Eine Theorie der Begriffe © Viktor Weichbold (2012) I. Die Theorie (1) „Begriff“ gehört zu den meistgebrauchten und zugleich nebelhaftesten Worten unserer Sprache. Vor allem in philosophischen Kontexten ist „Begriff“ ein Allerweltswort, und nicht wenige Philosophen reden von „Begriffen“ als prägnanten und bedeutsamen Objekten. Was sie damit meinen, bleibt aber häufig unklar (oder problematisch, wie beim Ideenrealismus). Weit verbreitet ist die Ansicht, dass ein Begriff ein kompaktes Ding ist: ein ideelles Gebilde, mit dem unser Geist beim Denken operiert („Wir denken in Begriffen“). Doch dieser Ansicht liegt ein Denkfehler zugrunde: eine Hypostasierung von „Begriff“. Er geht davon aus, dass zu jedem Wort ein Ding gehört: so wie zu „Katze“ die Katzen oder zu „Haus“ die Häuser, so auch zu „Begriff“ – die Begriffe. So führt er zu der Ansicht, dass Begriffe so griffige Dinge wären wie Katzen oder Häuser. (2) Wir wollen statt dieser – hypostatischen – Sichtweise hier eine andere darlegen. Demnach ist ein Begriff ist kein kompaktes Ding, sondern ein komplexes Wissen. Genauer gesagt: ein Begriff ist unser Wissen darüber, wie ein Wort V mit anderen Worten essentiell verknüpft ist.1 Erläutern wir diese Definition an einem Beispiel: an dem Wort „Pferd“. Wir finden in unserer Alltagssprache, dass über ein Pferd folgende (allgemeine) Feststellungen getroffen werden: a) b) c) d) e) f) g) Ein Pferd ist ein Tier. Ein Pferd ist ein Vierbeiner. Ein Pferd kann wiehern. Ein Pferd frisst Gras Ein Pferd dient als Reittier. Ein Pferd ist entweder wild oder domestiziert. Ein Pferd hat einen Schweif, usw. Solche Feststellungen verknüpfen „Pferd“ mit anderen Worten („Tier“, „vierbeinig“, „Schweif“), die jeweils ein Merkmal von Pferden aussagen. In summa liefern diese Worte eine umfassende Charakterisierung von „Pferd“ in einem allgemeinen Sinn. Man könnte sagen (mit einem alten Ausdruck): sie beschreiben das Wesen eines Pferdes bzw. sind Wesensbeschreibungen. Wir wollen diesen Ausdruck („Wesen“) aber nicht in einem metaphysischen Sinn verstehen, sondern im Sinn einer Sprachpraxis: würde ein kompetenter und verständiger Sprecher gebeten, die Charakteristika eines Pferdes verbal zu nennen, würde er eben solche Worte gebrauchen. Wobei im Falle eines Pferdes bereits ein Kind als verständiger und kompetenter Sprecher gelten kann. Anders verhält es sich im Falle eines Elektrons; doch würde auch hier 1 V von Verbum 1 ein Physiker die Charakterisierung in Form bestimmter Wortverknüpfungen angeben: „ist Elementarteilchen“, „hat eine negative Ladung“, usw. (3) Wir wollen Verknüpfungen dieser Art als „essentielle Verknüpfungen“ bezeichnen. Essentielle Verknüpfungen binden an das Bezugswort V solche Worte, die charakteristische Merkmale dessen, wofür V steht, ausdrücken. In ihrer Gesamtheit genommen, bilden diese Verknüpfungen den Begriff von V.2 Das Wort V sitzt – bildhaft vorgestellt – wie eine Spinne im Zentrum eines Netzwerks (reticulum), dessen Fäden (fila reticularia) zu den Worten führen, die es charakterisieren. Man könnte daher die Beziehung zwischen V und den gewissen Worten als „retikuläre Beziehung“ benennen. Reittier retikuläre Beziehung Tier Schweif domestiziert Pferd Vierbeiner wiehern Gemäß dieser Terminologie besteht eine essentielle Verknüpfung aus einem Wort und einer retikulären Beziehung. (4) Der Begriff ist die Gesamtheit der essentiellen Verknüpfungen, die ein Wort besitzt. Besser gesagt: er ist unser Wissen von diesen Beziehungen, denn was als essentiell gilt, wird interindividuell nicht ganz einheitlich gehandhabt. Betrachten wir dies wieder an einem Beispiel: Das Alltagswort „Pferd“ ist mit vielen Worten verknüpft. Neben den oben genannten könnte man erwähnen: „hat ein Fell“, „atmet durch Nüstern“, „zieht Kutschen“. Ein Biologe würde hinzufügen: „gehört zu den Paarhufern“, „gehört zu den Säugetieren“, u.a. Vermutlich besteht keine einheitliche Meinung, welche Verknüpfungen zu den essentiellen (wesentlichen) Bestimmungen von „Pferd“ gehören. Man kann daher fragen: was ist das Kriterium, das entscheidet, ob eine Verknüpfung essentiell ist oder nicht? (5) Ein solches Kriterium existiert nicht – zumindest nicht in allgemeiner Form. Wir müssen hier den plastischen Charakter der Sprache in Betracht ziehen und anerkennen, dass Begriffe (Netzwerke essentieller 2 Die Sichtweise, dass die Bedeutung eines Wortes in dem System seiner Beziehungen zu anderen Worten besteht, ist in der Linguistik geläufig: vgl. dazu Leinfellner & Leinfellner, Ontologie, Systemtheorie und Semantik (Berlin 1978), Seite 231ff. Als Vertreter dieser Sichtweise werden dort J. Lyons und Y.A. Wilks genannt. 2 Verknüpfungen) keine starre Struktur besitzen. Sie sind interindividuell variabel. Ein Schulkind hat einen anderen Begriff von „Stern“ als ein Astronom. Begriffe werden zudem während des Spracherwerbs und der schulisch-akademischen Ausbildung ständig erweitert und umstrukturiert. Auch können sie im Laufe der Zeit einem allgemeinen Wandel unterliegen (z.B. ist der Begriff zu „Weltall“ heute ein anderer ist als zu der Zeit, da das Weltall nach dem Sphärenmodell vorgestellt wurde). Daher gehört zur Definition des Begriffs, dass er ein subjektives Wissen ist, wodurch eine gewisse (intra- wie interindividuelle) Variabilität zugestanden ist. (6) Was aber nicht heißt, dass er beliebig oder arbiträr ist. Unter den Mitgliedern einer Sprechergemeinschaft besteht oft hohe Übereinstimmung, welche die wesentlichen Verknüpfungen eines Wortes sind. Zum Beispiel wird jeder zugestehen, dass es essentieller ist, dass ein Pferd ein Tier ist oder dass es wiehert, als dass es durch Nüstern atmet oder zum Ziehen von Kutschen dient. Die Verknüpfungen weisen demnach unterschiedliche Relevanzgrade auf. Ihnen zufolge könnte man sie in einen Kern- und einen Peripheriebereich unterteilen, wobei bezüglich des Kernbereichs zwischen den Sprechern meist gute Übereinstimmung besteht. Die Übereinstimmung ist jedenfalls groß genug, um sprachliche Verständigung zu ermöglichen. Denn dazu genügt in den meisten Fällen die Kenntnis der wichtigsten Verknüpfungen. Begriffe – als retikuläre Netzwerke – besitzen also eine gewisse Plastizität. Sie sind interindividuell variabel (vor allem in ihrer Peripherie). Und generell gilt: je mehr retikuläre Beziehungen Einer herstellen kann, desto umfangreicher ist sein Begriff. (7) Essentielle Verknüpfungen regeln den Gebrauch von Worten, indem sie die Beziehungen zwischen ihnen festlegen. Wer weiß: „Das Pferd ist ein Tier“, der weiß, wie „Pferd“ und „Tier“ relativ zu einander zu gebrauchen sind – auch außerhalb dieses Satzes. Die Angabe solcher Verknüpfungen spielt eine Rolle bei Definitionen. Oft wird die Bedeutung eines Worts festgelegt, indem seine Beziehungen zu anderen Worten angegeben werden. Die folgenden Beispiele lassen dies deutlich erkennen: Ein Kreis ist eine runde, in sich geschlossene Linie in der Ebene, die vollkommen gleichmäßig gekrümmt ist. Eine Witwe ist eine Frau, die mit einem Mann verheiratet war, der bereits gestorben ist. Bei diesen Definitionen wird die sog. begriffliche Bedeutungskomponente der jeweiligen Worte („Kreis“, „Witwe“) angegeben.3 Diese macht einen Teil ihrer Bedeutung aus (siehe dazu unten, Abschn. V) 3 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“ 3 II. Der logische Status der Begriffe (8) Indem wir sagen, dass Begriffe ein Wissen sind, sind sie ihrer Natur nach psychische Phänomene. Der logischen Eigenart nach handelt es sich bei den essentiellen Verknüpfungen um Klassifikationen, d.h. klassifikatorische Urteile. Als solche sind sie nicht wahr oder falsch, sondern zutreffend oder unzutreffend. Betrachten wir diesen Punkt genauer. Die Feststellung „Der Pferd ist ein Tier“ ist keine Aussage über reale Pferde und Tiere (sonst hätten zuvor alle diese Dinge überprüft werden müssen, um die Wahrheit der Feststellung zu sichern). Sie ist eine Aussage über die Beziehung zwischen Worten. Sie legt fest, dass „Tier“ das allgemeinere, „Pferd“ das spezifischere Wort ist. Damit wird zugleich der Gebrauch dieser Worte geregelt. Die Festlegung drückt einen Willensakt der Sprechergemeinschaft, der eine normative Regelung in Geltung setzt. Es steht nun nicht mehr im Belieben der einzelnen Sprecher, wie sie die Worte verwenden, sondern es gilt die vereinbarte Beziehung zwischen „Tier“ und „Pferd“. (9) Es bleibt offen, worin der Beschluss der Gemeinschaft gründet, die Worte so und nicht anders zu verwenden. Vermutlich spielen verschiedene Motive eine Rolle (die nur teilweise bewusst sind). So ist der Gebrauch des Wortes „vierbeinig“ offenbar durch ein sinnliches Kriterium motiviert: was auf vier Bienen geht, ist vierbeinig. Da ein Pferd augenfällig auf vier Beinen geht, ist es vierbeinig. Diese Feststellung würde nicht dadurch falsifiziert, dass eines Tages ein Pferd mit fünf Beinen geboren wird oder dass ein Pferd, nach Verlust eines Beins, auf dreien weitergeht. Daran erkennt man den nicht-empirischen Charakter der essentiellen Feststellungen. Auch wenn sie (teilweise) auf empirischen Kriterien beruhen, sind sie keine empirischen Sätze, sondern (empirisch motivierte) Sprachregelungen. Als solche sind sie für Korrekturen offen. Wenn spätere Erfahrungen zeigen, dass ein Wort falsch oder problematisch verwendet wird, kann das geändert werden. Das war auch öfters der Fall. So wurde der Wal wegen seiner fischähnlichen Beschaffenheit und Lebensweise früher zu den Fischen gezählt. Als die Fische später als Kiemenatmer und Oviparen genauer definiert wurden, musste die Festlegung „Der Wal ist ein Fisch“ aufgegeben werden. Es bedurfte einer Neuregelung der Verknüpfung, um den Wortgebrauch an neue Einsichten anzupassen. – Auch daran zeigt sich der plastische Charakter der Begriffe, die für Korrekturen und Adaptationen offen sind. (10) Klassifikatorische Urteile werden meist als Kategorisierungen (d.h. als Einteilungen in ein Ordnungssystem) angesehen. Dagegen ist nichts zu sagen, solange klar ist, dass es sich um Aussagen über die Sprache handelt (um Normierungen des Sprachgebrauchs). Oft aber besteht diesbezüglich eine ontologisierende Auffassung und man meint, die Kategorisierung beträfe die Dinge selbst: die (wirklichen) Pferde würden einer Kategorie (Menge, Klasse) zugeordnet, die ebenfalls (irgendwie) wirklich besteht. Diese Auffassung führt zu dubiosen Konsequenzen (u.a. zum Universalienrealismus), weshalb sie untragbar ist. In Wahrheit sind Klassifikationen Aussagen über die Verknüpfung von Worten. Sagt man: „Das Pferd ist ein Tier“, so wird nicht über reale Dinge gesprochen, sondern über eine 4 Beziehung zwischen den Worten „Pferd“ und „Tier“. Über die Art der Beziehung wird noch zu reden sein. III. Der Ursprung der Rationalität (11) Kehren wir zurück zum Beispielwort „Pferd“ und seinen essentiellen Verknüpfungen. Die Gesamtheit dieser Verknüpfungen bildet den Begriff zu „Pferd“. Nun stehen die Worte, mit denen „Pferd“ verknüpft ist, ihrerseits in wechselseitigen Beziehungen. Zum Beispiel trifft zu: „Ein Reittier ist ein Tier“ oder „Ein Vierbeiner ist ein Tier“. „Tier“ wiederum steht in retikulärer Beziehung zu „Lebewesen“, usw. Der Gebrauch all dieser Worte muss nun derart geregelt sein, dass sie untereinander stimmig verknüpft sind. Es wäre inakzeptabel, wenn z.B. gälte: „kein Tier ist vierbeinig“, und zugleich: „das Pferd ist ein Tier“ und „das Pferd ist vierbeinig“. Dadurch würde dasselbe Wort („vierbeinig“) einmal zuerkennend, einmal aberkennend mit Pferd verknüpft. Unter diesen Umständen wäre unklar, welche Verknüpfung nun zutrifft und es wäre der Zweck des Sprachgebrauchs – effiziente interindividuelle Verständigung – sehr beeinträchtigt. (12) Also erhebt sich die Forderung nach der Konsistenz des Begriffs (sie gründet im Zweck des Sprachgebrauchs: inkonsistente Begriffe stören diesen Zweck). Die essentiellen Verknüpfungen müssen untereinander stimmig sein, und es darf nicht der Fall eintreten, dass Worte, die unverträgliche Merkmale bezeichnen, mit V zugleich verknüpft sind. Da die Worte, die in retikulären Beziehungen zu Begriffen stehen, ihrerseits in ein Geflecht von retikulären Beziehungen zu anderen Worten eingebunden sind, führt die Forderung nach der Konsistenz des Begriffs automatisch zu der Forderung, dass das gesamte Netzwerk der Worte und ihrer Beziehungen konsistent sein muss. Die hier geforderte Eigenschaft heißt „Rationalität“. (13) Rationalität4 meint die Stimmigkeit der Beziehungen, die zwischen Worten besteht. Wer sagt „Das Pferd ist ein Tier“ und „Das Tier ist ein Lebewesen“, der kann nicht zugleich sagen: „Das Pferd ist kein Lebewesen“. In diesem Fall wären die Beziehungen zwischen den Worten „Pferd“, „Tier“ und „Lebewesen“ nicht stimmig, d.h. irrational. In der Forderung nach stimmigem (konsistentem) Gebrauch der Worte gründet die Forderung nach Rationalität bzw. meinen die beiden Ausdrücke dasselbe. Die Rationalität ist die Grundlage der Logik. Zu den Aufgaben der Logik gehört u.a., die Grundtypen der Begriffsbeziehungen zu suchen und zu explizieren. Das wird in einem anderen Essay (ansatzweise) erfolgen.5 – Hier indessen noch weitere Klärungen zu den Begriffen. 4 5 vom Lateinischen ratio = Verhältnis, Beziehung vgl. meinen Essay „Rationalität“ 5 IV. Traditionelle und neue (retikuläre) Begriffstheorie (14) Betrachten wir noch einige traditionelle Ansichten über Begriffe: (a) Mit der Vorstellung von Begriffen als ideellen Gebilden verbunden ist die Auffassung, dass sie Zeichen für Gegenstände seien (indem sie diese Gegenstände in unserem Denken repräsentieren). In dieser Hinsicht wird die Sprache oft ein „System von Zeichen“ genannt. (b) Einer älteren Ansicht zufolge sind Begriffe quasi „Extrakte“ der wesentlichen Merkmale eines Dings. Die Gesamtheit der Merkmale bildet die Intension. Je mehr Merkmale ein Begriff enthält, desto konkreter ist er. Durch Abstraktion (Weglassen von Merkmalen) entstehen allgemeinere Begriffe („Bachforelle“ – „Forelle“ – „Fisch“ – „Tier“ – „Lebewesen“). (c) Umstritten ist die Frage, wie Begriffe existieren. Ihre Charakterisierung als ideelle Gebilde wirft das Problem auf, was unter ideeller Existenz vorzustellen ist: meist nichts Konkreteres als irgendeine Art des Daseins im Denken. Allerdings fehlt es nicht an Philosophen (von Plato bis heute), die eine eigenständige Existenz der Begriffe annehmen: unabhängig vom menschlichen Denken. Alle drei Ansichten sind eng verknüpft mit der Auffassung, dass Begriffe kompakt-atomare Gebilde sind, quasi die operativen Einheiten unseres Denkens. Sie werden vorgestellt wie Bauklötze, die unser Geist ergreift und zu komplexeren Einheiten – Phrasen, Sätzen, Argumenten – zusammenfügt. (15) Demgegenüber besagt die retikuläre Begriffstheorie: ein Begriff ist kein statisches Ding, sondern ein dynamisches Wissen. Er ist ein Netzwerk von Wortverknüpfungen, das plastisch und variabel angelegt ist. Im Laufe der individuellen Lerngeschichte werden die Begriffe ausgebildet und nehmen – je nach individueller Lernerfahrung – unterschiedlichen Umfang an. Daher sind die Begriffe interindividuell variabel, wenn auch nicht in eminenter Weise. Im Kernbereich stimmen sie meist gut überein, doch können sie stets an neue Erfahrungen adaptiert werden (d.h. neue retikuläre Beziehungen eingehen). Während des Denkens tragen Kontextfaktoren dazu bei, dass aus dem Gesamtnetzwerk der retikulären Beziehungen eines Worts nur gewisse Beziehungen aktiviert werden, wodurch eine kontextspezifische Nuancierung der Bedeutung des Worts erfolgen kann. (16) Was die Existenz der Begriffe betrifft, so folgt aus der Bestimmung, dass Begriffe ein subjektives Wissen sind, dass sie psychische Phänomene sind. Dies ist noch näher zu bestimmen. Die psychologische Basis der Wortverknüpfungen sind stabile Assoziationen. Diese liegen primär als Dispositionen vor und werden beim Denken eines Worts aktiviert. Denke ich z.B. „Fisch“, so werden assoziativ Worte mitaktiviert, die mit „Fisch“ retikulär verknüpft sind: „hat Flossen“, „lebt im Wasser“, usw. Damit wird das ganze Netzwerk (oder ein Teil 6 davon) von „Fisch“ aktiviert. Das heißt, das Wort „Fisch“ mitsamt seinen Beziehungen zu anderen Worten ist im Denken präsent. Diese Beziehungen (deren Eigenart anderswo behandelt wird6) beeinflussen wiederum den Prozess des weiteren Denkens. Sie werden im Denken realisiert, indem sie den Ablauf des Denkprozesses anleiten, wenn nicht weitgehend regulieren. Somit ergibt sich hinsichtlich der Existenz von Begriffen: Begriffe existieren als Wissen in den Individuen einer Sprechergemeinschaft. Das Wissen liegt primär als Disposition vor: als verfügbare stabile Assoziationen, die beim Denken aktiviert werden. Die retikulären Beziehungen zwischen den Worten werden realisiert in den Denkabläufen bzw. den Sprechabläufen (also im Ablauf materieller Ereignisse).7 (17) Die retikuläre Begriffstheorie umgeht noch weitere Probleme, die mit der traditionellen Begriffstheorie verbunden sind. So etwa die alte Streitfrage, ob Begriffe erworben oder angeboren sind. In dieser Sache hat in jüngerer Zeit das empiristische Dogma die Oberhand behalten, wonach nichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war8. Aber dieses Dogma (wie auch seine Gegenposition) beruht auf der falschen Voraussetzung, dass Begriffe eigene Entitäten (Ideen) in unserem Geist wären. Dann freilich stellt sich die Frage, wie sie dort hingekommen sind. Versteht man Begriffe hingegen als Netzwerke aus Worten, dann ist klar, dass sie nicht anders erworben werden als durch das Erlernen der Sprache. Wir lernen (als Kinder) Worte und ihren Gebrauch, und unsere Begriffe sind nichts anderes als das Wissen dieser Worte und ihres Gebrauchs. So gesehen liegt der Ursprung der Begriffe im Spracherwerb. – Die Sinneswahrnehmung spielt dabei eine ganz andere Rolle als die Empiristen mutmaß(t)en. Es ist keineswegs so, dass wir die Dinge erst sehen, hören, riechen, etc. müssen, bevor wir uns einen Begriff von ihnen bilden können (so meint es das empiristische Dogma). Im Gegenteil, wir haben ja viele Begriffe von Dingen, die der sinnlichen Wahrnehmung unzugänglich sind: „Gott“, „Jahrhundert“, „Risiko“, „Kapital“, usw. Wie könnten wir davon etwas im Verstand haben, wenn es gar nicht in die Sinne kommen kann? – De facto ist allein der Hörsinn wichtig für den Begriffserwerb, weil wir die 6 vgl. meinen Essay „Rationale Beziehungen“ Hierzu einige terminologische Klärungen. Ein Wort ist ein materielles Gebilde oder Ereignis: gesprochen, geschrieben, gedeutet oder gedacht. Als gesprochenes Wort ist es eine Konfiguration von Schalllauten, als geschriebenes eine Konfiguration von Tintenstrichen, als gedeutetes eine Konfiguration von Hand- und Fingerstellungen. Als gedachtes ist es ein psychischer Prozess. – Wir wollen auch psychische Prozesse als materielle Ereignisse erachten, da sie ja an materielle Vorgänge (Neuronenaktivitäten) geknüpft sind. Das Psychische ist ein Epiphänomen materieller Vorgänge und insofern selber der materiellen Welt zugehörig. – Sprechen und aktives Denken unterscheiden sich nur insoweit, als beim Denken keine begleitende Aktivität der Sprechorgane stattfindet (Lautproduktion). Ansonst dürften die psychischen Prozesse beim Sprechen und (produzierenden) Denken ziemlich gleich ablaufen. – Etwas anders scheint es beim rezipierenden Denken (Zuhören) zu sein. 8 Z.B. emphatisch vorgetragen von Fritz Mauthner in seinen Beiträgen zur Sprachkritik. Die Gegenposition wurde in jüngerer Vergangenheit von Karl Popper vertreten (vgl. Objektive Erkenntnis, II,18: "Wäre eine Schätzung nicht absurd, so würde ich sagen, 99,9% des Wissens eines Organismus seien vererbt oder angeboren, und nur 0,1% bestünden in Veränderungen des angeborenen Wissens“). 7 7 Sprachlaute hören müssen, um sie und ihren Gebrauch zu erlernen. Das Hören der gesprochenen Sprache ist die einzige Sinneswahrnehmung, die eine Rolle für die Begriffsbildung spielt. (18) Eine weitere Fehlauffassung über Begriffe, die durch die retikuläre Begriffstheorie korrigiert wird, ist die Lehre von der Begriffsbildung durch Abstraktion. Diese Lehre beruht auf der Vorstellung, dass die Begriffe Merkmale des Dings beinhalten, das sie repräsentieren. Die Gesamtheit der Merkmale ist dann die Intension. Ein konkreter (spezifischer) Begriff enthält viele Merkmale; durch sukzessives Weglassen von Merkmalen („Abstraktion“) entstehen allgemeinere (abstraktere) Begriffe. Das ist ein völlig artifizielles Modell der Begriffe und ihrer Bildung. Erstens ist die Auffassung, dass Begriffe Zeichen (Repräsentanten) für Dinge sind, haltlos. Richtig ist: sie können als Zeichen gebraucht werden, sind es aber nicht an sich. Die Sprache ist kein System von Zeichen, sondern ein System von Worten, d.h. von Gebilden, die in bestimmter Weise gebraucht werden, um bestimmte Funktionen erfüllen. Darunter ist die Funktion des Bezeichnens von Dingen nur eine. Sind nun die Begriffe primär keine Zeichen, dann sind sie auch keine Abbilder von Dingen und keine „Merkmalsträger“. Damit ist die These erledigt, dass sie durch Merkmalsextraktion und -abstraktion gebildet werden. (19) Diese These – wie auch das empiristische Dogma – beruht auf einem Irrtum, den wir zuletzt noch aufzeigen wollen: der Vermengung der begrifflichen und der sensualen Bedeutungskomponente von Worten. Ich habe an anderer Stelle dargelegt, dass die Bedeutung von Worten (allgemein: Sprachäußerungen) aus verschiedenen Komponenten besteht.9 Dazu zählen: die sensuale Bedeutungskomponente (BK), die begriffliche BK, die grammatische BK, die emotionale BK, u.a. Die einzelnen BKen interagieren beim Prozess der Bedeutungsbildung und verflechten sich zu einem Ganzen – eben der Bedeutung. Der Begriff geht als begriffliche BK in die Bedeutungsbildung ein. Nun ist ein Begriff ein Netzwerk allein aus Worten und beinhaltet keinerlei sinnliche Komponenten (wie Erinnerungen an visuelle, olfaktorische, etc. Sinneseindrücke). Sinnliche Erinnerungen tragen zwar auch zur Bedeutung des Wortes bei: diese bilden jedoch die sensuale BK, also eine eigenständige BK. Sensuale BK und begriffliche BK sind zwei separate Komponenten der Bedeutung, die nicht vermischt werden dürfen. Indem ein Begriff allein aus retikulären Beziehungen zu Worten besteht, enthält er keine Merkmale, die aus der sinnlichen Wahrnehmung extrahiert sind. Diese gehören eben der sensualen BK des Wortes an. 9 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“ 8 V. Begriffe als Komponenten der Bedeutung von Worten (20) Um das zuletzt Gesagte verständlicher zu machen, sollen kurz einige Grundlagen der Bedeutungstheorie rekapituliert werden, die ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe.10 Wie gesagt: die Bedeutung einer Sprachäußerung setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen (Bedeutungskomponenten, BK). Ich habe diese BKen im o.g. Essay beschrieben: die sensuale, die begriffliche, die grammatische, die emotionale, u.a. Der Begriff geht als begriffliche BK in die Bedeutungsbildung ein. An einem Beispiel erläutert: das Wort „grün“ in dem Satz „Das Blatt ist grün“ bewirkt in einem Mitglied der deutschen Sprechergemeinschaft die Aktivierung eines umfangreichen Wissens, das u.a. inkludiert: dass „grün“ auf einen grünen Seheindruck anwendbar ist (sensuale BK), dass „grün“ eine Farbe ist (begriffliche BK), dass „grün“ hier ein Eigenschaftswort ist (grammatische BK), dass Grünes angenehm empfunden wird (emotionale BK). Das gesamte Wissen setzt sich also aus einer Vielzahl von verfügbaren Assoziationen zusammen, die das Wort „grün“ (sobald wir es hören) auslöst. Die nun aktivierten Prozesse interagieren miteinander und ergeben in ihrer Gesamtheit die Bedeutung von „grün“. Darin spielen die sensuale und die begriffliche BK die größte Rolle; gehen wir auf sie näher ein. (21) Die sensuale BK ist das (subjektive) Wissen, dass ein Wort auf bestimmte Wahrnehmungsinhalte anwendbar ist. Zum Beispiel wissen wir, dass „grün“ anwendbar ist auf einen grünen Seheindruck, „laut“ auf einen intensiven Höreindruck, „Baum“ auf ein so und so beschaffenes Gewächs, usw. Das Wissen schließt ein, dass die Wahrnehmungsinhalte eine gewisse Variabilität aufweisen. Das Wort „Baum“ bspw. trifft auf eine Reihe von Sehhindrücken zu, die kaum je gleich sind. Analog umfasst „grün“ eine Vielzahl von Nuancierungen des Spektrums und der Intensität. Daher gibt es meist Grenzfälle, wo wir nicht sicher sind, ob ein Wort noch auf eine Wahrnehmung zutrifft oder nicht mehr (z.B.: fällt türkis noch unter grün?). Die sensuale BK kommt nur Worten zu, die wir mit Wahrnehmungen verbinden können; also Worte für visuelle, akustische, haptische, gustative, etc. Eindrücke. Ebenso besitzen jene Worte eine sensuale BK, die auf innere Wahrnehmungen anwendbar sind: „hungrig“, „müde“, „schmerzhaft“, etc. Worte, denen nichts Wahrnehmbares entspricht, besitzen keine sensuale BK, z.B. „Intelligenz“ oder „Determination“. Ihre Bedeutung wird durch andere BKen konstituiert, etwa durch die begriffliche. Die Bedeutungen sind also aus einer variablen Kombination von BKen zusammengesetzt. Auch ist es so, dass wir ein Wort, dessen sensuale BK uns unbekannt ist, trotzdem teilweise verstehen können, sofern das Wort andere BKen besitzt, die uns bekannt sind. Angenommen, jemand redet von einer Farbe namens „klim“. Wir haben noch nie ein klimfarbiges Ding gesehen und wissen nicht, auf welchen Farbeindruck das Wort anwendbar ist. Wissen wir aber, dass „klim“ für eine Farbe steht (dieses Wissen gehört zur 10 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“ 9 begrifflichen BK) und dass „klim“ als Adjektiv auftritt (grammatische BK), dann können wir eine Teilbedeutung von „klim“ bilden. Dann sind wir in der Lage, den Satz „Hans trägt eine klime Hose“ ungefähr zu verstehen. (22) Die grammatische BK ist das Wissen über die grammatischen Eigenschaften, die ein Sprachausdruck besitzt bzw. die ihm aufgrund seiner Einbindung in eine grammatische Struktur (z.B. Satz) zukommen. Zum Beispiel wissen wir, dass „Meteorit“ ein Hauptwort ist, das nur an gewissen Positionen in einem grammatisch korrekten Satz stehen kann. Diese Position bestimmt wiederum, in welchen (logischen und grammatischen) Beziehungen es zu anderen Worten stehen kann. Die grammatische BK spielt eine geringe Rolle für die Bedeutung von Worten, aber eine große für komplexe Äußerungen wie Phrasen oder Sätze. Die Bedeutung eines Satzes ergibt sich ja nicht allein aus den Bedeutungen der einzelnen Worte, sondern ebenso durch ihre grammatische Anordnung. VI. Subjektivität und Objektivität der Begriffe (23) Wie gesagt: die einzelnen BKen sind jeweils ein (mehr oder weniger komplexes) Wissen. „Wissen“ in diesem Sinn bezeichnet die Verfügbarkeit von gelernten Assoziationen11. Diese liegen primär als Disposition vor, die beim Wahrnehmen einer Sprachäußerung aktiviert und als aktiviertes Wissen in die Bedeutungsbildung einbezogen wird. Die Bedeutung einer Sprachäußerung ist also ein Flechtwerk aus psychischen Prozessen, die uns ablaufen, während wir Sprachäußerungen rezipieren oder produzieren. In ihrer Gesamtheit bilden diese Prozesse das Verstehen der Äußerung. Das Verstehen der Äußerung ist somit das Gleiche wie ihre Bedeutung: es (sie) ist ein subjektives psychisches Geschehen. Die Bedeutung einer Sprachäußerung (z.B. eines Satzes) ist nicht eine eigenständige ideelle Realität, die durch die Äußerung transportiert und von unserem Geist erfasst wird. Vielmehr ist es so, dass die Äußerung im (rezipierenden) Individuum psychische Prozesse induziert, die in ihrer Gesamtheit die Bedeutung erst bilden. Die Bedeutung entsteht im Kopf des Rezipienten; sie ist subjektiv und flüchtig. So gesehen ist es falsch zu sagen: ein Wort hat eine Bedeutung, sondern es muss richtig heißen: ein Wort erzeugt eine Bedeutung (24) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Begriffe als Wissen nur im Denken der Mitglieder einer Sprechergemeinschaft existieren. Demnach sind alle Begriffe subjektiv in dem Sinn, dass jeder Mensch seinen eigenen Begriff zu jedem (ihm bekannten) Wort hat. Daraus ergibt sich weiters, dass Begriffe interindividuell differieren können. Kompetente Sprecher wissen viele Beziehungen, in denen die Worte zueinander stehen; gering kompetente Sprecher (z.B. Kinder) viel weniger. Ein Jurist kennt viel mehr retikuläre Beziehungen von „Vertrag“ als ein 11 Der hier gebrauchte Wissensbegriff ist zu unterscheiden von anderen Wissensbegriffen, etwa vom propositionalen Wissen (Kennen des Wahrheitswerts eines Satzes). 10 Laie, usw. Der Umfang der Kenntnisse an Worten und ihren retikulären Beziehungen macht einen nicht geringen Teil jener Qualifikation aus, die gemeinhin als „Bildung“ bezeichnet wird. (25) Man könnte einwenden, dass die Behauptung, dass jedes Individuum seinen eigenen Begriff zu jedem Wort hat, ernste Probleme aufwirft. Wie wäre in diesem Fall gewährleistet, dass eine Äußerung von allen Individuen gleich verstanden wird? Müsste nicht eine babylonische Sprachverwirrung eintreten, wenn dasselbe Wort bei verschiedenen Personen verschiedene Begriffe induziert? Und doch funktioniert im Regelfall die sprachliche Verständigung sehr gut, was die traditionelle Annahme stützt, dass Sprachäußerungen eine objektive Bedeutung haben, d.h. eine Bedeutung, die nicht subjektiv variabel ist. Diese objektive Bedeutung wird von unserem Geist so erfasst, wie sie an sich beschaffen ist. Nur so ist erklärbar, dass eine sprachliche Äußerung von verschiedenen Hörern gleich verstanden wird. Dieser Einwand trifft nicht. Für das Gelingen der Verständigung genügt es, wenn die Begriffe bei verschiedenen Individuen grob übereinstimmen (in ihrem Kernbereich). Anders gesagt: die Individuen müssen bloß die wichtigsten Beziehungen, die ein Wort zu anderen Worten hat, kennen. Das aber wird durch die sprachliche Sozialisation leicht erreicht. Indem ein Kind in die Sprechergemeinschaft hineinwächst, übernimmt es deren Praxis des Wortgebrauchs. Dadurch bildet es einen Begriffsapparat aus, der mit dem der anderen Sprecher weitgehend übereinstimmt (26) Es ist also keineswegs so, dass die Subjektivität der Begriffe mit Beliebigkeit oder Inkonstanz gleichzusetzen ist. Sie impliziert nur, dass eine gewisse interindividuelle Variabilität besteht. Diese Variabilität ist aber nicht so groß, dass die Verständigung unmöglich würde. Ihr Effekt besteht allenfalls darin, dass der Rezipient den Sprecher nicht genau so versteht, wie der seine Äußerung meint. Und das dürfte im Alltag sehr häufig der Fall sein. – Damit ist der obige Einwand abgewehrt. Die Notwendigkeit der Annahme einer objektiven (vom Subjekt unbeeinflussbaren) Bedeutung ist nicht gegeben. Was die Objektivität der Begriffe betrifft, so besteht diese in Wahrheit in ihrer interindividuellen Übereinstimmung. Die Objektivität eines Begriffs zeigt sich an der Übereinstimmung der Individuen im Gebrauch eines Worts.12 Sie lässt sich durch Beobachtung nachweisen bzw. messen. Eine hohe Übereinstimmung im Wortgebrauch (d.h. dass alle Sprecher ein Wort in gleicher Weise relativ zu anderen Worten verwenden) zeigt hohe Objektivität an. Variabler Gebrauch zeigt eingeschränkte Objektivität an. VII. Das Erlernen der Begriffe (27) Starke Unterstützung erhält die retikuläre Begriffstheorie durch Beobachtungen, wie Kinder die Sprache und die ihr innewohnende Logik des Wortgebrauchs erlernen. – Wäre ein Begriff ein kompaktes Ding (eine „Idee“), dann müsste ein Kind, sobald es ein Wort erlernt hat, auch dessen 12 vgl. dazu meinen Essay: „Eine Theorie der Objektivität“ 11 Begriff kennen. Tatsache aber ist, dass das Kind anfangs die Worte sehr unsicher und variabel gebraucht, wobei es ihnen oft eine sehr „weite“ und diffuse Bedeutung zulegt. Erst durch praktische Übung wird es sicher im Gebrauch eines Worts. Daraus folgt, dass nicht der Begriff den Gebrauch anleitet, sondern umgekehrt: dass der Gebrauch den Begriff allmählich ausbildet und stabilisiert. (28) Werfen wir einen Blick auf den kindlichen Spracherwerb, soweit er das Verstehen (Konstruieren der Bedeutung) von Worten betrifft. Die hier zu machenden Beobachtungen sind sehr aufschlussreich: sie bestätigen u.a. die hier vertretene Theorie der Bedeutungskomponenten. Der kindliche Spracherwerb beginnt mit der Nachahmung von gehörten Lauten. Die Nachahmung erfüllt zwei Funktionen: erstens bewirkt sie eine Sensitivierung des auditiven Systems zur bevorzugten Wahrnehmung bestimmter akustischer Frequenzbereiche und -konfigurationen, und zweitens schult sie das neuromotorische System für die Bildung sprachspezifischer Laute. (29) Das erste Verständnis für die Bedeutung von Sprachlauten erwirbt das Kind, indem es lernt, die sensuale BK zu bilden. Sie ist das Wissen, dass Sprachlaute zur Benennung von Dingen (Wahrnehmungsinhalten) gebraucht werden. Dieses Wissen wird durch die Ausbildung von Assoziationen hergestellt. Es entsteht typischerweise, indem die Mutter mit dem Kind ein Bilderbuch durchblättert, auf das Bild einer Katze zeigt und sagt: „Katze“. Durch Wiederholung und eigenes Nachsprechen wird die Assoziation von Sprachlaut und Wahrnehmungsinhalt stabilisiert. Nota bene: was das Kind hier lernt, ist die sensuale BK des Worts – nicht dessen Begriff. Mag sein, dass es aus dem wiederholten Anblick einer Katze charakteristische Merkmale extrahiert und in Form einer visuellen Schablone im Gedächtnis behält. Aber diese Schablone ist nicht der Begriff der Katze; sie gehört nicht einmal zu ihm. Sie ist vielmehr ein operativer Bestandteil der sensualen BK. Ebenso wichtig ist, dass das Kind lernt, dass Wahrnehmungen, die dieser Schablone entsprechen, mit dem Wort „Katze“ benannt werden. All das gehört zur sensualen BK von „Katze“. Ganz ähnlich erlernt das Kind die sensuale BK anderer wahrnehmungsbezogener Worte: „rot“, „heiß“, „kalt“, „laut“, „süß“; „salzig“, usw. (30) Das Erlernen der begrifflichen BK (des Begriffs) geht auf andere Weise vor sich. Die Begriffe erlernen wir, indem wir andere Menschen sprechen hören. Zum Beispiel hört das Kind seine Mutter sagen: „Die Katze ist ein Tier“. Ein andermal sagt die Mutter: „Der Hund ist ein Tier“, „Das Pferd ist ein Tier“, „Der Hahn ist ein Tier“, usw. Das Wort „Tier“, welches das Kind wiederholt hört, hat offenkundige Beziehungen zu allen diesen Worten, und diese Beziehungen werden im Rahmen der Begriffsbildung assoziativ verknüpft bzw. gemerkt. Sie regeln den Gebrauch der Worte: hier etwa, dass „Tier“ allgemeiner gebraucht wird als „Katze“, „Hund“ usw. 12 Das ist natürlich keine Einsicht, die dem Kind bewusst wird. Doch offenbar analysiert sein Geist das gehörte Sprachmaterial auf solche Beziehungen zwischen Worten. Was zunächst ein bloßes Nachahmen des Gehörten ist – „Die Katze ist ein Tier“, „Der Hund ist ein Tier“ – liefert alsbald ein Wissen über die treffsichere Verwendung des Wortes „Tier“. Kommen weitere Verknüpfungen mit „Tier“ hinzu („manche Tiere sind Raubtiere“, „Tiere sind keine Pflanzen“, usw.), dann resultiert daraus bald ein umfangreicheres Wissen, wie sich „Tier“ zu anderen Worten verhält. Die Gesamtheit dieses Wissen macht den Begriff von „Tier“ aus. (31) Zur Erhärtung des Gesagten noch ein Beispiel, welches zeigt, dass die Kinder tatsächlich die sensuale und die begriffliche BK als erste erwerben. Das lässt sich überprüfen, indem man ein (z.B. dreijähriges) Kind nach der Bedeutung von Worten fragt. Es wendet dabei zwei alternative Strategien an: entweder nennt es die sensuale BK oder die begriffliche BK des Worts. Fragt man etwa, was ein Löwe sei, dann besteht die Antwort darin, dass es auf das Bild eines Löwen zeigt (so vorhanden), also die sensuale BK des Worts aktiviert. Ist kein Bild zuhanden, dann gibt es eine verbale Beschreibung von der Art: „ein Löwe ist ein Tier mit einer Mähne und Pranken, das laut brüllt“. Diese Beschreibung erzeugt die Bedeutung von „Löwe“ durch Angabe seiner Beziehungen zu anderen Worten: „ist ein Tier“, „hat Mähne und Pranken“, und „brüllt“. VIII. Keine Hinterwelt (32) Zarathustra-Nietzsche prägte den Ausdruck „Hinterweltler“ für Menschen, die an eine Welt hinter der sinnlich erfahrbaren glauben. Zu diesen gehören nicht nur Religiöse und Okkultisten, sondern auch manche Philosophen. Jene nämlich, die meinen, dass Begriffe geistige Gebilde hinter den Worten (Sprachlauten) seien. Wer so etwas glaubt, erfüllt die Definition eines Hinterweltlers.13 Die Annahme der Existenz einer begrifflichen Hinterwelt ist mit der retikulären Begriffstheorie hinfällig. Ihr zufolge sind Begriffe sind keine ideellen (geistigen) Entitäten, sondern psychische Prozesse in uns: unser subjektives Wissen von den logischen Beziehungen der Sprachäußerungen untereinander. Ein Begriff ist demnach eine subjektive (private) Größe. Begriffe liegen im Individuum als Dispositionen vor und werden beim Denken aktiviert und durch Sprachäußerungen realisiert. (33) Die Annahme einer ideellen Hinterwelt wird durch zwei Probleme motiviert, die sie (scheinbar) löst: die Intersubjektivität der Sprache und der notwendig-apriorische Charakter von Mathematik und Logik. Beides soll durch die Behauptung, dass die Bedeutung der Sprachzeichen etwas „Objektives“ (vom Subjekt Unabhängiges) sei, plausibel werden. Doch ist 13 Ein gegenwärtiger emphatischer Vertreter des Hinterweltlertums ist der Hamburger Philosoph Künne. Aber auch Carnap, Quine, Popper gehören dazu, die an die Existenz von „Klassen“ bzw. „Dritte-Welt-Objekten“ glaubten. 13 die Annahme einer ideellen Hinterwelt an sich eine Absurdität, sodass sie schwerlich zur Lösung irgendeines Problems geeignet ist. Was die Intersubjektivität der Sprache betrifft, so beruht sie wohl auf der Objektivität der Begriffe. Aber diese Objektivität ist nicht Unabhängigkeit vom menschlichen Subjekt, sondern interindividuelle Übereinstimmung im Sprachgebrauch. Objektivität besteht in die Abwesenheit von Fehlervarianz im Ergebnis14 (hier: dem rationalen Sprachverhalten). Auf das Problem, das der notwendig-apriorische Charakter von Mathematik und Logik in diesem Zusammenhang aufwirft, wird ein eigener Essay eingehen15. 14 15 vgl. meinen Essay „Eine Theorie der Objektivität“ vgl. meinen Essay: „Rationalität“ 14
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