Einführung in die Literaturwissenschaft

Einführung in die
Literaturwissenschaft
5: Autorschaft und sprachliches Handeln
Themenübersicht
• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen
sprachlichen Äußerungen?
• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug
sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?
• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?
• Narration: Wie entstehen Geschichten?
• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift
Schreiben in Wirklichkeit ein?
• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich
Literatur auf andere Texte / andere Medien?
›Stimme‹ als Erzählkategorie: Sprechen als
Handeln
Edgar Lee Masters’ »Spoon River Anthology« läßt nicht nur ein ›Ich‹
zu Worte kommen, sondern viele. Die Frage Wer spricht? ist für jedes
seiner Gedichte anders zu beantworten. Dabei bildet der Name des
jeweiligen Ich zugleich den Titel des Gedichts – hier: »Photograph
Penniwit«. In einem Anhang zum Gedichtzyklus findet sich ein
alphabetischer Index aller Namen, den man nutzen kann wie ein
Telefonbuch, um zu erfahren, wie man die einzelnen Stimmen
erreichen kann. Jede dieser Stimmen handelt, indem sie spricht.
Im vorliegenden Fall werden die Wirkungen der Worte »Die Klage wird
abgewiesen!« auf der Photographie festgehalten. Es wird geradezu
sichtbar gemacht, dass das Sprechen hier als Handeln fungiert.
Dabei zitiert das Gedicht zugleich Verhaltensweisen vor Gericht. Ein
Gerichtsverfahren besteht im wesentlichen aus sprachlichen
Handlungen: anklagen, verteidigen, Einspruch erheben, bezeugen,
urteilen...
Erzählen und Handeln
Genettes Unterscheidung von Geschichte (histoire),
Erzählung (discours) und Narration läßt sich
dementsprechend folgendermaßen umschreiben:
Geschichte
= erzählte Handlung
Erzählung
= Erzählen der Handlung
Narration
= Erzählen als Handlung
Beispiel für Narration bei Masters:
Photograph Penniwit stellt sprachlich eine
Momentaufnahme von seinem Leben her.
›Kalte‹ und ›heiße‹ Zeichensysteme
Bezogen auf diese Handlungsdimension nicht nur von Narrationen,
sondern von sprachlichen Äusserungen überhaupt unterscheidet Koschorke in seiner ›Allgemeinen Erzähltheorie‹ zwischen ›kalten‹ und
›heißen‹ Zeichensystemen. Dabei geht es um die Frage, in welchem
Maße sich Zeichen auf bezeichnete Objekte verändernd auswirken.
»Zwei einfache Beispiele mögen das veranschaulichen. Die Mineralogie kann als ›kaltes‹ Zeichensystem gelten, weil es Steine unbeeindruckt lässt, wie sie von Menschen genannt werden. Zwar bleibt auch
hier das klassifikatorische Raster – wie jede Form von Sprache –
konstitutiv für die Ordnung der Gegenstände […]. Aber diesseits dieser
[…] Grundgegebenheit besteht in der Gesteinskunde keine Interferenz
zwischen Zeichen und bezeichneten Objekten.
Ganz anders etwa der Zeichenverkehr an der Börse. Hier wirken sich
Beschreibungen unmittelbar oder mit geringer Verzögerung auf die beschriebenen Phänomene aus. Es ist möglich, die Insolvenz einer Firma
zu behaupten und dadurch herbeizuführen, Kursgewinne zu prognostizieren und [sie] so zu erzeugen.« (Koschorke, Wahrheit und Erfindung,
S.134f.)
John L. Austin: »How to do things with words«
Der Philosoph John L. Austin (1911-1960) ist der
Begründer der sogenannten Sprechakttheorie.
Austin geht von der Beobachtung aus, dass sprachliche
Äußerungen nicht in jedem Fall ›Aussagen‹ oder
›Feststellungen‹ sind, sondern dass sie zu einer anderen
Kategorie von Sätzen gehören können, bei der es darum
geht, mit Worten Handlungen zu vollziehen.
Entsprechend unterscheidet Austin zwischen konstativen
und performativen Äußerungen (von to perform,
vollziehen).
Austin: »How to do things with words«
Als Beispiele für performative Äußerungen führt Austin an
(S. 28f.):
a. »Ja (sc. ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)«
als Äußerung im Laufe der standesamtlichen Trauung.
b. »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen
Elizabeth‹« als Äußerung beim Wurf der Flasche
gegen den Schiffsrumpf.
c. »Ich vermache meine Uhr meinem Bruder« als Teil
eines Testamentes.
d. »Ich wette einen Fünfziger, daß es morgen regnet.«
Austin: »How to do things with words«
»Jeder würde sagen, daß ich mit diesen Äußerungen etwas
Bestimmtes tue (natürlich nur unter passenden Umständen);
dabei ist klar, daß ich mit ihnen nicht beschreibe, was ich tue,
oder feststelle, daß ich es tue; den Satz äußern heißt: es tun.
Keine der angeführten Äußerungen ist wahr oder falsch; ich
stelle das als offenkundig fest und begründe es nicht. Eine
Begründung ist genauso unnötig wie dafür, daß ›verflixt‹ weder
wahr noch falsch ist. Möglicherweise dient die Äußerung
jemandem zur Information; aber das ist etwas ganz anderes.
Das Schiff taufen heißt (unter passenden Umständen) die Worte
›Ich taufe‹ usw. äußern. Wenn ich vor dem Standesbeamten
oder am Altar sage ›Ja‹, dann berichte ich nicht, daß ich die Ehe
schließe; ich schließe sie.« (S. 29)
Bedingungen von Sprechakten
Immer wieder betont Austin, dass der Vollzug von Sprechakten
von bestimmten Begleitumständen abhängig ist:
»Das Äußern der Worte ist gewöhnlich [...] ein entscheidendes
oder sogar das entscheidende Ereignis im Vollzug der Handlung,
um die es in der Äußerung geht (des Wettens zum Beispiel);
aber es ist [...] immer nötig, dass die Umstände, unter denen die
Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren
Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der
Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere
Handlungen vollziehen – ob nun körperliche oder geistige
Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern.
Wenn ich ein Schiff taufen will, ist es zum Beispiel wesentlich,
daß ich dazu bestimmt bin. Wenn ich (christlich) heiraten will, ist
es wesentlich, daß ich nicht bereits mit einer noch lebenden Frau
verheiratet bin, [...] und so weiter.« (S. 31)
Spielregeln der Performanz
(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten
konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte
äußern.
(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen
Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf
welches man sich beruft.
(B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt
(B.2) und vollständig durchführen.
(Γ.1) Wenn [...] das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer
am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen
und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht
haben, sich so und nicht anders zu verhalten,
(Γ.2) und sie müssen sich dann auch so verhalten. (Austin, S. 37)
›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln
Über Wiederaufstieg und schnellen
Untergang des Grillparzer-Preises
»Wie jede Nation hat auch Österreich seine umworbenen Literaten:
Handke, Jelinek, Roth und wie sie auch alle heißen mögen. Und für diese
eigentlich auch eine Ehrung, den Grillparzer-Literaturpreis. Nachdem seit
1973 dessen Verleihung durch die österreichische Akademie der
Wissenschaften in Wien mangels Geldern eingeschlafen war, kam es 1990
anläßlich des bevorstehenden 200sten Geburtsjubiläums von Grillparzer
zu einer von Beginn an umstrittenen Wiederbelebung. Die Stiftung des
Hamburger Mäzens und Ehrensenators Alfred Toepfer stellte 210 000
Schilling für eine jährliche Dotierung bereit. Weder die braune
Vergangenheit des Ehrensenators, noch die Tatsache, daß die Gründung
seiner Stiftung damals von Nazipropagandaminister Goebbels mitbetrieben
worden war, stellte für das Grillparzer-Kuratorium ein Hindernis dar. Über
diesen Vorgang setzten heftige Diskussionen ein [...]. Schließlich bildete
sich eine Vereinigung von Preiskritikern, die seit 1992 unter dem Label
›Anonyme Aktionisten‹ firmierte.«
Über Wiederaufstieg und schnellen
Untergang des Grillparzer-Preises
»Kurz vor dem Zusammentreten der offiziellen Jury zur Nominierung eines
Preisträgers für 1993 erhielten mehrere Tageszeitungen sowie der ORF ein
Fax, das adressatenspezifisch einen jeweils unterschiedlichen prominenten
Literaten zum Auserwählten erhob und eine kurze Würdigung seines
Werkes enthielt. Es war in offiziösem Stil gehalten und mit dem Briefkopf
des an der Preisvergabe beteiligten Rektors der Wiener Universität
versehen. Gleichzeitig erhielten viele Autoren und Dichter entsprechende
Telegramme, die die Bitte um umgehende Bestätigung der Preisannahme
enthielten. [...] In den Kulturrubriken fast aller angeschriebenen Zeitungen
erschienen entsprechende Meldungen. Jede Region hatte ihren eigenen
Preisträger. Aufgrund der Vielzahl der Nominierten, der Bestätigungen einer
Preisannahme bzw. der öffentlichen Ablehnung des Preises durch mehrere
Autoren, kam es zu einer Vertagung der Preisverleihung. [...] Fortan legte
sich ein Mantel des Schweigens um den österreichischen Grillparzer-Preis.
Die für Januar geplante Festveranstaltung fiel aus, und nur eine
Strafanzeige gegen Unbekannt blieb übrig.«
(Aus: Luther Blissett/Sonja Brünzels: Handbuch der
Kommunikationsguerilla. Berlin, Hamburg, Göttingen 2001, S. 212-216)
›Verunglückte‹ Preisverleihung
›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln – ein
Akt der Subversion
Das Beispiel zeigt, dass verunglückte sprachliche Handlungen
dennoch Wirkungen zeigen können, dass sie dennoch
Handlungen sein können.
Was Austin als verunglückte performative Äußerungen
bezeichnet, kann sogar als ein planvolles Zuwiderhandeln
fungieren, in dem mit Absicht gegen geltende Regeln verstoßen
und damit eine bestimmte Wirkung erzielt wird – hier die
Verhinderung des Grillparzer-Preises.
Mit solchen ›unernsten‹, ›uneigentlichen‹ Formen sprachlichen
Handelns tut sich Austin im Rahmen seiner Theorie sehr schwer.
Sprachliches Handeln und Literatur
Austin schließt bestimmte sprachliche Äußerungsformen aus seinen
theoretischen Überlegungen aus:
»[P]erformative[] Äußerungen [sind] als Äußerungen gewissen [...]
Übeln ausgesetzt, die alle Äußerungen befallen können. [...] Ich
meine zum Beispiel folgendes: In einer ganz besonderen Weise sind
performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein
Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht
vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede
Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben.
Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte,
dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht,
und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das
gehört zur Lehre von der Auszehrung [etiolation] der Sprache. All das
schließen wir aus unserer Betrachtung aus. Ganz gleich, ob unsere
performativen Äußerungen glücken oder nicht, sie sollen immer unter
normalen Umständen getan sein.« (S. 43f.)
Sprachliches Handeln und Literatur
Mit seinem Ausschluss ›etiolierter‹ sprachlicher Formen, mit denen er
sich nicht befassen will, impliziert Austin im Grunde eine Theorie der
Literatur.
Einerseits ist literarische Rede ohne Zweifel eine performative
Äußerung: auf der Bühne wird etwas ›vollzogen‹.
Andererseits ist dieser ›Vollzug‹ seltsam ›unernst‹, uneigentlich. Die
literarische Rede funktioniert weniger als sprachliches Handeln denn
als Vorführung sprachlichen Handelns. Sie macht die Bedingungen
dieses Handelns, seines Glückens und seines Verunglückens, sichtbar.
Diese Sichtbarmachung findet sich beispielhaft in dem PhotographenGedicht von Masters. Der Photograph ruft unernst: »Die Klage wird
abgewiesen!« und der Jurist verzieht wie üblich sein Gesicht, das der
Photograph dann ablichtet.
Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?
Eine erste Antwort auf diese Frage kann lauten, dass
Schreiben insofern in Wirklichkeit eingreift, als sprachlichen
Äußerungen generell eine Handlungsdimension innewohnt.
Literarisches Schreiben scheint sich dabei aber durch
besondere Eigenschaften auszuzeichnen. Literatur vollzieht
nicht nur sprachliche Handlungen, sondern sie kann zugleich
auf die Bedingungen und die Beschaffenheit von Handlungen
aufmerksam machen. Literatur stellt sprachliches Handeln
gleichsam zur Betrachtung auf der Bühne aus - »Szenenwechsel« nennt Austin das. Man könnte in diesem Sinne auch
von der theatralen Dimension der Literatur sprechen.
Parekbase – das Heraustreten aus der Szene
Was Austin »Szenenwechsel« nennt, entspricht tatsächlich
einer bestimmten Theater-Praxis. Schon in der antiken
Komödie, bei Aristophanes, gibt es ein ›Neben-die-Szenetreten‹, die Parabase: Das ist, wenn der Chor das dramatische
Geschehen unterbricht und sich direkt an die Zuschauer
wendet – bis hin zu einer direkten Beschimpfung des
Publikums.
Um 1800 haben sich insbesondere die deutschen Romantiker
sehr für solche Praktiken interessiert. Friedrich Schlegel etwa
prägte den Begriff der Parekbase und bezeichnete damit das
»Heraustreten« aus der Szene, um den auf diese Weise
vollzogenen Bruch noch deutlicher zu machen.
Bei Ludwig Tieck lassen sich solche Verfahren gut beobachten.
Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater
Erster Akt. Erste Szene
Kleine Bauernstube. Lorenz, Barthel, Gottlieb. Der Kater Hinz liegt auf
einem Schemel am Ofen.
Lorenz: Ich glaube, daß nach dem Ableben unsers Vaters unser kleines
Vermögen sich bald wird einteilen lassen. Ihr wißt, daß der selige
Mann nur drei Stück von Belang zurückgelassen hat: ein Pferd, einen
Ochsen und jenen Kater dort. Ich, als der Älteste, nehme das Pferd,
Barthel, der nächste nach mir, bekömmt den Ochsen, und so bleibt
denn natürlicherweise für unsern jüngsten der Kater übrig.
Leutner, im Parterre: Um Gottes willen! hat man schon eine solche
Exposition gesehn! Man sehe doch, wie tief die dramatische Kunst
gesunken ist!
Müller: Aber ich habe doch alles recht gut verstanden.
Leutner: Das ist ja eben der Fehler, man muß es dem Zuschauer so
verstohlenerweise unter den Fuß geben, ihm aber nicht so geradezu
in den Bart werfen.
Müller: Aber man weiß doch nun, woran man ist.
Leutner: Das muß man ja durchaus nicht so geschwind wissen; daß man
so nach und nach hineinkömmt, ist ja eben der beste Spaß.
Schlosser: Die Illusion leidet darunter, das ist ausgemacht.
Barthel: Ich glaube, Bruder Gottlieb, du wirst auch mit der Einteilung
zufrieden sein, du bist leider der jüngste, und da mußt du uns einige
Vorrechte lassen.
Gottlieb: Freilich wohl.
Schlosser: Aber warum mischt sich denn das Pupillenkollegium [preuß.
Behörde zur Beaufsichtigung von Vormundschaftssachen, von lat.
pupillus=Halbwaise] nicht in die Erbschaft? das sind ja
Unwahrscheinlichkeiten, die unbegreiflich bleiben!
Lorenz: So wollen wir denn nur gehn, lieber Gottlieb, lebe wohl, laß dir
die Zeit nicht lang werden.
Gottlieb: Adieu. Die Brüder gehn ab.
Die Parekbase bei Tieck
Schon die erste Szene von Tiecks Gestiefeltem Kater ist von
einer immer erneuten Durchbrechung der Handlung gekennzeichnet, so dass das Geschehen als eine Bühnenhandlung
hervorgehoben wird.
Dadurch wird von vornherein die Illusion des dramatischen
Geschehens durchkreuzt und die Darstellungsverfahren
werden betont.
Die Handlung wird ihrer eindeutigen Zusammenhänge beraubt
(es ist von einer Erbschaft die Rede, die aufgeteilt werden soll –
doch ›in Wirklichkeit‹ gibt es gar keine Erbschaft usw.).
Zugleich wird eine Äquivalenz hergestellt zwischen Bühne
(Darstellern) und Parterre (Zuschauern): Alles ist Theater.
Diese Weise, Äquivalenzen herzustellen und so die poetische
Funktion zu realisieren, ist typisch für die Texte der Romantik.
Etiolierung oder
Was hat Literatur mit Spargel zu tun?
Literatur stellt eine ihrer eindeutigen Handlungszusammenhänge
beraubte, dekontextualisierte sprachliche Äußerung dar.
Austin umschreibt dies mit einer Metapher aus dem Gartenbau, der
»Etiolierung«. Etiolieren heißt: im Dunkeln oder bei zu geringem Licht
wachsen und dadurch ein nicht normales Wachstum (z.B. zu lange,
dünne, bleiche Stiele) zeigen. Das vielleicht bekannteste Beispiel
dafür ist Spargel, dessen lange, bleiche Triebe man durch künstlich
angehäufte Erdhügel erzeugt.
In der Literatur »etioliert« die Sprache: Literarische Sprache entsteht
gleichsam abgeschirmt vom ›Licht‹ eindeutiger Handlungszusammenhänge (vgl. auch Šklovskijs Begriff der ›Verfremdung‹).
Die Analogie mit dem Spargel zeigt: Solch ein ›abnormes Wachstum‹
ist nicht einfach nur negativ. Als ästhetische Praxis macht Literatur
sprachliches Handeln wahrnehmbar (›genießbar‹).
Der Fall Oskar Panizza
Aus einer psychiatrischen Krankenakte aus dem Jahre 1904:
»Oskar Panizza, Schriftsteller, geboren 12.11.1853 in Bad Kissingen,
stammt aus belasteter Familie. Onkel litt an partiellem religiösem Wahnsinn
und starb nach 15jährigem Irrenhausaufenthalt […]. Ein anderer Onkel
begieng in jugendlichem Alter Selbstmord. […] In der ganzen Familie
besteht prävalierende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser
Fragen. Mutter und Pazient schriftstellern. Pazient litt an den üblichen
Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, lernte sehr schwer lesen, zeigte
keine Begabung, hatte bei seinen Geschwistern den Beinamen ›der
Dumme‹, kam auf dem Gymnasium schwer vorwärts, war bei fruchtbarer
Phantasie und steter In-sich-Versunkenheit unfähig, die Notwendigkeit
einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu
begreifen, wandte sich vorübergehend der Musik zu und absolvierte endlich
in vorgerückten Jahren, 24 Jahre alt, das humanistische Gymnasium […].
Wandte sich nach absolviertem Gymnasium mit großer Liebe und Eifer dem
medizinischen Studium zu, […] promovierte 1880 mit summa cum laude«.
Der Fall Oskar Panizza
»Nach Absolvierung seiner militärischen Dienstpflicht als Unterarzt im
Militärlazaret […] ging Pazient […] nach Paris, besuchte aber nur wenige
Spitäler, sondern wante sich dem Studium der französischen Literatur,
besonders der dramatischen, zu«.
[...]
»Am 19. October griff Pazjent zu einem letzten […] Mittel. […] [Er] kleidete
sich bis aufs Hemd aus, benutzte die milde Witterung und lief Nachmittag
um 5 Uhr im Hemd durch die Sterneck-Maria-Josefa-Straße in die
Leopoldstraße, in der Absicht, abgefaßt und auf Geisteskrankheit
verdächtig in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort von
Sachverständigen untersucht zu werden […]. Ergriffen und in ein nächstes
Haus geführt, gab er dem herbeieilenden Schendarm einen falschen
Namen, Ludwig Fromman, Stenograf aus Würzburg, an. Es wurde ein
Sanitätswagen requirirt und Pazjent auf die Polizei gebracht, wo derselbe
nach kurzem Examen durch den Herrn Bezirksarzt, auf die Irrenstation des
städtischen Krankenhauses I/J überführt wurde.«
Die ärztliche Rede als konstative und als
performative Äußerung
Die zitierte Darstellung ist Teil einer aus psychiatrischer Sicht verfaßten
Krankengeschichte. Sprechakttheoretisch betrachtet handelt es sich
dabei zunächst um eine konstative Äußerung; es werden
Feststellungen getroffen.
All diese Feststellungen gehen jedoch in eine psychiatrische Diagnose
ein. Das heißt: Sie haben an einem sprachlichem Handeln teil, durch
welches der Patient entweder für gesund erklärt und aus der Anstalt
entlassen oder aber für geisteskrank befunden und interniert werden
wird. Insofern ist dieser Text zugleich als eine performative Äußerung
aufzufassen.
Konstative und performative Beschaffenheiten von Äußerungen
schließen einander nicht aus. Gerade die ärztliche Rede ist generell ein
Beispiel dafür, wie Feststellen (Symptome beschreiben, eine Krankheit
bestimmen etc.) und Handeln (einen Rat geben, etwas verordnen,
jemanden krank schreiben etc.) miteinander verbunden sein können.
Der »Pazjent« als »Psichjater«: ein Fall von
Fehlberufung
Bei der vorliegenden sprachlichen Äußerung, der Krankengeschichte
des Oskar Panizza, handelt es sich jedoch um ein verunglücktes
sprachliches Handeln.
Denn in diesem Fall sind Patient und Psychiater ein und dieselbe
Person. Panizza hat als ausgebildeter ›Irrenarzt‹ seine eigene
Krankengeschichte selber verfasst. Er bringt seine psychiatrische
Kompetenz ins Spiel, um für sich selbst den Nachweis der geistigen
Gesundheit zu erbringen. Dafür bedient er sich der üblichen
fachspezifischen Terminologie und befolgt die Regeln der ärztlichen
Anamnese (Fragen nach familiärer Vorbelastung, früheren
Erkrankungen und Auffälligkeiten usw.).
Es handelt sich dabei jedoch um eine Fehlberufung auf Konventionen,
weil der Patient niemals gleichzeitig der untersuchende Psychiater sein
kann.
Die Position des Dritten: der Autor
Der Fall Oskar Panizza ist aber nicht einfach nur ein weiteres Beispiel
für verunglücktes sprachliches Handeln, sondern er ist noch
komplizierter. Neben den einander ausschließenden Positionen des
Patienten und des Psychiaters, die Panizza in sich vereinen will, gibt es
noch eine dritte Position: die des Dichters.
In der Krankengeschichte des Patienten Panizza macht der Psychiater
Panizza sehr ausführliche Angaben über das schriftstellerische
Schaffen des Dichters Panizza.
Was wäre, wenn in diesem Text eines Patienten, der als sein eigener
Psychiater seine eigene Krankengeschichte protokolliert, tatsächlich
niemand anderes als der Dichter Panizza spricht?
Dann würde die sprachliche Äußerung nicht mehr mit den notwendigen
Rahmenbedingungen der Konventionen ärztlicher Rede kollidieren. Die
sprachliche Äußerung erschiene als dekontextualisiert.
Patient? Psychiater? Dichter?
»Im November 1903 begannen gegen den Pazjenten, der in absolutester
Zurückgezogenheit lebte, eine Reihe von Schikanen, die auf das
Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Detektivs schließen ließen. […]
Die Schikanen […] bestanden im Wesentlichen, unter Umgehung von
Kleinigkeiten, wie auslöschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins,
Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlösser (!!) in
rafinirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten
Pfeifereien, Molestirungen mit allen möglichen die Gehörsnerven
empfindlichst treffenden Instrumenten, die teils von einem Haus vis-à-vis in
der rue des Abesses, teils auf der Straße, ja sogar stellenweise im Wald [...],
wohin Pazjent regelmäßig jeden Sonntag sich begab, auf denselben
einwirkten. Daß es sich hier um keine Gehörstäuschungen handelte, ergab
der einfache Umstand, daß das Pfeifen in dem Augenblick verstummte, in
dem Pazjent die Ohren zuhielt, was sicher nicht der Fall gewesen wäre,
wenn dasselbe zerebralen Ursprungs gewesen wäre. Auch wurden jene
Pfeiferein, die Pazjent als gegen sich gerichtet ansah, […] von einwurfsfreien
Zeugen […] bestätigt.«
Die Position des Dritten: der Autor
Wenn angenommen wird, dass dies alles Äußerungen eines Dichters
sind – und nicht die eines Geisteskranken und/oder eines Psychiaters –,
dann handelt es sich um eine (in Austins Formulierung) ›unernste‹ Rede.
Es geht dann nicht mehr um ein bestimmtes sprachliches Handeln
(darum, Symptome hervorzubringen oder den Gesundheitszustand des
Patienten zu attestieren). Statt dessen geht es darum, die Art und Weise
eines solchen Handelns und die Bedingungen seines Gelingens oder
Scheiterns vorzuführen.
Die Konventionen sprachlichen Handelns – hier: des psychiatrischen
Urteilens – werden entautomatisiert (Šklovskij). An die Stelle dieses
Handelns tritt das Handeln des Dichters als Autor. Dabei scheint die
Instanz des Autors für die ihren Zusammenhängen entkleidete
sprachliche Äußerung einen neuen, eigenen Kontext zu bilden: Man
unterstellt ihr einen Sinn, allein insofern diese Äußerung auf einen Autor
zurückzuführen ist.
Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« (1969)
Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) hat diesen
Zusammenhang, dass einem Text besondere Sinnhaftigkeit beigemessen
wird, weil er einen Autor hat, als Autorfunktion bezeichnet.
»[D]er Autorname hat die Funktion, eine bestimmte Seinsweise des
Diskurses zu kennzeichnen. Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann
man sagen, ›das da ist von dem da geschrieben worden‹ oder ›ein
gewisser ist der Autor von...‹, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht
aus alltäglichen, gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die
vergehen, vorbeitreiben, vorüberziehen, nicht aus unmittelbar
konsumierbaren Worten, sondern aus Worten, die in bestimmter Weise
rezipiert werden und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut
erhalten müssen.« (S. 17)
Foucault: »Was ist ein Autor?«
Nach Foucault tritt die Autorfunktion nur bei bestimmten Gattungen
sprachlicher Äußerungen in Kraft.
»[M]an [könnte] sagen, daß es in einer Kultur wie der unseren eine
bestimmte Anzahl von Diskursen gibt, die die Funktion ›Autor‹ haben,
während andere sie nicht haben. Ein Privatbrief kann einen Schreiber
haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen
haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer
Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die
Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und
Funktionsweisen bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.« (S. 17f.)
Dadurch, dass ein Text einen Autornamen trägt, wird der kulturelle
Status dieses Textes verändert. Der Text erhält damit eine über
konkrete Verwendungszusammenhänge hinausgehende Bedeutung.
»Der Griffel Gottes«: Die Funktion des Autors
Wenn in Kleists Anekdote davon erzählt wird, dass nach
dem Einschlag eines Blitzes von dem Grabmal der Gräfin
von P. eine Anzahl von Buchstaben übriggeblieben ist, so
könnte man diese Überreste einfach für einen bloßen Zufall
halten.
Man könnte diese Überreste aber auch dem Wirken Gottes
zuschreiben. Man versieht dann gewissermaßen diese
Buchstaben mit dem Autornamen ›Gott‹, ›liest‹ sie
›zusammen‹ (»sie ist gerichtet!«) und erkennt darin einen
tieferen Sinn.
Genau dies ist die ›Funktion des Autors‹ im Sinne
Foucaults: Der Autorname verleiht dem Text einen
Bedeutungsindex (unabhängig davon, auf welche Weise
und durch wen er tatsächlich zustandegekommen ist).
Autorschaft und Literatur
Zu jenen Gattungen sprachlicher Äußerungen (»Diskurse«), die über
die Funktion Autor verfügen, gehören literarische Texte.
»›[L]iterarische‹ Diskurse können nur [...] rezipiert werden, wenn sie mit
der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext
befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu
welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem
Entwurf. Die Bedeutung, die man ihm zugesteht, und der Status oder
der Wert, den man ihm beimißt, hängen davon ab, wie man diese
Fragen beantwortet. Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des
ausdrücklichen Autorwillens uns der Text anonym erreicht, spielt man
sofort das Spiel der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns
unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat
heutzutage ihren vollen Spielraum in den literarischen Werken.« (S. 19)
Autorschaft und ›Einfache Form‹
Die enge Verbindung von Literatur und Autorschaft ist nicht in jeder
Kultur und zu allen Zeiten gegeben. In unserer Kultur ist sie erst im
17./18. Jahrhundert entstanden. Urheberrechte von Autoren etwa
existieren erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.
Zu früheren Zeiten hatten literarische Texte bestimmte
Verwendungszusammenhänge. Sie waren als sprachliches Handeln
nicht dekontextualisiert.
Ein Beispiel dafür sind Einfache Formen (Jolles) wie die Legende.
Legenden sind performative Äußerungen, insofern sie die Figur eines
oder einer Heiligen hervorbringen. Legenden haben keine
Autorfunktion.
Der Patient als Dichter/Autor? – Eine
weitere Fehlberufung
Die vorliegende Krankengeschichte als Äußerung eines Dichters, eines
Autors zu lesen, ist nur im Nachhinein möglich. Es handelt sich um eine
Zuschreibung, die wir nachträglich vornehmen.
Denn im Jahre 1904, zur Zeit seiner Entstehung, ist der Text nicht so
gelesen worden. Der Text ist nicht veröffentlicht worden, sondern man hat
ihn als Dokument einer Geisteskrankheit aufgefasst und ihn zum Teil
einer psychiatrischen Krankenakte gemacht.
Das ›Werk‹ eines ›Autors‹ ist ein Sprechakt, dessen Gelingen
paradoxerweise nicht von demjenigen abhängt, der die sprachliche
Äußerung tätigt. Das Glücken dieses Sprechaktes ist darauf angewiesen,
dass jemandem der Status des Autors zugeschrieben bzw. zugebilligt
wird.
Dies war für das vorliegende Beispiel nicht der Fall. Denn die Konvention
um 1900 lautete, dass ein Patient, der als geisteskrank gelten muss,
nicht Autor sein kann.
Der Autor und der Heilige – ein Vergleich
Das ›Werk‹ als Sprechakt glückt nur unter der Bedingung, dass
nachträglich eine Zuschreibung von Autorschaft stattfindet.
Für diesen paradoxen Vorgang gibt es eine anschauliche Analogie:
die Art und Weise, wie nach Jolles der Heilige im Zusammenhang
der Legende hergestellt wird.
Die Weise, wie ein Heiliger zustande kommt, zeichnet sich
dadurch aus, »daß er selbst so wenig daran beteiligt ist« (Jolles).
Zu einem Heiligen wird jemand, wenn nach seinem Tode
Legenden über ihn zirkulieren und er in einem komplizierten
rechtlichen Verfahren der Kanonisation von der Kirche zunächst
selig und dann heilig gesprochen wird.
Etwas Vergleichbares vollzieht sich bei der Zuschreibung von
Autorschaft (nach dem Muster »dieser Text ist von Shakespeare,
Goethe, Schiller« etc.). Diese Zuschreibung verleiht dem Text zwar
keinen Heiligenschein, aber gleichsam eine Aura von Sinn.
Protagonist – Erzähler – Autor
Bemerkenswert ist, dass gerade jene Texte über eine Autorfunktion
verfügen, die mehrere Subjektpositionen, mehrere ›Ich‹-Instanzen ins
Spiel bringen.
Zum Beispiel ist in einem Roman der Held, der ›ich‹ sagt, zu
unterscheiden von dem Erzähler, der ›ich‹ sagt, und weder Held noch
Erzähler sind mit dem Autor gleichzusetzen.
Auch die Krankengeschichte von Oskar Panizza ist für diese Vielheit
von Subjektpositionen ein Beispiel. Es gibt in dieser
Krankengeschichte, die Panizza selbst verfasst hat, das Ich des
Kranken und das Ich des Psychiaters; aber es gibt darüber hinaus,
wenn man den Text als einen literarischen Text liest, eine weitere
Stimme, die sich auf keine dieser beiden Positionen festlegen läßt,
sondern sie wiederholt und ›unernst‹ werden lässt, und die nicht mehr
an den konkreten Kontext der psychiatrischen Anstalt gebunden ist.
»Ego-Pluralität«
Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 22f.:
»Es ist bekannt, daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht
eines Erzählers, das Personalpronomen in der ersten Person, das
Präsens Indikativ, die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf
einen Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er
schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen
Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben Werk
auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man den Autor
beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher
suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in
dieser Trennung und dieser Distanz. […] Alle Diskurse mit der Funktion
Autor haben diese Ego-Pluralität. […] Die Funktion Autor wird nicht
durch eines dieser Egos […] gewährleistet auf Kosten der […] anderen,
die dann ja nichts weiter wären als dessen fiktive Verdoppelung. Im
Gegenteil muß gesagt werden, daß in solchen Diskursen die Funktion
Autor die Zersplitterung dieser […] simultanen Egos bewirkt.«
Edgar Lee Masters: »Theodore, the Poet«
Als Knabe, Theodore, saßest Du viele Stunden
Am Ufer des schlammigen Spoon;
Versunkenen Blicks starrtest du auf den
Eingang der Flußkrebshöhle,
Wartetest, ob er sich zeige,
Die schwankenden Fühler voraus,
Die strohhalmdünnen,
Und dann sein Körper, dunkel wie Saponit,
Mit Jettaugen besetzt.
Und Du fragtest dich in diesem traumhaften Sinnen,
Was er wohl wußte, was er wünschte und warum er überhaupt lebe.
Später dann prüfte dein Blick die Männer und Frauen,
Die sich in den Schicksalshöhlen inmitten der Städte verstecken,
Ob ihre Seelen sich zeigten,
So daß du sie sehen könntest –
Wie sie wohl lebten, wofür,
Und warum sie so geschäftig krochen
Über den sandigen Weg ohne Feuchte,
Wenn der Sommer vergeht.
»Theodore, the Poet«: das Gottesgeschenk
Von allen Gedichten der Spoon River Anthology ist »Theodore, the
Poet« das einzige, das nicht in der ersten Person geschrieben ist.
Der Dichter erscheint hier als der, der sich spaltet und sich selbst
anredet.
Das Gedicht widmet sich der Existenz des Dichters genau so, wie
dieser selbst wiederum in (allegorische) Betrachtungen des Daseins
der Flußkrebse und der Menschen versunken gewesen ist.
Der Grund des Dichter-Daseins ist rätselhaft, undurchschaubar; es
verdankt sich einem Anderen – es ist, wie das Dasein aller Wesen,
ein Gottesgeschenk (theos (griech.) = Gott; doron (griech.) =
Geschenk).
Zugleich erscheint Theodore als Sprechinstanz selbst wie die Stimme
Gottes. In der Figur der Prosopopoiia spricht er sich selbst Leben zu.
Masters' Gedicht stellt eine Konvention des Sprechaktes ›Dichtung‹
heraus: die »Ego-Pluralität« (Foucault).
Die Frage nach der ›Intention des Autors‹
als Komplexitätsreduktion
Wenn die Autorfunktion immer mit der Streuung verschiedener IchInstanzen einhergeht, dann ist die Vorstellung einer einheitlichen
begründenden Instanz namens ›Autor‹ imaginär. Sie ist eine
Konstruktion, beruht auf Zuschreibungen, die die Komplexität eines
Textes zu vereinfachen suchen.
In diesem Sinne ist die berühmte Frage »Was will der Autor uns damit
sagen?« eine Komplexitätsreduktion. Sie führt die komplexe Vielheit von
Instanzen, die sich in einem Text beobachten lassen, auf die Identität
eines Autors zurück. Die Suche nach einer ›Intention des Autors‹
versteift sich darauf, ein ›eigentliches‹ Ich finden zu können, von dem
die anderen, die im Text angezeigt werden, nur Spiegelungen sein
sollen. Ein solches ›eigentliches‹ Ich zu finden ist jedoch unmöglich.
»Wen kümmert‘s, wer spricht?«
Der ›Unernst‹, der ›spielerische‹ Charakter literarischer Texte, der
Austin so sehr irritiert, weil hier die eindeutigen Handlungsbezüge
fehlen, beruht gerade auf der Vielheit verschiedener Instanzen.
Es ist eine Besonderheit moderner literarischer Texte, die Illusion einer
einheitlichen Autorinstanz zu hintertreiben. Foucault zitiert in diesem
Zusammenhang einen Satz von Samuel Beckett: »Wen kümmert‘s, wer
spricht?«
Ein berühmter Aufsatz von Roland Barthes aus den 1960er Jahren
trägt den Titel: »Der Tod des Autors«. Damit ist natürlich nicht die reale
Existenz eines Schriftstellers in Frage gestellt, der einen Text zu Papier
bringt. Gemeint ist der Umstand, dass in den spielerischen Verfahren
neuerer Literatur die Instanz einer vermeintlich den Text
kontrollierenden Autorinstanz immer unkenntlicher wird.
Felicitas Hoppe: »Hoppe« (2012)
Der Roman Hoppe von Felicitas Hoppe ist dafür ein jüngstes Beispiel.
Erzählt wird darin das Leben der Schriftstellerin Hoppe, die damit
selbst zu einer Romanfigur wird.
Es wird zitiert aus ihren veröffentlichten Arbeiten und ihren
unveröffentlichten Texten, aus Tagebüchern und Briefen; aus
Aufzeichnungen von Familienangehörigen, Freunden, Menschen, die
sie gekannt haben, schließlich auch aus den Rezensionen zu ihren
Büchern und aus wissenschaftlichen Arbeiten über sie.
Dabei werden Zitate immer wieder von Anmerkungen unterbrochen,
die mit »fh« gekennzeichnet sind, was wiederum auf Hoppe verweist.
Alle Nachrichten aus dem Leben Hoppes werden damit unzuverlässig
und ungewiss. Zwischen Fakt und Fiktion lässt sich nicht mehr sicher
unterscheiden.
Felicitas Hoppe: »Hoppe« (2012)
»Es ist nicht die erste Station in Hoppes Lebensgeschichte,
in der Fiktion und Wirklichkeit eins werden. Wer sich
aufmacht, Hoppes phantastischen Wegen zu folgen, wird
immer wieder ähnliche Entdeckungen machen, nicht zuletzt
deshalb, weil die Autorin sich kaum die Mühe macht, ihre
Anspielungen künstlerisch anspruchsvoll zu verstecken,
sondern in der Regel dazu neigt, sie dem Text auf
unbedarfte Weise aufzupfropfen. Hoppe ist eine so
unbekümmerte wie produktive Ausbeuterin und Plagiatorin
des literarischen Fundus und hat daraus niemals ein Hehl
gemacht: ›Nichts‹, schreibt sie in ihrem kurzen Aufsatz
Abschreiben (2008), ›ist langweiliger als der ständige
Versuch, originell zu sein, weil er auf einem grundsätzlichen
Irrtum beruht, dem Glauben nämlich, in diesem ganzen
Gewirr und Gewimmel von allem, was da ist, der Erste zu
sein. Wer auf das Neue aus ist, hat schon verloren und
kommt bestenfalls bei der Zeitung unter‹. Es ist mehr als
offenkundig, dass die spätere Schriftstellerin […] nicht
aufschreibt, was sie erlebt, sondern lediglich erlebt, was
längst geschrieben steht, wie ein Reisebericht mit dem Titel
Auf dass die Schrift sich erfülle (1987) bestätigt, in dem
Hoppe ausführt:
›Seit ich Fox und Cater getroffen habe, stoße ich überall auf
Bekannte. Nur der, den ich wirklich suche (gemeint ist
offenbar ihr Vater, Karl Hoppe / fh), bleibt unauffindbar, weil
ihn bis heute niemand verschriftlicht hat. Soll das etwa
heißen, dass es ihn gar nicht gibt?‹« (S. 234f.)
»Hoppe«: Schreiben als Abschreiben
In Hoppes Spiel mit Hoppes Biographie werden die Ursprünge
unkenntlich oder lösen sich auf.
Autorschaft ist nicht mehr Urheberschaft. Sie ist eine Vorstellung, die erst aus dem Geschriebenen entsteht.
Die Spurensuche nach Hoppes Biographie persifliert die phantasmatischen Zuschreibungen von Autorschaft – Zuschreibungen, in denen das Spätere als das Frühere erscheint (die aus
dem Geschriebenen abgeleitete Autorschaft als der Ursprung
des Geschriebenen gilt).
Ironischerweise stößt diese Spurensuche auf eine Autorin, in
deren Äußerungen das Schreiben als Abschreiben und das
Leben selbst als Plagiat verstanden wird.
Autorschaft und sprachliches Handeln:
Resümee der Grundbegriffe
›kalte‹ und ›heiße‹ Zeichensysteme
Autorfunktion
Sprechakttheorie
Protagonist – Erzähler –
Autor
konstative / performative
Äußerungen
verunglückte Äußerungen:
Fehlberufung / Fehlausführung /
Missbrauch
Theatralität
Parekbase
Etiolierung
Literatur als ›dekontextualisierte‹
Äußerung
Ego-Pluralität
›Tod des Autors‹