Modulare Intelligenz in der Produktion

INDUSTRIEELEKTRONIK | TITELSTORY
Modulare Intelligenz in der Produktion
Die Realisierung von Industrie 4.0 benötigt neue Lösungen für Hardware, Software und Systemdesign. Insbesondere steigt der Bedarf an kompakten, robusten Lösungen, die dezentral Aufgaben im Feld übernehmen – von der Erfassung von Sensordaten über die Orchestrierung von
SPS-Systemen bis zur Kommunikation mit zentralen IT-Systemen.
TEX T: Lars Hohmuth, Harting BILD ER: Harting
Die ersten Konzepte zur Industrie 4.0 waren sehr stark auf
IoT ausgerichtet, wo jeder Sensor oder Aktor über IPv6 direkt
an die Steuerung und die Cloud angebunden ist.
Zunehmend stellt sich heraus, dass sowohl die Übermittlung der Datenmengen, die bei IoT anfallen, als auch ihre Verarbeitung nur schwer beherrschbar sind. Gerade im deutsch-
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sprachigen Raum gibt es auch Bedenken in Bezug auf Datensicherheit und Datenschutz. Dank zunehmender Modularität
und der Verlagerung von Aufgaben direkt an die Produktionsstelle können aber rasch umfangreiche Effektivitätsgewinne
erzielt und Lösungen erstellt werden, die sowohl selbst einen
hohen ROI darstellen, sich aber auch zukünftig in eine breitere
Industrie 4.0 Umgebung einfügen.
E&E | Ausgabe 9.2015
T I T E L S T O R Y | I N D U S T R I E E L E K T R O N I K
Ein komplett montierter robuster Industrierechner mit integrierter SSD auf Basis
der MICA-Plattform. Die Langzeitdatenerfassung kann mit dem Gerät direkt an
der Maschine erfolgen.
Im Folgenden betrachten wir einige Anwendungsfälle, die sich mit modularer Hardware und einer Kombination
von bewährten Software-Technologien aus dem Linux- und
Cloud-Bereich zukunftsfähig implementieren lassen.
hersagen der neuronalen Netze die Bestellung und Vorhaltung
der Ersatzteile zu optimieren.
Nachrüsten von Predictive Maintenance
Modulare Rechenleistung und Speicherplatz ist nicht nur
für Nachrüstung interessant, sondern kann auch für neue Maschinen einen enormen Mehrwert darstellen. In einem Fall
stellt ein mittelständischer Maschinenbauer zwischen 200 und
300 Anlagen pro Jahr her. Die Steuerungselektronik ist aber
nur in der Lage, bis zu 3 Tagen an Fertigungsdaten zu speichern. Speziell bei Einsatz im Ausland reicht im Fehlerfall diese
Zeit nicht aus, um ausreichend Daten für das Servicepersonal
vorzuhalten. Als Lösung kann hier ein modularer Computer
mit integrierter 512-GB-SSD eingebaut werden, der als Datenspeicher dient. Im Fehlerfall kann der Kunde den Zugriff auf
diesen Speicher freigeben, und der Hersteller mehrere Monate
oder Jahre von Daten zum Troubleshooting verwenden. Auch
können die Daten während normaler Servicebesuche ausgelesen, und zur Produktverbesserung verwendet werden.
Das rechtzeitige Erkennen von Wartungsbedarf ist eine der
schnellsten Wege, Produktionsanlagen und Maschinen effektiver und kostengünstiger zu betreiben. Da viele Maschinen eine
Lebensdauer von 15 bis über 30 Jahren haben hat ein großer
Teil des existierenden Maschinenparks aber weder die Rechenleistung noch die Speicherkapazität, um relevante Daten zu erfassen, zu speichern, und zu kommunizieren.
In einer Anwendung für Spritzgussanlagen wurden die
Werkzeuge mit RFID gekennzeichnet, der Strom während
der Schüsse durch einen induktiven Stromsensor gemessen,
und die Ergebnisse in einem kleinen, Linux-basierten Computer zusammengeführt, gespeichert, und weiterverarbeitet.
Im ersten Schritt wird nur eine Warnung ausgelöst, wenn sich
der Stromverbrauch ändert, was auf Probleme mit den Ventilen oder dem Drucksystem hindeuten kann. Schon hierdurch
werden die Austauschintervalle verlängert und Kosten gespart.
Nach einigen Monaten wird ein neuronales Netzwerk mit den
erfassten Daten trainiert und auf dem Computer installiert,
dass bessere Vorhersagen über die Lebensdauer erlaubt. Im
letzten Schritt werden die Computer aller Spritzgussmaschinen über SAP Mii an das ERP angebunden, um mit den Vor-
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Langzeitdatenerfassung zur Fehlerbehebung
Optimierung von Prozessen
Ein Kunde bestellt verschiedenste Steckverbinder. Diese
sollen in einem oder mehrere Kartons verpackt und versandt
werden. An diesem Vorgang sind beteiligt eine Waage, eine
SPS, welche die Verpackungsmaschine steuert und ein Etikett-Drucker. Im bisherigen Aufbau muss der Mitarbeitende
all diese Geräte einzeln bedienen, die Werte manuell in das
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Die modulare Elektronik in der Kombination für einen UHF-RFID-Reader,
bestehend aus RFID-Readermodul (links), CPU-Modul (mitte) und PoE-Modul
(rechts)
ERP eingeben, und Arbeitsanweisungen wie die Schweiß- und
Kühlzeiten manuell nachschlagen.
Durch die interne IT Beratung wurde innerhalb eines Monats ein modularer Computer am Verpackungsplatz montiert,
der alle diese Informationen zusammenfasst, und die Zwischenschritte automatisch ausführt. Der Mitarbeitende hat nur
noch eine Benutzeroberfläche in der alle Daten automatisch
von einem System zum nächsten weitergegeben werden. So
werden die Waagedaten über OPC UA an SAP Mii weitergegeben, die Arbeitsanweisung über JSON aus dem ERP geladen,
in STEP 7 übersetzt und in die SPS geladen. Die Anzahl manueller Arbeitsschritte wird reduziert und der Verpackungsprozess wird deutlich beschleunigt. In diesem Fall kann mit einer
Investition von ca. 80.000 Euro eine projektierte jährliche Einsparung von ca. 1,8 Millionen Euro erzielt werden. In weiteren
Schritten können durch zusätzliche Software sukzessive weitere KPIs erfasst und Prozesse optimiert werden.
Harting Mica
Für diese und viele andere interne und externe Projekte hat
Harting eine modulare Plattform aus Hard- und Software entwickelt, die optimal für diese Anwendungen ausgelegt ist.
Mica besteht aus einem Baukasten an Hardware Modulen
und Software-Apps. Mit diesem Baukasten kann der Kunde
sein individuelles Produkt per Konfiguration erstellen. Im
Unterschied zu einem Raspberry Pi oder Beaglebone ist die
Hardware robust, industrietauglich und in einem kompakten
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Aluminiumgehäuse inklusive industrieüblicher Steckverbinder verbaut. Dadurch muss Mica nicht in den Schaltschrank,
sondern kann direkt an die Maschinen oder Fahrzeuge montiert werden.
Das Innenleben der Mica besteht aus drei Platinen; eine
davon kann frei bestückt werden. Zum Beispiel werden so
RFID, WLAN, BLE, SSD-Speicher, oder Feldbusanschlüsse in
der Mica integriert, ohne den Formfaktor oder die Schutzart
zu verändern.
Software-Apps laufen in virtuellen, Linux-basierten Containern (Virtuellen Maschinen), die alle notwendigen Bibliotheken und Treiber für die jeweilige Anwendung enthalten.
Dadurch gehören Paketabhängigkeiten und Inkompatibilitäten der Vergangenheit an.
Mit der Containerarchitektur können Sensoren, Feldgeräte, und Geschäftsprozesse modular und transparent virtualisiert werden. Zum Beispiel kann ein über S0 angebundener
Sensor durch einen Container über IPv6 eindeutig adressiert
und in ein IoT eingebunden werden. Wird dieser Sensor durch
ein USB oder EtherCAT-Sensor ersetzt, muss nur der betreffende Linux Container ausgetauscht werden, der Rest des Systems läuft ohne Änderung weiter.
Schon vor dem offiziellen Produkt-Launch auf der SPS IPC
Drives am 24. November in Nürnberg wird Mica für eine Vielzahl von Projekten bei Harting und bei ausgewählten Partnern
eingesetzt. ☐
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