1 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Chagall-Fenster „Hat das eigentlich einen Grund, dass eure Namen sich so ähnlich sind und meiner außen vor ist?“ – „Was meinst du damit? Du heißt nun mal Heinrich – frag deine Mutter.“ Ausgelassen war sie – ja, fast immer. Das war schon immer auch ein wenig seltsam – woher sie diese Launen nahm? „Manchmal habe ich das Gefühl, uns kann es immer nur zu zweit geben aber niemals zu dritt. Es sind immer nur zwei und der dritte hängt irgendwo zwischen den Seilen.“ – „Wo er doch eigentlich tanzen sollte.“ Es hatte ein paar Monate gedauert. Am Anfang trafen sie sich nur in der Mensa oder gelegentlich abends im Orange und meistens eher zufällig. Manchmal auch vor dem Seminar – Norah saß auf den roten Stufen mit einer Tasse Kaffee oder auf der kleinen Mauer ein paar Meter vor dem Eingang, mit einem Buch im Schneidersitz und dem Gesicht gegen die Sonne. Sie beschwerte sich über die vielen Medizinstudenten, die unsere kleine Bibliothek bevölkerten – nicht nur in den Semesterferien, weil man Kaffee kochen konnte und im Glaskasten, im Aufsichtsbereich stand ein Kühlschrank und manchmal versuchte einer, seine Milch reinzustellen. Norah trank gerne Cola. Sie schüttelte die Flasche mehrmals und ließ die Kohlensäure raus, bis nur noch der Zucker übrig war. Henry ging die paar Schritte rüber und schnipste sie gegen das Buch aus den Gedanken: „Hunger?“ sagte er knapp und Norah nickte, sprang von der Mauer, nicht ohne noch ein Eselsohr auf der eben gelesenen Seite zu hinterlassen und später stöhnte Noel immer sehr laut bei dieser Bewegung. Norah verwendete nie ein Lesezeichen nur zerknitterte Seiten und geknickte Buchrücken. Wenn Noel stöhnte, lachte sie schelmisch, witzelte dann um ihn herum. Seine Bücher so steril, sahen sie immer irgendwie auch ungelesen aus – kein Knick, kein Anstrich – nicht einmal aus Bleistift durfte man sie ihrer Reinheit entledigen und Noel schrie, wenn Norah eines seine Bücher versehentlich und aus reiner Gewohnheit dann doch knickte. Als sie dann in Berlin zusammen wohnten, hatten sie jedes Buch doppelt – außer der gesammelten Werke von Musil – die hatten sie sich zusammen gekauft und Norah bestand darauf, sie zu behalten. Noel wollte seine Bücher nicht verleihen – ich durfte sie lesen und manchmal Norah aber immer seltener, weil er es nicht mochte, wie sie die Seiten umblätterte. Aber das war erst Monate später. Zu Beginn Norah neben Henry im Marstall. Beide umgab diese Stille. Henry spürte ihren Blick, wenn er langsam Erbse für Erbse mit der Gabel aufspießte. „Wie groß bist du?“ fragte sie ganz plötzlich und es war vielleicht ihr drittes oder viertes Treffen überhaupt und Henry stockte kurz in seinem Stochern, sah sie scharf an – ein leichtes Säuseln umspielte seine Lippen, wie so oft – „Du bist doch bestimmt mindestens 1,90 oder? Und was wiegst du? 60 Kilo?“ Henry konnte seine Irritation nicht verbergen – scharf suchte er nach Norahs Blick und als ihre grünen Augen von seinem herumgestocherten Teller zu ihm herauf blitzten, sagte sie 2 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 nur noch: „Klappergerüst!“ und brach in schallendes Gelächter aus. Manchmal stach sie mit ihrer eigenen Gabel in sein Essen: „Die Herde hat dich aufgegeben!“ sagte sie trocken mit ihren blanken, geraden Zähnen aufgereiht unter den dünnen, hauchdünnen roten Strichen. „Ich mag es nicht, wenn man in meinem Essen herumstochert – lass das.“ – „Okay, die erste Regel des Fight Club: Niemals Essen teilen. Ich glaube, ich kann das auch nicht leiden – aber ich kann auch echt niemandem beim Essen zu schauen und du isst einfach viel viel zu langsam.“ Am Anfang schimmerte es nur gelegentlich durch ihre akribische Ruhe aber in ihren Zügen lag etwas Ausgelassenes, leicht Verrücktes, es ließ sie tanzen auf den roten Stufen vor dem Seminar mit Stöpseln in den Ohren den Song schief mitsingend und sie sagte: „Komm Henry – tanz mit mir.“ aber Henry winkte ab. Dieses Verrückte suchte nach Henry, mit jeder weiteren Begegnung mehr und mehr. Dann aber wieder diese Stille, diese Ruhe – ganze Abende vergingen, ohne dass sie nur ein Wort gesagt hätte. Man hätte sie ganz vergessen können, wäre da nicht diese ungemeine Präsens, denn selbst wenn sie in Stille war, in ihren Augen lauerte Aufmerksamkeit. Sie folgte jedem Wort, jedem Schlagabtausch, saugte die Worte beharrlich ein – irgendwann dann, später – sie kannten sich mittlerweile schon zwei Jahre, klingelte in regelmäßigen Abständen sein Handy mitten in der Nacht und es war Norah mit einer Hand voll Fragen zu der Diskussion des vergangenen Abends und ihre Worte waren zu schnell, um sie schlaftrunkend verstehen zu können und Henry versuchte, sie abzuwimmeln: „Bitte! Ruf mich nicht mitten in der Nacht an!“ flehte er am Morgen in der Bibliothek mit Kaffee auf den roten Stufen und Norah auf dem Rücken in der Sonne hatte die ganze Nacht ihre Gedanken aufgeschrieben, las langsam Wort für Wort vor und als Geste der Entschuldigung schrieb sie ihm ein paar Zeilen auf einen kleinen Zettel: Und du wartest, erwartest das Eine,// das dein Leben unendlich vermehrt. Und Henry schrieb unter die Zeilen: 20 Uhr, damit man sich endlich mit Gin Tonic aus der Welt nehmen kann? Und nach ihren Tagen in der Bibliothek saßen sie noch in Henrys Zimmer mit Gin oder Rotwein, mit einem Film oder nur mit Worten, zu zweit, mit Noel oder den anderen Politikwissenschaftlern und wenn sie nur zu zweit waren, spielten sie eine Partie Schach und Norah neckte ihn, wenn er auf Teufel komm raus nicht verlieren konnte und lieber Worte bemühte, die Partie für ungültig zu erklären: „Natürlich bist du das letzte von sechs Kindern, verzogenes Gör.“ und sie warf mit den Figuren nach ihm. Oder sie spielten Scrabble und Norah versuchte Seyn zu schreiben, weil das dreißig Punkte gab. „Wir Heideggern, oder?“ Oft saß sie auf dem Boden, mit dem Rücken an der Bettkante und las ihm vor, aus den Büchern, die sie gerade beschäftigten – die Schachnovelle oder Schnitzler. Beim Lesen ging sie sich in die Haare, schob die dünnen Fussel gegen die Schwerkraft, wippte mit den kalten Füssen – ihre tiefe Stimme durch den Raum … Henry war es egal – er wusste es, er wusste um ihr Gefühl für Noel – auch wenn sie es nie ansprach, auch wenn sie Abend um Abend gegen seinen Bettkasten 3 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 lehnte und ihre dunkle Stimme über Zeilen schob – Henry hatte es erst viel zu spät bemerkt, wie sie nachließ, wie alles in ihr und dieses Aufgedrehte und Belebte, diese schwingende Seele in ihr – sie nannte sich selbst Resonanzkörper – sie glaubte, dass all ihre Gedanken von Außen auf sie einschlugen und dass sie nur das Gefäß war, der Resonanzkörper eben dieses Größeren sei, wofür an sich viel zu klein war – Resonanzkörper für all das Draußen und dass sich Gedanken zur richtigen Zeit den richtigen Raum suchten und Henry hatte nicht bemerkt, wie ihre Saiten den Schwung verloren, nur nach ein paar Monaten mit Noel und um Norah war es leer, ihre Augen wurden grau, verschlossen, je nach dem, wie das Licht in sie schien. Still lehnte sie gegen seinen Bettkasten und es war nur noch Noel, der sprach und sie verlor diese Präsenz, die sie doch durch jede Stille trug. Sie verschwand. „Manchmal glaube ich, uns gibt es nur zu zweit – sind wir zu dritt, dann bleibt immer einer außen vor und sag mir, hat es einen Grund, dass eure Namen sich im Klang so nahe sind?“ Noel war erst am nächsten Morgen aufgefallen, dass Norah gegangen war, ohne sich zu verabschieden. „Irgendwie dachte ich, sie sei bei dir im Zimmer oder so.“ sagte er knapp, langsam verstehend – Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß. Ich wollte ihn fragen, wie kannst du nicht bemerken, dass deine Freundin gegangen ist – wie kannst du nicht bemerken, dass du ganz alleine bist in deinem Zimmer unter dem Dach und erinnerst du dich, als wir in deinem Zimmer saßen und wirklich sehr betrunken waren und du über das Dach von einem Fenster zum anderen gelaufen bist – erinnerst du dich daran? „Ich habe Noel gefragt, was mit euch passiert ist, als ihr im Schwarzwald wart und er hat mir alles erzählt.“ behauptete Norah. „Aber weißt du, was ich nicht verstehe – seid ihr jetzt ein Paar?“ Noel hatte ihr gar nichts erzählt – das wusste ich – das war nur ein Test – eine Finte, einer Vermutung nachgehen, um zu schauen, ob ich darauf einsteige. „Welche Rolle spielt das für dich?“ – „Naja, bist du schwul oder was? Hast du deshalb niemals eine Freundin … weil du auf Männer stehst? Also ich mein … schon okay, wenn das so ist – ich will es ja nur wissen.“ – „Kann es nicht sein, dass es mehr gibt als die eine Schublade oder die andere? Kann es nicht sein, dass es Momente gibt, da ist vielleicht diese eine Person mehr als ein Freund, da will man vielleicht die Nähe dieser Person und Worte reichen dafür nicht.“ Wenn ich heut nicht deinen leib berühre// Wird der faden meiner seele reissen// Wie zu sehr gespannte sehne. Es war Frühjahr, es war bei einer Party im Palais und Norah war betrunken – sie hatte Henry heraus gebeten und sie standen unten in der Seitenstraße – in ihren Augen lagen Tränen und sie sagte, es täte ihr leid, alles täte ihr leid, dass sie plötzlich nur noch in Noels Zimmer saß, statt bei ihm zu sitzen, dass er ihr bester Freund sei, dass er ihr fehle, dass sie Noel hätte mitteilen müssen, wie es ihr ging, dass sie nichts von alle dem konnte und bevor er sich versah – Noel sah alles, sah 4 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 ihre Schatten in der Gasse, sah ihre Lippen und alles und voller Wut wollte er dazwischen gehen und er passte Henry ab und in Trunkenheit faselte er unsaubere Sachen und wollte von Henry wissen, wie lange das nun lief, wie lange sie zusammen seien und voller Wut verließ er das Palais, ließ Henry stehen, bevor er ihm noch eine Antwort geben konnte. An diesem Abend im Palais hatte Norah zum ersten Mal eine Kurzgeschichte vorgelesen. Noel und Henry starrten sie gleichermaßen fasziniert an und während sie las, kamen ihr die Tränen von der eigenen Geschichte und natürlich ging es um Noel – es ging um ein Cello als letzter Rest der Erinnerung an eine Person und wie nun auch dieses verschwand blieb dem Protagonisten nichts anderes übrig, als der freie Fall und Noel stürmte auf die Bühne und umarmte Norah, flüsterte ihr irgendwas ins Ohr und redete den ganzen Abend nur von diesem ergreifenden Auftritt – ja, ich sehe sie vor mir und ihre zarten Worte: Ein Traum noch. Noch eine Sekunde. Wir schwiegen. Wir schwiegen um alles ausgesprochen zu haben, in aller Klarheit, erstickt. Erstickt in der stummen Zeit, die kaum von uns lassen wollte. Ruhelos. Kein Lächeln zum Abschied – nur ein Ticket. Verblasst die Erinnerung an diese letzten Stunden, nur noch der Klang der Regentropfen auf dem Aluminiumdach hallte nach, in den Gedanken; die fühlbare Stille jenes Ortes hatte sich tief in die Augen gebrannt. Ein Schatten glitt über seine Lippen, als er so am Fenster stand und vorbei sah am ankommenden Tag, die Straße hinunter, deren zermürbender Atem langsam anstieg, hörte vorbei an der Hast der Schritte über dem Morgen, sah über die Dächer, über ihre Lügen hinweg, sah die Stadt, wie sie leblos vor ihm lag, spürte die Einsamkeit, die sie versprach – wie sie sich festgekrallt hatte an den Hausfassaden. Sah die Stunden, längst vergangen, konnte den Blick nicht abwenden – wollte es. Warum sich noch zwingen, Gedanken, Worte, gerichtet an den lehren Platz, aus dem Fenster geschrieen, in den Straßen verstummt, nie dagewesen – er selbst nicht mehr als Vergangenheit in ihren sinkenden Augenlidern. Da fuhr es ihm eisig ins Blut, erschrocken drehte er sich weg vom Fenster in den Raum hinein: er wurde beobachtet. Aus dem Schatten der gegenüberliegenden Ecke drängte sich der holzige Geruch in seine Aufmerksamkeit, der Klang einer angeschlagenen Saite folgte – es durchfuhr ihn, mit einem Satz lies er das Fenster stehen, offen – hoffte, die grausamen Töne würden sich hinaus auf die Straße flüchten, über die Dächer, hinweg. Leblos lag der Raum vor ihm, hatte keine Worte des Trostes, keinen Moment Zärtlichkeit, nur kalte Leere, kryptisches Verlangen, und all die süßen Stunden hatten sich schon vor so langer Zeit in den Ecken verkrochen, wollen für sich alleine sein. Noch spürt er den Duft dieser Stunden auf seiner Haut brennen, noch ein vermeintlicher Blick in den Spiegel: vor ihm der verwesende Leib, nur einen Augenaufschlag von der Vergänglichkeit entfernt und die Züge seines Gesichts verzogen sich in dem Spiegelbild, schienen langsam von ihm abzutropfen bis vor ihm nur noch stumm der lebendig gewordene Schrei stand. Ein Verlangen nach Freiheit lag in seinem Blick, zu der Ecke gewannt, die von nicht mehr, 5 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 als von dem Ding, gehalten wurde. Wie leblose es ihn beobachtete, ihn mit seinen toten Saiten verfolgte: Wenn niemand die Saiten anschlägt, ist es tot – schon vor so langer Zeit gestorben, schweigt – will nicht schweigen. Will nicht schweigen. Als der Anruf kam, saß Norah in der Aufsicht, im Glaskasten – es war ihre vorletzte Schicht, obwohl sie schon längst in Berlin lebte. Sie war nur zum Arbeiten gekommen – ein paar Schichten war sie der Bibliothek noch schuldig. Henry war mit einer Flasche Wein vorbei gekommen und sie saßen im Glaskasten, klickten sich durch Youtube Videos – allein zwei Wochen in Berlin reichten, um Norah all diesen Schwung zurück zu geben, den sie über die Jahre in Heidelberg verloren hatte – raus aus diesem akademischen Klima in ein Feld neuer Inspiration, sagte sie lachend und hüpfte zwischen den Glasscheiben hin und her, als plötzlich das Telefon klingelte. „Wir sind die verlorene Generation – wer hat das gesagt?“ – „Gertrud Stein!“ – „Richtig – aber ich sag das auch: Wir sind so was von verloren – uns braucht keiner – echt – dich nicht, mich nicht und Noel sowieso nicht – wir haben der Welt nichts sinnvolles hinzuzufügen. Genau darüber will ich schreiben – ich will einen Roman schreiben, in dem absolut nichts passiert – der nur Fragen aufwirft und in dem deutlich wird, dass wir – du, ich, wir alle hier vollkommen sinnlos sind.“ – „Das ist aber ein langweiliger Roman.“ Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile … lang, lang lang lebe die Weile. „Gott – wir haben nicht mal richtig Drogen genommen – also außer das bisschen Kiffen meine ich – nichts.“ Henry zuckte mit der Schulter „Naja, ich hab schon auch mal gekokst – aber du hast recht – alles aus Langeweile.“ – „Komm doch auch nach Berlin – hm?“ Ja, Norah meinte es ernst – immer wieder meinte sie es ernst. Sowieso sagte sie oft Dinge im Spaß mit amüsiertem Unterton aber eigentlich meinte sie alles ernst – es war nur so ein Test, ob man darauf eingehen würde und zur Not konnte sie sich immer wieder auf den amüsierten Unterton zurückziehen – nicht? „Wie lange kann man wohl über Nichts schreiben? Z.B. Sartre, der hat auch ein paar hundert Seiten über nichts geschrieben und Noel findet, ich nehme mir zu viel heraus, wenn ich mich mit großen Dichtern vergleiche – oder sie zitiere, als hätte ich keine Sprache aber vielleicht ist ja auch einfach schon alles gesagt. Henry – was ist Zeit? Ich glaube nämlich, ich weiß es jetzt: Ich glaube, Zeit ist Erinnerung.“ Kurz vor ihrem Umzug hatte sich Norah wieder die Haare geschnitten und mit kurzen Haare sah sie so viel besser aus – vielleicht auch wieder mehr wie ein Junge aber das stand ihr – dieses leicht jungenhafte stand ihr einfach. „Weißt du schon, wer meine Stelle bekommt?“ wollte sie wissen. „Juliane – so ne Blonde, die auch im Palais wohnt.“ Norah nickte, weil man sich so oder so kannte, auch wenn man vielleicht noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatte. „Mit der kann ich ja nicht so wirklich was anfangen – ich glaube, Franz ist mit ihr befreundet – nicht?“ Genau die. Kannst du dich noch daran erinnern? Die 6 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Wohnung des Hausmeisters war über der Bibliotheksaufsicht und manchmal lief sein Fernseher so laut, dass es in die Aufsicht schallte – irgendwelche Schlagersongs. Das Telefon klingelte obwohl Norah gerade noch vor ein paar Minuten mit Noel telefoniert hatte und Norah sagte so was wie: „Noel! Du vermisst mich wohl zu sehr!“ – dann aber versteinerte sich ihr Gesicht. „Was? Nein! Nein – sie ist – wie? Warum?“ Norah sprang auf und verließ den Vorraum in Richtung Innenhof. Henry ahnte es, hatte das Handy schon in der Hand als Norah nur sagte: „Noels Mutter ist gestorben!“ Tränen, Tränen und eine gewisse Nervosität – Zug buchen, zu Noel – Noel alleine in Berlin, Tod der Mutter - ich trage dich wie eine Wunde auf der Stirn die sich nicht schließt. Manche Dinge passieren so schnell. Zieh mich nach dir – zieh mich vor allem. Und nimm mich mit. Während Norah im Zug saß, im Zug von Heidelberg in die Pampa, die Noels Heimat war, rief sie jeden an, jeden ihrer gemeinsamen Freunde, jeden, denn sie wollte nicht, dass jemand ihn versehentlich anrief, ohne um seinen Verlust zu wissen. Sie führte ein und das selbe Telefonat immer und immer wieder – leierte es herunter wie auswendig gelernt. Die Reaktionen waren ähnlich, gleich wahrscheinlich – manchmal ein paar Fragen auch an sie: „Hast du die Kraft dafür.“ – „Als Noel in meiner Wohnung stand und sagte, ich sei die Eine, dieser Engel, da habe ich eine Entscheidung getroffen, denn Liebe, komm schon, Liebe ist nicht nicht dieses hormonschwangere Gefühl der ersten paar Monate, Liebe ist eine Entscheidung und man kann sich für viele, für jeden entscheiden und ich habe mich für Noel entschieden und egal was kommt, ich musste an dieser Entscheidung festhalten – auch nach dem Tod seiner Mutter, auch als in ihm alles zusammenbrach und ich zur Projektionsfläche seiner Trauer und seiner Wut wurde, als er alles auf mich ablud und mich hinunter zog in seinen Abgrund – sonst wäre es keine Liebe gewesen. Was also verletzt mich? Letztlich ist es seine Entscheidung – er hat sich nicht entschieden und als es mir schlecht ging, als ich mich so veränderte, alles in mir einsog, zu diesem jämmerlichen Geschöpf wurde, geschah all dies, ohne dass er es auch nur bemerkte, nein! Er warf es mir sogar vor – dabei war dieser Rückzug nur meine Art dieses, mein Unglück zu artikulieren und er … er hätte mir helfen müssen, es hätte ihm auffallen müssen, auch meine Probleme mit dem Essen … er hätte es sehen müssen. Aber er sah es nicht, denn er hatte sich nur für sich entschieden – er hatte für eine Sekunde Angst allein zurück zu bleiben und entschied sich nur gegen diese Angst aber nicht für mich.“ Du bist dieses Phlegma – hast dich gelegt auf meine Seele, dich liegen gelassen, doch mich, mich hast du verlassen. „Ich muss diese Kraft haben!“ antwortete Norah im Zug, Noel fest umschließend als sie endlich ankam, ihn fest umschließend, immer wenn die Tränen kamen. In meinem Kopf hallt es noch: Ich habe noch niemals geweint. Aber das stimmte ja nicht – erinnerst du dich? Als ich dich in Rom besuchte haben wie Die Ewigkeit und ein Tag gesehen und du hast 7 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 geweint, bei der Szene im Bus wenn plötzlich das Quartett diese seltsame Melodie anstimmte – erinnerst du dich? Mutter – warum haben wir nicht gelernt zu lieben? Und der kleine Junge fragt: Was ist Zeit? Zeit … dass sind Kinder unten am Strand, die mit Murmeln spielen und Henry fand das irgendwie kitschig und nicht zutreffend, weil das bedeutet, dass Zeit etwas ganz unbedachtes, leichtsinniges ist. Aber wäre das nicht schön? Ich denke nicht, dass du weinen kannst. Ich habe dich noch niemals weinen sehen. Ich stelle mir vor, du sitzt in der Kneipe und weinst. Ich stelle mir vor, du weinst und alles, was dich von mir trennt, ist dein Stolz, nicht dein Desinteresse. Ich stelle mir vor, dass du viele Male eine Nachricht in dein Handy tippst, sie dann aber nicht absendest und allein das ist die Zeitspanne deines Nichtantwortens. Ich stelle mir vor, du weinst nicht mal am Grab deiner Mutter. Dann schüttle ich den Kopf – ich weiß es ja, du hast geweint. Da hast du geweint und ich glaube dir nicht, wenn du behauptest, du hättest niemals zuvor geweint – nicht bei dem Tod deines Großvaters, oder bei dem Tod deiner lustigen Oma, die gelegentlich mal eine Katze auf ihrer Schulter durch den Garten trug. Da nicht? Ich kenne dieses Gefühl nicht. Ich will es nicht kennen und wir standen alle da – ganz brav in Anzügen und Noel hielt meine Hand über alle Worte des Pfarrers hinweg – oder wie heißen die bei den Katholiken? Und der Kneipier unten im Dorf hielt Sandwiches für alle bereit und Kuchen. Noels Vater drehte immer ein wenig ab, wenn er seine Medikamente mit Alkohol mischte – er erkannte mich nicht mal. Noels Leben hatte jetzt einen Sinn weniger. Eine kranke Mutter weniger, deren Lebensinhalt nur er allein darstellte. Ein Moment weniger, an etwas fest zu halten. Norah schüttelte es. Norah schüttelte es, als Noel vor der Leichenhalle stand, mit gesenkten Schultern und sie bat, mit zu kommen – denn dieser leblos aufgeblähte Körper war nicht mehr seine Mutter und sie standen in dem kühlen Raum, dezente Blumengarnitur und dieser leblose Körper war kein Mensch und ich verstehe nicht, warum sie uns zwingen, diesen Körper anzustarren – ich wollte doch draußen warten, eine Zigarette rauchen obwohl ich aufgehört hatte und einfach warten, bis alles vorbei ist. Weißt du noch, als wir nach unserem Umzug zum ersten Mal in unserer neuen Wohnung erwachten? Wir haben es nicht mal geschafft, das Bett aufzubauen – so müde waren wir, also lag die Matratze mitten im Zimmer und wir sind mit dieser ungeheuren Lust aufgewacht, die Wohnung zu streichen, Dinge einzukaufen und einfach da zu sein – ein Leben beginnen zu lassen – weißt du das noch? Erinnerst du dich? Aber du erinnerst dich jetzt an gar nichts mehr, während wir vor der Leichenhalle stehen und deine traurigen Auge von mir verlangen, den kühlen Raum zu betreten, mit der seltsam warmen Beleuchtung – warum hier jetzt warme Glühbirnen – wem machen wir was vor? Das ist kein warmer Moment. Und ich stand mehrere Minuten nur so da und dachte: Komm schon – heb die Brust. Komm schon, atme – es ist doch ganz einfach – deine graue Haut täuscht nur darüber 8 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 hinweg, dass du einfach nicht mehr atmen willst aber du könntest es – da ist doch dein Körper mit dem leicht aufgeblähten Bauch – komm schon, zieh die Luft ein, lass uns frei – lass uns einfach gehen – deine Zeit ist doch noch gar nicht gekommen. Da steht ihr jetzt alle im Anzug, aber das Requiem summen kann keiner von euch – nicht? Ich mach den Bass, ich mache all das, was dunkel im Hintergrund klingt und Henry kann die erste Stimme übernehmen. Da stehen wir also jetzt in diesem kühlen Raum und die Brust hebt sich nicht, sie will nicht mehr – sie tut keinen Zug – einfach so. Noel weinte. Wir waren den ganzen Weg zum Krematorium gelaufen – über die Felder – bergauf, immer zu bergauf – zwischen die Sträucher mit Krähengeleit. Du wolltest doch immer im Mai mit mir hier herkommen. Wir sind die Felder seines Onkels abgegangen, der vom Trecker winkte und Noel konnte nicht begreifen, wie der Bruder seiner Mutter schon einen Tag nach ihrem Tod die Arbeit wieder aufnehmen konnte – als wäre nichts passiert. Wir sind durch das Städtchen spaziert, vorbei an Noels alter Schule und er erzählte seine Geschichte, seine Jugend rauf und runter – Vergangenheit und Mutter. Wie seine Mutter einige Wochen nicht aus dem Bett zubekommen war und er ihr dann die verfilzten Haare abschneiden musste – wie alt warst du da? Zehn vielleicht? Dann ging sie wieder für einige Wochen in die Klinik. Aber diese Medikamente, die machen einen stumpf, taub – man fühlt weder sich selbst noch das Leben. Und vor einigen Wochen hatte ich in einem Artikel gelesen, dass Stimmen laut werden, die Psychiatrie ganz abzuschaffen. Ich weiß nicht, wie ich dich halten soll. Noel! Elendes im Aufbahrungsraum mit einem Körper ohne Mutter unter Glas – wie Schneewittchen. Norah schüttelte es. „Gehen wir noch ein paar Schritte?“ fragte sie ihn. Vergiss es einfach. Versuch es zu vergessen. Versuch diese Bilder zu vergessen und das Leid. Erinnere dich an all das Schöne, erinnere dich an die Liebe. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen einkaufen gefahren sind und sie hat mich immerzu angelächelt, statt auf die Straße zu schauen und sie hat mir so unheimlich aufmerksam zugehört und wir haben über Gerhardt Hauptmann gesprochen, während wir durch die Straßen spaziert sind mit einer Eiswaffel in der Hand – daran erinnere ich mich. „Das war der Moment, ich wollte ihn, ich wollte ihn ganz – in dieser schweren Stunde zog mich alles zu ihm, wollte für ihn da sein, wollte ihm alles sein und ahnte nicht, dass alles in ihm schon die diametrale Bewegung vollzog.“ Noel wollte das Haus behalten, er wollte die rote Urne mit den goldenen Sternen, verspielt, wie er seine Mutter in Erinnerung hatte, wollte die blauen Chagall-Fenster auf dem Totenzettel und etwas versöhnliches in die Totenanzeige. Die Geschäftigkeit des Bestatters fiel nur Norah negativ auf. Noel weinte, als er den Kalender sah, der noch immer das Datum ihres Ablebens trug, er weinte, als er ihr kleines Notizbuch entdeckte – die Tränen kamen in leisen Schüben und Norah stand neben ihm, drückte ihm die Hand, drückte ihm die Hand, als Noel darauf bestand, dass auch ihr Name, Norahs Name im Tottenzettel zu stehen 9 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 hatte und sein Onkel zuckte nur mit der Schulter – wenn es denn sein müsse – selbst der Name seines Vaters war dem Onkel zuwider. Dieser Vater der selbst kaum alleine leben konnte, der nur von seinem Magen faselte, während die Zeremonie ablief, trocken, emotionsloser Pfarrer oder Priester oder wie das heißt, da unten in der katholischen Hochburg Rheinland. Schwach lag Noels Hand in der meinen, während wie dem Pfaffen lauschten und jeder eine Hand voll Erde in das kleine Loch warfen. Über Beerdigungen schreiben ist wie über Sex schreiben – es gibt nichts zu erzählen, man kennt das, es sind immer die gleichen Gefühle, die gleichen Riten – ein ewiges, langweiliges Hin- und Her. Aber viele Menschen waren gekommen – Freunde, die Nachbarn aus dem Dorf und irgendwie, bei all der Trauer war doch die Anwesenheit all dieser Menschen so wunderschön, so still und schön, wie jeder noch ans Grab ging, sich verabschieden mit Rosenblättern. Wir liefen über die Felder – Henry, Noel und ich – wir liefen lange. Die anderen blieben unten in der Küche. Ganze Bleche voll von Kuchen gab es noch. Wir sprachen nur von unseren Erinnerung: Henry hatte sie als erster kennen gelernt – noch im zweiten Semester war er Noel in die Heimat gefolgt, ein ganzes Wochenende und Noels Mutter hatte große Angst, wollte nicht, dass jemand sie so sah, das Haus so sah – sie schämte sich. Da fällt mir ein, dass Noel immer nach Hause gefahren war, um Wäsche zu waschen und weil er seine Hemden nicht selbst bügeln konnte. Henry war wenigstens so schlau, sich bügelfreie Hemden zu kaufen – irgendwann dann, als er seinen Kleiderschrank umstellte – von Batikshirt zu blauem Nadelstreif. Henry und sie saßen sich dann gegenüber – Henry und die Mutter mit dem sanften grauen Ansatz im blauen Morgenmantel und Henry stellte Fragen. Herman Hesse war ihr Lieblingsautor, oder einer ihrer Lieblingsautoren. Sie lachte – zog Klinsors letzten Sommer aus dem Regal und zeigte Henry eine Textstelle: Malen war schön. Malen war ein schönes, ein liebes Spiel für brave Kinder. Anders war es, größer und wuchtiger, die Sterne zu dirigieren, Takt des eigenen Blutes, Farbenkreise der eigenen Netzhaut in die Welt hinein fortzusetzen, Schwebungen der eigenen Seele ausschwingen zu lassen im Wind der Nacht. Weg mit dir, schwarzer Berg! Sei Wolke, fliege nach Persien, regne über Uganda! Her mit dir, Geist Shakespeares, sing uns dein besoffenes Narrenlied vom Regen, der regnet jeglichen Tag! Aber Henry war schon immer besser im Fragen stellen – oder er konnte einfach die besseren Fragen stellen. Wir liefen über die Felder – Henry, Noel und ich – die anderen blieben unten mit Bleche voller Kuchen. Wir tauschten Erinnerungen, während wir durch das Feuchte stampften in unseren Anzügen und schwarzen Kleidern mit neuen Schuhen und neuen Krawatten – alles neu – um einen Menschen zu verabschieden. Nie wollte sie mit uns essen gehen aber wir zwangen sie und sie kam und zu dritt saßen wir dann oben beim Griechen oder wir fuhren zur Burg und es war immer schön, immer ein Moment 10 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Freude in einsamen Tagen, in Tagen, die mehr Angst als Leben waren. Und Henry saß auf der Treppe mit Blick über den ganzen Hof, der nun mehr nur noch Rest war, keine Bauern mehr, nur noch Studierte, Henry saß auf der Treppe und knickte sein Buch, knickte es einmal durch und schmiss Knospen nach der Nachbars Katze – der dicken Katze von neben an und irgendwie war es wie früher, als Noel noch zur Schule ging, als sie bei ihm im Zimmer saßen, unten, wo niemand sie hörte, niemand sie störte und jung waren und dumm waren, wenn die Oma rein kam und dachte, die Jungs seien betrunken und sie einen nach dem anderen vom Stuhl schubste. Und die Mutter, die nie nein sagte, die immer ja sagte zu ihrem kleinen Geschenk – und Noel versöhnlich über Felder. Später erzählte mir dann Henry, dass er sich freute an diesem Abend in der Bibliothek, an meinem letzten Arbeitstag, mich wieder so vergnügt zu sehen. Ja, er hatte sich Gedanken gemacht, er sah mich unglücklich, klein und krank, er sah etwas in mir verkümmern aber greifen konnte er es nicht. Dann dieser Abend in der Bibliothek – da war es wieder schön um mich und Henry verstand meine Entscheidung, verstand meine Flucht und ja, simple Freude – dann: der Anruf. Aber du lebst in Erinnerung mit uns – nicht? Es ist so seltsam – man weiß es nie – man weiß nie, dass dieser Kuss gerade eben der letzte sein wird, oder diese Moment, wie du deine Haare vor die Ohren streichst oder dass sich gleich, in der nächsten Sekunde alles Leben ändert. Aus unendlichen Sehnsüchten steigen// endliche Taten wie schwache Fontänen,// die sich zeitig und zitternd neige.// Aber, die sich uns sonst verschweigen,// unsere fröhlichen Kräfte – zeigen// sich in diesen tanzenden Tränen. Unten am Fluss Ich erinnere mich nicht. Einer von Beiden war immer da – Norah oder Henry. Aber an Vieles davon kann ich mich kaum erinnern. Norah sagt, weil es mir nichts bedeutet hat. Wahrscheinlich hat sie recht. Aber Bedeutsamkeit verschwindet – sie ist nur im Moment. Norah lag in der Wiese...immer... vor dem Seminar im Innenhof – Sonne – sie liegt da, immer – mit dem Buch auf dem Bauch und geschossenen Augen zum Himmel und dann plötzlich durch die Stille ihre raue Stimme: „Weißt du, was ich glaube? Dinge passieren gar nicht chronologisch. Sie passieren dir erst wirklich, wenn sie in dir wirken.“ Norah sagt, ich trauere nicht. Aber sie sagt nichts. Sie sagt, ich trauere nicht, weil ich an meinem Exposé arbeite. Aber sie sagt nichts. Sie sagt gar nichts mehr. Nächte beginnen mit kaltem Schweiz. Ihr Körper saugt alles auf – in die Couch gedrückt und irgendwie leblos...streift durch die Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad und schön Altbau mit hohen Decken und Flügeltür – das twittert sie dann, hängt mit dem Gesicht über dem Smartphone und es saugt sie ein. Aber sie sagt nichts. Ostern – vier Tage in der Wohnung – Karfreitag. Irgendwann gehen wir dann doch ins 11 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Museum aber da ist nichts, nichts in ihr – ich bleibe ruhig. Ich traure nicht. Ich frage mich, ob sie jemals ein Buch gelesen hat – habe ich sie jemals ein Buch lesen sehen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nicht erinnern, warum ich nach Berlin gegangen bin. Das war eine dumme Entscheidung – in Heidelberg hatte ich einen Job. Ich schreibe ein paar Bewerbungen an Verlage, ich will irgendwas tun, irgendwas um aus dieser Wohnung raus zu kommen, in welcher sie die ganze Zeit rum sitzt und nichts tut. Die Arbeit zerfällt – Wir spielen gerne mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns. Sie und schweres Atmen und sie und immer schwerer werdend, es zieht, es zieht vom Boden und in die Couch gedrückt und sie und sie überall also verlasse ich das Haus, raus. Um sie, sie geht und Schritte schwer und dieses braune Kleid hat etwas vom Morgenmantel meiner Mutter und alles schwer, wenn ihre Schritte durch die Wohnung schleichen – also verlasse ich das Haus, versuche, laufe durch den Stadtteil, Häuserschluchten, keine Sonne, nichts. Ich hasse sie. Norah liegt auf dem Rücken und die Wiese legt sich um ihren zarten Körper als wäre dazwischen immer noch ein Moment Nichts, mit dem Buch auf dem Bauch immer und durch die Stille ihre dunkle Stimme Worte und ich denke – du bist eine Woge. Sie redet vom Kugelmensch und von der Seele, unendliche Seele sagt sie und sie schwingt – Resonanzkörper und das Spiel der Erkenntniskräfte, sagt sie. Dann springt sie mit einem mal auf, läuft mit blanken Zehen über die Wiese aber sie ist eine Woge und ihr Körper bebt, gehe ich mit den Fingerspitzen dagegen und dann lächelt sie, schwingt ihre dünnen Arme um meinen Hals, greift mir ins Haar – sie schreibt: Aber im dunklen Intervall versöhnen// sich beide zitternd. // Und das Lied bleibt schön. Noch tänzelt sie über die Wiese, noch sanfte Schritte mit dem Buch auf dem Bauch und Blick in den Himmel. Meine Finger graben sie in die Erde, immer tiefer – zwischen mir und der Erde kein sanfter Schimmer aber sie berührt es und berührt doch nicht den Boden – mit beiden Füßen auf festem Grund fliegen – sagt sie dann. Ihre Finger malen die Seele in die Luft – ernste Einsamkeit – rezitiert sie, immer mit leichtem Schimmer auf den Lippen, mit oberer Zahnreihe über Unterlippen und schnell zuckenden Wimpern, immer leicht tippelnd oder mit wippendem Oberkörper. „Hörst du mir zu?“ fragt sie. „Wofür sonst braucht der Mensch die Kunst? Er braucht sie nicht – aber es passiert etwas, irgendwo – wenn man die Zeilen liest, mein ganzer Körper zittert – das ist die Seele und die Kunst ist für die Seele.“ Die Einsamkeit ist wie ein Regen – legt sie mir unters Kopfkissen und Wer jetzt weint irgendwo in der Welt, // ohne Grund weint in der Welt, // weint über mich. Norah saß auf der Mauer, als Noel um die Ecke kam – saß auf der Mauer wie immer, wie vor der Sommer war sehr groß, wie früher mit einem Buch auf dem Schoß. Sie wartet auf Heinrich – immer, wenn sie auf der Mauer sitzt und sowieso immer. In wenigen Minuten würde der Kurs beginnen und Norahs eisgrüne Augen fangen Noels Schritte, bevor er die roten Stufen des Seminars 12 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 erreichen kann. Ihre kleinen Füße tippeln über das Kopfsteinpflaster, tippeln ihm entgegen, tippeln gegen Hauptseminar Was ist Metaphysik und es genügte ihre Hand an seinem Arm wie eine Brücke … sie laufen hoch zum Schloss, aber hinten herum, über die Straße. Wie war das im Sommer, will sie wissen und ein Käfig zog los einen Vogel zu suchen. Und es gibt die Freiheit eines Menschen nicht ohne ihn. Nicht ohne ihn festzusetzen. Sagt sie – und ihre Haare sind etwas länger, nicht mehr so wild in alle Richtungen. „Warum bist du eifersüchtig?“ fragte sie und meint den Abend im Palais mit Heinrich in der Gasse und mein ungestümes Verschwinden. Aber es ist eine kokette Frage. Sie will die Antwort aus meinen Worten – will sich nicht nur an die Außenseite meiner Worte klammern. Aber ich frage nicht, warum sie gegangen war, vor Monaten – ich frage nichts. Über die Straße laufend, immer ein paar Zentimeter hinter her – mit ihr, mit ihrem Blick und den ersten Lippen, wollte etwas nicht mehr schlummern, hat mich genommen, von innen, hat sich auf mich gelegt und ist geblieben auch nach der Sommer war sehr groß und sie fragt, wie ein dummes Kind, warum ich eifersüchtig bin – auf Heinrich. Ich weiß, dass sie wieder Freunde sind, dass sie wieder auf seinem Bett sitzt mit blauem Schimmer auf dem Gesicht, dass sie zwischen den Politikwissenschaftlern tanzt und mich in zwei Zimmer mit Küchenzeile sperrt. Ich weiß, dass sie auf der Wiese liegen, unten am Fluss und Zeilen schreiben auf kleine Fetzen Papier und Norah sagt laut Heinrich, wenn er wieder einen Witz macht, wenn er ihre Sensibilität, ihre zarte Schicht angreift, dann sagt sie laut Heinrich und sie sagt nie Heinrich. Ich weiß, dass sie im Innenhof sitzen und Schach spielen mit Buch auf dem Bauch und Blick in den Himmel und ihre dunkle Stimme kommt aus dem Nichts und sagt „Wie fein zerfließt die Zeit, hat man sie erst in Worte gehüllt.“ Dann fragt sie, warum bist du eifersüchtig und das alles, das hätte ihr nicht gereicht und in meiner Gegenwart sei man nur Hülle, nur Gefäß und mein Dasein würde einen Raum vollständig ausfüllen und alles müsste sich in die Ecken flüchten und auf mein Gehen warten. „Du hast kein Recht, eifersüchtig zu sein und Henry ist mein Freund, wie er dein Freund ist.“ sagt Norah – sie sind nun oben, am Schloss vorbei zum Wald gelaufen mit Blick über die ganze Stadt. Aber das stimmt nicht. Heinrich kann nicht unser beider Freund sein – oder du, du kannst nicht die Freundin von uns beiden sein und Heinrich sagt, es gäbe uns immer nur zu zweit und der dritte wäre immer irgendwie außen vor. Daran erinnere ich mich und sie fragt kokett, sie fragt ganz kokett nach unserer Freundschaft und dass ich es ihr doch versprochen hätte – ich hätte ihr versprochen, dass wir Freunde bleiben, auch wenn es zwischen uns nicht klappt. Aber geht das so einfach? Kann man so etwas versprechen, wenn man gar nicht weiß, was sich zwischen zwei Seelen reiben kann, was verloren geht, wenn man einfach das Zimmer verlässt mit der Sommer war sehr groß. Vielleicht hast du damals etwas kaputt gemacht, von dem wir nicht einmal wussten, dass es existiert und erst wenn die Scherben liegen … aber dann ist es eben schon gebrochen und wie kann ich dir 13 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 versprechen, dass du mir immer etwas Besonderes sein wirst, immer etwas Großes in meinem Leben – immer ein Mensch mit Bedeutung? So etwas kann man nicht versprechen und es sind dann eben nur lose Worte, die man so daher sagt, wenn gerade alles gut ist oder wenn man an etwas festhält, was schon vergangen ist. Also nagle mich nicht fest an ein loses Versprechen – versprich mir, dass du mich nicht festnagelst. „Kannst du dir das vorstellen?“ fragte Noel und seine Schritte gehen gegen die kleine Mauer als Grenze zwischen Panorama und Kiesboden. Norah zieht die Augenbrauen in die Stirnfalte, die dicken, etwas zu großen Augenbrauen und legt den Kopf schief. „Wie muss das gewesen sein, als Hölderlin und Goethe über den Wald kamen, nach tagelanger Wanderung und plötzlich brechen die Bäume auf und vor ihnen liegt dieses Panorama.“ Norahs Blick bleibt erstarrt, entgeistert – etwas liegt ihr auf den Lippen aber dann, von einer Sekunde zur nächsten lächelt sie plötzlich: „Du hast Recht.“ sagte sie, geht ein paar Schritte auf ihn zu, schlurft über Kies, lehnt sich gegen die Mauer und lässt den Blick fallen, einfach fallen – „Einfach fallen!“ sagt sie, will die Arme vielleicht ausbreiten aber jeder Ernst ist aus ihrem Gesicht gewichen, mit säuselnden Lippen Nimmer beugt, vom Übermut belogen,// Sich die freie Seele grauem Wahn. „Glaubst du, man kann mit Scheler die Seele retten?“ fragt sie so aus dem Nichts heraus. Darin war sie wirklich gut – so einfach das Thema zu wechseln. Noel könnte sich vor Lachen schütteln, wie diese zarte Schicht immer und immer wieder aufbricht – dahinter nur das Kind mit rosa Stoffhasen im Bett und zitternden Knien beim Else lesen. Irgendwann nachts, sie lagen im Bett, zeigte sie auf ihren Nachttisch und sie hatte Kerben hinein geritzt: „Für jedes Mal, wenn ich deinetwegen weinte.“ Als wir vom Schloss kamen, war alles anders – „Liebe ist eine Entscheidung!“ sagte sie „Es kommt auf die Metapher an – Liebe ist ein Kunstwerk, ein künstlerischer Prozess mit Inspiration wie mit Krise.“ Aber eigentlich fehlte sie mir nicht. Nachdem ich dieses kurze Zucken von Freiheit aufgebrochen hatte, nach dem sie sich wie ein Engel über meine Angst gelegt hatte, über jeden Blick der anderen, sehnte ich nichts mehr. Dieses Rührige, dieses heftig Intentionale – es muss von mir fallen, ich muss es abschütteln – Norah sagt, es reiche ihr nicht und irgendwie hat sie es auch nicht verdient. Wir kamen vom Schloss und alles war anders. Wir gingen die Stufen und Norah nahm meine Hand sich haltend, sich klammernd. Heinrich schwieg, als wir am Abend noch in seinem Zimmer saßen wie vor der Sommer war sehr groß, in einer normalen, allzu normalen Bewegung auf seinem Bett saßen mit blauem Schimmer über dem Gesicht und Norahs bebendem Brustkorb mein Takt und ihr blitzenden Augen mein Aufatmen. Heinrich schwieg. Mit den Zehenspitzen zu allererst die sphärischen Gedanken, sagte ich ihm immer und immer wieder – aber er hört mir nicht zu – gräbt die Finger in die Erde, tiefer und tiefer. Mit den Zehenspitzen zu allererst die sphärischen Gedanken – zuallererst das Gefühl zulassen, es lassen, es deinen Körper erfassen lassen, durch ihn hindurch wie durchgespült. Sich darin treiben lassen – 14 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 waten – ich sei wogend – sprach es. Es sprach und sprach und sprach immer – aber Worte zerfallen mit der falschen Windrichtung. Komm her, ich halte dich – aber er hört mich nicht mehr, mit den Fingern tief in die Erde gegraben, mit der klaffenden Wunde auf der Stirn. Dann fällt man im Blick. Es ist das Einfachste zu Fallen. Stürzt mich in diese Ruhe – unvermittelt – was du tust. Meine Hände gehen dagegen, alles in mir dagegen und meine Augen nur: Wie kann ich es halten? Mit einem Mal ist mir mein Körper ganz nah – alles glüht heran, von innen über kleine Schläge auf der Haut. Stille bewahren, sich also bewahren – etwas halten. Ich könnte... Wie lange mein Sein in diesem Zustand halten – bleiben – drehen – treiben? Aber du wirst mich nie vergessen, sagst du – immer, immer werde ich für dich besonders sein und wichtig, sagst du und irgendwie ist das niedlich. Dann, Woche um Woche und mit jedem Tag etwas mehr Vergessenes, etwas mehr davon und mein Fallen in deinen Augen, wie ich es sehe, sehe und sehe mit Augen weit geschlossen in den Ritzen liegen – gerade keine Traurigkeit – nur etwas Leeres. Es wäre ja das einfachste zu wissen? Mich ziehen – über den Stuhl ziehen – hier – welche Idee lebst du? Ich könnte dir in die Arme fallen – aber welche Form der Attraktion zählt noch? Muss es denn immer dieses heftig Sehnende sein – kann es nicht viel ursprünglicher sein? Alles ließ mich um dich Kreisen – aber ich kreise nur – ich kreiste nur – immer nur in dieser Umlaufbahn – konzentrisch – ja – Du – Mitte – mich an der Peripherie haltend. Konzentrisch – ja – Du – Mitte – mich gegen die Peripherie haltend. Immer etwas weit Entferntes bleiben. Sich durch vorschnelle Nähe abgrenzen. Intimität um sich damit zu umhüllen – hier beginnt dein Geheimnis – schon habe ich es zerdacht – da liegt es mit einem Mal ganz brach – braucht sich nicht mehr. Das kann ich nicht halten – warum sollte ich auch. Tretmienen. Am Ende vielleicht doch auch nur ganz flach. Norah stört. Alles an ihr erinnert mich an meine Mutter. Das braune Kleid soll verdecken, dass sie fett geworden ist. Sie isst. In die Couch gedrückt, vor dem Laptop irgendeine Serie schauen und dann die dritte, die vierte Portion. Ich zähle mit. Ich weiß nicht, warum sie isst. Das braune Kleid liegt auf dem Essen wie blauer Morgenmantel und ohne Sehnen im Blick, ohne Blick fragt sie nur: „Hast du mich noch lieb?“ und diese Frage brennt sich durch meine Haut, durch etwas – ich will nicht Leben und jede Sekunde stört mich, jede Bewegung – nichts mehr Leichtes nur Schritte gegen die Schwerkraft auf berstenden Holzdielen. Dann verlasse ich das Haus, nur um sie nicht sehen zu müssen, dieses unendliche Loch, wie bodenlos alles in ihr fällt. Keine Reflexion, kein Rückhall, nur Fallen. Tiefes Fallen und die Frage, was darin ist noch liebenswert, wenn da nichts mehr ist – dieser Schatten in die Ecken gedrückt und alles, jede Bewegung sagt nur Ja – zu allem was ich tue, egal. Und ich kann tun, was ich will – ich kann ficken, ohne zu lieben, ich kann auf der Couch sitzen und um Ruhe bitten, während meine Gedanken um die Einbildungskraft kreisen, kann sie in die Ecke drängen und ihren aufgeblähten Körper widerlich nennen, kann ihr sagen, wie sie 15 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 mich anwidert in ihren leeren Bewegungen – wie Hiob sitzt sie am Küchentisch und alle meine Worte fallen nur in dieses Loch, widerliches kleines Geschöpf im braunen Kleid und ich hasse sie, für all diese Ruhe, für all dieses Nichts aus ihr, wie sie über dem Smartphone lehnt und schweigt. Ich soll ihr Gedichte vorlesen, aber sie sagt nichts. Ich soll sie durch den Park tragen und ihr meine Eindrücke schildern im Museum, aber sie sagt nichts. Ich soll meine Bücher zwischen ihre sortieren, Philosophie und Literatur getrennt aber sie liest nicht einmal mehr – hat sie je gelesen? Ich erinnere mich nicht, wie sie auf der Wiese liegt und das Buch immer nur auf dem Bauch und der Blick und die tiefe Stimme und all das ist jetzt in die Couch gedrückt und isst und verschwindet ins Badezimmer stundenlang und isst dann wieder und fragt unentwegt: „Hast du mich noch lieb?“ Sie sagt Nöl – schon immer – ganz schnell Nöl, Nöl, Nöl – also es heißt doch Noel – es sind doch zwei Vokale also sprich sie doch auch aus. Und die Kerben sollen zeigen, wie unglücklich sie mit mir war – also warum, wenn du so unglücklich bist, warum hast du dann vor dem Seminar auf mich gewartet, hast mich dann das Schloss hoch getrieben nur um mir Vorwürfe zu machen, dass du meinetwegen nachts weinst, schlägst Kerben in deinen Nachttisch und willst mich doch wieder haben? Dann weine eben nicht, mach die Musik aus und sei ruhig. Und ich will gehen, wirklich – verlasse das Haus um sie zu vergessen, will keinen Abend, keinen Moment länger dieses Getier in die Couch gedrückt ertragen müssen. Will überhaupt keinen Menschen mehr – nur hier – Einbildungskraft – Kant, Hegel – Exposé – notwendig ist allein das Schreiben, jetzt noch mehr denn je – wo mein Leben nur noch leer ist und sie will mich einschließen, in sich einschließen, in dieser Wohnung einschließen – bürgerliches Experiment nenne ich das, mit abends dann Tagesschau auf der Couch und dem Getier in der Küche stehend kochen, Abend für Abend und Abend – mit ihrem Rücken und ich will es tot ficken, will es zerstören aber Hiob bleibt – auch das Köpfchen geneigt, lässt er sich nicht aus dem Ohr schütteln – irgendwie so was. „Erzähl mir von deiner Arbeit.“ sagt sie und versteht es doch nicht – versteht gar nichts – warum hat sie Philosophie studiert? Sie versteht ja nichts, labert nur von der Seele und von Moral sowieso, dieses hohe moralische Empfinden, urteilt immer alles ab, liest angestrengt Kant unten in der Bibliothek am Tisch neben Heinrich und ich schreib ihr dann die Hausarbeiten in saubere Sprache – verwechselt jeden Begriff, kann keinen Satz sprechen ohne „ich weiß nicht“ anzuhängen – ich weiß nicht, ihr ganzes Dasein ist wie ein Rückzug und die Kerben im Nachttisch nützen jetzt auch nichts – wie sie dann im Bett saß und weinte, weinte weil ich ihr nicht reichte – so ein quatsch, will ich sagen – DU REICHST DIR DOCH SELBST NICHT. Dann philosophiert sie so ein wenig rum – warum müsse man sich selbst genug sein um mit anderen zusammen sein zu können – ja, man – dann lies doch einfach mal Hegel du Viech. Tiefe, tiefe Nacht in deinen Augen und Liebe ist es erst, wenn man in dem anderen nichts mehr sucht. Ich merkt es manchmal gar nicht – dann ist der Augenblick 16 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 vergangen. Ich ist vielleicht sitzen geblieben, hat noch den letzten Klang vernommen. Vielleicht ist Ich stehen geblieben, hat gegen die Spiegelung seiner selbst hinter die Scheibe geblickt – ein paar Worte in die Kladde geschrieben – dann ist Ich weiter gelaufen. Ich merkt es manchmal gar nicht – wie viel Ich ist. Ich ist selten für sich – wie Ich in kleinen Spiegelungen vergeht – zergeht. Was sind Wochen gegen Worte? Was jetzt fehlt, ist eine Antwort auf die kleinen Druckstellen, die Ich hinterlässt, wenn Ich ruhig bleibt. Nichts sagen. Ich legt sich auf sich – also auf Ich – Selbstbewusstsein auf Selbstbewusstsein – manchmal rutscht Ich in eine andere Sprache – verspricht sich. Gegen die Welt – gegen die Druckstellen. Ich wünscht sich, nichts zu sagen – schweigen zu können, um sich nicht zu verschenken. Aber Ich verschenkt sich – jeder Moment verschenken ist ein Moment Ich. Präsenz. Dann steht Ich zwischen weißen Wänden – weiße Wände und ein Gefühl von Bahnhofshalle – toten Stille sagt Ich. Spürt Ich es? Spürt Ich die kleinen Welten, wie sie so gebannt auf glattes Papier von den Wänden starren? „Auch Künstler müssen Miete bezahlen.“ sagt Ich und lacht. Warum eigentlich? Zwischen den Füßen zieht es sich langsam zusammen. Ich öffnet eine Seite – ab dem Moment, wenn Ich für einen Menschen ein Dokument öffnet, bedeutet er etwas. Dann sieht Ich sich – als Spiegelung in Glas, in glasigen Blicken, zurückgeworfen auf sich – ist Bedeutung? Also ist Bedeutung? Hörst du den Klang meiner selbst? Langsam legt sich die Zeit in die Ecken. Nichts passiert – nicht in Berlin, nicht in Heidelberg – aber ich habe auch keine Lust, irgendwas zu arbeiten, keine Lust auf irgendwelche Jobs und Norahs Schritte auf berstenden Holzdielen und auch noch die kleinste Ungereimtheit wird Anlass für laute Worte, wird Anlass ja – Hass – Berlin – nur – wegen – ihr – nur ihretwegen. Wäre ich in Heidelberg gewesen, hätte ich zu ihr fahren können, als sie von ihren Schmerzen sprach – ich – hätte – da sein – können. Aber ich war hier – zwischen grünen Wänden und Büchern sortiert – drei Ausgaben Schellings Freiheitsschrift und ihre kleine, in sich gezogene Schrift auf jedem Schmutztitel mit Kaufdatum und erstem Lesedatum. Von Heidelberg aus währen es nur eineinhalb Stunden Fahrt gewesen – verstehst du das? Ich wäre da gewesen. Ich hätte jetzt einen Job – ich könnte in Ruhe arbeiten. Stattdessen bin ich hier – ich bin dein Gefangener, festgesetzt in dieses Altbauloch mit grünen Wänden und braunem Kleid, dass verdecken soll, dass du fett geworden bist, weil du ein Liter Eis am Tag verdrückst und absolut nichts tust, außer in dein Smartphone zu starren – sprechen sie mit dir? Widerliches Viech. Ich muss hier raus. Wie fein zerfließt die Zeit, hat man sie erst in Worte gehüllt. „Erinnerst du dich nicht, wie wir in der Wiese lagen und alles war so leicht?“ fragte Norah. „Du verwechselst mich vielleicht.“ sagte Noel, führ mit seiner Handkante über den Tisch, Tabakkrümel in die Luft wirbelnd. „Vielleicht willst du dich auch nicht erinnern.“ sagte Norah und ihr Blick ging zu Boden, ging zu Boden, ging zu Boden. „Warum senkst du jetzt den Blick?“ fragte Noel, weil er wusste, dass es 17 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 darauf keine Antwort gab. Norah zuckt mit den Schultern, hebt den Kopf gegen die Sonne, als wäre sie es, die die Augen feucht macht. Jetzt schieben wir uns noch Worte hin und her ohne Bedeutung. Du hast mir zu viele kleine Zettel unters Kopfkissen gelegt. „Dieses ins Nichts blicken bei Hegel – ich glaube ich habe es jetzt verstanden.“ sagte sie „Vielleicht ist es der Moment, in welchem nichts mehr kommen muss – in welchem man im Anderen nicht sich selbst sehen muss, in welchem man gerade dieses Nichts sehen muss – oder besser: endlich sehen kann – in welchem genau dieses Nichts eben wirklich Alles ist – dann ist es Liebe. Das Nichts, was man dann sieht, ist die Auflösung des Selbst.“ Gelegentlich nicke ich dann, frage mich, was wäre gewesen, hätte ich sie bei Heinrich gelassen im blauen Schimmer. In schneller Bewegung greift Noel nach dem Tabak zwischen Norahs Fingern – „Mit der Auflösung hast du recht aber ob das Liebe ist? Was interessiert Hegel Liebe – was interessiert sie dich immer – es ist nur eine Entscheidung, für die eine oder andere Person, mehr nicht. Und man kann sich letztlich für jeden entscheiden.“ Norah verdrehte die Augen: „Aber das ist doch keine Willkür.“ sagte sie „Da muss es doch etwas geben, diesen ersten Moment, der bindet – der ist nicht willkürlich.“ sagte sie und kratze mit den Nägeln langsam den orangenen Lack vom Tisch. „Das Begehren ist das Begehren des Anderen – mehr nicht – man will den Anderen um sich selbst zu wollen und da das jeder leisten kann, bleibt es Willkür.“ – „Entzauberung!“ sagte Norah flach atmend. „Ich könnte mir auch gut ein polyamores Beziehungsmodell für mich vorstellen – manchmal kommt mir das reichlich egoistisch vor, diese Insel, die man um sich selbst gebaut hat dann lediglich auf eine weitere Person auszudehnen. Schau dir mal das Haus an, in dem wir leben – wie viele Menschen leben hier – vielleicht dreißig Mietparteien und keiner kennt sich – alle leben hier auf engsten Raum aber man begegnet sich nicht. Vielleicht wohnt ja in der Wohnung neben an eine nette Omi, die gerne mal auf unsere Kinder aufpasst und der man mal vom Edeka was mit bringen könnte. Aber wir leben einfach aneinander vorbei. Und du redest wirklich zu viel von Liebe.“ Vielleicht, vielleicht sind wir auch einen Augenblick ruhig – stehen still, warten einen Moment – vielleicht kennen wir den richtigen Menschen noch nicht. Im Inneren passieren auch Dinge. Manchmal verliert es sich im Inneren, dann kommt das Klingeln – man ist geworfen – rausgeworfen aus dem Fluss – es flusst nicht. Ein Moment Dasein also, es hängt, Ruhe kehrt ein, beruhigt sich. Verruhen könnte man auch, dann hat man etwas vorbeiziehen lassen, ist ihm nicht nachgelaufen – hat vielleicht nicht einmal bemerkt, dass es vergangen ist. Erst viel später wird ihm das Fehlen auffallen. Es hält nicht, erst viel später fällt es auf – aber auch nicht wirklich – es wird nur als leichte Stimmung wahrgenommen – nicht das Fehlen an sich, nicht der Gegenstand – einfach nur eine Stimmung – ein Stimmchen, wenn man so will – das würde er sagen und es geht, es geht ihm um das Zurück-nehmen, sich zurück nehmen, sich aus der Welt nehmen – dann könnte man gleich einfach nicht da sein. Aber man ist da. Das ist 18 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 das Problem – reine Vorhandenheit – wofür? Das in – in welchem Kontext – aber warum Kontext – das ist nur das Verlangen nach Normativität. Zur simplen Erklärung des eigenen Daseins. Hallo. Regeln um das Dasein überhaupt zu ertragen. Normativität und dann Kunstworte: Freiheit. Freiheit ist ein Kunstwort wie gezwängt – da verliert sich etwas, in der enge der Worte. Sie sind einsam die Worte, wie sie immer schräger ins Papier fallen und sich selbst kaum begreifen können – sie bleiben einfach bis zur Grenze der Seite. Grenzen …. Grenzen. Menschen sind Grenzen – Menschen sind Grenzen der eigenen Subjektivität. Freiheit. Solange man ein Subjekt ist, kann es keine Freiheit geben. Das ist der Monolog, den der Rollstuhlfahrer hält, nach dem man ihn mühevoll auf die Bühne gekarrt hat. Was fehlt ihm denn? Einer der Zuschauer steht erbost auf, kämpft sich nach vorne auf die Bühne: „Was hast du für ein Problem, du Krüppel?“ Dann gibt er ihm einen Schubs, der Rollstuhl fällt um, der Insasse liegt auf dem Boden unter der Bühne – die Menge tobt, der Vorhang fällt. Chapeau. Ich weiß nicht warum, aber letztlich ist es egal: ich verlasse das Haus. Irgendetwas fällt schwer ins Schloss – ins Schloss – ich höre nur Schoß und vorbei an den Tischen – alle sitzen Draußen aber es ist kühl – keine Sonne scheint mehr – irgendwelche Zeilen im Kopf – irgendwo diese Penner, dahin siechende Geschöpfe in der U-Bahn mit Pappbechern und – das war noch in Heidelberg – ich saß unten in der Mensa mit einem Buch, nein oben, oben in der Mensa mit einem Buch und dann kam dieser Typ, der immer so verwirrt mit seinem Buckel durch die Straßen streunt – er setzt sich neben mich, er kramt dieses Buch aus der Manteltasche – es ist immer das selbe, seit Jahren – ein verschlissener Suhrkampband – welcher? Der Einband ist längst ab – er knickt die Seiten, bleibt auf einer hängen, sieht dabei nur in meine Augen. Und jetzt? Denke ich. Aus der anderen Manteltasche kramt er den Rest einer Papiertüte. Sie umhüllt einen harten Krummen Brot – und seine dunklen Zähne gehen daran, sein Blick bleibt an mir. Was willst du? Ich reiße ihm ein Stück von meinem Brötchen ab. Aber er bleibt sitzen. An den Tischen vorbei mit Zeilen im Kopf – Schwerbeinige fettleibige// Gestürzte Sultane// Allmächtig gebietend – und etwas klebt mir an den Lippen. Aber der Weg geht nur gerade aus – oder die Straße runter – höre Heinrich sagen: „Man gerät so schnell in Vergessenheit.“ Und wie viel davon ist nur Sturm. Ich möchte sie fragen, warum wollt ihr nicht etwas Besonderes sein? Und Norah sagt: „Irgendeine Frau wird dich immer wie ein Hündchen spazieren führen.“ Also gehen wir die Straße entlang – wir – also – also Ich. Das Ich ist nur durch diese Trennung des Ich vom Ich möglich. Und ich erinnere mich an Heinrichs Schritte durch den Raps und wie meine Mutter verzweifelt an den Stufen stand, ob meines Überrumpelns mit Heinrichs Schritten durch den Raps. Wir saßen auf den Stufen vor dem Haus. „Vielleicht sprechen wir in den falschen Bildern“ sagte Heinrich. Aber alles was er sagt, ist begleitet von diesem Schimmer auf den Lippen. Dann Lächelt er es weg und sein Blick geht dabei über die 19 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Stufen – niemals zurück ins Gesicht. Ich mag seine Lippen, leicht dunkelroter Ton und so etwas Schelmisches läuft auf ihnen und ich stelle sie mir furchtbar weich vor, weil er so schmal ist und man jeden Knochen auf seiner Haut sehen kann und die Sehnen und Adern drücken sich langsam an die Oberfläche – „Sieht doch ekelhaft aus.“ höre ich ihn leise flüstern, während meine Finger die kleinen Hügel entlang fahren, die kleinen Hügel, die seine Knochen und Organe sind. Ich kenne keinen Menschen, dessen Innenleben sich so deutlich auf dem ganzen Körper ausbreitet. Das Geräusch von Haut. Ich höre Haut gegen Luft, gegen Atem – gegen dich. Gleiten am Zerfall. Ich höre Haut sich langsam heben, mit jeder Berührung langsam heben – ein Abblättern, erodierte Partikel. Ich höre das Echo in den Kuhlen das Schlüsselbein entlang am Rand der Schluchten – irgendwo zwischen Achselhöhle und Brustbein – Was ist liebe, fragt der kleine Prinz. „Die wahre Liebe ist ein Gewebe von Bindungen, das einen werden lässt.“ Ich höre Haut gegen Haut – es rauscht. Heinrich zuckt mit den Schultern – als wollte er es selbst nicht wahr haben. Wir sind dann ein paar Schritte den Berg hinauf gegangen – „Gegenwart oder Nähe hat immer etwas Einschränkendes, Einengendes – Verletzendes womöglich – wie Goethe sagt: nur die Abwesenheit macht frei.“ Heinrich so, dann oben auf dem Berg angekommen mit dem beißenden Raps in der Nase und diesmal musste ich lachen. „Freiheit durch ein Negativum zu bestimmen – irgendwie – nicht richtig.“ – „Ja – eigentlich – Freiheit ist schon etwas Anwesendes – vielleicht auch das Wesen angehendes – das Wesen Bewegendes.“ Ich musste an Robert Walser denken „Erinnere mich daran, wenn wir wieder in Heidelberg sind – ich muss dir diese Stelle zeigen.“ So reden wir nicht – ich schüttelte den Kopf an den Tischen vorbei, die Straße runter – keine Sonne ist mehr und wenn eine Wolke kommt// Sterbe ich – irgendwo da und Norah schüttelt nur den Kopf: „An den Geruch kann man sich nicht erinnern.“ Aber es war schon Frühjahr – muss es gewesen sein und etwas lag mir in der Nase – etwas ist ins Schloss gefallen und mein Weg ging vorbei an den ewig gleichen Türkenläden. Und während ich die Straße entlang ging, legte ich mir schon die Worte zurecht – wie ich darüber schreiben würde, die Straße entlang zu gehen – so was eben. Ich stelle mir vor, wie Heinrich auf den Stufen steht und schwadroniert. Er sagt, man könne jede Frau erobern, man müsse nur eben den richtigen Moment erwischen – das sei das Problem, man würde nur immer diese Momente verpassen. Man kann sich immer in jeden verlieben – sagt er dann und springt von einer Stufe runter zu nächsten bis er sie alle gesprungen ist – immer mit einer Hand in der Hosentasche und die andere mit Zigarettenstummel. Ich mag Arroganz, hätte er sagen können, die Menschen sind viel zu nett zueinander. Dabei würde er sich mit den langen Fingern die Haare aus dem Gesicht streichen und vielleicht kurz Grinsen – aber nur so für sich, nur so in sich hinein mit leicht gezuckten Schultern und dann wäre es schon wieder vorbei und es wäre nur ein kleiner Ausbruch gewesen, nichts ernst zu nehmendes – nur so ein Moment Blödheit, Quatsch reden und Heinrich 20 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 würde in die linke Jacketttasche greifen und daraus den Tabak hervor holen und aus der rechten Hosentasche einen letzten Filter ziehen. Immer. Jede. Immer. Du bist schon sehr schön, Heinrich – wenn du dann dort unten stehst und mir sagst, man könnte sich in jeden verlieben – sehr schön in der untergehenden Sonne und deine Haut ist ganz weiß, weil du das Licht nicht verträgst. Und wenn ich dich ansehe, verstehe ich die ganze Schwärmerei für die zarten, jungen Männer – Thomas Mann und Proust. Du stehst dann dort unten, am Ende der Stufen – hast dich in die Geschichte gestellt, in die Beschreibung deiner filigranen Züge in den Himmel gestreckt, hast dich in Zeilen gestellt, die deine dunklen, schelmischen Lippen umspielen – einfach so. Also vorbei an den immer gleichen Türkenläden dachte ich daran, als ich Norah sah – es war nach dem Sommer, nach den Semesterferien und über den Sommer waren ihre Haare gewachsen und endlich hingen sie ihr über die Ohren – es hatte geregnet. „Nöl!“ hörte ich es vorbei am Säulengang vor Neuen Universität – ich hatte sie nicht gesehen – sie sah auch aus – „Was ist los?“ fragte sie nach ein paar Minuten, in welchen ich sie wohl nur angestarrt hatte. Immer. Jede. Immer. Und ich erzählte ihr von einer Frau und wie ich an ihr gescheitert war und Norah nickte nur – schreib ihr einen Brief, sagte sie oder so was in der Art. Aber da war etwas in den Augen – also saß sie dann bei Heinrich auf dem Bett und ich zwei Zimmer weiter, zwei Türen weiter ins Bett gelehnt immer und immer wieder den selben Satz lesend – hörte ihre Schritte schon von ganz unten, immer die gleichen leichten Schritte mit doppeltem Absatz bei Schritt fünf – immer. Ich stellte mir vor, wie sie unten steht, den Kopf in den Nacken wirft und die fünf Stockwerke nach oben das Licht in meinen Fenstern sucht. Dann sitzt sie drüben bei Heinrich und beschwert sich über die Deckenlampe, mit dem schnellen Wimpernschlag und irgendwann würden sie einen Film schauen und ich würde in meinem Zimmer bleiben, gegen die Wand gelehnt – immer und immer wieder den selben Satz lesend. „Schreib ihr einen Brief.“ sagte Norah und ich nickte – ja – wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen, wollte ich fragen – aber sie zuckte nur mit den Schultern. Es hatte aufgehört zu regnen und mit nassen Haaren ging sie dann die paar Schritte rüber ins Philosophische Seminar, Bibliothek – Hegels Rechtsphilosophie: „Du auch, oder?“ fragte sie und ich nickte. „Kennst du die Blendung von Canetti?“ hatte sie noch gefragt, bevor sie dann ging mit leicht nassen Strähnen im Gesicht. Ich schüttelte den Kopf – kannte ich nicht. Sie lächelte. „Lies das mal – das hat mich total an dich erinnert.“ Ein Kopf ohne Welt – lass das, ich will mich nicht an dich erinnern, an deine dünnen Haare und plötzlich hattest du diesen braunen, kurzen Rock an und du hast seltsam gelächelt … allein was war dieses Geräusch und meine Schritte hatten mich runter an den Fluss getrieben – wie damals aus ihrer Wohnung raus, fluchtartig und das schlafende Gesicht so belassen im blauen Schimmer. Tage später saß sie dann auf den Stufen vor dem Philosophischen Seminar, blinzelte mir gegen die Sonne ins Gesicht. „Ich dachte vielleicht, ich hätte nur geträumt.“ sagte sie 21 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 keck. Und Heinrich grinste, wenn ich wieder in meinem Zimmer blieb – setzte sich auf den Stuhl vor meinem Bett mit einem Bein gegen Bettkante. Worte! Worte! Keine Taten!// Niemals Fleisch, geliebte Puppe,// Immer Geist und keinen Braten,// Keine Knödel in der Suppe – Blättert dann einige Seiten im Phaidon – „Leben für die Seele nahe am Tod.“ sagt er und seine Lippen spielen – „Komm schon – mime nicht den Lebensfremden. Leibfeindlichkeit!“ – „Es ist gar nicht so, dass ich nicht will.“ es ist wie eine Verteidigung. Warum? Henry liest laut vor: Denn tausendfachen Mangel an Muße bereitet uns der Körper wegen der für ihn notwendigen Nahrung; ferner, wenn uns irgendwelche Krankheiten befallen, hindern sie uns an der Jagd nach dem Seienden. Aber auch mit Liebesverlangen und Begierde, mit Ängsten, mancherlei Bildern und vielen Kindereien erfüllt er uns, so dass uns in Wahrheit, unter seiner Einwirkung niemals auch nur irgendwelche Einsichten entstehen. – dann lacht er. „Aber du verweigerst dich einfach?“ frage ich ihn. Da vergeht ihm das Grinsen, verlässt seine trägen Lippen und sein Blick ist starr durch den Raum, gegen die blanke Wand hindurch – raus – zurück. „Das ist etwas anderes – meine Verweigerung ist nicht das Resultat einer idiotischen Leib-Seele-Aufspaltung – oder dergleichen und gerade das ist das Geschäft der Philosophen, die Lösung und Trennung der Seele vom Körper – es ist viel mehr wie ein Verständnisproblem – da fehlt eine Komponente – du wehrst dich gegen etwas, was du gar nicht kennst.“ aber so reden wir nicht und ich sehe meine Mine nicht zeigen, was diese Worte wirklich zu bedeuten hatten. Norah trug einen kurzen, braunen Rock mit vielen kleinen weißen Tupfen und sie hatte kleine, schmale Beine und eine kantige Hüfte – und sie keck verglich mich mit dem verrückten Kien, der nichts kennt außer Bücher und der es nicht einmal bemerkt, wenn man ihn auf der Straße anspricht – der so sehr in seinem Kopf lebt, dass ihm die Menschen drumherum abhanden gekommen sind. Das behauptet sie dann so einfach – dass ich einen ähnlichen Charakter hätte, dass ich nur in meinem Kopf lebe und es für mich keine Welt gibt. „Vielleicht interessieren mich einfach nur Frauen nicht.“ behauptete Heinrich aber auf seinen Lippen schimmerte es wie immer und man konnte ihn nicht ernst nehmen. „Und du? Also – vielleicht du ja auch nicht.“ Heinrich saß auf dem Holzstuhl mit Bein auf der Bettkante abgestützt. „Bist du jetzt beleidigt?“ Ich sagte nichts mehr. „Ich mein ja nur – vielleicht wäre es mit einem Mann einfacher.“ Jetzt ich hier unten – das Wasser ist schwarz und von gegenüber schimmert nur das blaue Licht eines Rettungswagen gegen die wenigen Wellen. Unten am Fluss wie eine Flucht, wie damals – etwas fällt schwer ins Schloss – ich höre nur Schoß. Ich höre nur Schoß und das Stossgebet gegen alle Vernunft, gegen diesen Moment Leib-Seele-Leib. Dann sehe ich Norah lächeln – sie verteidigt Diotima, schreibt kleine Abhandlungen über den Kugelmensch – Jeder liebt wie er liebt, sagst du. Ja, sage ich, im Kopf – das Herz knackt. Norah saß auf der Terrasse des Cafés, ganz eingewickelt in ihre Jacke mit neuer Frisur, mit Haaren knapp übers Kinn und kleinen Wünschen auf den Lippen. 22 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 Ich schrieb ihr die Taube ist stumm in meiner Hand und auch als ich es aussprach – sie sagte nichts, kein Wort – nicht eine Regung in ihrem Gesicht – nur diese Ruhe, nur dieses Zuhören – dieses Mitsein – dann erzählst du jemandem deine Geschichte und er bleibt einfach sitzen. Also zurück – der Garten leer, kein Wurm, sonst nichts, nur wir im Bogen auf Steinen heiß. Deine Augen gleich, nur eine Richtung – weit verschlossen. Und sehen wir uns – frage ich dich – in diesem Moment, in meinem Kopf. Können wir uns sehen. Kein Spiegel mehr – nur Gleichgültigkeit weit verschlossen und jeder Schritt in diese Welt zerfällt im Schnee, pulvrig. Schreibt sie mir – und es ist wie mit der Freiheit eines Menschen, und jede ihrer Bewegungen geht nur gegen meine Freiheit, geht nur gegen was ich will – geht nur gegen mich – in der Küche wie Hiob – und auf der Couch, hört nicht auf zu essen. Also verlasse ich die Wohnung, das Haus – etwas fällt schwer ins Schloss – aber ich höre nur Schoß und sehe nur ihren Schoß – Leib gegen Seele gegen Leib und ihren Schoß will ich nicht. Ich versuche mir vorzustellen, wie es weiter geht – wie ist der Lauf der Dinge. Man verliebt sich, man zieht zusammen, man heiratet, man bekommt Kinder. Norah würde niemals in einer Kirche heiraten, sie würde ihre Kinder nicht taufen lassen wollen – darüber hatten wir schon gestritten, bevor wir überhaupt ein Paar waren oder schon in den ersten Wochen, als wir in Rom waren. Das wäre der Lauf der Dinge und nichts davon kann ich mir mit Norah vorstellen. Dann bin ich unten am Fluss und weiß nicht ein mal, welchen Weg ich gegangen war – durch irgendwelche Straßen – alle gleich – an den Türkenläden vorbei – in irgendeinem dieser Läden noch ein Bier mitgenommen aber die Flasche ist leer und mit einer weiten Armspanne höre ich sie im Schwarz des Flusses aufkommen – nur leichter Wellenschlag – aber der Himmel brennt Rot an den Rändern der Häuserdächer – Stadt also und keine Ahnung, wirklich keine Ahnung, was ich hier will – was sie hier will – aber ihr Blick sagt: Du trauerst nicht, während ich an diesem gottverdammten Exposé sitze und keiner dieser Gedanken hat noch einen Sinn und das einzige Wort in meinem Kopf ist: deinetwegen. Deinetwegen. Unendliche Wiederholungen und Heinrich sagt die ewige Wiederkunft des Gleichen und es gab eine Zeit, da hatte mich sein Gehabe amüsiert – immer dieses Großmännische, alles irgendwie abtun, als wäre es nicht der Rede wert – als wäre nichts der Rede wert und alles worüber wie sprachen nur Zeitvertreib, nur Spiel – die Seele halten in die eine oder in die andere Richtung. „Und was haben wir von den ganzen Klugheiten, wenn keiner mit uns spricht?“ sagt Heinrich. Schöner Heinrich hast dich in die Sonne gestellt in meiner Auffahrt – hast dich in viele kleine Zeilen gestellt, die nur von deinen Lippen handeln, von deinem Blick immer leicht verträumt – oder bilde ich mir das nur ein? Und an Norah mochte ich die langen, dünnen Finger und dass man niemals ihre Augen sehen kann – und manchmal blitzen sie dann doch hervor und jedes Mal haben sie eine andere Farbe – zwischen grün, blau und grau. Und sie sieht so schön aus, wenn sie weint. … Meine Schritte bringen mich über Kies am Wasser entlang. Irgendwann 23 Sarah Berger, Patina, Kapitel 10 & 11 bleibe ich stehen – nicht ich – aber von irgendwo kommt ein Geräusch – etwas, ein Laut, Laute – sie unterbrechen den Strom. Es sind nicht die Geräusche – nicht die Stadt oder der sanfte Wellenschlag – irgendwo immer eine Sirene – aber das jetzt hier: Laute – Menschen – letztlich Stossgebet – ja – es stöhnt – es stöhnt und mein Blick geht nach den Lauten – dem Geläute – dem Laut – dem Gestöhne irgendwo zwischen den Büschen und es sind zwei – ein Paar – eine Frau, ein Mann – in diesem Moment ähneln sich die Stimmen, sie gehen hoch und runter – im Takt eines Wellenschlags – im Takt. Meine Schritte gehen näher, näher an das Gebüsch, näher an den Rhythmus – aber es ist mehr, als würden die Laute näher kommen – Stimmen, wie Stimmen – sich näher kommend. Meine Schritte, das Gebüsch nähern sich wie ein Rufen, sind wie gerufen gegen die Laute, das Stöhnen – ein Aufgehen, ein Untergehen – mehr Untergehen, mehr Vergehen – ein Brennen, irgendwo dort im Gebüsch aber es ist dunkel, über das Gestrüpp reiche ich nicht, auch nicht auf Zehen – also sind es nur meine Ohren, die beobachten hinter dem Grün wie in der Schlüssellochszene und auch hier ein Gott, der herunter strömt in dieser letzten Gestalt, die ihm noch bleibt und in mir dieser absurde Moment Leib. Also was ist es dann, es kann keine Seele sein, es ist nichts, erbärmlicher Fleischlappen unter dem Nabel und sein Hervorkommen nur durch das Geläut, will geläutert werden – nur durch den Laut, durch das Wissen, dass hier etwas im Verborgenen verbleiben will – unten am Fluss und ich kann nicht anders – also greife ich zu, greife nach mir und höre doch nur die Stimmen im Rhythmus – versuche den Rhythmus aufzugreifen, wie es steht und fällt im Takt – dann wird es zu meinem Rhythmus – einverleibt – und es es ist ein wenig Hegel dabei – sich alles zu eigen machen – die Welt einverleiben, Welt werden, eins werden, in diesem Augenblick Rhythmus verborgen im Gestrüpp – gegen das alles, gegen Heinrich irgendwo dort in Heidelberg mit süffisanten Lippen, gegen Norah irgendwo auf der Couch mit Eis und Welt werden, einverleiben – gegen Friedhof und nutzlosem Haus auf dem Dorf – gegen alle Pläne, gegen Promotion und arbeitslos jedes Wort im Exposé heraus gequält, heraus quälen, es heraus quälen, es quälen im Rhythmus – und mich. Ich – gegen den Rhythmus – und ich, gegen – jedes – Moment – vor – diesem – Tag – vor – vor – mir – und – ich – am – Rande – des – Gestrüpps – unten – am – Fluss.
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