Illustration: Sabrina Börner 2 Lukas Wolfgang Börner Der Pakt mit dem Feuerteufel 3 4 Ade 5 6 Es waren die Hörner, die den Feuerteufel verrieten. Ohne die hätte man ihn fast für einen Menschen mit starkem Sonnenbrand halten können. Sofern man die Tatsache ignoriert hätte, dass normale Menschen gewöhnlich größer sind als fünf Zentimeter. Er hockte auf dem Zündholz und lächelte Ade aufmunternd zu. Sein Anzug und die Krawatte waren blau, seine Hände und der Kopf waren rot-orange. „Was bietest du an?“, fragte Ade, der glaubte, sich verhört zu haben. „Ich biete eine kostenlose Sitzung an. Man könnte es als Schnupperkurs bezeichnen“, antwortete der Teufel. Er blickte freundlich drein. Er hatte kein gemeines Grinsen auf den Lippen und rieb sich auch nicht die Hände, wie man es von einem Teufel gewohnt war. In der Tat war er höflich und zuvorkommend. Doch war er offensichtlich der Teufel. Ade störte es, diesen so sympathisch vor sich auf dem Zündholz hocken zu sehen. Es konnte niemals gutgehen, wenn er sich mit ihm einließ, das wusste er. Schnupperkurs hin oder her. Andererseits war das nun auch schon egal. Eigentlich war eh alles egal. „Und was sollte mir diese Sitzung bringen?“ „Ganz einfach“, antwortete der Teufel in seiner sauberen hochdeutschen Aussprache. „Sie bringt dir Respekt!“ Ein Schauer durchfuhr Ades Körper. Respekt. Ach, komm, scheiß drauf, dachte der Bub bei sich und willigte ein. „Sehr gut“, antwortete der Teufel und zog seine Krawatte zu Recht. Er war sichtlich zufrieden mit sich. „Du wirst dich jetzt mit mir deiner Vergangenheit stellen und dir Respekt verschaffen. Ich hoffe, du hast heute genug gegessen.“ „Ja, hab ich“, antwortete Ade. Die Bleistiftspäne aus den Spitzern mehrerer Mitschüler hatte er erst nach dem Mittagessen in seinem Ranzen gefunden. Die ganze Klasse hatte ihn ausgelacht. Wäre dies vor dem Essengehen in die Mensa passiert, hätte er garantiert keinen Bissen mehr runtergekriegt. „Wunderbar. Dann lass uns noch ein Stück weiter in den Wald hineingehen. Ich führe dich.“ Der Teufel zeigte in die Richtung, die weiter aus der Stadt hinausführte. Ade war nicht besonders tief in den Wald gegangen. Gerade so weit, dass er keiner Menschenseele mehr begegnen würde. Mit dunklen Augenringen musterte er den Weg, den der Feuerteufel ihm vorgab. Dann nahm er seinen Schulranzen wieder auf und folgte dem ausgestreckten, sauber manikürten Zeigefinger des Teufels. Bei einem Ameisenhügel gebot ihm der Teufel, stehen zu bleiben. „Und nun“, sagte er „greife mal in deine rechte Jackentasche.“ Ade gehorchte und griff in die Tasche seiner leichten Sommerjacke. Seine Finger berührten die kühle, glatte Oberfläche eines eckigen Gefäßes. Er zog es aus der Tasche und las die Aufschrift: Feuerzeugbenzin. Auf der Oberseite der Dose war ein kleiner Drehverschluss. 7 Ades Herz begann zu klopfen. Rings um ihn her war das Gezwitscher der Waldvögel zu hören. Die späte Nachmittagssonne fiel durch die Baumwipfel und gab dem Wald ein freundliches Aussehen. Es war dieselbe Freundlichkeit, die auch der Teufel ausstrahlte. Menschen sah Ade hier keine. Auch keine Wege mehr. „Schließe nun die Augen“, sagte der Teufel mit behutsamer Stimme, nachdem Ade sich vor dem Ameisenhügel positioniert hatte. Er hockte immer noch auf dem Zündholz und lächelte. Ade gehorchte. „Gehe nun zum ersten Augenblick von Schmerz oder Leid zurück, an den du dich erinnern kannst“, sagte der Teufel. Ade gehorchte wieder und überlegte. Er dachte an die Schule. Sein Kopf war so vollgestopft von den Scheißerlebnissen in diesem Schuljahr, dass er gar nicht weiter zurückdenken konnte. Es waren nur mehr wenige Tage bis zu den Sommerferien. Nächstes Schuljahr würde er in die sechste Klasse kommen. Ade freute sich nicht im Geringsten darauf. Denn die Klassenkonstellation würde die gleiche bleiben, das hatten ihm die Tutoren bestätigt. Die Schüler würden erst ab der siebten Klasse wieder neu durchgemischt werden. Das hieß, dass er ein weiteres Jahr mit Justin, Mo und Franz würde ertragen müssen. Und Gott weiß, ob er in diesem darauffolgenden Jahr von ihnen getrennt würde. „Was siehst du?“, fragte der Teufel, der die Beine übereinandergeschlagen und sich zurückgelehnt hatte. „Justin“, antwortete Ade, ohne recht zu wissen, wieso und warum. „Was sagt Justin?“, fragte der Teufel. „Ich soll das kleinste Kuchenstück nehmen. Das passt am besten zu mir.“ „Wo bist du?“ „Bei ihm. Auf seinem Geburtstag.“ „Wer ist noch da?“ „Alle. Alle sind sie da. Justin hat die ganze Klasse eingeladen.“ „Was hörst du?“ „Alle lachen. Sie lachen über mich.“ „Was spürst du?“ „Wut.“ „Das machst du sehr gut. Fahre jetzt bitte fort.“ „Ich habe Justin ein Wii-Spiel mitgebracht. Das war bestimmt das teuerste Geschenk von allen!“ „Und er macht sich trotzdem über deine Größe lustig?“ „Ja. Ich kapier das nicht. Ich hasse sowas! Ich hasse ihn!“ „Öffne nun die Augen und schaue in den Ameisenhaufen.“ Ade öffnete die Augen und blickte vor sich auf den großen braunen Hügel. Doch er konnte nicht glauben, was er da sah. Eine Bande von Ameisen saß um einen Tisch herum und lachte über die kleinste Ameise, die sich zitternd das kleinste Kuchenstück abholte und sich dabei auch noch bedankte. In der Mitte konnte Ade den Ameisen-Justin sehen, der grinsend 8 zwischen seinen beiden besten Freunden, dem Ameisen-Mo und dem AmeisenFranz stand. Der Teufel deutete auf das Feuerzeugbenzin. Aber Ade hatte den Deckel der Dose schon längt aufgedreht. Ohne zu zögern schüttete er einen Schluck davon über die Ameisenbande und genoss es zuzusehen, wie seine Klassenkameraden sich darüber ins Mark erschreckten. Dann hielt er das Zündholz so nah an sie heran, dass der Feuerteufel von diesem springen und auf der Meute landen konnte. Sowie sie in Flammen standen, schrien seine Mitschüler Zeter und Mordio. Sie wuselten durcheinander und versuchten, dem Feuer zu entkommen, doch es gelang ihnen nicht. Am lautesten schrie Justin. Er krabbelte mit seinen sechs Ameisenbeinchen über die anderen drüber. Er war immer der Anführer gewesen und hatte stets die besten Kuchenstücke im Leben für sich selbst organisiert. Doch nun brannte er genau wie seine Klassenkameraden. Er krabbelte über den Ameisen-Franz, der sich bereits tief gebräunt am Boden wälzte. Während Ade Justin so betrachtete, grinste er und fühlte sich irgendwie großartig. Seinetwegen hätte das Spektakel noch viel länger dauern, seine Mitschüler sich noch viel mehr quälen können. Doch mit der Zeit verstummten die Schreie und auch Justin, der seinem Tod nicht entrinnen konnte, kroch bereits nur noch auf drei Beinchen vorwärts. Als er schließlich liegenblieb, presste er die Arme gegen den Bauch und war kurz drauf nur noch ein mickriger schwarzer Klumpen. Der Teufel sprang von den zweiunddreißig toten Ameisen zurück auf Ades Zündholz und blickte dem Buben tief in die Augen. Während Ade mit bebender Brust zurückschaute, runzelte der Teufel die Stirn. „Das war es noch nicht“, sagte er endlich, lehnte sich wieder zurück und begann, die Sitzung weiterzuführen. „Suche einen früheren Augenblick von Schmerz oder Leid und gehe dorthin, wenn du ihn gefunden hast.“ Er bedeutete Ade mit geduldiger Miene, wieder die Augen zu schließen. „Was siehst du?“, fragte er, nachdem er dem Buben Zeit zum Nachdenken gegeben hatte. „Die Lehrer“, entgegnete Ade schließlich. „Welche Lehrer?“ „Alle.“ „Was machen sie?“ „Sie grinsen!“ „Warum gri...“, begann der Teufel, doch Ade unterbrach ihn, wobei seine Stimme lauter, hysterischer wurde. „Weil sie gerade das erste Mal die Namensliste durchgehen. Und dann lesen sie das erste Mal meinen ausgeschriebenen Vornamen!“ „Und wie lautet der?“ „Adolf! Ich heiße Adolf! So wie mein Vater! Und immer, wenn das jemand spannt, grinst er blöd! Ich hasse das!“ 9 „Wer ist noch da?“, fragte der Teufel, doch Ade beachtete ihn nicht. Er hatte bereits wieder die Augen geöffnet und starrte auf das Ameisen-Lehrerzimmer vor ihm. Alle Lehrer, die ihn seit der ersten Klasse unterrichtet hatten, saßen dort und grinsten vor sich hin. Keiner machte einen Witz über seinen Namen, aber das dumme Grinsen war nicht weniger kränkend! Der Teufel machte große Augen. Vermutlich verwunderte ihn insgeheim die schnelle Selbstzündung seiner Sitzung. Noch bevor er irgendetwas sagen konnte, hatte Ade schon das Benzin über dem Lehrerzimmer verteilt und das Zündholz darangehalten. Der Teufel sprang hinab und wieder erfüllte ein lautes qualvolles Geschrei den Wald. Es war das Geschrei des Todes. Ade saß vor dem Hügel und grinste nun seinerseits. In seinen Augen spiegelte sich der tanzende Teufel. Als das Schreckensszenario beendet war und nur mehr kalter Rauch von den Leichen aufstieg, glaubte Ade, ein Déjà-vu zu haben. Er fühlte sich einerseits leer, andererseits besser, aber der Teufel schaute ihm wieder so stirnrunzelnd in die Augen. Und abermals äußerte er seine Bedenken, dass sie wohl noch nicht beim Kern der Sache angekommen waren. Ade wusste nicht recht, worauf der Teufel hinauswollte. Doch er gehorchte brav, als er gebeten wurde, noch einmal in seiner Vergangenheit zu wühlen. In einer noch früheren Vergangenheit. Diesmal verstrichen viele Minuten, in denen der Teufel sein Gegenüber scharf beobachtete. Im Hintergrund piepsten die Waldvögel. Im Moos, nicht weit von ihnen, raschelten die Mäuse. „Du beschissenes Weichei!“, drang es plötzlich aus Ades Kehle. „Äh, wie bitte?“, fragte der Teufel und fiel für einen Moment aus seiner Auditorenrolle. „Hör auf zu heulen! Sonst kriegst du so eine Schelle, dass dir Hören und Sehen vergeht!“ „Wer ... wer spricht da?“, fragte der Feuerteufel, der sich allmählich wieder fing. „Du beschissenes Weichei!“, wiederholte Ade. Er rang mit sich. Er wollte etwas sagen, wollte auf die Frage des Teufels antworten, doch stattdessen öffnete er die Augen. Und dann sah er sie. Zwischen den beiden qualmenden Brandflecken im Ameisenhaufen saß eine große Ameise vor einer ganz kleinen. Die Ameisenmutter stand hinter dem Vater, doch sie konnte nicht an ihr Kind heran. Der Vater hatte es fest am Arm gepackt. Das Ameisenkind verzog das Gesicht vor Schmerz, während ihm die Tränen aus den Augen rannen. Es war eine Situation, die über vier Jahre zurückliegen musste. Ades Mama hatte sich von seinem Vater kurz danach scheiden lassen. Ihre Freundinnen hatten sie dabei tatkräftig unterstützt. Aus eigener Kraft hätte sie das nie geschafft. Dazu war sie zu ängstlich. Aber als sie zum bereits zweiten Mal mit einer blau verfärbten Backe in die Arbeit gekommen war, hatten ihre Kolleginnen die Polizei alarmiert. Es war so warm, dass Ade seine Sommerjacke gar nicht benötigt hätte. In Wirklichkeit trug er sie nur zum Schutz. Sie war wie eine zusätzliche Haut, mit 10 der man andere Schüler auf Abstand halten konnte. Jetzt aber fror Ade. Selbst unter der Jacke fror er. Er betrachtete den Vater, der dem Sohn wieder Prügel androhte, weil er ihm zu weich und hilflos war. Ade hatte seinem Vater nie etwas rechtmachen können. Er hatte immer viel zu sehr an seiner Mama geklammert und ihre Charaktereigenschaften nach und nach übernommen. Und wenn der Vater besoffen war, hatte er immer wieder gesagt, dass Ade nicht sein Sohn, sondern ein Schlappschwanz oder ein Muttersöhnchen sei. Der Teufel blickte verdattert zwischen Ade und den Ameisen hin und her, während der Bub das Feuerzeugbenzin ergriff. Er zitterte dabei so, dass ihm die Dose um ein Haar aus der Hand gefallen wäre. Als sie über den drei Ameisen schwebte, rannten die Ameisen-Mama und der Ameisen-Ade davon und ließen die große, hässliche Ameise allein. Ade wartete, bis die beiden außer Reichweite waren, dann kippte er den gesamten Inhalt der Dose über den Vater. Über dieses Scheusal seiner Kindheit und den ganzen beschissenen Hügel ringsherum. Während Ade mit zuckenden Augen und Mundwinkeln das Zündholz senkte, summte er eine Melodie. Als er seinen Vater vor Schmerz schreien, nein, brüllen hörte und den gesamten Ameisenhaufen lichterloh brennen sah, lachte Ade so laut auf, dass die Vögel in den Wipfeln um ihn her verstummten. Doch das genügte Ade nicht. Wie er den Feuerteufel so lustig auf all dem, was ihn sein Leben bisher zur Hölle gemacht hatte, tanzen sah, packte ihn ebenfalls die Tanzlust. Er sprang um das Feuer und lachte und lachte. Wäre in diesem Augenblick ein Pilzesammler des Weges gekommen, er hätte wohl geglaubt, das Rumpelstilzchen in Person entdeckt zu haben. Doch für Pilze war es ohnehin noch zu früh. Als der Spuk vorbei, der Ameisenhaufen schwarz und ausgestorben war, sprang der Teufel zurück auf das Zündholz. „Ausgelöscht“, sagte er zufrieden und tauschte einen Blick mit Ade, der keuchte, aber stolz aussah. Das Auslöschen hatte ihm Befriedigung bereitet. Dann schnipste der Teufel mit den Fingern und Ade hatte mit einem Mal das Gefühl, wieder in der Gegenwart zu sein, ja, die Vergangenheit abgeschüttelt zu haben. Ade saß noch lange mit verstrubbeltem Haar neben dem qualmenden Ameisenhaufen. Als er sich beim ersten Abendrot von dem Teufel verabschiedete, fühlte er sich befreit. Und als beim Rückweg zwei Rehe vor ihm flohen, lachte er laut auf. Ja, sie hatten Respekt vor ihm. Ein tolles Gefühl! Im Stillen dankte er dem Teufel für das Gefühl, das ihm dieser so unentgeltlich verschafft hatte. Das war der Moment, an dem sich der Feuerteufel Ade gefügig gemacht hatte. Aber ganz ehrlich: Das war vom Teufel auch nicht anders zu erwarten gewesen. * 11 Am ersten Schultag nach den Sommerferien setzte sich Ade auf denselben Platz, den er voriges Jahr eingesessen hatte. Alles war wie immer. Den einzigen Unterschied bildete das Klassenzimmer, das zwar in allem mit dem letzten identisch war, sich jedoch nicht im ersten, sondern im dritten Stock befand. Auch hatte es im alten Zimmer keine Fenster gegeben, weshalb man selbst bei Sonnenschein immer Licht machen musste. Hier aber gab es zwei große Fenster, die einen Blick auf den aschgrauen Himmel und das rötliche Kastanienlaub darunter freigaben. Ade hatte gehofft, dass sich Justin und Mo dieses Jahr weiter von ihm wegsetzen würden, doch auch sie nahmen ihre Plätze wieder an dem Tisch direkt hinter seinem ein. Das war unangenehm, denn so würden sie weiterhin das tun können, was sie am liebsten taten. Papierböller auf Klassenkameraden schmeißen und dann auf Ade deuten, als wäre er der Tunichtgut gewesen. Ade war sich zwar sicher, dass seine Mitschüler von seiner Unschuld wussten, doch ihn verletzte solches Verhalten dennoch. Eigentlich war es tragisch, überlegte Ade, während er die anderen Buben und Mädchen beim Platznehmen beobachtete, dass er immer nett und freundlich und doch der einzige Außenseiter in der Klasse war. Bis auf Ludwig und Lili vielleicht, doch die schien das weniger zu stören. Beide waren letztes Jahr einzeln gesessen und hatten das Klassengeschehen mit mittelmäßigem Interesse verfolgt. Und auch heute nahmen sie wieder dieselben einzelnen Plätze ein. Ade hatte schon manchmal überlegt, ob er Ludwig ansprechen sollte, doch hatte ihn immer die Angst, abgewiesen zu werden, davon abgehalten. Er warf einen verstohlenen Blick nach hinten und betrachtete mit seltsamem Interesse den Schlafzimmerblick des Buben. Als Ade wieder nach vorne schaute, bemerkte er den neuen Mitschüler, der mit Freude strahlendem Gesicht durch das Klassenzimmer marschierte. „Ist neben dir noch frei?“, fragte er dann Marie, ein blondes Mädel zwei Tische hinter Ade. Justin, der die Frage des Neuen ebenfalls gehört hatte, drehte sich blitzschnell nach hinten um und beobachtete ihn. Ade glaubte, dass Justin in Marie verknallt war. Das war allerdings nichts Außergewöhnliches. Auf die hübsche Marie hatten es fast alle Buben dieser Klasse abgesehen. Ihre Schönheit äußerte sich in einer einheitlich zarten Haut, blauen Augen und einem kleinen Zopf. Ihr dunkelblauer Rock und die schneeweiße Bluse verstärkten ihre Ästhetik noch. Das war wohl auch der Grund, warum dem dicken und ziemlich großen neuen Mitschüler mehr als ein Dutzend Augenpaare folgten. Jeder der Beobachter schien dessen Frage als vollendete Dreistigkeit aufzufassen. Erstens setzte man sich nicht neben ein Mädchen, zweitens sollte man schon einen gewissen Schönheitsstandard aufweisen, um ein so hübsches Mädel anzusprechen! „Nee ...“, antwortete sie und musterte den Neuen misstrauisch. Ihr Blick blieb an den ausgeleierten Ärmeln seines grünen T-Shirts hängen. „...hier sitzt meine Freundin“, fügte sie hinzu und deutete auf Anna, die gerade hereingekommen war. 12 Als die beiden Mädchen zu tuscheln begannen, drehte sich der Bub um und lenkte seine Schritte Richtung Ade. Gleich wird er mich fragen, ob neben mir noch Platz ist, dachte Ade. Werd’ jetzt nicht rot, werd’ jetzt ja nicht rot! „Ist neben dir noch frei?“, fragte der Neue, dessen heitere Miene sich trotz der Abweisung nicht verhärtet hatte. „Ich heiße Ade“, antwortete Ade und stand auf. Er merkte leider erst an Mos und Justins bellendem Lachen, dass er sich gerade recht seltsam verhalten hatte. „Ja, wunderbar“, antwortete der Neue. Dadurch, dass er Ade die Hand schüttelte, wirkte sein Aufstehen nicht mehr ganz so seltsam. „Ich bin der Paul.“ „Der dicke Paul“, wisperte Justin seinem Freund zu. Paul, der das gehört hatte, lächelte Justin an. Aber es war kein bitteres oder ironisches Lächeln. „Mei, meine Mutter kann wenigstens kochen“, sagte er und stach Justin dabei mit einem Finger in den durchtrainierten Bauch. „Ich nehme an, bei euch gibt’s nur Dosenfutter.“ Justin versteinerte. Alle Heiterkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Er holte Luft und wer die Szene verfolgte, sah, dass Justin alle Bosheiten, die ihm einfielen, sammelte, um sie dem dicken Paul gleich um die Ohren zu hauen. Als er seinen wutverzerrten Mund öffnete, fiel ihm Paul jedoch ins Wort: „Ich glaube dir, dass dich das grantig macht. Mir würde es nicht anders gehen. Wenn es dir hilft, kann ich ja mal deine Mutter anrufen und sie an ihre elterlichen Pflichten erinnern.“ Mo lachte. Justin starrte seinen Freund an, der automatisch versuchte, sein Lachen zu drosseln. Doch Paul scherte sich nicht weiter um die beiden. Er setzte sich, packte sein Schulzeug auf den Tisch und zog dann Ade, der immer noch dastand, auf seinen Stuhl zurück. Paul war sitzengeblieben. Er hatte letztes Jahr bereits die sechste Klasse besucht und es auf insgesamt drei Fünfer im Zeugnis gebracht. Einen in Religion, einen in Musik und einen in Sport. „Alles Fächer, die nicht wichtig sind“, hatte er zu Ade gesagt, nachdem Herr Debarge, der die Kinder in Mathe unterrichtete, ihn der Klasse vorgestellt hatte. „Man muss seinen Blick auf die wichtigen Dinge des Lebens richten“, sagte er weiter, während er im Schweifblick die Mädchen der Klasse musterte. Ade fragte sich, wie man es schaffen konnte, in Religion, Musik und Sport derart schlechte Noten zu bekommen. Dies war seiner Erfahrung nach selbst bei völliger Talent- und Interessenlosigkeit kaum machbar. Er schluckte seine Einwände jedoch hinunter, weil er fürchtete, seinen Banknachbarn zu verärgern. Stattdessen nickte er mit verständnisvollem Gesichtsausdruck. * 13 Am nächsten Tag saßen die beiden im neuen Indischen Restaurant in der Innenstadt. Paul hatte nach der Schule gefragt, ob Ade ihn begleiten wolle. Der hatte beim Anblick des Restaurants seine Miene verzogen und vorsichtig eingewendet, dass er nur fünf Euro von seiner Mutter zum Mittagessen gekriegt habe. „Das kriegen wir schon!“, hatte Paul darauf erwidert. „Das ist ein Geschäft, was ich hier betreibe, weißt du?“ „Ein Geschäft?“, fragte Ade, während er seine Jacke über die Stuhllehne hängte, und dachte an eine Art Familienbetrieb. „Ja, ein Geschäft“, wiederholte Paul, gab ihm eine Speisenkarte und nahm sich selbst eine zweite vom Nachbartisch. Als Ade den Mund öffnete, um nachzuhaken, fiel ihm jemand ins Wort. „Namaste, hallo“, sagte der Kellner, der sich jetzt, da das Restaurant noch neu war, offensichtlich bemühte. Er war ein dunkelhaariger Mann in einer pinguinartigen Verkleidung, der aussah, als sei sein Großvater tatsächlich mal in Indien gewesen. „Was darf’s für euch sein?“ „Zwei Cola und zweimal Currywurst mit Pommes“, sagte Paul und lächelte den Kellner freundlich an. Dann wandte er sich an Ade: „Und was nimmst Du?“ Während die Buben an ihren Currywürsten herumkauten, hatte sich das Restaurant gefüllt. Viele Geschäftsmänner mit Anzug und Krawatte saßen nun um die Tische herum und unterhielten sich geschäftig miteinander. Mancher, der alleine saß, hatte seinen Laptop aufgeklappt und tippte wichtig darauf herum. Paul beobachtete diese Herren. Ade glaubte, auf dem Gesicht des dicken Buben zugleich Respekt und Überheblichkeit zu sehen, doch er konnte sich das nicht erklären. Nachdem Paul seinen ersten Teller leergegessen und sich auch die Currywurst des zweiten Tellers einverleibt hatte, griff er nach den Zahnstochern, die liebevoll auf dem Tisch drapiert waren. Als er sie jedoch nicht in seine Zähne, sondern in die restlichen Pommes Frites zu stechen begann, fragte Ade: „Was machst du denn da?“ „Das siehst du gleich“, antwortete Paul und bedeutete Ade, ebenfalls Zahnstocher in die Pommes, die er übrig gelassen hatte, zu stecken. Hierbei schien es ihm wichtig zu sein, diese längs in die Pommes hineinzuschieben, dass man sie nicht mehr sehen konnte. Nach kurzem Zögern tat Ade es ihm gleich. „Vorsicht!“, wisperte Paul plötzlich, als der Pinguinkellner erschien. „Hat’s geschmeckt?“, fragte er und griff nach den Tellern. „Gut, danke“, sagte Ade schnell. „Ausgezeichnet“, meinte Paul. „Soll ich dann abkassieren?“, fragte der Kellner, sowie er die Teller aufeinander gestellt hatte. „Nein, nein,“ antwortete Paul schnell, „wir hätten gern noch ein Dessert! Was ist denn dieses … Rava Kesari?“ 14 „Das ist so eine Art Grießpudding“, antwortete der Kellner. „Na, dann nehmen wir das doch!“ Paul tauschte einen Blick mit Ade, der aufgrund der Nachdrücklichkeit der Worte zu nicken begann. Der Kellner verschwand mit den Tellern und Ade fragte sich, was er tun sollte, wenn Paul ihn nicht einlud. Die Nachspeise allein würde wohl bereits fünf Euro kosten. „Und? Wie ist eure Klasse so?“, fragte Paul nach einer Weile und ließ dabei seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Autsch, dachte Ade. „Ganz nett“, sagte er. „Dieser Justin ist der Anführer, was?“, fragte Paul. „Ja, ich glaub schon“, antwortete Ade. „Und das Mädchen, neben das ich mich setzen wollte ...?“ „Die Marie?“ Jetzt sah Paul ihn an: „Ja.“ „Was soll mit der sein?“ Paul verdrehte die Augen: „Na, geht die mit wem?“ „Keine Ahnung“, gab Ade achselzuckend zurück. In dem Moment hörten die beiden einen kurzen Aufschrei, als einer der Geschäftsmänner in seine Pommes biss. Ade drehte sich zu dem Herrn um, der allein an einem Tisch neben der großen Elefantenkopf-Statue saß. Er konnte gerade noch sehen, dass in der Zunge des Herrn ein Zahnstocher steckte. Paul betrachtete mit einer Hand über seinem Mund, wie der Verwundete nach dem Kellner rief und sich beschwerte. Die anderen Restaurantbesucher beobachteten das ebenfalls, doch wusste wohl kaum einer, mit dem Geschehenen etwas anzufangen. Auch Ade hatte die Hand auf den Mund gelegt. Im Gegensatz zu Paul jedoch vor Schreck. Als der Kellner nach einigen Minuten mit rotem Kopf zu ihrem Tisch kam, um das Dessert zu bringen, zog ihn Paul am Arm zu sich herunter. „Soll ich zu dem Herrn hinübergehen und ihm sagen, dass er gerade meine alten Pommes gegessen hat. Die Pommes, in die ich meine benützten Zahnstocher gesteckt habe? Soll ich es so laut sagen, dass es auch die anderen Gäste hören?“, fragte er den Kellner flüsternd. Ade wunderte sich sowohl über die Dreistigkeit seines neuen Banknachbarn als auch über dessen geschäftsmäßige Stimme. Es klang, als ob Paul diese Fragen schon öfters gestellt hatte. Weder Scham noch Bosheit lagen in seiner Stimme. Ganz im Gegensatz zu der unterdrückten, wütenden Stimme des Kellners: „Du kleiner Fettsack, ich sollte dir ...“ „Au!“, schrie nun ein Herr aus einer anderen Restaurantecke. Mit einem Lächeln der Zufriedenheit wandte sich Paul wieder an den Kellner: „Fünfzig Euro?“ 15 Eine Ader pochte auf der Stirn des Mannes. Kurz überlegte er. Dann kramte er einen Fünfziger aus seinem Portemonnaie. Bevor er Paul das Geld gab, flüsterte er: „Lasst euch hier nie wieder blicken!“ „Danke“, entgegnete Paul und nahm das Geld. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Ade, aufzustehen und das Weite zu suchen. „Schönen Tag noch“, rief er in aufrichtiger Höflichkeit dem Kellner zu, der nun, da die Buben das Restaurant verließen, unter Hochspannung von einem Tisch zum anderen lief, um die Pommes zurückzunehmen. „Danke für die Einladung“, sagte Ade, auch wenn ihm das ein wenig seltsam vorkam. „Bitte, bitte“, antwortete Paul. „Jetzt weißt du, was ich mit Geschäft gemeint hab.“ Die Buben gingen an der verschlossenen Tür einer regionalen Gastwirtschaft vorbei, auf der die Worte „Ab sofort zu vermieten“ standen. Paul betrachtete das Schild mit einem seltsamen Lächeln. „Tja. Und das Geschäft boomt!“ * 16 Was ist das eigentlich für ein Garten da unten?“ Die Worte standen auf einem Stück Papier, das Ade seinem Freund während der Deutschstunde zuschob. Das Schulgebäude bildete einen rechten Winkel und wurde von der großen Turnhalle begrenzt. Insgesamt ergab sich daraus ein hufeisenförmiger Gebäudekomplex, dessen Mittelpunkt – ein Gelände in der Größe eines Fußballfeldes – vom rötlichen Blattwerk unzähliger Kastanienbäume ausgefüllt wurde. Diese standen so eng beieinander, dass der Erdboden des Gartens kaum noch zu erkennen war. Am ersten Tag dieses Schuljahres hatte Ade geglaubt, dass sich darunter ihr Pausenhof versteckte. Doch dieser befand sich, wie er bald darauf feststellte, auf der anderen Seite des Schulgebäudes. Paul kritzelte ein paar Worte auf den Zettel, während ihr Mitschüler Toni eine Passage aus dem Nibelungenlied vorlas. „Keine Ahnung,“ stand darauf, „man kann den Garten nur von hier oben sehen. Sonst gibt es keine Fenster zu dieser Seite ...“ Ade schaute wieder nach draußen und betrachtete den rechten Schulhausflügel, der aber nur zweigeschossig war. Paul hatte Recht. Es gab dort wirklich nirgendwo ein Fenster, durch welches man auf den Innenhof hätte schauen können. „Das ist ja merkwürdig“, schrieb Ade zurück, wohlwissend, wie nichtssagend die Worte waren. Als Paul darauf nicht reagierte, tippte ihm Ade schüchtern auf den Arm. „Wollen wir nach der Schule mal dorthin schauen?“, wisperte er. „Ade!“, rief Herr Bichler da und deutete mit einem Finger auf ihn. Er hasste es, wenn man in seinem Unterricht schwätzte. „Du alte Ratschtante!“ Zwei oder drei Mitschüler kicherten. Ades Gesicht wurde heiß. Als ihm der Lehrer gebot, die nächsten zwei Strophen des Nibelungenliedes vorzulesen, musste sich der Bub zwingen, nicht zu stottern. „In der Blüte seiner Jahre, in seiner Jugend konnte man wunderbare Dinge von Siegfried berichten: Wie sich sein Ansehen von Tag zu Tag mehrte und wie schön er war. Die schönen Damen fanden ihn später sehr anziehend. Man erzog ihn so sorgfältig, wie es seinem Stand zukam. Doch wirklich vorbildlich wurde er aus eigener Veranlagung. Später breitete sich sein Ruhm über das Land seines königlichen Vaters so sehr aus, dass man in ihm in jeder Hinsicht den vollkommenen Herrn erblickte.“ Paul kam nach der Schule nicht mit zum verborgenen Garten. Er wollte sich im Anschluss mit ein paar alten Klassenkameraden treffen. Ade schluckte, als er das hörte. Er wusste, dass Paul und er sich erst seit wenigen Tagen kannten und er daher nicht erwarten konnte, die oberste Priorität zu haben. Dennoch wäre er gern Pauls bester Freund gewesen. Davon abgesehen, dass er nun wie alle einen Menschen zum Unterhalten und Spaßhaben hatte, besaß er in Paul auch eine Art Beschützer. Seit der nämlich die Schulbank mit ihm teilte, war er von Justin und Mo in Ruhe gelassen worden. Nur einmal hatten sich die beiden ein Duell 17 geliefert, wem es als ersten gelänge, ihm ein Papierschnipsel direkt ins Ohr zu werfen. Da hatte sich Paul umgedreht, die beiden angeschaut und den Kopf geschüttelt. Mehr nicht. Ade war es unbegreiflich, warum Justin und Mo dann wirklich aufhörten. Paul hatte sie nicht beleidigt, ihnen keine Prügel angedroht, ja, er hatte sie nicht mal eindringlich gebeten aufzuhören. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. Hätte sich Ade so verhalten – davon war er fest überzeugt –, dann wären mindestens zwei Papierböller in seinem Gesicht gelandet. Dann hätte sich Justin kaputtgelacht und sein peinliches Kopfschütteln noch in der Pause nachgeahmt, um irgendwann zu ihm zu kommen und zu beteuern, dass das alles nur Spaß sei. Manchmal überlegte Ade, wie er sich bei Paul beliebter machen konnte. Seit Tagen achtete er schon darauf, am Morgen laut und freundlich zu grüßen, ihn nach seinen Interessen zu befragen oder laut aufzulachen, wenn Paul etwas Lustiges erzählte. Er hatte ihm auch schon einige Male angeboten, zum Abendessen zu ihm zu kommen, doch Paul hatte dazu bislang keine Zeit gehabt. An einem Donnerstag Anfang Oktober aber geschah etwas, das die beiden Buben für immer zusammenschließen sollte. „Gehst du heim?“, fragte Ade nach der Schule. Er hoffte immer, dass Paul ihn eines Tages mal zu sich einladen würde. „Nein, ich hab noch was in der Stadt zu erledigen“, antwortete dieser und lächelte seinem Banknachbarn zu. „Etwas Geschäftliches?“, fragte Ade. Paul nickte und wollte sich bereits verabschieden, als Ade mit hektischer Stimme hinzufügte: „Ich wollte heut auch in der Stadt essen!“ Also lenkten beide ihre Schritte Richtung Innenstadt, während sich Ade beglückwünschte, am Morgen den Fünfzig-Euro-Schein eingesteckt zu haben, den er von seiner Patentante zum Geburtstag bekommen hatte. Den Gulasch, den ihm seine Mutter extra vorgekocht hatte, damit er ihn sich mittags warmmachen konnte, würde er schon trotzdem noch essen können. Ansonsten müsste er ihn halt erst mal in seinem Zimmer bunkern. Oder wegwerfen ... „Wo gehen wir denn heute hin?“, fragte er seinen Freund, während der Herbstwind der warmen Stadt angenehme Kühle zufächelte. „Ich wollte heut eigentlich zum Döner,“ antwortete Paul, „ich habe langsam nicht mehr viel Auswahl.“ An einer Laterne, an der die Buben vorbeigingen, klebte ein Zettel, auf dem das Gesicht eines jugendlichen Mädchens abgebildet war. „Vermisst“ stand darunter. „Was machst du eigentlich, wenn deine Eltern mal mit dir essen gehen wollen?“ Pauls Lachen klang bitter. „Das kommt nicht vor. Vielleicht irgendwann mal, wenn das Reformhaus eine Gaststätte eröffnet.“ Das verstand Ade nicht. Doch er nickte wie immer verständnisvoll. 18 „Ah, zwei Buben, Grüß Gott“, sagte der Dönermann, nachdem Paul und Ade an einem Tisch vor dem kleinen Laden platzgenommen und ihm zugenickt hatten. „Wir hätten gerne ...“, begann Paul. „Einmal Dönerteller groß und einmal Dönerteller ganz klein!“, beendete der Türke den Satz. In Ade flammte bei diesen Worten ein Gefühl auf, das er schon viel zu oft hatte ertragen müssen. Es war wie ein gezielter Tritt ins Herz. Plötzlich hasste er diesen Dönermann! „Ähm,“ fuhr Paul fort und bedachte Ade mit einem besorgten Blick, „wir nehmen zweimal den Dönerteller mit Pommes. Ach, und zwei Colas.“ „Spezi“, verbesserte ihn Ade, ohne aufzuschauen. „Einverstanden!“, rief der Dönermann und verschwand. Paul schaute ihm kopfschüttelnd nach: „Lustiger Typ.“ „Hm ...“, entgegnete Ade. „Der läuft hier draußen umeinander und hat nichts als ein Unterhemd an“, fuhr Paul fort und zog den Reißverschluss seiner Sommerjacke demonstrativ nach oben. „Willst du die Pommes dann eigentlich wieder mit Zahnstochern spicken?“, fragte Ade mit gesenkter Stimme, denn am Tisch neben ihnen hatte ein älterer Herr platzgenommen. „Ja, das ist am sichersten. Die Pommes werden in der Gastronomie immer weiterverwendet“, gab Paul flüsternd zurück und befreite vorsorglich einige Zahnstocher aus ihrer Papierverpackung. Wieder kehrte eine kühle Bö durch die Straßen und ließ die roten Blätter tanzen. Auch Ade zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. „Hast du am Freitag schon was vor? Sonst könnten wir da mal den seltsamen Garten erkunden“, schlug er vor, als der Dönermann die zwei Getränke brachte. Er versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. Paul zog die Mundwinkel nach unten. Dann trank er die Cola auf einen Zug leer. „Ich weiß ja nicht ...“, antwortete er schließlich, einen Rülpser unterdrückend. „Was versprichst du dir denn davon?“ Ade zuckte mit den Schultern. „Zweimal Kebab mit Schoffsgass!“, rief der Türke plötzlich und warf die Döner-Pommes-Teller auf den Tisch, um sich sogleich zum Nachbartisch umzudrehen und den älteren Herrn zu bedienen. „Schoffsgass??“, fragte Ade und runzelte die Stirn. „Ist das türkisch für Pommes?“ Paul lachte: „Ich glaube, das ist türkisch-bayerisch für Schafskäs.“ Als die beiden alles, bis auf die Pommes Frites, aufgegessen und selbige in mühsamer Kleinarbeit mit Zahnstochern durchstochen hatten, winkte Paul nach dem Dönermann. Ade beobachtete die ganze Situation mit einer Mischung aus Scheu und Ehrfurcht. Es nochmals zu beobachten, wie Paul geschäftsmäßig Geld aus der Nase eines Dienstleisters ziehen würde, war für ihn das Größte. Es 19 erinnerte ihn ein wenig an früher, wenn er in Comicbüchern Superhelden bei der Verbrechensbekämpfung zugesehen hatte. „Oh, was ist los? Waren die Pommes nichts gut?“, rief der Dönermann und bedachte Paul mit einem skeptischen Blick. „Es war sehr gut,“ antwortete dieser in seiner gewohnt selbstsicheren Art, „aber wir sind bis oben hin voll.“ Der Mann hob einen Arm und gab kurz den Blick auf eine stark behaarte Achselhöhle frei. „Was soll ich jetzt mit den Pommes machen, häh?“ Dann fiel sein Blick auf den älteren Herrn am Nachbartisch. Bevor er abzuräumen begann, kam er mit dem Gesicht den beiden etwas näher und flüsterte spitzbübisch: „Ich weiß es. Ich gebe sie einfach der Mumie dort zum Essen!“ Dann lachte er und ging mit den Tellern Richtung Dönerladen. Nach einigen Sekunden, in denen sich Paul und Ade wie versteinert anstarrten, kam er mit einem Dönerteller voller Pommes wieder und stellte sie vor den grauhaarigen Herrn. „Ich glaube, wir stecken gleich gewaltig in der Scheiße!“, wisperte Paul durch zusammengedrückte Zähne Ade zu, nachdem der Türke den beiden vom Laden aus auch noch zugezwinkert hatte. Auch Ades Herz pochte nun schneller, wie er den Alten wie in Zeitlupe die einzelnen Punkte des Essvorgangs abarbeiten sah: 1. Er nahm sich eine Serviette. 2. Er legte sich diese auf den Schoß. 3. Er griff nach seiner Gabel. 4. Er hob damit etwas Gyros zum Mund. 5. Er aß dieses. 6. Er trank einen Schluck Bier. 7. Er griff wieder nach der Gabel. 8. Er hob damit zwei Pommes Frites zum Mund. 9. Er biss darauf. 10. Er brüllte. Der Türke stürzte aus dem Laden und auf den Herrn zu, dessen Augen wild in ihren Höhlen rollten. Ade krallte sich in seinem Stuhl fest. Auch Paul war blass geworden. Mit zitternden Fingern griff der Alte in seinen Mund und versuchte, einen Zahnstocher herauszuziehen, der quer in beiden Mundwinkeln steckte. „Wollen Sie mich umbringen?“, schrie er den Dönermann an, während er mit der Serviette seinen Mundinnenraum betupfte. Zwei weitere Gäste, die sich gerade an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, erhoben sich wieder. Die Buben krallten sich immer fester in ihre Stühle und hofften inständig, die Schimpfkanonade des Alten würde aufhören. Als sich dieser endlich, endlich mit einem „Dreckertes Türkenpack!“ verabschiedet hatte, waren auch die beiden anderen Gäste verschwunden. 20 Die Buben zitterten wie Espenlaub, als sich der Dönermann mit knallrotem Kopf ihnen zuwandte. Seine Augen waren schmal geworden. Zwei Adern pulsierten in seinem Gesicht. Eine auf der Stirn und eine zum Hals hin. „Șișko!!“, schrie er und deutete mit einem Finger auf Paul. Jetzt verprügelt er uns, dachte Ade. Erst Paul und dann mich! Doch er irrte sich. Türkische Flüche vor sich hinbrabbelnd machte der Mann kehrt und lief in seinen Laden. „Gott sei Dank,“ meinte Paul bebend, „Gott sei Dank! Er hat eingesehen, dass es sein Fehler w...“ „PAUL!!“, rief Ade plötzlich, als der Türke aus dem Laden schoss. In der Hand hielt er den Dönerspieß! „Ich werde dich aufspießen!“, rief er und kam Paul mit der fetttriefenden Waffe gefährlich nahe. „AAAHH!“, schrie der und duckte sich, bevor der Spieß über ihm die Luft durchstach. Ade, der seinen Freund schon hinter dem Fenster des Dönerladens brutzeln sah, war aufgesprungen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Nackte Angst durchfuhr seine Glieder. Am liebsten wäre er vor dem Mann auf die Knie gefallen und hätte ihn um Gnade angefleht. Stattdessen zog er – ohne weiter darüber nachzudenken – den Fünfziger aus seiner Hosentasche und hielt ihn vor das kirschrote Gesicht. „Funfzig Euro??“, stieß der Türke aus und hörte mit einem Mal auf, mit dem Spieß nach Paul zu stechen. Dann trat eine Pause ein, in der er sich beruhigte und Paul mit einer Hand auf der Brust wie ein Hund japste. Nach einer geschlagenen Minute ergriff der Dönermann das Geld. „Jetzt sind wir gleich – oder ... wie heißt das?“ meinte er, während seine Miene heiterer wurde. „Quitt??“, keuchte Paul. „Ja, genau. Jetzt sind wir quitt!“ Bevor sich die Buben auf ihre zitternden Beine stellen konnten, um diesen Ort für immer zu verlassen, zog der Dönermann zwei Lollis aus der Hosentasche und reichte sie den beiden. „Servus, bis bald!“, sang er dabei und begann, den Nachbartisch abzuräumen. „Ich glaube, ich bin dir was schuldig“, meinte Paul, nachdem er lange schweigend neben Ade hergegangen war. „Der hätte mich bestimmt umgebracht.“ „Das passt schon“, antwortete Ade verlegen. Ein tiefes Glücksgefühl, wie er es schon lange nicht mehr gespürt hatte, durchzog seinen Körper. Ganz plötzlich schien ihm alles schön zu sein. Abwesend lächelnd betrachtete er die tanzenden Blätter, die wie ein orangefarbener Wirbelsturm durch die Gassen sausten. Nachdem sich Paul noch fast eine Stunde lang auf die verschiedensten Weisen bedankt hatte, nahmen die Freunde Abschied voneinander. 21 Zuvor aber verabredeten sie sich noch für Freitagnachmittag. Schließlich galt es herauszufinden, was es mit dem verborgenen Garten auf sich hatte. * 22 Das Schulgebäude war nach seiner Vorderseite hin begehbar, wurde an seiner Hinterseite und der Turnhalle aber von Bäumen und Dickicht begrenzt. Dort hinten sah man manchmal Siebt- und Achtklässler stehen, die ängstlich in alle Richtungen spähten und ihre Zigaretten in der hohlen Hand versteckten. Es war der dafür sicherste Fleck der Schule. Nur selten kamen hier Lehrer vorbei und auch nur dann, wenn vom benachbarten Fußballfeld aus ein Ball ins Dickicht geschossen worden war. Hinter all dem Gesträuch ging der Fluss, doch weder Ade noch Paul hätten sagen können, ob er direkt dahinter oder doch in einiger Entfernung verlief. Es hatte sie nie dorthin verschlagen. Warum auch? Der Pausenhof, der Sportplatz, die Innenstadt, ja, überhaupt alles, was von Bedeutung war, lag schließlich nach der anderen Richtung. Und zum Rauchen waren die beiden ohnehin zu jung. Wie man nur so blöd sein kann, seinen Körper derart zu vergiften, dachte Ade, als Paul und er nach der Schule zwei Achtklässlern im Dickicht begegneten. „Hey, schau mal!“, rief einer von ihnen, als er die beiden kommen sah, und zog an seiner Zigarette. Er hatte fettiges Haar und trug eine Zahnspange. „Ein Liebespaar!“ Der andere wollte lachen, hustete aber stattdessen. Paul scherte sich nicht um die Achtklässler. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen. Ade hastete hinter ihm her. Er wollte sich keine weiteren Beleidigungen anhören. In seiner Eile blieb er aber mit der Schlaufe seines Schuhs an einem Stock hängen. Er fiel nicht. Aber er strauchelte. „Hahaha!“, lachte der Zahnspangenjunge. Das Lachen des Zweiten ging wieder in einem Hustenanfall unter. „Alter, ich glaube, wir haben es hier mit Dick und Doof zu tun!“, fügte der Erste hinzu und klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. Unter der dicken Hülle seiner Ängstlichkeit spürte Ade – wie schon unzählige Male zuvor – den blanken Hass lodern. Eines Tages, eines Tages würde dieser wie ein Vulkan ausbrechen! Und dann würde er sich Respekt verschaffen! Plötzlich fiel dem Buben das Gesicht des Teufels wieder ein. Es lächelte ihn freundlich an. Doch gerade als Ade es genauer betrachten wollte, rückte Pauls Gesicht in sein Blickfeld. „Hier irgendwo müsste der Garten sein“, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. Seine gut gelaunte Stimmung verwirrte Ade dermaßen, dass er den Feuerteufel darüber ganz vergaß. Hatte Paul denn die Beleidigungen der Jugendlichen nicht gehört? Ade drehte sich zu ihnen um und sah sie gerade noch ihre Zigaretten fortschmeißend aus dem Dickicht klettern. Das Husten des Zweiten hörte er aber noch eine ganze Weile. „Seltsam“, meinte Paul und betrachtete die graue Wand. Die beiden Freunde standen zwischen verwachsenen Büschen und hohen Eschen. Hinter ihnen, von wo aus man den Fluss rauschen hörte, fiel das Gelände ab. Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Mauer, die vermutlich bis zur anderen Seite des Schulrückgebäudes reichte. 23 „Dahinter muss der Garten liegen“, sagte Ade. Er blickte nach oben und sah die verfärbten Kastanienblätter über das hohe, mit Eisenzacken versehene Mauerdach ragen. „Irgendwo muss doch ein Eingang sein“, entgegnete Paul und ging an der Mauer entlang Richtung Turnhalle. Ade folgte ihm. Der Weg dorthin war schwer zu begehen, denn die Büsche, die Stauden und die kleinen Bäumchen standen dicht nebeneinander. Es galt manchmal, Umwege zu gehen oder über kleinere Büsche zu springen. Am Rand der Mauer wuchsen brusthohe Brennnesseln, die im Wind schaukelten. Kommt nur her, kommt nur her, wir verbrennen euch, schienen sie zu flüstern. Während die beiden sich durch das Dickicht kämpften, hörten sie aus dem Garten immer wieder das lärmende Aufschlagen der Kastanien. Bumm! Knack! Wenn der Herbstwind heftiger blies und sich zum Brausen des Flusses, zum Säuseln der Brennnesseln und zum Knacken der Kastanien auch noch das tosende Rauschen der vielen Baumkronen mischte, überzog die Buben eine Gänsehaut. Mit einem Mal erschien ihnen der Ort gespenstisch, so einsam und dennoch laut, wie er war. „Stopp!“, rief Paul plötzlich und Ade folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Finger. Er deutete auf ein kleines Tor, das von den Brennnesseln beinahe ganz verdeckt wurde. Die beiden gingen darauf zu. Als sie direkt davor standen, drückte Paul die Brennnesseln mit seinem Schuh zur Erde nieder. Das Tor schien sehr alt zu sein. Sein massives Holz, aus dem es gefertigt war, hatte über viele Jahre hinweg gearbeitet und tiefe Unebenheiten darin hinterlassen. Ein rostiger Knauf saß auf der Holzfläche wie eine rote Nase in einem mund- und augenlosen Gesicht. „Bingo!“, sagte Paul grinsend und griff nach dem Knauf. Ade sah gebannt zu, wie sein Freund an diesem drehte ... Doch das Tor öffnete sich nicht. „Ist wohl abgeschlossen“, warf Ade enttäuscht ein. „Was heißt da abgeschlossen?“, fragte Paul und musterte das Tor mit einem Stirnrunzeln. „Da ist doch überhaupt kein Schlüsselloch!“ Als die Buben unbefriedigt an der anderen Gebäudeseite, sprich, an der Turnhalle ankamen, klopfte Paul seinem kleinen Freund auf die Schulter. „Tut mir Leid,“ sagte er, „der Ausflug hat sich wohl nicht gelohnt.“ Plötzlich aber hielt er inne. „Obwohl ...“ Er betrachtete den orangefarbenen Kiesbehälter an der Hinterseite der Turnhalle. „Schau mal,“ sagte er, während er unbeholfen auf diesen zu klettern begann, „von hier aus kann man unsern Mädchen beim Sporteln zuschauen!“ „Ach, komm“, entfuhr es Ade, ehe er sich beherrschen konnte. Er hatte bei dem Wort „Obwohl“ schon Hoffnungen gehegt. Seinen Mitschülerinnen beim Turnen zuzuschauen, interessierte ihn überhaupt nicht. 24 „Jetzt komm schon! Sieh dir das an!“, rief Paul von oben. Seine Stimme klang begeistert. Alle geschäftsmäßige Beherrschtheit war verflogen. „Es hat doch wirklich etwas für sich, dass wir an verschiedenen Tagen Sport haben!“ Die Buben der 6a hatten nämlich am Dienstag nach der sechsten Stunde, die Mädchen am Freitag nach der vierten Stunde Sport. Dementsprechend flöteten die Mädchen jeden Dienstag den Buben zu, was sie nachmittags noch alles erledigen würden, während die Buben laut mit ihrem verlängerten Wochenende prahlten. Ade wollte kein Spielverderber sein. Deshalb kraxelte er ebenfalls auf den Kiesbehälter. Als er aber durch die dicken Scheiben spähte, eröffnete sich ihm ein eigenartiges Szenario. Die Mädels standen auf die gesamte Turnhalle verteilt, jedes etwa zwei Meter vom anderen entfernt. Alle trugen sie ein weißes Top und eine dunkle Sporthose. Alle hatten sie Keulen in der Hand, die sie in einheitlicher Perfektion nach oben und unten kreisen ließen. Ade gruselten diese synchronen Bewegungen. Aber er hätte nicht sagen können, warum. * 25 „Willst du noch einen Nachschlag? Ein bisschen Pizza wäre noch da“, sagte Ades Mutter an Paul gewandt. „Sehr gern“, antwortete der. An seinen Mundwinkeln klebte Tomatensoße, was seinen Mund fast doppelt so groß aussehen ließ. „Ich hol sie schon!“, sagte Ade, als seine Mutter aufstehen wollte, und ging in die Küche. Wie ungewohnt dieses Bild war, dachte er, als er mit dem Pizzastück ins Wohnzimmer zurückkehrte. Paul wirkte so riesig, wie er dort am Tisch Ades zierlicher Mutter gegenübersaß. „Und wo wollt ihr heut noch hingehen?“, fragte sie, während Paul glückselig in seine Pizza biss. „So’n bissel von Tür zu Tür“, antwortete Ade. „Süßigkeiten abstauben“, nuschelte Paul an seinem zerkauten Pizzaklumpen vorbei. Es war Halloween. Draußen dunkelte es und man konnte von der kleinen Wohnung aus bereits die ersten Kinderbanden durch die Straßen ziehen sehen. Dieses Treffen mit gemeinsamer Übernachtung hatte Paul organisiert. Schon am Vormittag war er in Ades Wohnung erschienen, um seine Pläne mit ihm zu teilen. „Jeder von uns hat also drei Kostüme“, hatte er erklärt, während er mit übergeschlagenen Beinen auf Ades Schreibtischstuhl gehockt war. „Nachdem wir eine größere Runde durch die Nachbarschaft gedreht haben, ziehen wir uns um und gehen nochmals zu denen, die freigiebig waren. Dann machen wir eine kurze Verschnaufpause und besuchen hernach in der dritten Verkleidung diejenigen, die auch beim zweiten Besuch noch freigiebig waren. Das ist der ultimative Abstaubzirkel.“ „Und als was verkleidet ihr euch dann?“, fragte Ades Mutter, nachdem Paul aufgegessen und sein Gesicht mit einer Serviette gereinigt hatte. „Einmal als Zombies, einmal als Vampire und einmal als Werwölfe“, entgegnete Paul in einem Tonfall, der keinen Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Pläne zuließ. Man hörte dem Buben an, dass er das Verhältnis zwischen dem Aufwand und den potenziellen Einnahmen seines Vorhabens schon hundertfach abgewogen hatte. Ades Mutter schien von Paul und seiner Art nicht weniger fasziniert zu sein als Ade. Die dreiviertel Stunde, in der die drei um den kleinen Stubentisch herumsaßen, füllte der dicke Bub fast ausschließlich mit seinen Erzählungen, Ansichten und Zukunftsplänen, während die anderen mal auflachend, mal staunend lauschten. „Wenn ihr wieder da seid, können wir ja noch ein bisschen Karten spielen“, bot die Mutter den beiden an, als sie sich im Hausgang von ihr verabschiedeten. Pauls Abstaubzirkel stellte sich in der Tat als Erfolg heraus. Ade glaubte zwar, skeptische Blicke in den generösen Gesichtern der Hauseigentümer oder Mieter entdeckt zu haben; immerhin war erst ein kleiner und ein großer dicker Zombie, dann ein kleiner und ein großer dicker Vampir und schließlich ein kleiner und 26 ein großer dicker Werwolf vor der Tür erschienen. Dennoch war das Ergebnis beachtlich. Gegen elf Uhr nachts stauten sich in Pauls Jutesäckchen die wunderbarsten Süßigkeiten. Lutscher, Lakritzschnecken, Gummibärle, Schokoriegel, Überraschungseier, Kaugummis, Guzzis, Butterkekse, Brausepulver und allerlei bunt verpackter Konfekt. Die beiden Freunde waren bester Laune. Ade hatte zwar kurzzeitig befürchtet, den schönen Abend platzen zu sehen, als er während der Tour glaubte, Justin, Mo und Franz zu begegnen. Weil sie aber in weiße Laken gehüllt waren, konnte er dies nur anhand ihrer Stimmen vermuten. Gott sei Dank, so dachte Ade, waren auch Paul und er zu diesem Zeitpunkt verkleidet und damit anonym gewesen. „So und daheim teilen wir die Süßigkeiten auf“, beschloss Paul. Dies schien ihm ein wichtiger Punkt auf seiner Tagesliste zu sein. Ein Punkt, den er wohl oder übel abarbeiten musste. „Halbe, halbe“, fügte er hinzu und Ade erkannte, wie schwer seinem Freund diese Worte fielen. „Ich brauche nicht so viel“, antwortete Ade. „Wenn du mir ein paar Lakritzschnecken und was von dem Brausepulver gibst, langt das schon.“ „Nein, das kommt nicht in Frage!“, erwiderte Paul energisch. Dennoch konnte man ein hoffnungsvolles Glitzern über seine Augen huschen sehen. „Aber so richtig gegruselt haben wir uns jetzt nicht“, meinte Ade. Im Grunde hatte er auch gar keine Lust, sich zu gruseln, doch er wollte noch nicht heimgehen. „Warum sollten wir uns auch gruseln?“ „Na, gehört das nicht zu Halloween dazu?“ Paul überlegte. Ade betrachtete seinen Freund. Es gefiel ihm, wie dieser dastand mit seinem vom fahlen Mondlicht bläulich verfärbten Haar. Wie er grübelte, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Ade wusste, dass Paul am liebsten gleich nach Hause gegangen wäre und die Beute aufgeteilt hätte. Dann hätte er bis zum Schlafengehen seinen Teil der Beute versonnen anstarren oder bereits damit beginnen können, ihn aufzuschlecken. Aus Freundschaft, aus ehrlicher Freundschaft tat er das nun nicht. Zumindest nicht sofort. „Naja,“ sagte Paul langsam und starrte zum Gymnasium hinauf, das sich hinter der nächsten Häusersiedlung in den dunkelblauen Himmel erhob, „wir könnten ja nochmal zum verborgenen Garten schauen ...“ Ade versteinerte. Das wäre ja wirklich gruselig! „Wir könnten versuchen, eine Räuberleiter zu machen, um wenigstens mal hineinschauen zu können“, fügte Paul hinzu. „Es ist ja einigermaßen hell heut Nacht.“ Wenngleich es Ade bei dem bloßen Gedanken daran schon schauderte, reizte ihn doch die Vorstellung, dem Geheimnis des Gartens gemeinsam mit seinem Freund auf die Schliche zu kommen. Er war ja nicht blöd. Er wusste, dass solche Erlebnisse zwei Menschen sehr fest zusammenschließen können. Um der 27 Freundschaft und seiner Neugier willen stimmte er dem Vorhaben also zu und ignorierte seine Gänsehaut. Auf dem Weg zur Turnhalle rief er seine Mutter an, die ihm eigens dafür ihr Handy mitgegeben hatte. Sie erlaubte den Buben, sich über die Mitternacht hinaus draußen herumzutreiben, nachdem Ade ihr verkündet hatte, dass Paul schon fast vierzehn Jahre alt war. Überdies schien auch sie den neuen Freund ihres Sohnes als dessen Beschützer anzuerkennen. „Hat sie dir denn kein schlechtes Gewissen machen wollen?“, fragte Paul, nachdem Ade austelefoniert hatte. „Nein. Wieso?“ „Ja, sie wollte doch noch mit uns karteln, oder?“ „Das können wir doch wann anders auch noch“, entgegnete Ade. Daraufhin verstummte Paul. So gingen sie wortlos nebeneinander her, bis sie an der Turnhalle ankamen. Die Welt hatte sich in den letzten Wochen enorm abgekühlt. In dieser Nacht zwischen Halloween und Allerheiligen erfüllte das Licht eines abnehmenden Mondes den wolkenlosen Himmel. Als die heftigen Herbstwinde für Sekunden ausblieben, konnte man das feuchte Laub am Boden knistern hören, wenn Regenwürmer die Blätter in ihr Erdreich zogen. Neben dem riesigen Quader der Turnhalle stehend lauschten die zwei Freunde abwechselnd auf das zarte Knistern und das tosende Rauschen. Das Dickicht vor ihnen lag in einem weißen Nebel, der vom Fluss her kriechend einen Busch nach dem anderen verschluckte. Als der stachelige Fruchtkörper eines Kastanienbaums auf den Asphalt krachte, fuhren die Buben in sich zusammen. „Na, ist es dir jetzt gruslig genug?“, fragte Paul. Er lächelte, aber sein Brustkorb bebte. Ade nickte. Die Lust, in das nebelumwobene Gesträuch zu klettern, hatte sich in den letzten Minuten stark verringert. „Also, dann“, meinte Paul und versuchte, seine Stimme locker klingen zu lassen, „hinein ins Abenteuer!“ Damit stieg er ins Gestrüpp. Ade blickte ihm nach, nicht fähig, sich zu rühren. Als sein Freund aber in Nebel und Dunkelheit zu verschwinden drohte, befreite er sich aus seiner Erstarrung und eilte ihm nach. Minutenlang kämpften sich die beiden durch das wilde Unterholz, während hervorspringende Äste ihre Arme zerkratzten. Sie gingen an der Mauer entlang auf der Suche nach einer Stelle, wo keine Brennnesseln waren. Der Vorteil war, dass sie auf diese Weise den Weg nicht verloren. Der Nachteil, dass sie hin und wieder die zischelnden Brennnesseln berührten. Doch all diese Schmerzen hielt Ade aus. Was er hingegen kaum ertrug, waren die sich auftürmende Dunkelheit, das laute Rauschen und Knacken und der dumpfe Nebel, der wie ein Kopfkissen alles unter sich zu ersticken suchte. Auch Paul schien sich zu fürchten. Als in den Wipfeln über ihnen ein Rabe laut schrie, stöhnte sein Freund vor Schrecken auf. 28 „Ich glaube, ich hab mich seit Jahren nicht mehr gegruselt!“, erklärte er Ade nach einer Sekunde des Luftholens. Ich mich schon, dachte Ade. Es war ihm aber nicht nach Reden zu Mute. Er nickte nur. Im selben Moment erkannten die Buben das kleine Tor. „Vielleicht könnten wir es auftreten“, überlegte Paul. „Eine brennnesselfreie Stelle für eine Räuberleiter scheint es sowieso nicht zu geben.“ Ade ergriff den Knauf. Er wollte daran rütteln, um festzustellen wie fest das Tor in den Angeln saß. Es knackte, als er das rostige Metall drehte. Dann quietschte es und ... Das Tor öffnete sich! * 29 Ende der Leseprobe von: Der Pakt mit dem Feuerteufel Lukas Wolfgang Börner, Sabrina Börner Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1H15qSe
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