Der Pakt mit dem Feuerteufel

Illustration:
Sabrina Börner
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Lukas Wolfgang Börner
Der Pakt mit
dem Feuerteufel
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Ade
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Es waren die Hörner, die den Feuerteufel verrieten. Ohne die hätte man ihn fast
für einen Menschen mit starkem Sonnenbrand halten können. Sofern man die
Tatsache ignoriert hätte, dass normale Menschen gewöhnlich größer sind als
fünf Zentimeter.
Er hockte auf dem Zündholz und lächelte Ade aufmunternd zu. Sein Anzug und
die Krawatte waren blau, seine Hände und der Kopf waren rot-orange.
„Was bietest du an?“, fragte Ade, der glaubte, sich verhört zu haben.
„Ich biete eine kostenlose Sitzung an. Man könnte es als Schnupperkurs
bezeichnen“, antwortete der Teufel.
Er blickte freundlich drein. Er hatte kein gemeines Grinsen auf den Lippen und
rieb sich auch nicht die Hände, wie man es von einem Teufel gewohnt war. In
der Tat war er höflich und zuvorkommend. Doch war er offensichtlich der
Teufel. Ade störte es, diesen so sympathisch vor sich auf dem Zündholz hocken
zu sehen.
Es konnte niemals gutgehen, wenn er sich mit ihm einließ, das wusste er.
Schnupperkurs hin oder her. Andererseits war das nun auch schon egal.
Eigentlich war eh alles egal.
„Und was sollte mir diese Sitzung bringen?“
„Ganz einfach“, antwortete der Teufel in seiner sauberen hochdeutschen
Aussprache. „Sie bringt dir Respekt!“
Ein Schauer durchfuhr Ades Körper. Respekt.
Ach, komm, scheiß drauf, dachte der Bub bei sich und willigte ein.
„Sehr gut“, antwortete der Teufel und zog seine Krawatte zu Recht. Er war
sichtlich zufrieden mit sich. „Du wirst dich jetzt mit mir deiner Vergangenheit
stellen und dir Respekt verschaffen. Ich hoffe, du hast heute genug gegessen.“
„Ja, hab ich“, antwortete Ade. Die Bleistiftspäne aus den Spitzern mehrerer
Mitschüler hatte er erst nach dem Mittagessen in seinem Ranzen gefunden. Die
ganze Klasse hatte ihn ausgelacht. Wäre dies vor dem Essengehen in die Mensa
passiert, hätte er garantiert keinen Bissen mehr runtergekriegt.
„Wunderbar. Dann lass uns noch ein Stück weiter in den Wald hineingehen. Ich
führe dich.“
Der Teufel zeigte in die Richtung, die weiter aus der Stadt hinausführte. Ade
war nicht besonders tief in den Wald gegangen. Gerade so weit, dass er keiner
Menschenseele mehr begegnen würde. Mit dunklen Augenringen musterte er
den Weg, den der Feuerteufel ihm vorgab. Dann nahm er seinen Schulranzen
wieder auf und folgte dem ausgestreckten, sauber manikürten Zeigefinger des
Teufels.
Bei einem Ameisenhügel gebot ihm der Teufel, stehen zu bleiben.
„Und nun“, sagte er „greife mal in deine rechte Jackentasche.“
Ade gehorchte und griff in die Tasche seiner leichten Sommerjacke. Seine
Finger berührten die kühle, glatte Oberfläche eines eckigen Gefäßes. Er zog es
aus der Tasche und las die Aufschrift: Feuerzeugbenzin. Auf der Oberseite der
Dose war ein kleiner Drehverschluss.
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Ades Herz begann zu klopfen. Rings um ihn her war das Gezwitscher der
Waldvögel zu hören. Die späte Nachmittagssonne fiel durch die Baumwipfel
und gab dem Wald ein freundliches Aussehen. Es war dieselbe Freundlichkeit,
die auch der Teufel ausstrahlte. Menschen sah Ade hier keine. Auch keine Wege
mehr.
„Schließe nun die Augen“, sagte der Teufel mit behutsamer Stimme, nachdem
Ade sich vor dem Ameisenhügel positioniert hatte. Er hockte immer noch auf
dem Zündholz und lächelte. Ade gehorchte.
„Gehe nun zum ersten Augenblick von Schmerz oder Leid zurück, an den du
dich erinnern kannst“, sagte der Teufel.
Ade gehorchte wieder und überlegte. Er dachte an die Schule. Sein Kopf war so
vollgestopft von den Scheißerlebnissen in diesem Schuljahr, dass er gar nicht
weiter zurückdenken konnte.
Es waren nur mehr wenige Tage bis zu den Sommerferien. Nächstes Schuljahr
würde er in die sechste Klasse kommen. Ade freute sich nicht im Geringsten
darauf. Denn die Klassenkonstellation würde die gleiche bleiben, das hatten ihm
die Tutoren bestätigt. Die Schüler würden erst ab der siebten Klasse wieder neu
durchgemischt werden. Das hieß, dass er ein weiteres Jahr mit Justin, Mo und
Franz würde ertragen müssen. Und Gott weiß, ob er in diesem darauffolgenden
Jahr von ihnen getrennt würde.
„Was siehst du?“, fragte der Teufel, der die Beine übereinandergeschlagen und
sich zurückgelehnt hatte.
„Justin“, antwortete Ade, ohne recht zu wissen, wieso und warum.
„Was sagt Justin?“, fragte der Teufel.
„Ich soll das kleinste Kuchenstück nehmen. Das passt am besten zu mir.“
„Wo bist du?“
„Bei ihm. Auf seinem Geburtstag.“
„Wer ist noch da?“
„Alle. Alle sind sie da. Justin hat die ganze Klasse eingeladen.“
„Was hörst du?“
„Alle lachen. Sie lachen über mich.“
„Was spürst du?“
„Wut.“
„Das machst du sehr gut. Fahre jetzt bitte fort.“
„Ich habe Justin ein Wii-Spiel mitgebracht. Das war bestimmt das teuerste
Geschenk von allen!“
„Und er macht sich trotzdem über deine Größe lustig?“
„Ja. Ich kapier das nicht. Ich hasse sowas! Ich hasse ihn!“
„Öffne nun die Augen und schaue in den Ameisenhaufen.“
Ade öffnete die Augen und blickte vor sich auf den großen braunen Hügel. Doch
er konnte nicht glauben, was er da sah.
Eine Bande von Ameisen saß um einen Tisch herum und lachte über die kleinste
Ameise, die sich zitternd das kleinste Kuchenstück abholte und sich dabei auch
noch bedankte. In der Mitte konnte Ade den Ameisen-Justin sehen, der grinsend
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zwischen seinen beiden besten Freunden, dem Ameisen-Mo und dem AmeisenFranz stand.
Der Teufel deutete auf das Feuerzeugbenzin. Aber Ade hatte den Deckel der
Dose schon längt aufgedreht. Ohne zu zögern schüttete er einen Schluck davon
über die Ameisenbande und genoss es zuzusehen, wie seine Klassenkameraden
sich darüber ins Mark erschreckten. Dann hielt er das Zündholz so nah an sie
heran, dass der Feuerteufel von diesem springen und auf der Meute landen
konnte.
Sowie sie in Flammen standen, schrien seine Mitschüler Zeter und Mordio. Sie
wuselten durcheinander und versuchten, dem Feuer zu entkommen, doch es
gelang ihnen nicht. Am lautesten schrie Justin. Er krabbelte mit seinen sechs
Ameisenbeinchen über die anderen drüber. Er war immer der Anführer gewesen
und hatte stets die besten Kuchenstücke im Leben für sich selbst organisiert.
Doch nun brannte er genau wie seine Klassenkameraden. Er krabbelte über den
Ameisen-Franz, der sich bereits tief gebräunt am Boden wälzte.
Während Ade Justin so betrachtete, grinste er und fühlte sich irgendwie
großartig. Seinetwegen hätte das Spektakel noch viel länger dauern, seine
Mitschüler sich noch viel mehr quälen können. Doch mit der Zeit verstummten
die Schreie und auch Justin, der seinem Tod nicht entrinnen konnte, kroch
bereits nur noch auf drei Beinchen vorwärts. Als er schließlich liegenblieb,
presste er die Arme gegen den Bauch und war kurz drauf nur noch ein mickriger
schwarzer Klumpen.
Der Teufel sprang von den zweiunddreißig toten Ameisen zurück auf Ades
Zündholz und blickte dem Buben tief in die Augen. Während Ade mit bebender
Brust zurückschaute, runzelte der Teufel die Stirn.
„Das war es noch nicht“, sagte er endlich, lehnte sich wieder zurück und begann,
die Sitzung weiterzuführen.
„Suche einen früheren Augenblick von Schmerz oder Leid und gehe dorthin,
wenn du ihn gefunden hast.“
Er bedeutete Ade mit geduldiger Miene, wieder die Augen zu schließen.
„Was siehst du?“, fragte er, nachdem er dem Buben Zeit zum Nachdenken
gegeben hatte.
„Die Lehrer“, entgegnete Ade schließlich.
„Welche Lehrer?“
„Alle.“
„Was machen sie?“
„Sie grinsen!“
„Warum gri...“, begann der Teufel, doch Ade unterbrach ihn, wobei seine
Stimme lauter, hysterischer wurde.
„Weil sie gerade das erste Mal die Namensliste durchgehen. Und dann lesen sie
das erste Mal meinen ausgeschriebenen Vornamen!“
„Und wie lautet der?“
„Adolf! Ich heiße Adolf! So wie mein Vater! Und immer, wenn das jemand
spannt, grinst er blöd! Ich hasse das!“
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„Wer ist noch da?“, fragte der Teufel, doch Ade beachtete ihn nicht. Er hatte
bereits wieder die Augen geöffnet und starrte auf das Ameisen-Lehrerzimmer
vor ihm. Alle Lehrer, die ihn seit der ersten Klasse unterrichtet hatten, saßen
dort und grinsten vor sich hin. Keiner machte einen Witz über seinen Namen,
aber das dumme Grinsen war nicht weniger kränkend!
Der Teufel machte große Augen. Vermutlich verwunderte ihn insgeheim die
schnelle Selbstzündung seiner Sitzung. Noch bevor er irgendetwas sagen
konnte, hatte Ade schon das Benzin über dem Lehrerzimmer verteilt und das
Zündholz darangehalten. Der Teufel sprang hinab und wieder erfüllte ein lautes
qualvolles Geschrei den Wald. Es war das Geschrei des Todes. Ade saß vor dem
Hügel und grinste nun seinerseits. In seinen Augen spiegelte sich der tanzende
Teufel.
Als das Schreckensszenario beendet war und nur mehr kalter Rauch von den
Leichen aufstieg, glaubte Ade, ein Déjà-vu zu haben. Er fühlte sich einerseits
leer, andererseits besser, aber der Teufel schaute ihm wieder so stirnrunzelnd in
die Augen. Und abermals äußerte er seine Bedenken, dass sie wohl noch nicht
beim Kern der Sache angekommen waren. Ade wusste nicht recht, worauf der
Teufel hinauswollte. Doch er gehorchte brav, als er gebeten wurde, noch einmal
in seiner Vergangenheit zu wühlen. In einer noch früheren Vergangenheit.
Diesmal verstrichen viele Minuten, in denen der Teufel sein Gegenüber scharf
beobachtete. Im Hintergrund piepsten die Waldvögel. Im Moos, nicht weit von
ihnen, raschelten die Mäuse.
„Du beschissenes Weichei!“, drang es plötzlich aus Ades Kehle.
„Äh, wie bitte?“, fragte der Teufel und fiel für einen Moment aus seiner
Auditorenrolle.
„Hör auf zu heulen! Sonst kriegst du so eine Schelle, dass dir Hören und Sehen
vergeht!“
„Wer ... wer spricht da?“, fragte der Feuerteufel, der sich allmählich wieder fing.
„Du beschissenes Weichei!“, wiederholte Ade.
Er rang mit sich. Er wollte etwas sagen, wollte auf die Frage des Teufels
antworten, doch stattdessen öffnete er die Augen. Und dann sah er sie.
Zwischen den beiden qualmenden Brandflecken im Ameisenhaufen saß eine
große Ameise vor einer ganz kleinen. Die Ameisenmutter stand hinter dem
Vater, doch sie konnte nicht an ihr Kind heran. Der Vater hatte es fest am Arm
gepackt. Das Ameisenkind verzog das Gesicht vor Schmerz, während ihm die
Tränen aus den Augen rannen.
Es war eine Situation, die über vier Jahre zurückliegen musste. Ades Mama
hatte sich von seinem Vater kurz danach scheiden lassen. Ihre Freundinnen
hatten sie dabei tatkräftig unterstützt. Aus eigener Kraft hätte sie das nie
geschafft. Dazu war sie zu ängstlich. Aber als sie zum bereits zweiten Mal mit
einer blau verfärbten Backe in die Arbeit gekommen war, hatten ihre
Kolleginnen die Polizei alarmiert.
Es war so warm, dass Ade seine Sommerjacke gar nicht benötigt hätte. In
Wirklichkeit trug er sie nur zum Schutz. Sie war wie eine zusätzliche Haut, mit
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der man andere Schüler auf Abstand halten konnte. Jetzt aber fror Ade. Selbst
unter der Jacke fror er. Er betrachtete den Vater, der dem Sohn wieder Prügel
androhte, weil er ihm zu weich und hilflos war. Ade hatte seinem Vater nie
etwas rechtmachen können. Er hatte immer viel zu sehr an seiner Mama
geklammert und ihre Charaktereigenschaften nach und nach übernommen. Und
wenn der Vater besoffen war, hatte er immer wieder gesagt, dass Ade nicht sein
Sohn, sondern ein Schlappschwanz oder ein Muttersöhnchen sei.
Der Teufel blickte verdattert zwischen Ade und den Ameisen hin und her,
während der Bub das Feuerzeugbenzin ergriff. Er zitterte dabei so, dass ihm die
Dose um ein Haar aus der Hand gefallen wäre. Als sie über den drei Ameisen
schwebte, rannten die Ameisen-Mama und der Ameisen-Ade davon und ließen
die große, hässliche Ameise allein. Ade wartete, bis die beiden außer Reichweite
waren, dann kippte er den gesamten Inhalt der Dose über den Vater. Über dieses
Scheusal seiner Kindheit und den ganzen beschissenen Hügel ringsherum.
Während Ade mit zuckenden Augen und Mundwinkeln das Zündholz senkte,
summte er eine Melodie.
Als er seinen Vater vor Schmerz schreien, nein, brüllen hörte und den gesamten
Ameisenhaufen lichterloh brennen sah, lachte Ade so laut auf, dass die Vögel in
den Wipfeln um ihn her verstummten. Doch das genügte Ade nicht. Wie er den
Feuerteufel so lustig auf all dem, was ihn sein Leben bisher zur Hölle gemacht
hatte, tanzen sah, packte ihn ebenfalls die Tanzlust. Er sprang um das Feuer und
lachte und lachte. Wäre in diesem Augenblick ein Pilzesammler des Weges
gekommen, er hätte wohl geglaubt, das Rumpelstilzchen in Person entdeckt zu
haben. Doch für Pilze war es ohnehin noch zu früh.
Als der Spuk vorbei, der Ameisenhaufen schwarz und ausgestorben war, sprang
der Teufel zurück auf das Zündholz.
„Ausgelöscht“, sagte er zufrieden und tauschte einen Blick mit Ade, der
keuchte, aber stolz aussah. Das Auslöschen hatte ihm Befriedigung bereitet.
Dann schnipste der Teufel mit den Fingern und Ade hatte mit einem Mal das
Gefühl, wieder in der Gegenwart zu sein, ja, die Vergangenheit abgeschüttelt zu
haben.
Ade saß noch lange mit verstrubbeltem Haar neben dem qualmenden
Ameisenhaufen. Als er sich beim ersten Abendrot von dem Teufel
verabschiedete, fühlte er sich befreit. Und als beim Rückweg zwei Rehe vor ihm
flohen, lachte er laut auf. Ja, sie hatten Respekt vor ihm. Ein tolles Gefühl!
Im Stillen dankte er dem Teufel für das Gefühl, das ihm dieser so unentgeltlich
verschafft hatte.
Das war der Moment, an dem sich der Feuerteufel Ade gefügig gemacht hatte.
Aber ganz ehrlich: Das war vom Teufel auch nicht anders zu erwarten gewesen.
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Am ersten Schultag nach den Sommerferien setzte sich Ade auf denselben Platz,
den er voriges Jahr eingesessen hatte. Alles war wie immer. Den einzigen
Unterschied bildete das Klassenzimmer, das zwar in allem mit dem letzten
identisch war, sich jedoch nicht im ersten, sondern im dritten Stock befand.
Auch hatte es im alten Zimmer keine Fenster gegeben, weshalb man selbst bei
Sonnenschein immer Licht machen musste. Hier aber gab es zwei große Fenster,
die einen Blick auf den aschgrauen Himmel und das rötliche Kastanienlaub
darunter freigaben. Ade hatte gehofft, dass sich Justin und Mo dieses Jahr weiter
von ihm wegsetzen würden, doch auch sie nahmen ihre Plätze wieder an dem
Tisch direkt hinter seinem ein. Das war unangenehm, denn so würden sie
weiterhin das tun können, was sie am liebsten taten. Papierböller auf
Klassenkameraden schmeißen und dann auf Ade deuten, als wäre er der
Tunichtgut gewesen. Ade war sich zwar sicher, dass seine Mitschüler von seiner
Unschuld wussten, doch ihn verletzte solches Verhalten dennoch.
Eigentlich war es tragisch, überlegte Ade, während er die anderen Buben und
Mädchen beim Platznehmen beobachtete, dass er immer nett und freundlich und
doch der einzige Außenseiter in der Klasse war. Bis auf Ludwig und Lili
vielleicht, doch die schien das weniger zu stören. Beide waren letztes Jahr
einzeln gesessen und hatten das Klassengeschehen mit mittelmäßigem Interesse
verfolgt. Und auch heute nahmen sie wieder dieselben einzelnen Plätze ein. Ade
hatte schon manchmal überlegt, ob er Ludwig ansprechen sollte, doch hatte ihn
immer die Angst, abgewiesen zu werden, davon abgehalten.
Er warf einen verstohlenen Blick nach hinten und betrachtete mit seltsamem
Interesse den Schlafzimmerblick des Buben. Als Ade wieder nach vorne
schaute, bemerkte er den neuen Mitschüler, der mit Freude strahlendem Gesicht
durch das Klassenzimmer marschierte.
„Ist neben dir noch frei?“, fragte er dann Marie, ein blondes Mädel zwei Tische
hinter Ade. Justin, der die Frage des Neuen ebenfalls gehört hatte, drehte sich
blitzschnell nach hinten um und beobachtete ihn. Ade glaubte, dass Justin in
Marie verknallt war. Das war allerdings nichts Außergewöhnliches. Auf die
hübsche Marie hatten es fast alle Buben dieser Klasse abgesehen. Ihre Schönheit
äußerte sich in einer einheitlich zarten Haut, blauen Augen und einem kleinen
Zopf. Ihr dunkelblauer Rock und die schneeweiße Bluse verstärkten ihre
Ästhetik noch. Das war wohl auch der Grund, warum dem dicken und ziemlich
großen neuen Mitschüler mehr als ein Dutzend Augenpaare folgten. Jeder der
Beobachter schien dessen Frage als vollendete Dreistigkeit aufzufassen. Erstens
setzte man sich nicht neben ein Mädchen, zweitens sollte man schon einen
gewissen Schönheitsstandard aufweisen, um ein so hübsches Mädel
anzusprechen!
„Nee ...“, antwortete sie und musterte den Neuen misstrauisch. Ihr Blick blieb an
den ausgeleierten Ärmeln seines grünen T-Shirts hängen. „...hier sitzt meine
Freundin“, fügte sie hinzu und deutete auf Anna, die gerade hereingekommen
war.
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Als die beiden Mädchen zu tuscheln begannen, drehte sich der Bub um und
lenkte seine Schritte Richtung Ade.
Gleich wird er mich fragen, ob neben mir noch Platz ist, dachte Ade. Werd’ jetzt
nicht rot, werd’ jetzt ja nicht rot!
„Ist neben dir noch frei?“, fragte der Neue, dessen heitere Miene sich trotz der
Abweisung nicht verhärtet hatte.
„Ich heiße Ade“, antwortete Ade und stand auf. Er merkte leider erst an Mos
und Justins bellendem Lachen, dass er sich gerade recht seltsam verhalten hatte.
„Ja, wunderbar“, antwortete der Neue. Dadurch, dass er Ade die Hand
schüttelte, wirkte sein Aufstehen nicht mehr ganz so seltsam. „Ich bin der Paul.“
„Der dicke Paul“, wisperte Justin seinem Freund zu. Paul, der das gehört hatte,
lächelte Justin an. Aber es war kein bitteres oder ironisches Lächeln.
„Mei, meine Mutter kann wenigstens kochen“, sagte er und stach Justin dabei
mit einem Finger in den durchtrainierten Bauch. „Ich nehme an, bei euch gibt’s
nur Dosenfutter.“
Justin versteinerte. Alle Heiterkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Er holte
Luft und wer die Szene verfolgte, sah, dass Justin alle Bosheiten, die ihm
einfielen, sammelte, um sie dem dicken Paul gleich um die Ohren zu hauen. Als
er seinen wutverzerrten Mund öffnete, fiel ihm Paul jedoch ins Wort: „Ich
glaube dir, dass dich das grantig macht. Mir würde es nicht anders gehen. Wenn
es dir hilft, kann ich ja mal deine Mutter anrufen und sie an ihre elterlichen
Pflichten erinnern.“
Mo lachte. Justin starrte seinen Freund an, der automatisch versuchte, sein
Lachen zu drosseln. Doch Paul scherte sich nicht weiter um die beiden. Er setzte
sich, packte sein Schulzeug auf den Tisch und zog dann Ade, der immer noch
dastand, auf seinen Stuhl zurück.
Paul war sitzengeblieben. Er hatte letztes Jahr bereits die sechste Klasse besucht
und es auf insgesamt drei Fünfer im Zeugnis gebracht. Einen in Religion, einen
in Musik und einen in Sport.
„Alles Fächer, die nicht wichtig sind“, hatte er zu Ade gesagt, nachdem Herr
Debarge, der die Kinder in Mathe unterrichtete, ihn der Klasse vorgestellt hatte.
„Man muss seinen Blick auf die wichtigen Dinge des Lebens richten“, sagte er
weiter, während er im Schweifblick die Mädchen der Klasse musterte.
Ade fragte sich, wie man es schaffen konnte, in Religion, Musik und Sport
derart schlechte Noten zu bekommen. Dies war seiner Erfahrung nach selbst bei
völliger Talent- und Interessenlosigkeit kaum machbar. Er schluckte seine
Einwände jedoch hinunter, weil er fürchtete, seinen Banknachbarn zu verärgern.
Stattdessen nickte er mit verständnisvollem Gesichtsausdruck.
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Am nächsten Tag saßen die beiden im neuen Indischen Restaurant in der
Innenstadt. Paul hatte nach der Schule gefragt, ob Ade ihn begleiten wolle. Der
hatte beim Anblick des Restaurants seine Miene verzogen und vorsichtig
eingewendet, dass er nur fünf Euro von seiner Mutter zum Mittagessen gekriegt
habe.
„Das kriegen wir schon!“, hatte Paul darauf erwidert. „Das ist ein Geschäft, was
ich hier betreibe, weißt du?“
„Ein Geschäft?“, fragte Ade, während er seine Jacke über die Stuhllehne hängte,
und dachte an eine Art Familienbetrieb.
„Ja, ein Geschäft“, wiederholte Paul, gab ihm eine Speisenkarte und nahm sich
selbst eine zweite vom Nachbartisch.
Als Ade den Mund öffnete, um nachzuhaken, fiel ihm jemand ins Wort.
„Namaste, hallo“, sagte der Kellner, der sich jetzt, da das Restaurant noch neu
war, offensichtlich bemühte. Er war ein dunkelhaariger Mann in einer
pinguinartigen Verkleidung, der aussah, als sei sein Großvater tatsächlich mal in
Indien gewesen.
„Was darf’s für euch sein?“
„Zwei Cola und zweimal Currywurst mit Pommes“, sagte Paul und lächelte den
Kellner freundlich an. Dann wandte er sich an Ade: „Und was nimmst Du?“
Während die Buben an ihren Currywürsten herumkauten, hatte sich das
Restaurant gefüllt. Viele Geschäftsmänner mit Anzug und Krawatte saßen nun
um die Tische herum und unterhielten sich geschäftig miteinander. Mancher, der
alleine saß, hatte seinen Laptop aufgeklappt und tippte wichtig darauf herum.
Paul beobachtete diese Herren. Ade glaubte, auf dem Gesicht des dicken Buben
zugleich Respekt und Überheblichkeit zu sehen, doch er konnte sich das nicht
erklären.
Nachdem Paul seinen ersten Teller leergegessen und sich auch die Currywurst
des zweiten Tellers einverleibt hatte, griff er nach den Zahnstochern, die
liebevoll auf dem Tisch drapiert waren. Als er sie jedoch nicht in seine Zähne,
sondern in die restlichen Pommes Frites zu stechen begann, fragte Ade: „Was
machst du denn da?“
„Das siehst du gleich“, antwortete Paul und bedeutete Ade, ebenfalls
Zahnstocher in die Pommes, die er übrig gelassen hatte, zu stecken. Hierbei
schien es ihm wichtig zu sein, diese längs in die Pommes hineinzuschieben, dass
man sie nicht mehr sehen konnte. Nach kurzem Zögern tat Ade es ihm gleich.
„Vorsicht!“, wisperte Paul plötzlich, als der Pinguinkellner erschien.
„Hat’s geschmeckt?“, fragte er und griff nach den Tellern.
„Gut, danke“, sagte Ade schnell.
„Ausgezeichnet“, meinte Paul.
„Soll ich dann abkassieren?“, fragte der Kellner, sowie er die Teller aufeinander
gestellt hatte.
„Nein, nein,“ antwortete Paul schnell, „wir hätten gern noch ein Dessert! Was ist
denn dieses … Rava Kesari?“
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„Das ist so eine Art Grießpudding“, antwortete der Kellner.
„Na, dann nehmen wir das doch!“
Paul tauschte einen Blick mit Ade, der aufgrund der Nachdrücklichkeit der
Worte zu nicken begann.
Der Kellner verschwand mit den Tellern und Ade fragte sich, was er tun sollte,
wenn Paul ihn nicht einlud. Die Nachspeise allein würde wohl bereits fünf Euro
kosten.
„Und? Wie ist eure Klasse so?“, fragte Paul nach einer Weile und ließ dabei
seinen Blick durch das Restaurant schweifen.
Autsch, dachte Ade.
„Ganz nett“, sagte er.
„Dieser Justin ist der Anführer, was?“, fragte Paul.
„Ja, ich glaub schon“, antwortete Ade.
„Und das Mädchen, neben das ich mich setzen wollte ...?“
„Die Marie?“
Jetzt sah Paul ihn an: „Ja.“
„Was soll mit der sein?“
Paul verdrehte die Augen: „Na, geht die mit wem?“
„Keine Ahnung“, gab Ade achselzuckend zurück.
In dem Moment hörten die beiden einen kurzen Aufschrei, als einer der
Geschäftsmänner in seine Pommes biss. Ade drehte sich zu dem Herrn um, der
allein an einem Tisch neben der großen Elefantenkopf-Statue saß. Er konnte
gerade noch sehen, dass in der Zunge des Herrn ein Zahnstocher steckte.
Paul betrachtete mit einer Hand über seinem Mund, wie der Verwundete nach
dem Kellner rief und sich beschwerte. Die anderen Restaurantbesucher
beobachteten das ebenfalls, doch wusste wohl kaum einer, mit dem
Geschehenen etwas anzufangen.
Auch Ade hatte die Hand auf den Mund gelegt. Im Gegensatz zu Paul jedoch
vor Schreck. Als der Kellner nach einigen Minuten mit rotem Kopf zu ihrem
Tisch kam, um das Dessert zu bringen, zog ihn Paul am Arm zu sich herunter.
„Soll ich zu dem Herrn hinübergehen und ihm sagen, dass er gerade meine alten
Pommes gegessen hat. Die Pommes, in die ich meine benützten Zahnstocher
gesteckt habe? Soll ich es so laut sagen, dass es auch die anderen Gäste hören?“,
fragte er den Kellner flüsternd.
Ade wunderte sich sowohl über die Dreistigkeit seines neuen Banknachbarn als
auch über dessen geschäftsmäßige Stimme. Es klang, als ob Paul diese Fragen
schon öfters gestellt hatte. Weder Scham noch Bosheit lagen in seiner Stimme.
Ganz im Gegensatz zu der unterdrückten, wütenden Stimme des Kellners: „Du
kleiner Fettsack, ich sollte dir ...“
„Au!“, schrie nun ein Herr aus einer anderen Restaurantecke.
Mit einem Lächeln der Zufriedenheit wandte sich Paul wieder an den Kellner:
„Fünfzig Euro?“
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Eine Ader pochte auf der Stirn des Mannes. Kurz überlegte er. Dann kramte er
einen Fünfziger aus seinem Portemonnaie. Bevor er Paul das Geld gab, flüsterte
er: „Lasst euch hier nie wieder blicken!“
„Danke“, entgegnete Paul und nahm das Geld. Mit einem Kopfnicken bedeutete
er Ade, aufzustehen und das Weite zu suchen.
„Schönen Tag noch“, rief er in aufrichtiger Höflichkeit dem Kellner zu, der nun,
da die Buben das Restaurant verließen, unter Hochspannung von einem Tisch
zum anderen lief, um die Pommes zurückzunehmen.
„Danke für die Einladung“, sagte Ade, auch wenn ihm das ein wenig seltsam
vorkam.
„Bitte, bitte“, antwortete Paul. „Jetzt weißt du, was ich mit Geschäft gemeint
hab.“
Die Buben gingen an der verschlossenen Tür einer regionalen Gastwirtschaft
vorbei, auf der die Worte „Ab sofort zu vermieten“ standen. Paul betrachtete das
Schild mit einem seltsamen Lächeln.
„Tja. Und das Geschäft boomt!“
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Was ist das eigentlich für ein Garten da unten?“
Die Worte standen auf einem Stück Papier, das Ade seinem Freund während der
Deutschstunde zuschob.
Das Schulgebäude bildete einen rechten Winkel und wurde von der großen
Turnhalle begrenzt. Insgesamt ergab sich daraus ein hufeisenförmiger
Gebäudekomplex, dessen Mittelpunkt – ein Gelände in der Größe eines
Fußballfeldes – vom rötlichen Blattwerk unzähliger Kastanienbäume ausgefüllt
wurde. Diese standen so eng beieinander, dass der Erdboden des Gartens kaum
noch zu erkennen war. Am ersten Tag dieses Schuljahres hatte Ade geglaubt,
dass sich darunter ihr Pausenhof versteckte. Doch dieser befand sich, wie er bald
darauf feststellte, auf der anderen Seite des Schulgebäudes.
Paul kritzelte ein paar Worte auf den Zettel, während ihr Mitschüler Toni eine
Passage aus dem Nibelungenlied vorlas.
„Keine Ahnung,“ stand darauf, „man kann den Garten nur von hier oben sehen.
Sonst gibt es keine Fenster zu dieser Seite ...“
Ade schaute wieder nach draußen und betrachtete den rechten Schulhausflügel,
der aber nur zweigeschossig war. Paul hatte Recht. Es gab dort wirklich
nirgendwo ein Fenster, durch welches man auf den Innenhof hätte schauen
können.
„Das ist ja merkwürdig“, schrieb Ade zurück, wohlwissend, wie nichtssagend
die Worte waren. Als Paul darauf nicht reagierte, tippte ihm Ade schüchtern auf
den Arm.
„Wollen wir nach der Schule mal dorthin schauen?“, wisperte er.
„Ade!“, rief Herr Bichler da und deutete mit einem Finger auf ihn. Er hasste es,
wenn man in seinem Unterricht schwätzte. „Du alte Ratschtante!“
Zwei oder drei Mitschüler kicherten. Ades Gesicht wurde heiß. Als ihm der
Lehrer gebot, die nächsten zwei Strophen des Nibelungenliedes vorzulesen,
musste sich der Bub zwingen, nicht zu stottern.
„In der Blüte seiner Jahre, in seiner Jugend konnte man wunderbare Dinge von
Siegfried berichten: Wie sich sein Ansehen von Tag zu Tag mehrte und wie
schön er war. Die schönen Damen fanden ihn später sehr anziehend. Man erzog
ihn so sorgfältig, wie es seinem Stand zukam. Doch wirklich vorbildlich wurde
er aus eigener Veranlagung. Später breitete sich sein Ruhm über das Land seines
königlichen Vaters so sehr aus, dass man in ihm in jeder Hinsicht den
vollkommenen Herrn erblickte.“
Paul kam nach der Schule nicht mit zum verborgenen Garten. Er wollte sich im
Anschluss mit ein paar alten Klassenkameraden treffen. Ade schluckte, als er
das hörte. Er wusste, dass Paul und er sich erst seit wenigen Tagen kannten und
er daher nicht erwarten konnte, die oberste Priorität zu haben. Dennoch wäre er
gern Pauls bester Freund gewesen. Davon abgesehen, dass er nun wie alle einen
Menschen zum Unterhalten und Spaßhaben hatte, besaß er in Paul auch eine Art
Beschützer. Seit der nämlich die Schulbank mit ihm teilte, war er von Justin und
Mo in Ruhe gelassen worden. Nur einmal hatten sich die beiden ein Duell
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geliefert, wem es als ersten gelänge, ihm ein Papierschnipsel direkt ins Ohr zu
werfen. Da hatte sich Paul umgedreht, die beiden angeschaut und den Kopf
geschüttelt. Mehr nicht.
Ade war es unbegreiflich, warum Justin und Mo dann wirklich aufhörten. Paul
hatte sie nicht beleidigt, ihnen keine Prügel angedroht, ja, er hatte sie nicht mal
eindringlich gebeten aufzuhören. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. Hätte sich
Ade so verhalten – davon war er fest überzeugt –, dann wären mindestens zwei
Papierböller in seinem Gesicht gelandet. Dann hätte sich Justin kaputtgelacht
und sein peinliches Kopfschütteln noch in der Pause nachgeahmt, um
irgendwann zu ihm zu kommen und zu beteuern, dass das alles nur Spaß sei.
Manchmal überlegte Ade, wie er sich bei Paul beliebter machen konnte. Seit
Tagen achtete er schon darauf, am Morgen laut und freundlich zu grüßen, ihn
nach seinen Interessen zu befragen oder laut aufzulachen, wenn Paul etwas
Lustiges erzählte. Er hatte ihm auch schon einige Male angeboten, zum
Abendessen zu ihm zu kommen, doch Paul hatte dazu bislang keine Zeit gehabt.
An einem Donnerstag Anfang Oktober aber geschah etwas, das die beiden
Buben für immer zusammenschließen sollte.
„Gehst du heim?“, fragte Ade nach der Schule. Er hoffte immer, dass Paul ihn
eines Tages mal zu sich einladen würde.
„Nein, ich hab noch was in der Stadt zu erledigen“, antwortete dieser und
lächelte seinem Banknachbarn zu.
„Etwas Geschäftliches?“, fragte Ade.
Paul nickte und wollte sich bereits verabschieden, als Ade mit hektischer
Stimme hinzufügte: „Ich wollte heut auch in der Stadt essen!“
Also lenkten beide ihre Schritte Richtung Innenstadt, während sich Ade
beglückwünschte, am Morgen den Fünfzig-Euro-Schein eingesteckt zu haben,
den er von seiner Patentante zum Geburtstag bekommen hatte. Den Gulasch,
den ihm seine Mutter extra vorgekocht hatte, damit er ihn sich mittags
warmmachen konnte, würde er schon trotzdem noch essen können. Ansonsten
müsste er ihn halt erst mal in seinem Zimmer bunkern. Oder wegwerfen ...
„Wo gehen wir denn heute hin?“, fragte er seinen Freund, während der
Herbstwind der warmen Stadt angenehme Kühle zufächelte.
„Ich wollte heut eigentlich zum Döner,“ antwortete Paul, „ich habe langsam
nicht mehr viel Auswahl.“
An einer Laterne, an der die Buben vorbeigingen, klebte ein Zettel, auf dem das
Gesicht eines jugendlichen Mädchens abgebildet war. „Vermisst“ stand
darunter.
„Was machst du eigentlich, wenn deine Eltern mal mit dir essen gehen wollen?“
Pauls Lachen klang bitter. „Das kommt nicht vor. Vielleicht irgendwann mal,
wenn das Reformhaus eine Gaststätte eröffnet.“
Das verstand Ade nicht. Doch er nickte wie immer verständnisvoll.
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„Ah, zwei Buben, Grüß Gott“, sagte der Dönermann, nachdem Paul und Ade an
einem Tisch vor dem kleinen Laden platzgenommen und ihm zugenickt hatten.
„Wir hätten gerne ...“, begann Paul.
„Einmal Dönerteller groß und einmal Dönerteller ganz klein!“, beendete der
Türke den Satz. In Ade flammte bei diesen Worten ein Gefühl auf, das er schon
viel zu oft hatte ertragen müssen. Es war wie ein gezielter Tritt ins Herz.
Plötzlich hasste er diesen Dönermann!
„Ähm,“ fuhr Paul fort und bedachte Ade mit einem besorgten Blick, „wir
nehmen zweimal den Dönerteller mit Pommes. Ach, und zwei Colas.“
„Spezi“, verbesserte ihn Ade, ohne aufzuschauen.
„Einverstanden!“, rief der Dönermann und verschwand.
Paul schaute ihm kopfschüttelnd nach: „Lustiger Typ.“
„Hm ...“, entgegnete Ade.
„Der läuft hier draußen umeinander und hat nichts als ein Unterhemd an“, fuhr
Paul fort und zog den Reißverschluss seiner Sommerjacke demonstrativ nach
oben.
„Willst du die Pommes dann eigentlich wieder mit Zahnstochern spicken?“,
fragte Ade mit gesenkter Stimme, denn am Tisch neben ihnen hatte ein älterer
Herr platzgenommen.
„Ja, das ist am sichersten. Die Pommes werden in der Gastronomie immer
weiterverwendet“, gab Paul flüsternd zurück und befreite vorsorglich einige
Zahnstocher aus ihrer Papierverpackung. Wieder kehrte eine kühle Bö durch die
Straßen und ließ die roten Blätter tanzen. Auch Ade zog den Reißverschluss
seiner Jacke zu.
„Hast du am Freitag schon was vor? Sonst könnten wir da mal den seltsamen
Garten erkunden“, schlug er vor, als der Dönermann die zwei Getränke brachte.
Er versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen.
Paul zog die Mundwinkel nach unten. Dann trank er die Cola auf einen Zug leer.
„Ich weiß ja nicht ...“, antwortete er schließlich, einen Rülpser unterdrückend.
„Was versprichst du dir denn davon?“
Ade zuckte mit den Schultern.
„Zweimal Kebab mit Schoffsgass!“, rief der Türke plötzlich und warf die
Döner-Pommes-Teller auf den Tisch, um sich sogleich zum Nachbartisch
umzudrehen und den älteren Herrn zu bedienen.
„Schoffsgass??“, fragte Ade und runzelte die Stirn. „Ist das türkisch für
Pommes?“
Paul lachte: „Ich glaube, das ist türkisch-bayerisch für Schafskäs.“
Als die beiden alles, bis auf die Pommes Frites, aufgegessen und selbige in
mühsamer Kleinarbeit mit Zahnstochern durchstochen hatten, winkte Paul nach
dem Dönermann. Ade beobachtete die ganze Situation mit einer Mischung aus
Scheu und Ehrfurcht. Es nochmals zu beobachten, wie Paul geschäftsmäßig
Geld aus der Nase eines Dienstleisters ziehen würde, war für ihn das Größte. Es
19
erinnerte ihn ein wenig an früher, wenn er in Comicbüchern Superhelden bei der
Verbrechensbekämpfung zugesehen hatte.
„Oh, was ist los? Waren die Pommes nichts gut?“, rief der Dönermann und
bedachte Paul mit einem skeptischen Blick.
„Es war sehr gut,“ antwortete dieser in seiner gewohnt selbstsicheren Art, „aber
wir sind bis oben hin voll.“
Der Mann hob einen Arm und gab kurz den Blick auf eine stark behaarte
Achselhöhle frei. „Was soll ich jetzt mit den Pommes machen, häh?“
Dann fiel sein Blick auf den älteren Herrn am Nachbartisch. Bevor er
abzuräumen begann, kam er mit dem Gesicht den beiden etwas näher und
flüsterte spitzbübisch: „Ich weiß es. Ich gebe sie einfach der Mumie dort zum
Essen!“ Dann lachte er und ging mit den Tellern Richtung Dönerladen.
Nach einigen Sekunden, in denen sich Paul und Ade wie versteinert anstarrten,
kam er mit einem Dönerteller voller Pommes wieder und stellte sie vor den
grauhaarigen Herrn.
„Ich glaube, wir stecken gleich gewaltig in der Scheiße!“, wisperte Paul durch
zusammengedrückte Zähne Ade zu, nachdem der Türke den beiden vom Laden
aus auch noch zugezwinkert hatte. Auch Ades Herz pochte nun schneller, wie er
den Alten wie in Zeitlupe die einzelnen Punkte des Essvorgangs abarbeiten sah:
1. Er nahm sich eine Serviette.
2. Er legte sich diese auf den Schoß.
3. Er griff nach seiner Gabel.
4. Er hob damit etwas Gyros zum Mund.
5. Er aß dieses.
6. Er trank einen Schluck Bier.
7. Er griff wieder nach der Gabel.
8. Er hob damit zwei Pommes Frites zum Mund.
9. Er biss darauf.
10. Er brüllte.
Der Türke stürzte aus dem Laden und auf den Herrn zu, dessen Augen wild in
ihren Höhlen rollten. Ade krallte sich in seinem Stuhl fest. Auch Paul war blass
geworden.
Mit zitternden Fingern griff der Alte in seinen Mund und versuchte, einen
Zahnstocher herauszuziehen, der quer in beiden Mundwinkeln steckte.
„Wollen Sie mich umbringen?“, schrie er den Dönermann an, während er mit
der Serviette seinen Mundinnenraum betupfte. Zwei weitere Gäste, die sich
gerade an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, erhoben sich wieder.
Die Buben krallten sich immer fester in ihre Stühle und hofften inständig, die
Schimpfkanonade des Alten würde aufhören. Als sich dieser endlich, endlich
mit einem „Dreckertes Türkenpack!“ verabschiedet hatte, waren auch die beiden
anderen Gäste verschwunden.
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Die Buben zitterten wie Espenlaub, als sich der Dönermann mit knallrotem Kopf
ihnen zuwandte. Seine Augen waren schmal geworden. Zwei Adern pulsierten
in seinem Gesicht. Eine auf der Stirn und eine zum Hals hin.
„Șișko!!“, schrie er und deutete mit einem Finger auf Paul. Jetzt verprügelt er
uns, dachte Ade. Erst Paul und dann mich! Doch er irrte sich.
Türkische Flüche vor sich hinbrabbelnd machte der Mann kehrt und lief in
seinen Laden.
„Gott sei Dank,“ meinte Paul bebend, „Gott sei Dank! Er hat eingesehen, dass es
sein Fehler w...“
„PAUL!!“, rief Ade plötzlich, als der Türke aus dem Laden schoss. In der Hand
hielt er den Dönerspieß!
„Ich werde dich aufspießen!“, rief er und kam Paul mit der fetttriefenden Waffe
gefährlich nahe.
„AAAHH!“, schrie der und duckte sich, bevor der Spieß über ihm die Luft
durchstach.
Ade, der seinen Freund schon hinter dem Fenster des Dönerladens brutzeln sah,
war aufgesprungen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Nackte Angst durchfuhr
seine Glieder. Am liebsten wäre er vor dem Mann auf die Knie gefallen und
hätte ihn um Gnade angefleht. Stattdessen zog er – ohne weiter darüber
nachzudenken – den Fünfziger aus seiner Hosentasche und hielt ihn vor das
kirschrote Gesicht.
„Funfzig Euro??“, stieß der Türke aus und hörte mit einem Mal auf, mit dem
Spieß nach Paul zu stechen. Dann trat eine Pause ein, in der er sich beruhigte
und Paul mit einer Hand auf der Brust wie ein Hund japste. Nach einer
geschlagenen Minute ergriff der Dönermann das Geld.
„Jetzt sind wir gleich – oder ... wie heißt das?“ meinte er, während seine Miene
heiterer wurde.
„Quitt??“, keuchte Paul.
„Ja, genau. Jetzt sind wir quitt!“
Bevor sich die Buben auf ihre zitternden Beine stellen konnten, um diesen Ort
für immer zu verlassen, zog der Dönermann zwei Lollis aus der Hosentasche
und reichte sie den beiden.
„Servus, bis bald!“, sang er dabei und begann, den Nachbartisch abzuräumen.
„Ich glaube, ich bin dir was schuldig“, meinte Paul, nachdem er lange
schweigend neben Ade hergegangen war. „Der hätte mich bestimmt
umgebracht.“
„Das passt schon“, antwortete Ade verlegen. Ein tiefes Glücksgefühl, wie er es
schon lange nicht mehr gespürt hatte, durchzog seinen Körper. Ganz plötzlich
schien ihm alles schön zu sein. Abwesend lächelnd betrachtete er die tanzenden
Blätter, die wie ein orangefarbener Wirbelsturm durch die Gassen sausten.
Nachdem sich Paul noch fast eine Stunde lang auf die verschiedensten Weisen
bedankt hatte, nahmen die Freunde Abschied voneinander.
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Zuvor aber verabredeten sie sich noch für Freitagnachmittag. Schließlich galt es
herauszufinden, was es mit dem verborgenen Garten auf sich hatte.
*
22
Das Schulgebäude war nach seiner Vorderseite hin begehbar, wurde an seiner
Hinterseite und der Turnhalle aber von Bäumen und Dickicht begrenzt. Dort
hinten sah man manchmal Siebt- und Achtklässler stehen, die ängstlich in alle
Richtungen spähten und ihre Zigaretten in der hohlen Hand versteckten. Es war
der dafür sicherste Fleck der Schule. Nur selten kamen hier Lehrer vorbei und
auch nur dann, wenn vom benachbarten Fußballfeld aus ein Ball ins Dickicht
geschossen worden war.
Hinter all dem Gesträuch ging der Fluss, doch weder Ade noch Paul hätten
sagen können, ob er direkt dahinter oder doch in einiger Entfernung verlief. Es
hatte sie nie dorthin verschlagen. Warum auch? Der Pausenhof, der Sportplatz,
die Innenstadt, ja, überhaupt alles, was von Bedeutung war, lag schließlich nach
der anderen Richtung. Und zum Rauchen waren die beiden ohnehin zu jung.
Wie man nur so blöd sein kann, seinen Körper derart zu vergiften, dachte Ade,
als Paul und er nach der Schule zwei Achtklässlern im Dickicht begegneten.
„Hey, schau mal!“, rief einer von ihnen, als er die beiden kommen sah, und zog
an seiner Zigarette. Er hatte fettiges Haar und trug eine Zahnspange. „Ein
Liebespaar!“
Der andere wollte lachen, hustete aber stattdessen. Paul scherte sich nicht um die
Achtklässler. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen.
Ade hastete hinter ihm her. Er wollte sich keine weiteren Beleidigungen
anhören. In seiner Eile blieb er aber mit der Schlaufe seines Schuhs an einem
Stock hängen. Er fiel nicht. Aber er strauchelte.
„Hahaha!“, lachte der Zahnspangenjunge. Das Lachen des Zweiten ging wieder
in einem Hustenanfall unter.
„Alter, ich glaube, wir haben es hier mit Dick und Doof zu tun!“, fügte der Erste
hinzu und klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel.
Unter der dicken Hülle seiner Ängstlichkeit spürte Ade – wie schon unzählige
Male zuvor – den blanken Hass lodern. Eines Tages, eines Tages würde dieser
wie ein Vulkan ausbrechen! Und dann würde er sich Respekt verschaffen!
Plötzlich fiel dem Buben das Gesicht des Teufels wieder ein. Es lächelte ihn
freundlich an. Doch gerade als Ade es genauer betrachten wollte, rückte Pauls
Gesicht in sein Blickfeld.
„Hier irgendwo müsste der Garten sein“, sagte er und stemmte die Hände in die
Hüften. Seine gut gelaunte Stimmung verwirrte Ade dermaßen, dass er den
Feuerteufel darüber ganz vergaß. Hatte Paul denn die Beleidigungen der
Jugendlichen nicht gehört?
Ade drehte sich zu ihnen um und sah sie gerade noch ihre Zigaretten
fortschmeißend aus dem Dickicht klettern. Das Husten des Zweiten hörte er aber
noch eine ganze Weile.
„Seltsam“, meinte Paul und betrachtete die graue Wand. Die beiden Freunde
standen zwischen verwachsenen Büschen und hohen Eschen. Hinter ihnen, von
wo aus man den Fluss rauschen hörte, fiel das Gelände ab. Vor ihnen erstreckte
sich eine gewaltige Mauer, die vermutlich bis zur anderen Seite des
Schulrückgebäudes reichte.
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„Dahinter muss der Garten liegen“, sagte Ade. Er blickte nach oben und sah die
verfärbten Kastanienblätter über das hohe, mit Eisenzacken versehene
Mauerdach ragen.
„Irgendwo muss doch ein Eingang sein“, entgegnete Paul und ging an der Mauer
entlang Richtung Turnhalle. Ade folgte ihm.
Der Weg dorthin war schwer zu begehen, denn die Büsche, die Stauden und die
kleinen Bäumchen standen dicht nebeneinander. Es galt manchmal, Umwege zu
gehen oder über kleinere Büsche zu springen. Am Rand der Mauer wuchsen
brusthohe Brennnesseln, die im Wind schaukelten. Kommt nur her, kommt nur
her, wir verbrennen euch, schienen sie zu flüstern.
Während die beiden sich durch das Dickicht kämpften, hörten sie aus dem
Garten immer wieder das lärmende Aufschlagen der Kastanien. Bumm! Knack!
Wenn der Herbstwind heftiger blies und sich zum Brausen des Flusses, zum
Säuseln der Brennnesseln und zum Knacken der Kastanien auch noch das
tosende Rauschen der vielen Baumkronen mischte, überzog die Buben eine
Gänsehaut. Mit einem Mal erschien ihnen der Ort gespenstisch, so einsam und
dennoch laut, wie er war.
„Stopp!“, rief Paul plötzlich und Ade folgte mit den Augen seinem
ausgestreckten Finger. Er deutete auf ein kleines Tor, das von den Brennnesseln
beinahe ganz verdeckt wurde. Die beiden gingen darauf zu. Als sie direkt davor
standen, drückte Paul die Brennnesseln mit seinem Schuh zur Erde nieder.
Das Tor schien sehr alt zu sein. Sein massives Holz, aus dem es gefertigt war,
hatte über viele Jahre hinweg gearbeitet und tiefe Unebenheiten darin
hinterlassen. Ein rostiger Knauf saß auf der Holzfläche wie eine rote Nase in
einem mund- und augenlosen Gesicht.
„Bingo!“, sagte Paul grinsend und griff nach dem Knauf. Ade sah gebannt zu,
wie sein Freund an diesem drehte ...
Doch das Tor öffnete sich nicht.
„Ist wohl abgeschlossen“, warf Ade enttäuscht ein.
„Was heißt da abgeschlossen?“, fragte Paul und musterte das Tor mit einem
Stirnrunzeln. „Da ist doch überhaupt kein Schlüsselloch!“
Als die Buben unbefriedigt an der anderen Gebäudeseite, sprich, an der
Turnhalle ankamen, klopfte Paul seinem kleinen Freund auf die Schulter.
„Tut mir Leid,“ sagte er, „der Ausflug hat sich wohl nicht gelohnt.“
Plötzlich aber hielt er inne. „Obwohl ...“
Er betrachtete den orangefarbenen Kiesbehälter an der Hinterseite der Turnhalle.
„Schau mal,“ sagte er, während er unbeholfen auf diesen zu klettern begann,
„von hier aus kann man unsern Mädchen beim Sporteln zuschauen!“
„Ach, komm“, entfuhr es Ade, ehe er sich beherrschen konnte. Er hatte bei dem
Wort „Obwohl“ schon Hoffnungen gehegt. Seinen Mitschülerinnen beim
Turnen zuzuschauen, interessierte ihn überhaupt nicht.
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„Jetzt komm schon! Sieh dir das an!“, rief Paul von oben. Seine Stimme klang
begeistert. Alle geschäftsmäßige Beherrschtheit war verflogen. „Es hat doch
wirklich etwas für sich, dass wir an verschiedenen Tagen Sport haben!“
Die Buben der 6a hatten nämlich am Dienstag nach der sechsten Stunde, die
Mädchen am Freitag nach der vierten Stunde Sport. Dementsprechend flöteten
die Mädchen jeden Dienstag den Buben zu, was sie nachmittags noch alles
erledigen würden, während die Buben laut mit ihrem verlängerten Wochenende
prahlten.
Ade wollte kein Spielverderber sein. Deshalb kraxelte er ebenfalls auf den
Kiesbehälter. Als er aber durch die dicken Scheiben spähte, eröffnete sich ihm
ein eigenartiges Szenario.
Die Mädels standen auf die gesamte Turnhalle verteilt, jedes etwa zwei Meter
vom anderen entfernt. Alle trugen sie ein weißes Top und eine dunkle
Sporthose. Alle hatten sie Keulen in der Hand, die sie in einheitlicher Perfektion
nach oben und unten kreisen ließen.
Ade gruselten diese synchronen Bewegungen. Aber er hätte nicht sagen können,
warum.
*
25
„Willst du noch einen Nachschlag? Ein bisschen Pizza wäre noch da“, sagte
Ades Mutter an Paul gewandt.
„Sehr gern“, antwortete der. An seinen Mundwinkeln klebte Tomatensoße, was
seinen Mund fast doppelt so groß aussehen ließ.
„Ich hol sie schon!“, sagte Ade, als seine Mutter aufstehen wollte, und ging in
die Küche. Wie ungewohnt dieses Bild war, dachte er, als er mit dem Pizzastück
ins Wohnzimmer zurückkehrte. Paul wirkte so riesig, wie er dort am Tisch Ades
zierlicher Mutter gegenübersaß.
„Und wo wollt ihr heut noch hingehen?“, fragte sie, während Paul glückselig in
seine Pizza biss.
„So’n bissel von Tür zu Tür“, antwortete Ade.
„Süßigkeiten abstauben“, nuschelte Paul an seinem zerkauten Pizzaklumpen
vorbei.
Es war Halloween. Draußen dunkelte es und man konnte von der kleinen
Wohnung aus bereits die ersten Kinderbanden durch die Straßen ziehen sehen.
Dieses Treffen mit gemeinsamer Übernachtung hatte Paul organisiert. Schon am
Vormittag war er in Ades Wohnung erschienen, um seine Pläne mit ihm zu
teilen.
„Jeder von uns hat also drei Kostüme“, hatte er erklärt, während er mit
übergeschlagenen Beinen auf Ades Schreibtischstuhl gehockt war. „Nachdem
wir eine größere Runde durch die Nachbarschaft gedreht haben, ziehen wir uns
um und gehen nochmals zu denen, die freigiebig waren. Dann machen wir eine
kurze Verschnaufpause und besuchen hernach in der dritten Verkleidung
diejenigen, die auch beim zweiten Besuch noch freigiebig waren. Das ist der
ultimative Abstaubzirkel.“
„Und als was verkleidet ihr euch dann?“, fragte Ades Mutter, nachdem Paul
aufgegessen und sein Gesicht mit einer Serviette gereinigt hatte.
„Einmal als Zombies, einmal als Vampire und einmal als Werwölfe“, entgegnete
Paul in einem Tonfall, der keinen Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Pläne
zuließ. Man hörte dem Buben an, dass er das Verhältnis zwischen dem Aufwand
und den potenziellen Einnahmen seines Vorhabens schon hundertfach
abgewogen hatte.
Ades Mutter schien von Paul und seiner Art nicht weniger fasziniert zu sein als
Ade. Die dreiviertel Stunde, in der die drei um den kleinen Stubentisch
herumsaßen, füllte der dicke Bub fast ausschließlich mit seinen Erzählungen,
Ansichten und Zukunftsplänen, während die anderen mal auflachend, mal
staunend lauschten.
„Wenn ihr wieder da seid, können wir ja noch ein bisschen Karten spielen“, bot
die Mutter den beiden an, als sie sich im Hausgang von ihr verabschiedeten.
Pauls Abstaubzirkel stellte sich in der Tat als Erfolg heraus. Ade glaubte zwar,
skeptische Blicke in den generösen Gesichtern der Hauseigentümer oder Mieter
entdeckt zu haben; immerhin war erst ein kleiner und ein großer dicker Zombie,
dann ein kleiner und ein großer dicker Vampir und schließlich ein kleiner und
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ein großer dicker Werwolf vor der Tür erschienen. Dennoch war das Ergebnis
beachtlich.
Gegen elf Uhr nachts stauten sich in Pauls Jutesäckchen die wunderbarsten
Süßigkeiten. Lutscher, Lakritzschnecken, Gummibärle, Schokoriegel,
Überraschungseier, Kaugummis, Guzzis, Butterkekse, Brausepulver und allerlei
bunt verpackter Konfekt.
Die beiden Freunde waren bester Laune. Ade hatte zwar kurzzeitig befürchtet,
den schönen Abend platzen zu sehen, als er während der Tour glaubte, Justin,
Mo und Franz zu begegnen. Weil sie aber in weiße Laken gehüllt waren, konnte
er dies nur anhand ihrer Stimmen vermuten. Gott sei Dank, so dachte Ade,
waren auch Paul und er zu diesem Zeitpunkt verkleidet und damit anonym
gewesen.
„So und daheim teilen wir die Süßigkeiten auf“, beschloss Paul. Dies schien ihm
ein wichtiger Punkt auf seiner Tagesliste zu sein. Ein Punkt, den er wohl oder
übel abarbeiten musste.
„Halbe, halbe“, fügte er hinzu und Ade erkannte, wie schwer seinem Freund
diese Worte fielen.
„Ich brauche nicht so viel“, antwortete Ade. „Wenn du mir ein paar
Lakritzschnecken und was von dem Brausepulver gibst, langt das schon.“
„Nein, das kommt nicht in Frage!“, erwiderte Paul energisch. Dennoch konnte
man ein hoffnungsvolles Glitzern über seine Augen huschen sehen.
„Aber so richtig gegruselt haben wir uns jetzt nicht“, meinte Ade. Im Grunde
hatte er auch gar keine Lust, sich zu gruseln, doch er wollte noch nicht
heimgehen.
„Warum sollten wir uns auch gruseln?“
„Na, gehört das nicht zu Halloween dazu?“
Paul überlegte. Ade betrachtete seinen Freund. Es gefiel ihm, wie dieser dastand
mit seinem vom fahlen Mondlicht bläulich verfärbten Haar. Wie er grübelte, nur
um ihm einen Gefallen zu tun. Ade wusste, dass Paul am liebsten gleich nach
Hause gegangen wäre und die Beute aufgeteilt hätte. Dann hätte er bis zum
Schlafengehen seinen Teil der Beute versonnen anstarren oder bereits damit
beginnen können, ihn aufzuschlecken. Aus Freundschaft, aus ehrlicher
Freundschaft tat er das nun nicht. Zumindest nicht sofort.
„Naja,“ sagte Paul langsam und starrte zum Gymnasium hinauf, das sich hinter
der nächsten Häusersiedlung in den dunkelblauen Himmel erhob, „wir könnten
ja nochmal zum verborgenen Garten schauen ...“
Ade versteinerte. Das wäre ja wirklich gruselig!
„Wir könnten versuchen, eine Räuberleiter zu machen, um wenigstens mal
hineinschauen zu können“, fügte Paul hinzu. „Es ist ja einigermaßen hell heut
Nacht.“
Wenngleich es Ade bei dem bloßen Gedanken daran schon schauderte, reizte ihn
doch die Vorstellung, dem Geheimnis des Gartens gemeinsam mit seinem
Freund auf die Schliche zu kommen. Er war ja nicht blöd. Er wusste, dass solche
Erlebnisse zwei Menschen sehr fest zusammenschließen können. Um der
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Freundschaft und seiner Neugier willen stimmte er dem Vorhaben also zu und
ignorierte seine Gänsehaut.
Auf dem Weg zur Turnhalle rief er seine Mutter an, die ihm eigens dafür ihr
Handy mitgegeben hatte. Sie erlaubte den Buben, sich über die Mitternacht
hinaus draußen herumzutreiben, nachdem Ade ihr verkündet hatte, dass Paul
schon fast vierzehn Jahre alt war. Überdies schien auch sie den neuen Freund
ihres Sohnes als dessen Beschützer anzuerkennen.
„Hat sie dir denn kein schlechtes Gewissen machen wollen?“, fragte Paul,
nachdem Ade austelefoniert hatte.
„Nein. Wieso?“
„Ja, sie wollte doch noch mit uns karteln, oder?“
„Das können wir doch wann anders auch noch“, entgegnete Ade. Daraufhin
verstummte Paul.
So gingen sie wortlos nebeneinander her, bis sie an der Turnhalle ankamen.
Die Welt hatte sich in den letzten Wochen enorm abgekühlt. In dieser Nacht
zwischen Halloween und Allerheiligen erfüllte das Licht eines abnehmenden
Mondes den wolkenlosen Himmel. Als die heftigen Herbstwinde für Sekunden
ausblieben, konnte man das feuchte Laub am Boden knistern hören, wenn
Regenwürmer die Blätter in ihr Erdreich zogen. Neben dem riesigen Quader der
Turnhalle stehend lauschten die zwei Freunde abwechselnd auf das zarte
Knistern und das tosende Rauschen. Das Dickicht vor ihnen lag in einem weißen
Nebel, der vom Fluss her kriechend einen Busch nach dem anderen
verschluckte. Als der stachelige Fruchtkörper eines Kastanienbaums auf den
Asphalt krachte, fuhren die Buben in sich zusammen.
„Na, ist es dir jetzt gruslig genug?“, fragte Paul. Er lächelte, aber sein Brustkorb
bebte. Ade nickte. Die Lust, in das nebelumwobene Gesträuch zu klettern, hatte
sich in den letzten Minuten stark verringert.
„Also, dann“, meinte Paul und versuchte, seine Stimme locker klingen zu lassen,
„hinein ins Abenteuer!“ Damit stieg er ins Gestrüpp.
Ade blickte ihm nach, nicht fähig, sich zu rühren. Als sein Freund aber in Nebel
und Dunkelheit zu verschwinden drohte, befreite er sich aus seiner Erstarrung
und eilte ihm nach.
Minutenlang kämpften sich die beiden durch das wilde Unterholz, während
hervorspringende Äste ihre Arme zerkratzten. Sie gingen an der Mauer entlang
auf der Suche nach einer Stelle, wo keine Brennnesseln waren. Der Vorteil war,
dass sie auf diese Weise den Weg nicht verloren. Der Nachteil, dass sie hin und
wieder die zischelnden Brennnesseln berührten. Doch all diese Schmerzen hielt
Ade aus. Was er hingegen kaum ertrug, waren die sich auftürmende Dunkelheit,
das laute Rauschen und Knacken und der dumpfe Nebel, der wie ein Kopfkissen
alles unter sich zu ersticken suchte. Auch Paul schien sich zu fürchten. Als in
den Wipfeln über ihnen ein Rabe laut schrie, stöhnte sein Freund vor Schrecken
auf.
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„Ich glaube, ich hab mich seit Jahren nicht mehr gegruselt!“, erklärte er Ade
nach einer Sekunde des Luftholens.
Ich mich schon, dachte Ade. Es war ihm aber nicht nach Reden zu Mute. Er
nickte nur.
Im selben Moment erkannten die Buben das kleine Tor.
„Vielleicht könnten wir es auftreten“, überlegte Paul. „Eine brennnesselfreie
Stelle für eine Räuberleiter scheint es sowieso nicht zu geben.“
Ade ergriff den Knauf. Er wollte daran rütteln, um festzustellen wie fest das Tor
in den Angeln saß. Es knackte, als er das rostige Metall drehte. Dann quietschte
es und ...
Das Tor öffnete sich!
*
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Ende der Leseprobe von:
Der Pakt mit dem Feuerteufel
Lukas Wolfgang Börner, Sabrina Börner
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