User Experience zu gestalten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, einerseits ein gutes Verständnis von User Experience zu haben, und andererseits eine erfolgreiche Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen, die an der User Experience beteiligt sind, sicherzustellen. In dieser Arbeit wurden auch verschiedene Disziplinen genannt, welche sowohl gemeinsame Ziele besitzen, als auch im Zusammenspiel eine erfolgreiche User Experience ermöglichen. Das bleibt aber nur theoretisch. Für die Zukunft sollte eine Methode überlegt werden, wie diese Theorie in die Realität umgesetzt werden kann. Am Ende möchte ich auch darauf hinweisen, dass die User Experience nicht für alle interaktiven Produkte wichtig ist. Die Gestaltung eines Produkts im Sinne der User Experience ist einerseits aufwändig und braucht andererseits viel Zeit und verschiedene Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten, was im Resultat bedeutet, dass die Gestaltung bzw. Entwicklung des Produkts viel Geld kostet. Deswegen sollten wir bei der Gestaltung von Produkten, deren gute Gebrauchstauglichkeit für den Benutzer im Vordergrund steht, auf die User Experience verzichten. Ein relevantes Beispiel © Jamal Mohsen 89 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 8 Zusammenfassung und zukünftige Arbeit sind Produkte wie Fahrkartenautomaten oder Bankautomaten. Die User Experience ist für Produkte von Bedeutung, die in Konkurrenz mit anderen Produkte stehen. Viele Produkte und Anwendungen können für lange Zeit erfolgreich konkurrenzfähig bleiben, wenn sie ihren Benutzern nachhaltig ein positives Erlebnis bieten können. © Jamal Mohsen 90 User Experience Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? 9 Literaturverzeichnis 9 Literaturverzeichnis 9.1 Bücher und Zeitschriften [Burmann/Blinda/Nitschke 2003] Burmann C., L. Blinda und A. Nitschke, Konzeptionelle Grundlagen des identitätsbasierten Markenmanagements, Arbeitspapier Nr. 1, Universität Bremen 2003. 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Eidesstattliche Erklärung Eidesstattliche Erklärung Ich, Jamal Mohsen, versichere hiermit, dass ich meine Diplomarbeit mit dem Thema User Experience - Eine neue Leitidee des Interaktionsdesigns? selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe, wobei ich alle wörtlichen und sinngemäßen Zitate als solche gekennzeichnet habe. Die Arbeit wurde bisher keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch nicht veröffentlicht. Bremen, den 22. Juni 2015 Jamal Mohsen © Jamal Mohsen 97
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