Gespenster-Geschichte und Geistes-Gegenwart

MAZ-Diplomarbeit
DAJ-HNS 14-16
Nicolas Bollinger
Gespenster-Geschichte und Geistes-Gegenwart
Dem Spuk auf der Spur – Eine Expedition in die unheimlichen Regionen des Seelands
Von Nicolas Bollinger
Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.
Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird's rein; das ist doch unerhört!
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)
Spuk ist bedrohlich. Diese Erkenntnis ist zeitlos. Was Goethe den Faust etwas umständlich aussprechen lässt, hat auch
heute nicht an Gültigkeit eingebüsst. Spuk ist eine Bedrohung für jedes sich als rational verstehende Weltbild. Wo die
wissenschaftliche Denkweise Vernunft, Gesetz, Regel, Ursache und Wirkung am Werke sieht, attackiert der Spuk diese
Ordnung durch Regelwidrigkeit, Abnormität und Anomalie. Spuk bedroht unser Denken, weil wir ihn nicht erklären
können. Jeder Versuch, ihn durch rationale Analyse wegzuargumentieren, ist zum Scheitern verurteilt. Seit der
Mensch denken kann, berichtet er von Gespenstern, geisterhaften Erscheinungen, rätselhaften Phantomen und unerklärlichen Phänomenen. Daran hat auch die Aufklärung nichts ändern können.
Ich glaube weder an Spuk noch Gespenster, einen Geist habe ich noch nie gesehen. Dennoch schreibe ich darüber.
Warum? „Egal wie aufgeklärt wir unser Leben gestalten, nur wenige von uns sind völlig immun gegen die Erfahrung
des Unheimlichen“, schreibt der englische Journalist und Spuk-Experte Roger Clarke. Dem ist wenig entgegenzusetzen. Denn es stimmt. Ein persönliches Erlebnis: Eine Nacht im Sommer des letzten Jahres, weit weg in der hügeligen
Abgeschiedenheit der Haute-Provence. Wir lagen bereits im Bett, als wir es hörten. Ein Geräusch das in unregelmässigen Abständen durch die leicht geöffneten Fenster in unser Zimmer drang. Der Klang von Kieselsteinen, die unter
Druck beiseite weichen. Der Boden des eingezäunten Grundstücks war zu einem grossen Teil von diesen Steinen
bedeckt. Schritte. Der erste Gedanke: Da steht jemand direkt vor dem Haus, direkt vor dem Fenster. Wir sahen nach.
Aber da war niemand. Und wieder ertönten die Schritte, wieder ging jemand um das Haus. Es gibt kaum eine unheimlichere Erfahrung als die scheinbar sichere Erkenntnis, dass man die Anwesenheit von jemandem spürt und hört, aber
nicht sieht. Bevor sich unser Unbehagen zu nackter Angst steigern konnte, löste sich das Rätsel in einer banalen Erklärung: Es war ein schlecht befestigter Rollladen, der in den sprunghaften Wogen des aufkommenden Mistrals tanzte.
Das mag trivial klingen, verdeutlicht aber ein Grundmuster von Spuk-Erlebnissen: Das Erleben von Wirkungen ohne
Ursachen, Geräuschen ohne Urheber, Bewegungen ohne Beweger – Stimmen in leeren Räumen, Gegenstände, die sich
von alleine bewegen, Berührungen aus dem Nichts. Nicht in jedem Fall lässt sich eine mysteriöse Begebenheit so einfach erklären wie die unheimlichen Schritte im Kies. Manchmal findet sich einfach keine Erklärung. Dort beginnt der
Spuk. Dort wird es interessant. Grundsätzlich: Geister gibt es insofern, als dass Menschen ständig davon berichten,
dass sie Geister sehen. Dieses Existieren in Erzählungen und Schilderungen ist für mich hier von Interesse, über Beweisbarkeit in einem naturwissenschaftlichen Sinne sollen die Wissenschaftler befinden.
Jede Gegend lebt auch in ihren Spuk- und Gespenstergeschichten. Allen voran England, wo die Dichte von Spukschlössern und Spukhäusern so gross ist wie sonst nirgends auf der Welt. Doch muss man der Gespenster wegen nicht gleich
ins Ausland reisen. Allein in Bern sind dutzende von unheimlichen Begebenheiten, Plätzen und Häusern bekannt,
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obwohl es im berühmtesten, im Gespensterhaus an der Junkerngasse angeblich gerade nicht spuken soll. Aber was ist
mit dem Seeland?
Wer das Seeland als ein Land des Spuks erkunden will, der muss zuerst suchen. Denn Spukhäuser und Spukorte, die
jeder gleich auf Anhieb kennt, gibt es hier nicht. Spukgeschichten im klassischen Sinn sind nicht viele überliefert,
vielmehr ist das narrative Feld mit Mythen, Sagen und Legenden besonders stark besetzt.
So etwa jene Sage von einem geheimnisumwitterten Zwergenvolk, das die Rebberge über der Bieler Altstadt bewohnt
haben soll. Nicht nur in den Reben seien die Kreaturen fleissig gewesen, sondern auch beim Abbau von Gold. Um ihr
Goldlager vor einem räuberischen Bösewicht zu schützen, sollen die Zwerge die Grube mit einem gewaltigen Felsbrocken verschlossen haben. Der Brocken, so die Sage, liegt noch über dem Goldschatz und dazwischen eingeklemmt, der
Bösewicht. Jeweils zur Fastenzeit versuche er sich um Mitternacht frei zu strampeln und rüttle am Stein. Bis heute
konnte er sich allerdings nicht befreien, aber alle 100 Jahre einmal gelingt es ihm wenigstens, den Stein um seine
Achse zu drehen, bevor die Last wieder auf ihn zurück fällt. Der sogenannte Zwölfistein ist noch heute am Höheweg
82a in Biel zu bewundern.
Wesentlich unheimlicher hingegen ist die Sage vom Grünen Mann, der auf der St. Petersinsel sein Unwesen treiben
soll. Angeblich sei die Insel einmal mit dem Ort Ligerz durch eine Brücke verbunden gewesen. Der Grüne Mann, bei
dem es sich um den Teufel selbst handeln soll, habe eines Nachts einen sündigen Klostermann über die Brücke geholt.
Hinter den beiden sei die Brücke ins Wasser gestürzt. Darauf sei der Teufel mit dem Klosterbruder in den dunklen
Jurawäldern verschwunden. Die Stelle, wo sich heute der Barocke Pavillon befindet, wird auch Hexenboden oder
Hexenplatz genannt. Da sollen Hexensabbate mit Zauberern und teuflischen Wesen in den finsteren Nächten des 15.
Jahrhunderts stattgefunden haben. Der Grüne Mann , habe dazu mit der Fiedel aufgespielt . An den wüsten Orgien
hätten sich auch Mönche aus dem nahe gelegenen Kloster und Jünglinge vom Seeufer beteiligt. Der Glaube an diese
Überlieferung hat sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hartnäckig gehalten.
Unweit vom Dorf Tschugg, südlich des Jolimont, liegt der Foferenwald. Unheimliche Dinge sollen dort geschehen. Von
Hexen ist die Rede, deren höhnisches Gelächter von den mächtigen Eichen widerhallt. Wer den Wald durchschreiten
will, dessen Glieder würden mit einem Augenblick schwer wie Blei, so dass man wie angewurzelt stehen bleiben muss.
Wenn einen dann die Angst packt, würden einen die Hexen erst recht verspotten.
Diesen Sagen ist eines gemeinsam - die Angst des Menschen vor der wilden, ungezähmten Natur. Undurchdringliche
Wälder werden so zu tabuisierten Orten, wo Gespenster hausen und unzüchtige Dinge von statten gehen. Vor der
ersten Juragewässerkorrektion wurde das Seeland oft von Überschwemmungen heimgesucht, die Bedrohung durch
die Gewalt der Natur ist in vielfältiger Weise in den Fundus der Erzählungen eingesickert. Das Aareweibchen von
Meienried ist ein gutes Beispiel dafür. Bei der Schneeschmelze oder bei heftigen Regenfällen wurde das Wasser zum
reissenden Fluss. Die Felder von Meienried und Umgebung wurden nicht nur überschwemmt, sondern noch mit
Schlamm und Kies überdeckt. „Höll“, so nannte man den Ort, wo sich die Zihl mit der Aare vereinigt. Bei Hochwasserbildeten sich dort riesige Wasserwirbel, die alles mit sich in die Tiefe zogen. An der tiefsten Stelle, so erzählte man
sich, reiche das Höll-Loch bis in den feurigen Schlund der Hölle hinunter, und es sei der Teufel selbst, den man durch
dieses Loch spüren könne. Da oftmals auch Menschen auf seltsame Art und Weise an dieser Stelle verschwanden,
vermutete man, dass sich in der Aare ein Wesen aufhielt, welches hilflos herumtreibende Menschen anlockte, um sie
dann mit in die Tiefe zu reissen. Im „Seebutz“ 2005, dem kulturhistorisch-belletristischen Volkskalender der Region,
lässt der Autor Fritz Käser den fiktiven „Chrüttertoni“ vom Aareweibchen erzählen:
„Chrüseli
heig si drin wie Siuberschuum u
Chräueli heig si im Hoor, si glänzi grad
wie Perle. De seit me o, mi söus doch
jo vermide, ihre z’begägne oder si gar
ufz’ha, si riss eim um, es häufi nüt sich
z’bsägne. Si zieht eim eifach a, mi
chönn nüt angers meh, aus mit ere goh,
bis abe ufe Grund vo der Aare, u vo au
dene, wo nere noche gange sige, heig
me nie nüt meh erfahre.“
Weniger mysteriös und unheimlich ist die Geschichte hinter dieser Sage: „So entschuldigte man die Selbstmorde aus
Verzweiflung über das armselige Leben in der überschwemmungsgeplagten Region des unteren Seelandes“, sagt
Rudolf Käser von der Vereinigung für Heimatpflege Büren.
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Wie lebensfeindlich gewisse Gegenden des Seelands vor der ersten Juragewässerkorrektion um 1880 gewesen sein
müssen, schlägt sich vor allem in den Geschichten um das Grosse Moos nieder. Als dieser Landstrich noch nicht kultiviert war, wirkte er auf die Menschen zutiefst abstossend, düster und unheimlich. Ein unwirtliches Ödland, über dessen morastigen Böden der Nebel waberte. Das Moos war ein todbringender Ort, an dem sich Geister und andere Kreaturen tummelten. Aus sich selbst entzündenden Sumpfgasen, die sich durch bestimmte Bakterien bildeten, durch
Spalten entwichen und kurz aufflackerten, wurden für die Menschen Irrlichter, die den verirrten Wanderer ins Verderben lockten. Auch ein monströser schwarzer Hund mit rotglühenden Augen soll dort sein Unwesen treiben – wer
ihn erblickt, den soll alsbald der Tod ereilen, hiess es.
Es ist gut möglich, dass es in Ins aus dem Grund auffallend viele Gespenstergeschichten gibt, weil das Dorf mitten in
jenem geheimnisvollen Grossen Moos liegt. Einige dieser Geschichten hat der im Dorf aufgewachsene Fotograf und
Autor Heini Stucki schriftlich festgehalten.
Etwa diese: Auf dem Schaltenrain, einem von dichtem Wald überzogenen Höhenzug bei Ins, befinden sich über 40
keltische Grabhügel. Die Stätten verteilen sich über den ganzen Wald, eine besonders bekannte Stelle ist in der Gegend
unter dem Namen „Fürstengräber“ bekannt. Der Friedhof ist ein klassischer Spuk-Ort, jedenfalls in den gängigen Erzählungen. Besonders, wo viele Tote bestattet wurden, erscheint es nach parapsychologischer Logik wahrscheinlich,
dass sich dort Geister, ruhelose Seelen, aufhalten. Stucki berichtet von einer Geschichte, die der Inser Paul Schwab
erzählt. Bei einem Bauer habe ein Knecht gearbeitet, der sich nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit allerlei Zauber
und Beschwörungen auskannte.
„Einst im November bot er mir an, mich in den Wald zu den Fürstengräbern mitzunehmen. Wenn ich ihm dann um Mitternacht über seine linke Schulter
schauen würde, sähe ich die Geister der alten Kelten.“
Schwab wagt es nicht, da ihn auf einmal eine lähmende Angst überkommt. Er habe es sein Leben lang bereut, dieses
Abenteuer nicht gewagt zu haben. Ich habe es gewagt. Als es in jener nebligen Dezembernacht zwölf Uhr schlug, war
allerdings weit und breit kein keltischer Geist in Sicht.
Liegt es wohl daran, dass es sich bei den bisher erzählten Geschichten ausschliesslich um alte Sagen und Legenden
handelt, die von Ereignissen berichten, die weit in der Vergangenheit liegen? Gibt es Erzählungen, die von gegenwärtigem Spuk aus dem Seeland berichten? Oder sind die dunklen Orte des Unheimlichen mittlerweile von der Bildfläche
verschwunden? 2004 hat Biel sein einziges Geisterhaus verloren. Die mittlerweile abgerissene Villa am Kloosweg 41
soll Schauplatz von übernatürlichen Vorkommnissen gewesen sein. Angeblich sei im Gartenteich ein Kind ertrunken,
dessen Geist das Haus heimgesucht habe. Von Türen und Fenstern, die sich von selbst öffneten und schlossen, ist die
Rede. Das Haus stand über Jahre hinweg leer und wurde allmählich von Pflanzen überwuchert. Laut dem Journalist
Hans Peter Roth, der als Erster den Versuch unternommen hat, die „Orte des Grauens“ in der Schweiz umfassend zu
registrieren, ist wie so oft bei solchen Geschichten nicht klar zu eruieren, wo die Wahrheit aufhört und wo die moderne Sage beginnt. Weder sei von den ehemaligen Besitzern etwas zu erfahren gewesen noch existierten polizeiliche
Protokolle über dieses ertrunkene Kind.
Wo spukt es heute noch im Seeland?
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Etwa 15 Mal pro Jahr klingelt das Telefon bei Andreas Meile, weil die Person am anderen Ende der Leitung scheinbar
von Spuk heimgesucht wird. Meile, diplomierter Sozialpädagoge mit Ausbildungen in Familientherapie und Notfallpsychologie, arbeitet als Medium. Sätze wie „Ich kann Verstorbene sehen“ oder „Ich kann mit den Toten kommunizieren“ äussert er mit derselben Gelassenheit und Selbstsicherheit mit welcher er betont, dass 99 Prozent der sogenannten Spuk-Phänomene wissenschaftlich erklärbar seien. Etwas seltsam ist mir schon zumute, als ich dem Medium Meile
in den Räumlichkeiten seines „Psi Zentrums Seeland“ im Schein einer Kerze gegenübersitze und er mir von seinen
Erfahrungen mit Spuk berichtet. Zugegeben, es wäre äusserst einfach, Meiles Sichtweise mit keinerlei Ernsthaftigkeit
zu würdigen und stattdessen das Klischee des esoterischen Sonderlings zu bemühen. Um diesem Vorurteil aber wirklich gerecht werden zu können, klingt Meile allerdings zu überlegt, zu reflektiert.
Spukphänomene bzw. die Berichte darüber seien häufig von der Jahreszeit abhängig. Im Herbst und im Winter melden
sich öfters Menschen, die das Gefühl haben, sie seien mit einem Spuk konfrontiert. Das habe einen ganz einfachen
Grund. Reine Physik: Im Winter wird das Holz wieder trocken, da die Heizungen wieder in Betrieb genommen werden. Es knarrt, Vorhänge bewegen sich, in den Räumen zirkuliert die Luft anders. „Das meiste ist, wenn ich dann über-
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haupt vorbeigehe, rein physikalisch erklärbar. Das finde ich wichtig, ich bin keiner dieser Esoteriker, die ständig und
überall Dinge sehen“, sagt Meile. Das sei nicht sein Stil.
Ein Spuk zeigt sich gemäss Andreas Meile dadurch, dass er unabhängig von der Jahreszeit und regelmässig auftritt. Er
kann wahrgenommen werden, auch von Personen, die nicht in der betroffenen Wohnung leben, die davon keine
Kenntnis haben. Spuk manifestiere sich in physikalischen Phänomenen, Geräuschen, die auch von anderen gehört
werden können. In diesem Bereich sei dann nachweisbar, dass etwas stattfindet. „Dann ist es vermutlich ein SpukPhänomen. Dennoch, wenn wir von Spuk-Phänomenen sprechen, befinden wir uns nicht im Bereich des Messbaren, es
ist ein eigener Bereich.“
Wen betrifft der Spuk? Als jemand, der sich als rational denkenden Menschen sieht, wiegt man sich gerne in Sicherheit, niemals mit derart obskuren Phänomenen konfrontiert zu werden. Wer also kommt überhaupt auf die Idee, von
Geistern und Gespenstern heimgesucht zu werden? Esoterische Spinner und spirituelle Wirrköpfe? „Nein, eben gerade nicht“, sagt Meile. Meistens seien es Menschen, die in keinem Bezug zur Esoterik oder Parapsychologie stehen, in
der Regel stünden sie dem Thema eher kritisch gegenüber. Wenn die Menschen dann bei Meile anrufen, dauert es
doch einen gewissen Moment, bis sie überhaupt auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen. Weil es ihnen meistens peinlich ist. Es sind Menschen, die sich als vernunftgeleitet sehen, dann aber doch einfach keine Erklärung mehr
haben für das, was bei ihnen zuhause geschieht. Die letzte Möglichkeit der Erklärung: Spuk.
Was Andreas Meile jeweils zu hören kriegt und erlebt, bezeichnet auch er als „teilweise schon schräg und speziell.“
Da ist etwa diese Dame, die anrief, weil mit ihrer Wohnung etwas nicht stimmte. Jeden Abend um 22 Uhr, hörte die
Familie Schritte im Wohnzimmer, jemand der durchlief, dann das Knallen einer Tür, schlurfende Geräusche und das
erneute Schliessen einer Tür, obwohl in diesem Raum gar keine Türen waren. Etwa eine Viertelstunde später dasselbe
Spiel, nur in die andere Richtung. Mit der Zeit zehrte das an den Nerven, Ratlosigkeit und Verzweiflung machten sich
breit. Es war kurz bevor die Familie den Entscheid fasste, umzuziehen. Meile besuchte die Familie und kam zum
Schluss, dass sich dort tatsächlich ein Spukphänomen manifestiert hatte. Es stellte sich heraus, das sich das Wohnhaus
an einer Stelle befand, wo während des 1. Weltkriegs Soldaten durchmarschierten, viele Verstorbene, die dort noch
umherirrten. Eigentlicher Auslöser war allerdings eine ältere Dame, die zu jener Zeit lebte und auf den Jüngling wartete, in den sie damals verliebt war. Jeden Abend durchquerte sie die Wohnung, um nachzuschauen, ob ihr Geliebter
endlich eingetroffen sei. Dort, wo die Dame jeweils nachschaute, befindet sich heute keine Tür, sondern eine Wand.
Anhand alter Baupläne konnte man feststellen, dass das Haus einmal komplett renoviert wurde, und dort früher ein
Durchgang war. „Ich habe mit dieser Dame, diesem Spukphänomen, ein Gespräch geführt und konnte sie davon überzeugen, dass sie tot war.“
Was meint das Medium aus Nidau, wenn es sagt, es habe diese Dame gesehen und mit ihr gesprochen? Tote sehen. Das
habe nichts mit dem physischen Auge zu tun. Man müsse sich das ähnlich dem Prozess des Erinnerns vorstellen: Es
sind innere Bilder, die aufscheinen. „Ich erhalte innere Bilder, die nicht die Meinen sind. Das ist kein Sehen, sondern
eine bestimmte Art des Wahrnehmens.“ Es seien innere Bilder, die er gelernt habe zu interpretieren. Und da es nicht
seine Bilder sind, hätten Andere, die ebenfalls medial arbeiten, genau dieselben Wahrnehmungen, unabhängig voneinander. „Das denken Sie sich doch nur aus, Sie Scharlatan!“, schreit mein innerer Skeptiker und auf die Frage, wie er
denn diesen Vorwurf kontern würde, antwortet Andreas Meile „Gar nicht. Ich muss niemanden überzeugen. Man
arbeitet freiwillig mit mir.“
Das erscheint durchaus plausibel: Denn, wie kann sich jemand seit 20 Jahren in diesem Geschäft halten, wenn seine
Kundschaft nicht der Ansicht ist, bei ihm Hilfe zu finden? Ohne ein Urteil darüber fällen zu wollen, ob so etwas wie das
Übersinnliche existiert oder nicht, scheint Meiles Arbeit mindestens einen therapeutischen Effekt zu erzielen: Wie
etwa bei dieser Frau, die damals in Nidau wohnte. Die Frau berichtete von einem Geist, der sie in ihrer Wohnung
terrorisierte. Urplötzlich sah sie Augen, die sie anstarrten. Dieses Gefühl, nicht mehr alleine in der Wohnung zu sein,
dass da noch etwas anderes ist. Panikerfüllt berichtete sie, sie halte das nicht mehr aus, Meile müsse sofort kommen.
Der Fernseher ging plötzlich aus, in der Küche wurde es eiskalt. Bei seinem besuch identifiziert das Medium den Geist
als die verstorbene Grossmutter, die der Dame eine wichtige Botschaft übermitteln wollte. Sie solle die Arbeitsstelle
wechseln, sie solle sich jetzt umschauen, sonst würde es ein böses Ende nehmen. Mit dem Überbringen der Nachricht
hörten die Phänomene auf. Die Frau begann tatsächlich mit der Jobsuche und wurde dabei auch fündig. Es ging ihr
dann viel besser. Als der Vertrag unterschrieben war, erhielt die Frau unabhängig davon die Kündigung. Ihre beruflich-finanzielle Existenz war gesichert. So jedenfalls erzählt es Meile.
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Beim Spuk, sagt Meile, geht es immer um Geschichten mit einer tragischen Note. Etwas hat sich ereignet, das sich in
einen Ort eingebrannt, eingeschrieben hat. Für ihn steht fest: Es sind immer Verstorbene, die sich als Spuk manifestieren. Es geht immer um eine Geschichte und es geht darum, diese Geschichte zu verstehen. Der Spuk hat meistens das
Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen. Wenn man beginnt, diese Geschichte zu verstehen, so ergeben sich auch die
Zusammenhänge. Der ergibt dann auch eine gewisse Ruhe im Gegenüber, also im Spuk: „Endlich jemand, der mich
versteht.“ Vielleicht kann man dieser Person dann auch Erklärungen geben. Wenn die Geschichte erzählt ist, so Meile,
enden auch die unheimlichen Phänomene.
So habe ich es noch nicht betrachtet. Spuk als ein Missverständnis in der Kommunikation, bei dem es nur darum geht,
die Geschichte, die Nachricht hinter den Phänomenen zu entschlüsseln? Hatte ich bisher einfach eine falsche Vorstellung von Spuk? Ein Zerrbild, das dem modernen Horrorkino geschuldet ist? Also keine bösen Geister, die einen in
dämonischer Absicht heimsuchen? „Das ist Quatsch! Spuk kann Ihnen nicht gefährlich werden“, sagt Meile nun etwas
lauter, „er kann Sie nicht angreifen. Jedenfalls nicht körperlich.“ Spuk könne einem allerdings an die nervliche Substanz gehen. Die Frage sei dann halt: „Wie gehe ich damit um?“
Die Sache hat für mich einen Haken. Ich sehe nicht ein, warum ich dem Glauben schenken sollte. Denn in diesem Bereich, wo Beweisbarkeit zu einem schwammigen Begriff verkommt, bleiben nur diese Möglichkeiten: Entweder man
glaubt daran, oder man glaubt nicht daran. Vielleicht ist es die Abwesenheit von Beweisen, die mich stört. Denn so
plausibel und in sich stimmig die Geschichten von Andreas Meile auch sein mögen – ihr Wahrheitsgehalt lässt sich
nicht überprüfen. Ich muss diese Schilderungen einfach hinnehmen. Für Meile sind die Welt der Geister und die
Kommunikation mit Verstorbenen eine Tatsache – für mich nicht. Nüchtern betrachtet funktionieren die geschilderten Fälle nach einem simplen Muster: Jemand hat ein Problem, das Medium kommt und ein Gespräch findet statt, das
Problem verschwindet. Also doch ein rein psychisches Problem und Gesprächstherapie als Lösung? Eine Unsicherheit
bleibt, besonders weil die vom Spuk betroffenen Menschen nur via Erzählung zu Wort kommen. Möglicherweise
bringt ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht mehr Klarheit.
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Ich nenne sie Delia. Ihren wahren Namen möchte die junge Frau öffentlich nicht nennen. Wir treffen uns unweit ihrer
Wohnung in der Bieler Altstadt. Sie ist eine der wenigen Personen, die offen darüber sprechen möchten, wie es sich
anfühlt, von unheimlichen Erscheinungen heimgesucht zu werden. Was sie mir berichtet, ruft in mir je länger je mehr
ein tiefes Unbehagen hervor. Delia beginnt zu erzählen:
Wann hat es angefangen? Ich denke, es bezieht sich nicht speziell auf meine Wohnung, sondern auf mich. Schon in meiner Kindheit sind immer wieder seltsame Dinge geschehen, die ich nicht zu deuten wusste. Ich bin sozusagen „normal“ damit aufgewachsen. Spuk, Geister und
Ähnliches waren bei uns in der Familie immer ein Thema. Meine Mutter sagte immer „Fürchte dich nicht vor den Toten, die Lebenden sind
viel furchterregender“. Ich weiss noch, als ich klein war - ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich schlafgewandelt bin - da kam es vor, dass ich
aufgewacht bin und Gegenstände aus meinem Zimmer auf meinem Bett lagen. Das hat mich verwirrt und verängstigt. Bücher aus meinem Regal lagen plötzlich auf meiner Bettdecke, ich lag unter einem Bücherhaufen. Das machte mir Angst, als Kind noch mehr als jetzt. Ich bin überzeugt, dass ich auch damals solche Dinge wahrgenommen habe.
Meine Bekannten und Verwandten berichteten von mysteriösen Ereignissen. Etwa wenn die Uhr just in dem Moment stehenblieb, als jemand
starb. Oder man sah unheimliche Schatten in der Nacht und am nächsten morgen erreichte einen eine Todes-Nachricht.
Als ich ein Teenager war, wurde es mir zu viel. Ich habe mich dieser Welt bewusst verschlossen. Weil ich Angst davor hatte und weil ich es
nicht erklären konnte. Das ist doch immer der einfachste Weg bei Dingen, die einen ängstigen: zu sagen, es gebe sie gar nicht. Im Laufe der
Zeit musste ich jedoch erfahren, dass das sinnlos ist. Denn es ist einfach da. Es hört nicht auf. Durch mein Verdrängen wurde es zwar weniger,
aber dennoch hat es mich begleitet.
Auch dadurch, dass ich Partner hatte, die sehr ungläubig waren in Bezug auf diese Dinge: Anfänglich fehlte mir der Mut, darüber zu sprechen.
Sie hätten mich wohl für verrückt gehalten. Das war meine Befürchtung. Doch dann sind wieder Dinge passiert. In meiner Wohnung. Und am
Schluss glaubten sie es auch.
Auch F, mein damaliger Partner, ein sehr skeptischer Mensch, hatte mit der Zeit diese Wahrnehmungen. Immer wieder, wenn man nachts im
Bett liegt und auf einmal ertönt dieses laute Poltern, direkt im Schlafzimmer. So als ob hunderte von Dingen gleichzeitig auf den Boden krachten, als ob sämtliche Regale abgeräumt würden. Nicht in der Nachbarswohnung, sondern unmittelbar im Raum. Man macht das Licht an und
sieht: Nichts. Auch er hörte diese Geräusche.
Ein Ereignis, das ich nicht mehr vergessen kann: Diese Nacht, als wir im Bett lagen. Und ich sah, wie sich die Türklinke zu bewegen begann,
nach oben, nach unten. - Schau nicht hin, sieh nicht hin, das geschieht nicht wirklich. - Aber es hörte nicht auf. Als er zur Tür blickte, sah er es
auch. Es war die Schlafzimmertür. Im Flur war niemand, es war kein Schritt zu hören, auf diesem Boden in dieser Altbauwohnung, der jeglichen Kontakt in Form eines lauten Knarrens wiedergibt.
An einem anderen Abend: Ich lag bereits im Bett, er war noch in der Küche. Er redete ohne Unterlass. „Ah, du kannst wohl nicht schlafen“. Ich
frage mich die ganze Zeit: Mit wem spricht er da? Ich ging zu ihm in die Küche und fragte ihn, mit wem er da spricht. Er antwortete, ich sei
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doch die ganze Zeit über im Flur gestanden. Nein, ich war die ganze Zeit im Bett, erwiderte ich. „Aber ich habe doch gesehen und gehört, wie
du auf die Toilette gingst und sah, wie jemand vorüber ging.“ Von diesem Moment an, war es ihm nicht mehr geheuer. Und über allem die
Frage, ob da vielleicht doch etwas ist.
Es wird gesagt, dass Tiere extrem empfänglich seien für solche Dinge. Wir hatten damals einen Hund. Als ich jeweils allein zuhause war, im
Wohnzimmer; das Gefühl, etwas knarre in der Wohnung. Nicht das Holz, das „arbeitet“, sondern das Knarren von Schritten. Oder ist es der
Hund? Er stand manchmal im Flur, oft im Schlafzimmer. Die Ohren angelegt, er knurrte. Eigentlich war er der friedlichste Hund der Welt. Er
starrte in eine Ecke und knurrte. Und da war es wieder, dieses Gefühl. In der Wohnung, nicht einmal hundert Meter weiter, in der ich vorher
gelebt hatte, gab es keinen solchen Ereignisse. Dafür umso extremer in der jetzigen. Einmal kam ich nach Hause und jede einzelne Schublade
in der Küche war herausgezogen, auch alle Schränke im Raum. Niemand hat einen Zweitschlüssel, es wurde auch nie eingebrochen.
Ein späterer Partner, auch ein extremer Skeptiker, hatte ebenfalls solche Erlebnisse, wenn er in der Wohnung war. Einmal im Winter, wir waren im Wohnzimmer, es gab keinen Durchzug, sämtliche Fenster waren verschlossen. Die Wohnzimmertür ging auf und zu, auf und zu. Als ich
es sah, zuerst der Gedanke, „soll ich etwas dazu sagen?“ Ich versuchte, es zu ignorieren. Dann sah auch er es. Der Moment, in dem ich in seinem Blick erkannte, jetzt nimmt auch er es wahr. Ich sah das Entsetzen in seinen Augen. - Ja, ich weiss, ich sehe es auch. - Er versuchte es natürlich als Effekt der Luftzirkulation zu erklären. Ich hoffe wirklich, dass es nur ein Luftzug war, auch wenn mir schleierhaft ist, woher der
hätte kommen sollen.
Vor etwa einem Monat, zweimal im Schlafzimmer, gab es wieder eine Begegnung. Das ist auch der Grund, weshalb ich momentan im Wohnzimmer übernachte. Im Schlafzimmer ist meine Angst zu gross. Ich war im Halbschlaf, im Dämmerschlaf. Und dann habe ich gespürt, wie sich
etwas auf die Bettdecke setzt. Dieses Gefühl, das man spürt, wenn eine Delle auf der Decke entsteht. Ich bin hochgeschreckt und habe das
Licht angemacht. Ich habe gespürt, wie etwas wieder aufsteht. Ein paar Tage später, ich war noch wach. Man bemerkt es, wenn jemand neben
einem liegt. Ganz nah. Ich lag auf dem Rücken und hatte dieses Gefühl. Vermutlich schlief ich ein. Und plötzlich hörte ich eine Stimme, direkt
neben meinem Ohr. Mehr Geräusch als Wort. Mein Herz raste die ganze Nacht lang.
Meine Schwester hat zwischenzeitlich bei mir gewohnt. Auch sie hat es gespürt. Irgendwann sagte sie: „In deine Wohnung komme ich nicht
mehr. Irgendetwas ist da.“ Eine Präsenz in der Wohnung. Dieses merkwürdige Gefühl habe ich manchmal auch. Es ist schwierig zu erklären.
Es ist schon vorgekommen, dass ich nach Hause wollte. Beim Aufschliessen der Tür dann dieses Gefühl, dass bereits jemand oder etwas drinnen ist. Ein Unbehagen. Ich machte Kehrt und kam später wieder. Da war es weg.
Stimmt etwas nicht mit mir? Das frage ich mich die ganze Zeit. Und darauf kann man weder mit ja noch mit nein antworten. Bilde ich mir das
ein? – Ich weiss es nicht. Denn andere Leute haben es ja auch wahrgenommen, besonders solche, die eigentlich überhaupt nicht an diese Phänomene glauben, mich deswegen sogar schon ausgelacht haben.
Bei Schatten und Stimmen kann einem das Gehirn durchaus etwas vorgaukeln. Aber wenn man ganz normal nach Hause kommt und alle
Schubladen und Schranktüren stehen offen – es ist unglaublich schwierig, sich das zu erklären. Das ist etwas anderes als ein vorbeihuschender Schatten. Das ist wirklich. Denn Schubladen kann ich eigenhändig wieder zumachen.
Ich spreche nur sehr ungern darüber. Ich denke, die wenigsten Menschen haben bisher solche Erfahrungen gemacht. Das nachzuvollziehen
ist nicht einfach. Ich finde es verständlich, wenn man nicht daran glaubt. Und ich verurteile auch niemanden, der mich als verrückt abstempeln möchte.
Mich überkommt ein Schaudern. Es ist dieses Unbehagen, das man verspürt, wenn man sich selbst in die geschilderte
Situation versetzt. Denn während Delia über die unheimlichen Begebenheiten in ihrer Wohnung spricht, wirkt sie
völlig normal. Weder zittert ihre Stimme noch klingt sie verängstigt oder in irgendeiner Weise verwirrt. Diese Normalität hat etwas zutiefst Beunruhigendes. Sollte sie sich das wirklich nur ausgedacht haben, wäre sie mit Sicherheit eine
brillante Schauspielerin. Der Verdacht, sie mache mir nur etwas vor, steht aber zu keiner Sekunde im Raum. Dass sie
einige äusserst verstörende Erlebnisse hatte, steht ausser Frage. Nur, bei dem was sich dahinter verbirgt, gehen die
Interpretationen weit auseinander.
Aus der Sichtweise der Parapsychologie wäre der Fall klar: In Delias Wohnung manifestiert sich eine ziemlich heftige
Poltergeist-Erscheinung, mit den typischen Eigenschaften wie akustischer Spuk – Klopfen, Kratzen, Knarren, Schreiten, menschliche Stimmen – psychokinetischer Spuk – Gegenstände, die sich scheinbar wie von allein bewegen – und
taktiler Spuk - das Empfinden körperlicher Berührung, von Druck oder einem Hauch.
Mit einer solchen Erklärung will ich mich nicht zufriedengeben. Was meines Erachtens viel interessanter ist: Wie
lassen sich solche Erlebnisse psychologisch erklären? Spukt es letzten Endes vielleicht doch nur im Kopf? Geistert
lediglich das bizarre Donnergrollen eines neuronalen Gewitters durch den präfrontalen Cortex?
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Einen Begriff wie „Spuk“ versucht Martina Belz wenn möglich zu vermeiden. „Spuk ist eine Erklärungsfigur, die Menschen benutzen. Spuk bedeutet ausserdem nicht automatisch, dass es Gespenster gibt“, sagt sie. Belz ist klinische
Psychologin und Psychotherapeutin, die an der Universität Bern forscht. Um die Existenz oder Nichtexistenz von
übersinnlichen Wesen geht es ihr dabei nicht, sondern darum, wie man mit mysteriösen Erlebnissen umgeht. Es geht
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um Wahrnehmungen, die wir haben, Wahrnehmungen, die existieren. Die Frage ist, was diese bedeuten. „Der Eine
macht vielleicht ein Gespenst daraus, der Nächste sagt, das ist reiner Zufall, der Dritte sagt, es ist das alte Gebälk, für
den Vierten sind es Halluzinationen“, sagt Belz. Es komme darauf an, was man damit macht. „Aber die Wahrnehmung
ist da, und das sollte man anerkennen.“
Die Psychologin weiss, wovon sie spricht. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Freiburg im Breisgau hat sie mitgeholfen, Informationen und Daten von mehreren tausend Menschen, die von unheimlichen und unerklärlichen Erfahrungen berichtet haben, auszuwerten. Unter der Voraussetzung, solche Phänomene vorurteilsfrei zu
betrachten und geleitet von der Frage „Was erleben diese Menschen?“, stiess sie auf ganz spezifische Muster. Spuk ist
nur ein Teilaspekt dessen, was Belz als „aussergewöhnliche Erfahrungen“ bezeichnet. Damit gemeint sind alle Erfahrungen, die für Menschen aus dem normalen Rahmen des Erlebens rausfallen. Sie erleben etwas, das mit ihrem normalen Weltbild nicht kompatibel ist. Dieses Feld wird dann oft mit Begriffen belegt wie „aussergewöhnlich“, „paranormal“, „spirituell“. Das Gemeinsame an diesen Begrifflichkeiten: Es geht um Erfahrungen, die mit unseren Erwartungen, wie die Welt funktioniert, nicht übereinstimmen und daher herausfallen. Nebst Spuk gehört dazu Präkognition, also die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen, Telepathie und Synchronizitätserlebnisse, also wenn die Uhr, genau
dann stehen bleibt, wenn jemand stirbt.
Gerade bei Spukerfahrungen geht es um Dinge, die in der Aussenwelt passieren. Solche, die von der erwarteten,
newtonschen Physik abweichen, Gegenstände, die sich ohne sichtbare Krafteinwirkung bewegen. Die Phänomene
liefern die Erklärung nicht mit. Das eine sind die Phänomene. Diese passieren. Zweitens muss es eine Person geben,
die diese Phänomene wahrnimmt, sonst sind diese nicht relevant. Drittens versucht diese Person dann, diese Phänomene zu erklären. Spuk wäre dann ein Erklärungsmuster. Das heisst aber nicht, dass diese Phänomene nicht stattfinden. Die Frage ist nur, wie man es sich erklärt. Und hier sieht Belz ein entscheidendes Merkmal. Das Wie hängt sehr
stark mit der Person zusammen und mit der Lebenssituation, in der die Person steckt.
Oft spiele die Familie dabei eine besondere Rolle, beziehungsweise das Spannungsfeld von Autonomie und Bindung.
Belz erzählt mir von einer Familie. Der Sohn war bereits über 18, also in einem Alter, wo er sich langsam ablösen
sollte. Die Bindung zur Mutter war jedoch noch so stark, dass das zu Konflikten führte. Und weil Autonomie in dieser
Familie nicht gelebt wurde, verhielten sich materielle Dinge, also Gegenstände in der Wohnung plötzlich autonom, sie
bewegten sich eigenständig. Was eigentlich in der Psyche geschehen sollte, realisiert sich auf einmal in der materiellen Aussenwelt.
Psychische Konflikte, die sich in der Aussenwelt manifestieren? Auch diese Erklärung klingt für mich nicht auf Anhieb
plausibel. Obwohl es auf seltsame Art und Weise vertraut klingt. So als ob das Hollywoodkino dieses Konzept bereits
unbewusst auf Zelluloid gebannt hätte: In Brian de Palmas Film „Carrie“ (1976). Jedes Mal, wenn Carrie durch ihre
von religiösem Wahn getriebene Mutter in ihrer Autonomie beschränkt wird – wenn sie am Verlassen des Hauses
gehindert wird, wenn sie in ihre Gebetskammer eingesperrt wird – entladen sich eruptiv telekinetische Kräfte. Dinge
gehen zu Bruch oder schweben herum; alles wie von Geisterhand.
Und solche Dinge sollen nun tatsächlich geschehen? Warum merke ich davon nichts? Wem stösst so etwas überhaupt
zu? Gemäss einer repräsentativen Umfrage aus Deutschland haben bereits zwei Drittel der Bevölkerung in ihrem
Leben einmal eine aussergewöhnliche Erfahrung gemacht, eine Online-Umfrage aus der Schweiz zeichnet ein ähnliches Bild. Natürlich seien nicht alle diese Erfahrungen gleich intensiv, erklärt Martina Belz. Das beginne auf einer
vergleichsweise „harmlosen“ Ebene - Man denkt an jemanden und genau in diesem Moment ruft die Person an – und
es endet bei teilweise bizarren Spukerlebnissen.
Ein Teil der Menschen, die von diesen Phänomenen berichten, ist tatsächlich von schizophrenen, wahnhaften Störungen betroffen. Das heisst aber nicht, dass jeder, der diese Phänomene erlebt, eine psychische Störung hat. „Man muss
sich auch klar machen, dass so etwas wie Stimmen hören – eigentlich ein klassischer Indikator für Schizophrenie – bei
Menschen in Trauer nichts Seltenes ist“, sagt die Psychologin. Jemand der trauert und die Stimme des Verstorbenen
hört. Das sei einfach normal. Oder wenn jemand glaubt, dass jemand anruft, aber da ist niemand. Prinzipiell sind Menschen zu solchen Wahrnehmungen fähig. Fast die Hälfte der Bevölkerung erlebt mindestens einmal in ihrem Leben
eine sogenannte Schlafparalyse: Der Körper braucht länger für das Aufwachen als der Geist, man ist wach, aber kann
sich nicht bewegen. In diesem Übergangsbereich zwischen Wachsein und Schlafen kommt es häufig zu heftigen Halluzinationen von alptraumhafter Intensität. Im Dokumentarfilm „The Nightmare“ (2015) von Rodney Ascher berichten Betroffene etwa von dunklen Gestalten mit rotglühenden Augen, die sich langsam dem Bett nähern und sich über
den wehrlosen, paralysierten Körper beugen. „Schlafparalyse gibt es öfters als man denkt“, sagt Belz. Weil viele Menschen gar nicht wüssten, dass es so etwas gibt, empfinden sie es als sehr beängstigend. Es sind dann eben nicht Ge-
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spenster, die herumgehen, sondern Bilder, die der Psyche entspringen. Solche Dinge geschehen. Und es sind Dinge, zu
denen unsere Psyche in der Lage ist. Unweigerlich muss ich dabei an Delia denken. An die Gegenstände auf ihrem Bett,
das Gefühl, dass sich etwas auf die Bettdecke setzt, die Stimme, die ihr im Halbschlaf ins Ohr zischt.
Was aber kann man tun, um mit solchen Erfahrungen fertigzuwerden? Akzeptieren, dass innerhalb des Erlebens Phänomene auftreten, die uns verblüffen – und darüber sprechen.
Bei Martina Belz heisst sprechen ergründen, welche Bedeutung die Menschen diesen Erlebnissen zuordnen. Oft erweist sich das als Schlüssel zu zwischenmenschlichen Problemen, die nach einer Lösung verlangen und deren Aufschub das psychische Gleichgewicht erschüttert. Wie passt das Ereignis zur Lebenssituation? Welches Symbol könnte
für welches Thema stehen? Bei dieser Übersetzungsleistung werden Ereignisse als Metaphern für ein Problem gelesen. Bei erfolgreicher Übersetzung und wenn man verstanden hat, hören die Phänomene in der Regel auf.
Bei der vorhin beschriebenen Familie sei das so geschehen. Die Spukphänomene haben schliesslich dazu geführt, dass
der älteste Sohn ausgezogen ist. Dann hat es aufgehört. Das heisst, die Autonomie, die vorher nicht da war, wurde
durch diese Phänomene erst ermöglicht. „Aus rein psychologischer Sicht hat der Spuk somit seine Schuldigkeit getan“,
sagt Belz.
An diesem Punkt scheinen sich das Medium und die Wissenschaftlerin einig zu sein: Wer über den Spuk spricht und
versucht, seine Ursachen zu benennen, kann ihn verschwinden lassen. Denn auch der Spuk hat seine Geschichte. Im
Mittelalter bewohnten Hexen und Teufel unerforschte Landstriche, in Flüssen und Sümpfen lauerten Wasserwesen,
Irrlichter und Geisterhunde. Als die Natur ihren Schrecken verlor, verlor der Spuk auch diese Erscheinungsformen.
Heute geistern unheimliche Präsenzen durch das Leben der Menschen, nicht fassbare Wesen, die untrennbar mit
emotionaler Energie verknüpft scheinen. Die Gespenster sind in das Innere des Menschen eingewandert. Der Geisterjäger des 21. Jahrhunderts muss wohl immer auch ein Therapeut sein.
Ich glaube weder an Spuk noch Gespenster, einen Geist habe ich noch nie gesehen. Dass es aber tatsächlich einmal
geschehen könnte, kann ich nicht ausschliessen. Vielleicht habe ich einmal ein Erlebnis. Meine Skepsis bleibt.
Bis dahin bleibe ich wohl von allen Geistern verlassen.
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