AKUTES ODER CHRONISCHES MIT TEL Ebenso wie es akute und chronische Krankheiten gibt, gibt es in unserer Materia Medica Akutmittel, die begrenzt und oberflächlich wirken; und chronische Mittel, die eine sehr tiefe, langanhaltende und ausgeprägte Wirkung haben. Akute Krankheiten und Verstimmungen werden mit Akutmitteln behandelt, wohingegen chronisch miasmatische Krankheiten nur mit Hilfe von chronischen, tief-wirkenden und breitgefächerten Mitteln entwurzelt werden können. Für schnelle und heftige Leiden wie Cholera oder Sonnenstich, benötigen wir jedenfalls schnellwirkende Mittel wie Veratrum album und Glonoinum. Chronisch miasmatische Krankheiten und Leiden, deren Ursprung Psora, Sykose oder Syphilis sind, können mit Hilfe von tiefwirkenden anti-miasmatischen Mitteln wie Sulphur, Thuja und Mercurius geheilt werden. Offensichtlich benötigen wir Mittel, die so tief und umfassend wirken wie die Krankheit, der wir gegenüberstehen. Weder können begrenzt, oberflächlich und kurz wirkende Mittel chronische und tiefsitzende Krankheiten heilen, noch benötigen akute, oberflächliche und begrenzte Krankheiten tiefe, anti-miasmatische, breitgefächerte Mittel. Ein wahrer Homöopath geht nicht mit einer Schrotflinte auf Löwenjagd und er schiesst auch nicht mit dem Gewehr auf Spatzen. Wenn wir die Materia Medica studieren, sollten wir das im Auge behalten: passt das Mittel bloss auf akute, oberflächliche Störungen oder ist es in der Lage tief sitzende miasmatische Krankheiten zu heilen. Selbst Kent, einer der intelligentesten und fähigsten Homöopathen, gibt zu, dass er Asthma für unheilbar 33 hielt, als ihm noch nicht bewusst war, dass es sich dabei um eine Manifestation der Sykose handelt. Als er den Zusammenhang erkannte und er seinen Patienten mit Asthma grosse antisykotische Mittel wie Thuja, Medorrhinum und Natrium sulfuricum verschrieb, wurden sie geheilt. Um aber die Symptome der Miasmen in der Materia Medica zu erkennen und zu wissen, welches Symptom zu welchem Miasma gehört, müssen wir uns erst einmal mit der detaillierten Symptomatologie der Miasmen vertraut machen. Wir können die Beziehung zwischen Mittel und Miasma nicht erfassen, wenn wir nicht wissen, welches Miasma welche Art von Symptomen und Krankheitszuständen hervorbringt. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, neben den Rubriken der miasmatischen Mittel im Repertorium, die ausführlichen Symptome zusammen mit der Tabelle in S.K.Banerjeas Buch “Miasmatische Diagnosen” sorgfältig zu studieren. Ein sehr gutes Buch zu diesem Thema ist auch “Die Reise einer Krankheit” von dem erfahrenen zeitgenössischen Homöopathen Dr. Mohinder Singh Jus. Es vermittelt einen Einblick in miasmatische Krankheiten und beschreibt die Komplikationen, die durch Unterdrückung von Symptomen auftreten können. Die Beziehung zwischen Mittel und Miasma ist ein wichtiger Faktor, ausschlaggebend für die Auswahl eines Mittels sind letztendlich aber immer die Symptome. Ebenso ist es nicht obligatorisch, ein oberflächliches und lokal wirkendes Akutmittel in einem Akutfall zu verordnen; denn wenn Symptome eines tief wirkenden Mittels bei einer akuten Krankheit vorhanden sind, müssen wir das tiefwirkende Mittel verschreiben. In unserer Materia Medica gibt es einige Mittel, die 34 Symptome von akuten und chronischen Krankheiten haben, wie Arsenicum, Lachesis und Mercurius solubilis. Wenn bei einer akuten Krankheit Symptome eines tiefwirkenden miasmatischen Mittels auftreten, wird die Krankheit durch dieses Mittel geheilt werden, denn es ist stärker als die Krankheit. Aber: tief sitzende, miasmatische, chronische Krankheiten können niemals durch ein akutes, oberflächliches und lokal wirksames Mittel geheilt werden. Wenn das Individuum mit einem Miasma infiziert ist, dann ist das Miasma in allen Geweben, in jeder Nische des Organismus. Es ist so unstofflich wie die Lebenskraft und befällt den ganzen Körper. Wenn ein Mensch daran erkrankt ist, wie kann er durch ein Mittel geheilt werden, das nur begrenzt auf einige Organe oder Körperteile wirkt? Wenn ein kleines, schwaches Teil nicht ein grösseres und stärkeres Teil überwinden oder aufhalten kann, wie soll dann ein kleineres und schwächeres (akut wirkendes) Mittel eine grosse und schwere miasmatische Krankheit besiegen? Hahnemann schreibt in §103: “Auf gleiche Weise wie hier von den epidemischen, meist acuten Seuchen gelehrt worden, mussten auch von mir die, in ihrem Wesen sich gleichbleibenden miasmatischen, chronischen Siechthume, namentlich und vorzüglich die Psora, viel genauer als bisher geschah, nach dem Umfange ihrer Symptome ausgeforscht werden, indem auch bei ihnen der eine Kranke nur einen Theil derselben in sich trägt, ein zweiter, ein dritter u.s.w. wiederum an einigen andern Zufällen leidet, welche ebenfalls nur ein gleichsam abgerissener Theil aus der Gesammtheit der, den ganzen Umfang des einen und desselben Siechthums ausmachenden Symptome sind, so dass nur an sehr vielen einzelnen dergleichen chronischen 35 Kranken, der Inbegriff aller, zu einem solchen miasmatischen, chronischen Siechthume, insbesondere der Psora gehörigen Symptome ausgemittelt werden konnte, ohne deren vollständige Übersicht und Gesammt-Bild die, homöopathisch das ganze Siechthum heilenden (namentlich antipsorischen) Arzneien nicht ausgeforscht werden konnten, welche zugleich die wahren Heilmittel der einzelnen, an dergleichen chronischen Übeln leidenden Kranken sind.” (HAHNEMANN, S.182) So sollten wir immer daran denken, dass chronisch miasmatische Kopfschmerzen nicht durch oberflächliche Arzneien wie Belladonna oder Gelsemium geheilt werden können. Sie müssen mit tief-wirkenden, antimiasmatischen Mitteln wie Natrium muriaticum oder Silicea geheilt werden. Nicht Euphrasia, sondern grosse Mittel wie Argentum nitricum, Mercurius oder Phosphor heilen chronisch miasmatische Augenentzündungen. Die meisten Anfänger verschreiben jedem Patienten, der das Symptom ‘Angst vor Tod’ hat, Aconitum. Tritt dieses Symptom jedoch bei einem chronisch miasmatischen Patienten auf, benötigen wir mit Sicherheit antimiasmatische Mittel wie Arsenicum oder Argentum nitricum etc. 36
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