3. Tagträume - niklas

ISBN
1
1. Auflage 2007
Copyright by
Helmut Hippler
Email: [email protected]
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Tagträume
Kurze Geschichten zum Träumen
von Niklas Dreis
1985 bis 2004
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Vorwort
Ohne Träumen gibt es keine Realität - aber die Realität bestimmt die Träume. Diese beiden Thesen beziehen sich auf die
Tagträume. Das ist nicht etwa widersprüchlich, sondern so ähnlich
wie das mit dem Huhn und dem Ei.
Warum sollte es keine Realität ohne Träumen geben, werden
viele sofort beim Lesen der Zeilen einwenden, die Realität findet
schließlich auch dann statt, wenn wir als Individuum nicht daran
teilnehmen. Doch, wie kann man das wissen - woher nehmt ihr die
Sicherheit, das zu behaupten?
Unsere Welt setzt sich aus einem Interpretationsschema zusammen, das immer von jedem Einzelnen ausgeht. Die sogenannte Realität ist ausschließlich nur eine Beschreibung des Seins, die
jeder im Laufe seines Erwachsenwerdens anerzogen bekommt und
die er den Rest seines Lebens bestätigen muß, damit sie weiterhin
so erfahren werden kann wie sie erlernt wurde. Wer sagt denn und vor allem, wer kann beweisen - daß die Welt in dieser realen
Form weiter existiert, wenn wir für immer die Augen zumachen?
Noch ein Argument für die aufgestellten Thesen: Unser Bewußtsein ist eingepfercht im Prinzip des dualen Denkens. Um eine
Sache begreifen zu können, brauchen wir immer den entsprechenden Gegenpart. Das heißt, wenn wir von Realität sprechen, so
entsteht ein Verständnis dafür nur durch das gleichzeitige Wissen
vom Traum, den wir als Gegenstück zur Realität annehmen.
Selbst wenn jemand darauf bestehen möchte zu behaupten, er
würde überhaupt nicht träumen, so weiß er zumindest was damit
gemeint ist und kann sich deshalb weiterhin an seine so hochge5
schätzte Realität klammern.
In der Nacht wenn der Körper schläft und nicht vom Bewußtsein dominiert wird, versucht der unbeeinflußte Geist die unverdauten Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Zusätzlich fließen die
nicht behandelten Konflikte der Vergangenheit mit ein. Somit ist
das Träumen während des körperlichen Schlafes ein Reinigungsprozeß, den wir so annehmen und darauf reagieren können oder
verdrängen, um uns dann weiter in unseren Träumen damit
beschäftigen zu müssen.
Manche Menschen lieben ihre Träume und nehmen sie sehr
ernst, ja sie benutzen sie sogar um mehr über sich zu erfahren.
Denn die Nachtträume haben eigene Gesetze, die auch vom
menschlichen Willen nicht zu umgehen sind, wie zum Beispiel die
Tatsache, daß man sich während des Traumes nicht belügen kann.
Mit der Interpretation dessen was man glaubt verstanden zu
haben, ist es eine andere Sache.
Die meisten anderen wollen nichts von ihren Träumen wissen,
teilweise weil sie Angst vor ihrer dunklen, unbekannten Seite verspüren oder weil sie nichts anderes gelernt haben, als alles was
wichtig ist zu ignorieren. In beiden Fällen wird Abhilfe geschaffen, indem man morgens möglichst schnell den bekannten Realzustand anstrebt oder sogar geistige Werkzeuge benutzt, um sich
selbst davon zu überzeugen, gar nicht zu träumen.
Damit geht ein großes Potential an Möglichkeiten verloren.
Denn die erinnerbaren Szenen der Nachtträume bergen Informationen und Hinweise, wie wir unser Leben gestalten können und
welche Verhaltensweisen zu ändern erforderlich sind. Leider
räumt die Mehrheitsmeinung der Gesellschaft den Träumen nicht
die Bedeutung ein, die eigentlich angemessen wäre. So haben die
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Traum-Verweigerer eine gute Chance Argumente zu finden, um
sich nicht schuldig fühlen zu müssen.
Doch die Regeln der menschlichen Psyche sind nicht so leicht
auszutricksen, auch nicht durch die Mehrheitsmeinung und so
wundert es nicht, wenn Menschen, die mit ihren Träumen leben
und arbeiten ausgeglichener und lebensbejahender sind als die
anderen.
Dazu kommt noch, daß die Spielfilmszenen des Traumes, an
die wir uns erinnern können nur ein Teil des nächtlichen Verarbeitungsvorgangs sind. Verhaltensforscher bestätigten das, was
fleißige Autodidakten bei der Analyse ihrer Träume schon längst
wußten: Die nächtliche Traumszenerie ist grob in drei Abschnitte
zu unterteilen.
Der erste Teil ist nicht zu rekonstruieren, weil die Flut der Eindrücke des vergangenen Tages ohne unterteilbare Ordnung auf
das Bewußtseinsschaubild des Geistes geworfen wird, als wenn
der Körper schnell noch mal alles, was er an Gefühlen aufgefangen hat, in Form von Bildern abruft.
In der zweiten assoziativen Phase koppelt unser Geist besonders auffällige, vorwiegend unverarbeitete Begebenheiten mit unserem unterbewußten Verarbeitungsschema, indem er diese Ereignisse in Szenen einbindet, um ein möglichst hohes Maß an Wahrnehmung zu erreichen. Das betrifft nicht ausschließlich unangenehme Gefühle, die uns täglich widerfahren können, sondern
auch angenehme; auf jeden Fall Dinge, die unseren Geist berührt
haben.
Wer sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen möchte, welche
Botschaften aus seinen Träumen zu lesen sind und wie er sie im
Alltag gebrauchen kann, sollte sich nicht auf meist selbsternannte
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Traumdeuter verlassen. Nur man selbst ist in der Lage die
richtigen Schlüsse aus seinen Träumen zu ziehen. Es gibt keine
Schablone für Traumdeutung, die noch nicht einmal für eine zweite Person anwendbar wäre, geschweige denn für viele. Um herauszufinden, was uns unser Unterbewußtsein mitzuteilen hat,
müssen wir uns intensiv mit den Träumen beschäftigen. Man
sollte auch mit anderen darüber reden, denn deren Anregungen
können durchaus hilfreich sein. Doch letztlich findet jeder die
Antworten seiner Fragen in sich selbst.
Vor allem bietet unser Geist durch das Träumen eine Plattform
um aufgestaute Ängste anzugehen. Und wenn diese durch das
Angebot des Traumes im Wachzustand nicht heraus gearbeitet
werden, tauchen sie immer wieder in den Träumen auf.
Die dritte Traumsequenz ist am schwersten verständlich und
wird in der Regel von den meisten Menschen ignoriert, weil nur
selten eine Deutung möglich ist. Man könnte sie als visionäre
Traumphase bezeichnen, denn was dort zu sehen ist kann zukünftiges betreffen, wie auch Bekanntes in symbolischer Darstellung
wiedergeben. Bei vielen sogenannten ,de ja vu' Erlebnissen
handelt es schlicht um Traumfragmente aus diesen Phasen des
visionären Träumens. Es handelt sich dabei um keine spektakulären Phänomene, sondern es sind einfachste Begebenheiten, die,
wenn man die nötigen Informationen besitzt, logisch begründet
werden können.
Das unsere Gesellschaft so nachlässig mit der Ressource
Traum umgeht sollte uns nachdenklich stimmen, denn die Negation seiner Bedeutung ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Bestrebungen; sie möchte ihr angenommenes Realitätsverständnis
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schützen. In den Träumen schlummert die Kraft dieses panische
Festhalten an der materialistischen Denkweise zu lösen.
In verschiedenen Kulturen von Naturvölkern hat das Träumen
einen wesentlich größeren Einfluß auf den Alltag der Menschen.
Es sind sogar Praktiken bekannt geworden, wo magische Handlungen durch Träumen vollzogen werden. Unsere westliche Zivilisation will davon allerdings nichts wissen und bringt diese Taten
mit Scharlatanerie in Verbindung, als Ausdruck primitiver Denkweise. Wer von den zu vergleichenden Zivilisationen eigentlich
als die fortgeschrittenere zu bezeichnen ist, wird erst dann beantwortet sein, wenn eine davon untergegangen ist und die andere
weiterhin ihren Träumen Achtung schenkt.
Weil es ohne Träumen aber keine Realität gibt, erlangt der
Tagtraum in der westlichen Zivilisation als Ersatz immer größere
Bedeutung. Das sich dahinter eine große Gefahr verbirgt, ist anscheinend noch nicht überall verstanden worden. Für viele bedeutet der Tagtraum eine Fluchtmöglichkeit, weg von der dominanten
Realität. Andere malen ihre ehrgeizigen und ausschließlich materialistischen Ziele in Tagtraumbildern aus und schaffen sich ein
Instrument, die angestrebten Ziele in Einzelschritte aufzuteilen,
die ihnen ermöglichen ihren Weg überschaubar vorwärts zu gehen. Viele werden bei ausreichender Aufarbeitung bestätigen
können, daß gerade aus den Wunschträumen eine nicht zu unterschätzende Motivation erwachsen kann, die Veränderungen in
der Realität erwirken.
Das man diese Verfahrensweise auch für positive Zwecke
einsetzen kann, ist allgemein weniger geläufig. Wenn wir schon
so wenig Erfahrung mit den Nachtträumen besitzen, wie die
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erwähnten Naturvölker, so sollten wir wenigstens den Tagträumen
mehr Achtung schenken und sie so gestalten, daß sie uns geistig
und nicht materiell vorwärts bringen.
Nicht zuletzt sollte der enorme Spielraum für Tagträume,
resultierend aus all den vielen zwischengeschlechtlichen Kontakten Erwähnung finden, die allerdings im vorliegenden Buch
keine Berücksichtigung finden. Zum Einen weil es ein ganz
eigenes Thema ist und zum Anderen, weil auch dieser Bereich unter der starken Beeinflussung materialistischer Denkweise zu
leiden hat und nur noch selten reine, also ohne Hintergedanken,
persönliches Vorteilsdenken und Kalkül durchdachte Tagträume
anzutreffen sind.
Wir haben die freie Wahl, ob wir diese Spielereien des
Verstandes mit ehrbaren Idealen verknüpfen oder dem krankhaften Drang nach Macht, Wohlstand und Besitzenwollen als
Werkzeug bereitstellen. Wie viele träumen vom Lottogewinn und
denken sich aus, was sie alles mit dem Geld anfangen wollen. Wer
kennt nicht dieses berauschende Gefühl einen Menschen zu begehren und malt sich aus wie schön es wäre, wenn der oder die
Angebetete genauso empfinden würde. Wer hat sich nicht schon
ausgedacht wie es wäre an Stelle seines Vorgesetzten zu sein, um
dann umgekehrt ihn genauso zu schikanieren, wie in der Realität
er einen selbst. Wie viele glauben, wenn sie die Macht hätten, wären sie befriedigt. Die Realität bestimmt die Art, wie wir unsere
Tagträume gestalten.
Doch alle wissen: Geld allein macht nicht glücklich und Macht
zu haben ist ebenfalls keine Garantie für Wohlbefinden. Es sind
jeweils nur die Tagträume, in denen diese Verbindungen möglich
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sind, in der Realität ist es meist ganz anders. Was träumt denn der,
der genug Geld hat? Will er vielleicht in seinen Tagträumen noch
mehr? Oder die die Macht besitzen, was träumen die - falls sie
sich das Träumen noch gestatten? Wünschen die sich noch mehr
Macht? Sicherlich sind einige dabei, die solches einbeziehen in
ihre Wunschvorstellungen, aber viele davon wünschen sich sogar
das Gegenteil. Wir müssen verstehen lernen, daß es nicht darauf
ankommt Geld und Macht zu besitzen, sondern wie wir mit dem
Ist-Zustand umgehen.
Das einzige was zählt im Leben ist geliebt zu werden und ohne
Bedingung zu lieben. Und dabei ist es vollkommen egal, ob man
nun wohlhabend, mit Aufgaben der Menschenführung betraut ist
oder als einer von den Vielen sein Leben fristet.
Die vorliegenden Geschichten sind ein Angebot, wie man TagTräume benutzen kann ohne den niederen Trieben der Machtanhäufung oder Gier nach materiellen Vorzügen nachzugeben.
Natürlich sind Geschichten immer das Resultat der verfügbaren
Phantasie des Erfinders und können nur dann vom Leser oder Zuhörer positiv in sich aufgenommen werden, wenn das Spektrum
der Vorstellungskraft bei allen Beteiligten annähernd gleich groß
ist.
Es sind phantastische Geschichten und damit ist gemeint, daß
sie als Quintessenz meiner ausladenden Phantasie entspringen und
nicht weil ich sie als phantastisch im Sinne von Bewertung einstufe. Die Beurteilung überlasse ich lieber dem Leser und wünsche ihm, wenn er sich denn daran erfreuen kann, daß er sich weiterhin solcher Träume verpflichtet fühlt. Den anderen, denen die
vorliegenden Geschichten nichts angenehmes vermitteln können
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möchte ich provokativ, wie ich nun mal bin sagen, es gibt noch
viel zu tun.
Noch einen kleinen Tip zum Abschluß: Lest die Geschichten
nicht einfach so hintereinander weg. Legt das Buch nach einer
abgeschlossenen Geschichte erst einmal beiseite und übernehmt
diese vielleicht sogar in eure eigenen Tagträume; versetzt euch in
die eine oder andere Rolle die euch gefällt und vor allem: Träumt
die Geschichte weiter. Erst wenn das Thema ausgiebig erschöpft
ist, lohnt es sich an die nächste zu gehen.
Viel Spaß - Träum' mal wieder!
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Inhalt
1. Der Wunderheiler vom Pavillon Freud
Die Geschichte von Terry, der seinen Platz sucht
2. Kugelblitz
Felix Begegnung mit der Energie
3. Ein Weg ins nichts
Was alles so passieren kann, wenn man auf Abwege
4. Sieglinde
Ein Mädchen wird groß und will es gar nicht
5. Pyrenäen-Connection
Eigentlich wollte Patrik allein sein und dann...
6. Die Kinder der Blauen
Die Vergangenheit auf der Überholspur
7. Die braven Bürger von Rosbach
Ein Dorf wie jedes andere?
8. Babaluna
Wenn es darum geht Alternativen zu erdenken
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kommt
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B., 1975
1. Der Wunderheiler vom Pavillon Freud
„Recht ist was rechts fährt und ungerecht ist, daß rechts etwas
erfährt, Herr Doktor.“ So sagte Terry.
„Hoffnungslos,“ meinte darauf der Arzt.
„Aber nein, mein Herr, nein. Hoffnung wird aus Unzulänglichkeit geboren, wirklich“, erwiderte Terry und immer hastiger
werdend fügte er hinzu: „Ich hoffe, sie verstehen mich falsch,
denn ohne Hoffnung gäbe es keine Dummheit. Einmal sagte jemand zu mir: Erwarte nichts aber hoffe. Wissen sie was ich ihm
geantwortet habe, wollen sie es wissen? Ich sagte: Hoffnung ist
ein trügerischer Glaube. Das sagte ich ihm. Glauben sie mir das?“
„Ja, ja,“ meinte wiederum der Doktor und schrieb dabei ein
paar Kritzel in sein Notizbuch. „Wir sprechen ein andermal weiter, Terry. Du solltest die Gruppentherapie regelmäßiger mitmachen, dann kämen wir schneller voran. - Deine Eltern sind in der
Halle, willst du sie sehen?“
„Nein, ja, wenn sie wollen,“ und dabei war er anscheinend den
Tränen nahe. „Wer auch immer da raus will, zuerst will er rein.“
Mit diesen Worten verließ Terry das Sprechzimmer und versenkte
seinen Blick, wie er es meist tat, in das schöne Muster des Fußbodens.
Günther, der Pfleger führte ihn zur Stationstür, schloß auf, hin15
ter ihnen wieder zu und brachte Terry in die Besucherhalle der geschlossenen Anstalt, um sich schließlich in diskreter Entfernung
einem Journal zu widmen; nicht ohne alle paar Sekunden einen
Blick auf Terry und seine Mutter zu werfen, die auf der Ledergarnitur Platz genommen hatten.
Terry war mit seinen Gedanken bei Pythagoras. Die Dreiecke
und Winkel des Fußbodenmosaiks schienen ihm mehr als
verwandt mit dem alten Griechen von 8b.
Seine Mutter erklärte ihm indessen, daß Vater jetzt mit dem
Arzt spreche und alles wieder gut werde und Frau Niemeyer
gefragt hätte, wie es ihm ginge und ob er seine Tabletten auch
einnehmen würde. Denn der Arzt hätte gesagt, daß es darauf ankäme, wie regelmäßig er die Medikamente nehme.
Ob Terry seine Mutter wahrgenommen hatte, konnte Günther
nicht feststellen, aber ebenso wenig feststellbar war ein sogenannter akuter Zustand, bei dem man mit allem rechnen mußte. Zu
diesen Patienten gehörte der junge Mann mit dem zauseligen Haar
eigentlich nicht, doch es war eben Vorschrift, jeden aus der Geschlossenen zu begleiten, der den abgesperrten Bereich verließ.
Hinter der Ledergarnitur schob Peter, ein Pflegelehrling gerade
einen Patienten vorbei. Als dieser plötzlich zu schreien anfing,
hob Terry interessiert den Kopf und lachte hemmungslos. Jedesmal wenn Terry so lachte - das passierte drei- bis viermal pro Woche - mußte Günther unwillkürlich schmunzeln. Er fühlte sich
immer wieder zur Heiterkeit mitgerissen und mußte sich sogar bemühen lautes Lachen zu unterdrücken. Und es war egal, welch'
makaberer Grund Terry zum Lachen veranlaßte.
Wie jedes Mal verebbte das Lachen rasch wieder und nach
einer Weile schauten sich verschiedene Beobachter scheu an und
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ein mitleidiges Lächeln sollte andeuten, daß man ja verstehe.
Terry's Mutter versteckte ihr Gesicht schneuzend in einem Taschentuch. Doch Günther dachte wieder einmal über jenen Menschen nach. Denn nicht allein sein Lachen regte dazu an - es gab
da noch mehr.
Als der junge Mann vor 6 Monaten eingeliefert wurde, verhielt
er sich noch total apathisch. Nichts, aber auch gar nichts konnte
ihn damals dazu bewegen etwas zu sagen oder zumindest ein
Mienenspiel zu zeigen. Günther hatte sich mit dem Doktor in die
Haare gekriegt wegen der seiner Ansicht nach zu starken Dosierung des Beruhigungsmittels, zumal der Patient offensichtlich
keinerlei Aggressionen zeigte. Doch da ließ Dr. Schein - wie auch
in den meisten anderen Punkten - überhaupt nicht mit sich reden.
Die dunkle unbekannte Seite der manisch Depressiven wäre noch
gar nicht hinreichend erforscht, argumentierte der Arzt und man
wolle doch schließlich kein Risiko eingehen.
Die verordneten Pillen schienen dennoch keine allzu große
Wirkung auf Terry zu haben, denn nach wenigen Wochen besserte
sich der Zustand und Günther konnte ihn des öfteren beobachten
bei augenscheinlich angeregten Gesprächen mit anderen Patienten. Selbst dem Pflegepersonal gegenüber öffnete sich Terry
immer weiter, wenn auch das, was er von sich gab, für keinen so
recht verständlich war.
Aus den Unterlagen der Krankengeschichte hatte Günther nicht
viel über ihn heraus bekommen; eigentlich enthielt seine
Vergangenheit nichts ungewöhnliches. Als lernbehindertes Kind
hatte man ihn frühzeitig ausgesondert und in eine entsprechende
Schule gesteckt. Nirgendwo waren irgendwelche Auffälligkeiten
registriert worden. Seine Eltern hatten ihn entmündigen lassen, als
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er das Erwachsenenalter erreichte und waren bis zu seiner Einlieferung hier auf Station ständig um ihn herum gewesen.
„Ich bin da ganz zuversichtlich, Herr Heimlich, in 4 bis 6 Wochen sollten wir soweit sein. Hundertprozentige Garantie gibt es
natürlich nicht, aber wenn wir alle zusammen mithelfen, sehe ich
da keine Schwierigkeiten,“ sagte gerade Dr. Schein, Stationsarzt
der geschlossenen psychiatrischen Abteilung zu Terry's Vater.
„Das war beim letzten Mal genauso, Herr Doktor,“ erwiderte
Egon Heimlich etwas resigniert.
„Ja, der Fall lag damals auch etwas anders.“ Damit sprach er
einen Vorfall an, der sich vor 4 Monaten ereignete. Terry hatte
damals für ein paar Tage das Essen verweigert. Als die Ärzte noch
am Überlegen waren, ob vielleicht eine künstliche Ernährung
angebracht wäre, überraschte sie die Nachricht von Terry's
Verschwinden. Keiner wußte sich zu erklären, wie der Patient die
Klinik verlassen konnte. Die Polizei lieferte ihn noch am selben
Abend ab, nachdem sie ihn beim Zechprellen in einem Restaurant
festgenommen hatten. Dr. Schein erinnerte sich noch lebhaft an
das unbekümmerte Gesicht des jungen Mannes, der ohne zögern
zu Bett gegangen war mit der lapidaren Bemerkung: ,Wenn's doch
schön macht.'
Dr. Schein fuhr fort: „Außerdem steht die Forschung der
Pharmaindustrie ja nicht still, Herr Heimlich. Wir können heute
auf ein entschieden anderes, ich will mal sagen hochwertigeres
Kontingent an Pharmaka zurückgreifen. Wenn sie mir garantieren
können, daß die medikamentöse Therapie kontinuierlich weiter
läuft, kann gar nichts schief gehen. Und schließlich, Herr Heimlich, kann man Tabletten auch zu Hause einnehmen.“
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„Ja wenn sie meinen, Herr Doktor,“ „Wir bleiben in Verbindung und Kopf hoch, andere Familien
sind schlimmer geplagt, glauben sie mir. Immerhin können wir
Gott danken, daß er nicht gefährlich ist, denn das wäre wirklich
dramatisch.“
„Sie haben recht, Herr Doktor. Ich danke ihnen nochmals. Sie
haben uns sehr geholfen. Ich rufe sie in 14 Tagen noch mal an.“
„Ist recht, Herr Heimlich und grüßen sie ihre Frau Gemahlin.“
Derweil war Terry mit Günther schon auf dem Rückweg zur
Station. Vater vermied es in der Klinik grundsätzlich, seinem
Sohn zu begegnen. Als er seine Frau in der Besucherhalle wieder
traf, nahm er sie in den Arm und sie verließen die Klinik, um in
ihren Alltag zurück zu kehren.
Wieder auf Station begab Terry sich zu seinem Bett, denn es
war Zeit für die Tablettenausgabe. Die Pfleger und Schwestern
gingen von einem zum anderen um kontrollieren zu können, ob
die Medikamente auch eingenommen wurden. Dabei gab es selten
Schwierigkeiten, denn diese Vorschrift wurde allgemein akzeptiert und auch für wichtig gehalten.
Terry nahm die 3 Pillen; seine deutliche Schluckbewegung veranlaßte die Schwester mit einem Kopfnicken weiter zu gehen, um
beim nächsten genauso zu verfahren. So konnte Terry die Pillen
unbemerkt unter der Zunge hervorholen und in der Hosentasche
verschwinden lassen. Das brachte beim Tauschen drei Zigaretten,
die ihm wichtiger waren als die Medikamente. Es gab einige Patienten, die ihm mehr geben würden, aber die Regeln waren untereinander nun mal so und niemand mit Ausnahme der wirklich
Süchtigen dachte ernsthaft daran, daß es anders sein könnte.
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Gleich anschließend wurde das Mittagessen ausgeteilt; alle die
laufen konnten begaben sich in den Gemeinschaftsspeiseraum.
Terry kam das gemeinsame Essen immer wie eine der wichtigsten
Theaterpremieren des Jahres vor und das jeden Tag aufs neue; im
Übrigen war er nicht der einzige, der so empfand.
Hier waren alle versammelt, Publikum und Akteur zugleich.
Das Pflegepersonal hatte mit dem Füttern der Bettlägerigen zu tun
und nur eine Küchenangestellte war Zeugin dieser neuerlichen
Aufführung, die man dreimal täglich beobachten konnte und doch
nie den Reiz des Neuen verlor.
Es wurde nie oder zumindest höchst selten gesprochen und
wenn, handelte es sich meist um einen Notfall. Alle waren konzentriert in ihrer Phlegmatie und sie beherrschten es nahezu
perfekt. Selbst neu Eingewiesene konnten sich erstaunlich schnell
in diesen dramaturgischen Glanzakt einfühlen.
Da saß zum Beispiel direkt neben Terry Heinfried aus
Oberschlesien, auch ein sogenannter Freiwilliger in der geschlossenen Abteilung. Er hatte seinen Mund immer direkt vorm
Tellerrand und konnte am Lautesten von allen schlürfen; ob es
nun Sauerkraut oder Suppe gab.
Schräg gegenüber von Terry befand sich Paul, genannt ,Der
Heilige', ein Zwangseingewiesener und recht unangenehm aussehender Typ. Der war so apathisch, daß er oft vergaß den Mund zu
schließen, wenn er es denn tatsächlich mal geschafft hatte seinen
Löffel hinein zu stecken. Vielleicht lag es aber daran, daß er den
Löffel häufig leer anhob und sich also nie sicher sein konnte, ob
überhaupt etwas drauf war. So dauerte es bei ihm recht lange bis
er fertig war.
Allerdings mußte beachtet werden, wie wenig für die Patienten
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in dieser Station Zeit eine Rolle spielte. Paul verhielt sich übrigens sonst nicht so. In seinem Zimmer, welches er mit fünf
anderen teilte, war er der Wortführer. Beim Skat spielen bekam er
genauso wenig den Mund zu wie jetzt beim Essen, mit dem Unterschied, daß er jetzt nicht sprach.
Erklärend sagte er einmal zu Terry, die Tabletten wären der
Grund dafür und seitdem tauschte Terry immer bei ihm. Wenn
Paul schon zur Auffassung gelangte, daß er mit den Tabletten
schneller gesund würde, dann war die sich ständig wiederholende
Aufführung bei Tisch bestimmt ein Teil seines Heilungsprozesses,
da wollte Terry ihn so gut es ging unterstützen.
Hinten beim Tisch am Fenster hinter seinem Stuhl stand Siegmund, wie immer aufrecht und kerzengerade mit den Händen Bewegungen in die Luft zelebrierend. Er war früher Volksschullehrer gewesen und dirigierte sein Schüler-Orchester nach
Leibeskräften. Das er hager wie ein Strohhalm aussah lag wohl
daran, daß er keine Zeit zum Essen fand, denn sein Job verlangte
größte Aufmerksamkeit.
Am Ecktisch neben der Eingangstür fiel der kleine Werner vom
Stuhl. Er war Epileptiker; die Anfälle wiederholten sich fast
täglich. Die Küchenmamsell drückte ein Knöpfchen. Sonst reagierte niemand auf diesen Vorfall, der schließlich ebenfalls zum
Tagesablauf gehörte. Nachdem Werner in sein Bett gebracht
worden war, herrschte wieder die selbe Ruhe wie vorher.
Terry liebte diese Atmosphäre. Es war so ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl dabei, daß er im Moment nicht missen
wollte. Er schaute vom Essen auf und drehte den Kopf einmal
langsam hin und her und aß dann weiter. Niemand registrierte seinen befriedigenden Gesichtsausdruck. Doch er wußte, daß ihm
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alle dankbar waren und ihn nur aus Scheu vor seiner Macht nicht
anschauten.
So verging die Mahlzeit in Seelenruhe; die ärztlich verordnete
Mittagsruhe danach war schon zur Hälfte verstrichen, als Terry
auf sein Sechsbettzimmer ging. Er passierte die offene Tür von
Werners Gemeinschaftsschlafraum. Dabei sah er flüchtig den Arzt
und Günther vor dessen Bett stehen. Ebenso flüchtig schnappte er
noch die Worte von Dr. Schein auf: „.... verlegen wir ihn endgültig auf die 5. In diesem Zustand können wir ihn nicht behalten.“
Auf dem Zimmer angekommen sprach Kuno, ein Drogensüchtiger ihn an: „Hast du deine Pillen noch? Ich brauche jetzt 'ne
stärkere Dröhnung. Meine Alte hat Schluß mit mir gemacht und
du weißt ja, wenn ich keine Pillen kriege, häng' ich mich auf.“
„Hab' schon getauscht.“
„Scheiße. Hast du nicht noch etwas auf Reserve?“
„Nein.“
„Ich glaub' ich frag' mal den Reiner. Übrigens, der Werner hat
sich einen Riß am Kopf geholt. Wenn ich epileptisch wäre, hätte
ich immer Pillen. Scheiße.“ Dann ging er zu Reiner.
Dieser Junge wirkte auf Terry wenig sympathisch, daran
änderte auch die Tatsache nichts, daß Kuno sich in das Gesamtbild der Abteilung einpassen konnte. Terry mochte es einfach
nicht, wenn jemand seine eigenen Belange zu sehr in den Mittelpunkt des Geschehens schob.
Deshalb hatte Terry auch nur den Rest von Kuno's Gerede
richtig wahr genommen. Genauso gleichmäßigen Schrittes wie er
gekommen war, ging er wieder zurück, um nach Werner zu schauen. Der Arzt hatte das Zimmer schon verlassen und Günther war
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gerade im Begriff zu gehen.
„Armer Kerl,“ sagte Günther, „er kommt auf Station 5, dort
kann man ihn besser beobachten und er holt sich nicht so schnell
was ernstes.“
Terry ging an ihm vorbei und schaute auf Werner herab. Er
mochte diesen Siebzehnjährigen, denn er gehörte seit einer gewissen Zeit zu der Gruppe, die Terry ein Gefühl von zu Hause
gab. Er legte Werner seine flache Hand auf die verbundene Stelle
an der Stirn, wünschte ihm keine Schmerzen mehr und daß die
Rißwunde am Kopf verschwinde.
Das geschah ohne das ein Wort fiel. Werner schlug nach ein
paar Sekunden die Augen auf und erblickte Terry über sich. Ein
dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht und dann widmete er
sich wieder seinem Teller, der ihm ans Bett gebracht worden war.
Nur Günther hatte die Szene von der zweiten Eingangstür des
Zimmers aus beobachtet. Er verschwand, wie er glaubte unbemerkt, als Terry sich zum hinaus gehen anschickte. Der Pfleger
ging schnurstracks ins Arztzimmer, wo Dr. Schein gerade seinen
Kittel ausgezogen hatte, um ins Jackett zu schlüpfen.
„Ist noch was?“, fragte er etwas ungeduldig.
„Jetzt habe ich es zum ersten Mal richtig beobachten können,
Herr Doktor. Er legte ihm die Hand auf die Stirn und schon war
Werner wieder da und konnte sofort weiter essen.“
„Wer legte ihm die Hand auf die Stirn?“
„Terry.“
„Ach, schon wieder diese Geschichte von den heilkräftigen
Händen des Terry Heimlich. Also, wenn ich sie nicht schon sechs
Jahre kennen würde Günther, ich würde echt an ihnen zweifeln.“
„Herr Doktor, schauen sie sich doch bitte mal die Wunde an,
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ich bin überzeugt, sie ist verschwunden. Genau wie vor zwei Wochen, als Herbert sich angeblich die Pulsadern aufgeschnitten
hatte.“
„Angeblich,“ betonte Dr. Schein, „die Nachtschwester hat doch
zugegeben, daß sie eingenickt war und kann nicht ausschließen,
daß sie geträumt hat. Und das Blut im Bett hätte auch aus seiner
Nase kommen können oder was weiß ich woher, schließlich - und
sie werden doch wohl zugeben, daß das Argument unmißverständlich ist - hätte man ja eine Verletzung erkennen müssen. Also
wirklich Günther, ich glaube der Streß in dieser Station übersteigt
etwas ihre Kräfte. Haben sie nicht noch Resturlaub vom letzten
Jahr? Nehmen sie ihn jetzt mein Freund, bevor es noch schlimmer
wird.“
„Mir geht es ausgezeichnet, danke Herr Doktor.“ Mit diesen
Worten drehte sich Günther um und ging in seine Wachkabine,
die dem Aufenthaltsraum des Personals direkt angeschlossen war.
Er wußte mit Sicherheit, daß er Dr. Schein nicht noch einmal mit
dieser Sache belästigen würde.
Nach einigen Minuten kam der Arzt am Fenster der Wachkabine vorbei um sich abzumelden und seinen Piepser entgegen
zu nehmen.
„Nehmen sie es mir nicht übel, Günther,“ sagte er, „die Sache
ist mir doch zu haarsträubend.“ Damit entfernte er sich. Und genau das war das Quentchen zuviel für den guten Pfleger.
Nicht das Spektakuläre reizte ihn daran, es sah eine Art Gerechtigkeitssinn Terry gegenüber alarmiert. Für ihn handelte es
sich hier nicht um solche Standartfälle wie Depression oder Schizophrenie, hier war etwas besonderes im Spiel.
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Denn solche oder ähnliche Vorfälle, an denen Terry Heimlich
beteiligt war, wie auch gerade bei Werner wurden in den Pausen
des Personals öfters erzählt, ohne das sich jemand traute, es an die
große Glocke zu hängen. Die Gefahr selbst für unnormal gehalten
zu werden, wenn man mit Erzählungen dieser Art in den offiziellen Bereich der Klinik eindrang war einfach zu groß.
Es gab bis jetzt außer den Augenzeugenberichten - und zwar
immer nur von einzelnen Personen - keine anderen Beweise. Um
sich selbst zu bestätigen, daß er sich nicht auf dem Wege befand
verrückt zu werden ging Günther in Werners Zimmer und sagte:
„Das brauchst du ja jetzt nicht mehr.“ Er nahm ihm den Verband
ab - auf Werners Kopf war keine Schramme mehr zu sehen.
Obwohl er es erwartet hatte was er da erlebte, fand er es doch
beunruhigend und verwirrend. So durcheinander und gedankenverloren ging der Pfleger, ohne daß ihm die Absicht bewußt gewesen wäre in Terry's Zimmer. Er setzte sich auf einen Stuhl
neben dessen Bett, auf dem der junge Mann ausgestreckt lag und
die Muster der Decke anstarrte.
Günther sagte erst einmal gar nichts. Dann, nach einer Weile
Schweigen meinte er mehr zu sich selbst: „Ich wüßte gern einmal
ob du weißt, was du da tust?“
Terry fühlte sich keineswegs angesprochen, doch er hörte die
Stimme des Pflegers, den er sehr mochte und antwortete auf seine
Weise: „Der rechte Winkel in seiner Verwandtschaft zum Kreis ist
doch recht unvollkommen und damit das Spiegelbild seiner
Verwender.“
Wie als wenn alles gesagt sei, was es zu sagen gibt, schwieg
Terry wieder. Die daraufhin einsetzende Ruhe war friedlich. Günther in seiner Verwirrung ließ erst einmal diese Ruhe auf sich wir25
ken und dann ordnete er seine Gedanken und stellte fest, daß er wie automatisch - diesen letzten Satz von Terry da eingeordnet
hatte, wo er ihn immer einordnete, bei den nichts sagenden verrückten Aussprüchen eines Irren.
Dann ließ er sich das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen und ein weiteres Mal und plötzlich lächelte eine wärmende
Flamme der Erkenntnis in ihm. Es wurde ihm klar, daß Terry auf
besondere Art weise war. Nur, um diese Weisheiten nach außen
zu bringen, brauchte er bestimmte äußere Bedingungen, wie zum
Beispiel diese Ruhe jetzt.
Günther rief sich die Tonbandaufnahmen ins Gedächtnis zurück, die er bei Dr. Schein gehört hatte. Diese wurden auch von
Terry obligatorisch bei jeder Sitzung gemacht. Das wirre Zeug,
was er allgemein dort von sich gab konnte nicht verglichen
werden mit dem was er sagte, wenn die Atmosphäre stimmte, so
wie in diesem Moment.
„Ich glaube, von dir kann man noch eine Menge lernen, Terry,“
meinte Günther nach einer Weile.
Jetzt war Terry allerdings konzentriert und sagte: „Jeder redet
nur so gut, wie man ihm zuhört. Und wer imstande ist sein Denken auszuschalten, kann so gut zuhören daß er alles versteht,
alles!“ Dabei schaute er in Günthers Augen mir einem Ausdruck,
als wenn nichts anderes auf der Welt existent wäre, als sie beide
jetzt.
Das war Günther allerdings wieder etwas zuviel und ein Kribbeln in der Nackengegend ließ ihn auffahren. Hastig verließ er das
Zimmer. Keineswegs empfand er irgendwelche Ängste bei dieser
Begegnung, doch stellte sich ein inneres Aufgewühlsein ein, daß
ihn so schnell nicht mehr los ließ. Auch die letzten Worte von
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Terry blieben noch lange in seinem Gedächtnis haften.
Der Nachmittag bescherte zwangsweise reichlich Abwechslung
in Günthers zwar noch wirrem, aber recht aufmerksam gewordenen Kopf. Die Hälfte der Patienten verbrachte die Zeit in
der Beschäftigungstherapie, wo man malen, spielen und basteln
konnte und außerdem auch noch mit den Damen der parallelen
weiblichen Station zusammen sein durfte. Wegen der freiwilligen
Gestaltung dieses Angebotes war die Beteiligung mehr oder
weniger regelmäßig.
Die Damen kamen meist etwas zahlreicher und man konnte
vermuten, daß gerade in der Malecke, wo man sich so richtig mit
Farbe einsauen konnte, ein unterschwelliges Bedürfnis Befriedigung fand. Vielleicht lag es aber auch daran, daß man nach dem
Farbenbad eine Extradusche genehmigt bekam. Eine Aufsichtsperson kontrollierte die Bastelecke und es gehörte schon
eine ungemeine Geduld dazu, immer und immer wieder die selben
Handgriffe zu zeigen und bei der Beendigung der Beschäftigungszeit doch kein Ergebnis zu erkennen.
Terry ging fast nie dorthin, er lag lieber auf dem Bett und begutachtete die Deckenmuster. Andere zogen das Skatspielen im
Raucherzimmer vor und eine kleine Gruppe verbrachte die Zeit
draußen beim Waldspaziergang mit einem Zivi. Für das andere
Dienstpersonal war daher der Nachmittag zum Betten machen, Patienten baden und auch zum Kaffee trinken am Besten geeignet.
Dr. Schein verließ nach seinem Nachmittagsdienst die Station
und seine letzte Handlung bestand meist in einer gemeinsamen
Tasse mit dem Personal, bevor er endgültig den Heimweg antrat
zum wohl verdienten Feierabend.
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Die Gruppe der Spaziergänger kam zurück, der Zivildienst leistende junge Mann mit den Rasterlocken hängte den Stationsschlüssel an den Hacken. Schwester Heidrun fragte ihn: „Hast du
Erich inspiziert?“
„Warum?“ Da er noch nicht so lange dabei war, konnte er nicht
wissen, um was es ihr ging.
„Na, dann komm' mal mit.“ Sie begaben sich in das eine der
Gemeinschaftsschlafzimmer, wo Erich sein Bett hatte. Er und die
anderen Spaziergänger standen schon längst vor der geschlossenen Tür des Speisesaals, auch wenn die Abendbrotausgabe erst in einer halben Stunde erfolgte.
Schwester Heidrun kniete sich nieder und holte zwei Ziegelsteine unter dem Bett hervor zur Verwunderung des Zivi's. „Jedesmal, wenn Erich spazieren geht, bringt er Ziegelsteine mit,“
meinte die Schwester.
„Warum tut er das?“, wollte der junge Mann wissen.
„Nun, Erich glaubt, daß die Heilige Maria ihm erschienen wäre
und ihn beauftragt hat eine Kapelle im Westerwald zu bauen,
wenn er hier raus kommt. Deshalb muß er jedesmal untersucht
werden beim Betreten der Klinik. Du konntest das natürlich nicht
wissen, aber merke es dir bitte für das nächste Mal, denn wir
wissen bald nicht mehr wohin mit den Steinen.“
Sie nahmen die Steine mit und lieferten sie bei Günther ab.
„Ja, ja, ich nehm' sie mit, wenn ich nach Hause fahre,“ sagte
dieser und lachte.
Es klingelte an der Stationstür und ein Küchenangestellter
brachte den Essenswagen für die Abendbrotausgabe. Die nächste
Stunde verlief ohne Zwischenfälle und ein Teil des Personals ging
nach Hause. Günther verbrachte den Rest seiner täglichen
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Dienstzeit in der Wachkabine. Er ging die Krankenbögen durch
und trug ein, was noch nachzutragen war, Lernschwester Helga
und der Zivi saßen im Aufenthaltsraum dahinter.
Es war jetzt sechs Uhr und die Übergabe an die Nachtschwester stand kurz bevor. Günther setzte sich zu den jungen
Leuten, nachdem er mit seinen Eintragungen fertig war, um noch
eine Tasse Kaffee zu trinken. Die beiden unterhielten sich gerade
darüber, welche schlimmen Vorkommnisse sie bisher erleben
mußten und welches davon wohl das herausragende gewesen sei.
Als sie sich darüber nicht einig werden konnten, sollte Günther
einen Beitrag zu diesem Thema liefern.
Erst war er gar nicht bereit etwas dazu zu sagen und meinte
nur, man müsse als Pfleger eine gewisse Distanz zu seinen Patienten aufbauen, denn ein zu starkes persönliches Engagement
könnte zu Problemen führen, die nicht so leicht zu bewältigen wären.
„Es hat Schwestern und Pfleger gegeben, die mit den ganzen
Belastungen hier nicht mehr klar gekommen sind und dann haben
sie einfach alles hingeschmissen,“ meinte er. „Und schwierige Situationen kommen fast täglich vor. Besondere Erlebnisse ...,“
grübelte er, „letzten Monat zum Beispiel bekamen wir einen Neuzugang. Ich weiß den Namen nicht mehr, er wurde später auf die
Intensivstation verlegt. Ja jedenfalls kam er hier an, er wurde von
seiner Frau begleitet. Es war ein Bulle von einem Kerl und
verhielt sich die ganze Zeit still, während seine Frau mit dem Doktor redete. Da vorne vor der Wachkabine standen sie, ich weiß es
noch ganz genau. Dann sollte er von Hubert, ihr kennt ihn glaube
ich nicht, der feierte ein paar Wochen danach krank und hat sich
anschließend in eine andere Abteilung versetzen lassen, - was
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wollt' ich sagen -, tja, also Hubert wollte ihm die Tasche abnehmen, um sie auf sein Zimmer zu bringen und plötzlich flippt
der Kerl aus. Erst schmiß er Hubert gegen die Scheibe von der
Wachkabine, dann trat er gegen den Wagen der Medikamentenausgabe, der mit unglaublichem Geschepper durch den Gang flog
und zum Schluß ist er dann auf Dr. Schein los und hätte ihm garantiert einige blaue Flecke verpaßt. Ich saß am Schreibtisch der
Wachkabine und die anderen waren gerade hier beim Kaffee. Bei
dem Krach kamen natürlich alle raus gestürmt und dann haben wir
mit vier Leuten versucht den Typ festzuhalten. Ich kann euch
sagen, das war ein Chaos.“
Die beiden jungen Leute waren sehr gefesselt von der Geschichte und Helga drängte: „Ja und dann, wie ist es weiter gegangen?“
Günther wollte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, den
beiden etwas beizubringen, denn wie man sich in solchen Situationen zu verhalten hat, war eine Frage von Erfahrungen, die sie
natürlich noch nicht haben konnten. Er fuhr fort: „Nun, ich habe
mir den Stuhl da vorne geschnappt,“ und deutete auf die Wachkabine, „und drückte ihn mit den Stuhlbeinen voran in die Ecke.
Die anderen haben seine Arme festgehalten und Dr. Schein hat
ihm eine Spritze verpaßt. Das war alles. Der Kerl ist, so viel ich
weiß, nicht mehr wieder in den Normalzustand zurückgekommen.“
Die jungen Leute wirkten jetzt etwas in sich gekehrt, sie überlegten wohl, was sie selbst empfunden hätten, wären sie bei dem
Vorfall zugegen gewesen. Günther hoffte, daß seine Erklärung mit
der Distanz zu den Patienten von den beiden verstanden worden
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war.
Plötzlich klingelte es an der Stationstür. Günther stand auf um
zu öffnen. Draußen standen zwei Krankenpfleger, die nicht zu
dieser Klinik gehörten mit einer fahrbaren Trage und einem
augenscheinlich schlafenden Patienten drauf.
„Überweisung vom Landeskrankenhaus,“ sagte der eine, der
ähnlich wie der andere eine stattliche Figur besaß. „Dr. Schein
müßte gleich hier sein, jedenfalls wurde er benachrichtigt,“ fuhr er
fort. Günther ließ die drei herein und ging mit dem einen der
beiden Pfleger in die Wachkabine. Er öffnete den Umschlag mit
den Begleitpapieren und laß: Rudolf Klein, Bauunternehmer,
wohnhaft ... usw. Weiter unten stand: Überweisung wegen Konsultation an Dr. Schein, Uni-Klinik von Dr. Muse, LKH, und ganz
unten: Diagnose: Para. man. Depression, mit Verdacht auf K14.
Günther nickte mit dem Kopf. „In diesem Fall muß Dr. Schein
seine Unterschrift geben,“ sagte er zu dem Pfleger und blickte
dann vorbei durchs Glas der Wachkabine auf den schlafenden Patienten, dessen rechter Arm einen Gipsverband trug.
„Er ist gefährlich, unser Rudi,“ meinte der Pfleger zu Günther,
„vielleicht könnte man ihn schon auf Zelle bringen bis der Doktor
kommt - oder er vielleicht aufwacht. Den Gipsarm hat er sich bei
einer Schlägerei mit drei Pflegern geholt, mich hatte er schon vorher k.o. geschlagen.“
Günther blickte auf das Gesicht des Patienten, dann auf den
Gipsarm und wieder zurück auf das Gesicht. Dieses machte mehr
den Eindruck eines friedlichen Kindes, als das eines Mannes, der
andere schlagen konnte. Doch wußte er auch, der Schein trügt oft.
„Wir haben noch Zelle 2 frei, bringen wir ihn vorerst dorthin.“
Neuankömmlinge waren für die anderen Patienten nicht von
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großem Interesse. Selbst Kuno, der immer in der Nähe der Wachkabine stand und auf einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des
Personal wartete - denn in ihr befand sich der Giftschrank - selbst
er wendete nicht einmal den Kopf, als Rudi vorbeigefahren wurde.
Kurz später zuckte er unerwartet plötzlich auf, als Schwesternschülerin Helga vom Aufenthaltsraum in die leere Wachkabine
trat, um Günthers Platz einzunehmen. Daraufhin verließ Kuno seinen Posten, was nicht häufig zwischen den Mahlzeiten geschah.
Währenddessen hatten die Pfleger den Rudi auf sein neues Bett
gelegt und angebunden. Nachdem sie fertig waren und bereits das
Zimmer verlassen wollten wachte Rudi auf. „Oh, was hab' ich
'nen Schädel. Was is' überhaupt mit mir, wo bin ich? Macht mich
doch los.“
Günther ging zu ihm und sagte in beruhigendem Tonfall: „Sie
hatten einen Unfall, Herr Klein. Sie müssen sich ausruhen, gleich
kommt der Arzt.“
„Aber warum bin ich angebunden und warum habe ich einen
Gipsarm?“
„Warten sie einen Moment, Dr. Schein wird es ihnen erklären.“
Damit verließen sie das Zimmer. Gewohnheitsmäßig schaute Günther noch mal durchs Froschauge der Zimmertür, denn obwohl die
Wände mit Gummi gepolstert waren und der Patient angebunden,
konnten die unmöglichsten Dinge passieren. Vor allem die Patientenreaktion war wichtig, wie sie sich allein in dieser Situation
verhalten würden. Doch Rudi machte keine Anstalten sich gegen
seine Zwangslage zur Wehr zu setzen, er mußte erst einmal die
neue Situation verarbeiten und blieb deshalb ruhig.
Die Pfleger beschlossen noch schnell eine Tasse Kaffee gemeinsam zu trinken, bevor Dr. Schein auf die Station kam. Der
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wortführende Pfleger des LKH erzählte auf dem Weg zurück sein
Erlebnis mit Rudi, vor allem, daß er selten einen Patienten gesehen hätte, der so extrem drauf hauen würde wie er. „Den Blick
hättet ihr sehen sollen, in dem Moment war er jemand ganz
anderes, ihr hättet ihn nicht wieder erkannt.“
„Was ist denn K14,“ fragte Schwesternschülerin Helga, als die
Männer durch die Wachkabine in den Aufenthaltsraum gingen.
Anscheinend hatte sie in den Unterlagen des Patienten nachgesehen.
„Wie soll ich dir das erklären,“ versuchte es Günther zu beantworten. „Jedenfalls ist es eine besonders seltene Form von Bewußtseinsspaltung. Plötzlich setzt das normale Denken aus und
man tut etwas, woran man sich später nicht mehr erinnern kann.
Entscheidend ist der auslösende Effekt, der ...“ Er unterbrach sich,
weil Dr. Schein hereinkam.
„Wo ist der Patient?“, fragte dieser etwas mürrisch mit Seitenblick auf die Tassen.
„Auf Zelle 2“, erwiderte Günther, „die Papiere sind vorne auf
dem Tisch. Dabei stand er wieder auf und ging an dem Arzt vorbei in die Wachkabine, wo jetzt der Zivi saß. Dr. Schein nahm die
Papiere mit in sein Zimmer um sich umzuziehen und in Ruhe
einen Blick auf die Unterlagen zu werfen. Günther beauftragte
Schwester Helga nach dem Patienten in Zelle 2 zu sehen und zu
fragen, ob er etwas essen möchte.
„Aber schau' erst durchs Guckloch, bevor du da rein gehst und
sollte er toben, warte bis wir da sind. Wenn alles in Ordnung ist,
holst du dir ein Tablett aus dem Kühlschrank. Da müßten noch
zwei sein, die vom Abendbrot übrig geblieben sind und füttere ihn
dann bitte. Auf keinen Fall losbinden, hast du verstanden?“
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Dr. Schein kam mit den Papieren zurück, während Schwester
Helga verschwand. Er war jetzt weiß gekittelt und schaute immer
noch recht schlecht gelaunt aus. Für diese Fälle konnte auch kein
Bereitschaftsarzt einspringen, denn nur selten waren sie für solche
speziellen Probleme ausgebildet.
„Wollen sie vielleicht einen Kaffee, der ist frisch gemacht,“
fragte Günther betont diensteifrig. Dr. Schein lehnte nicht ab. Das
Verhältnis zum Personal war immer korrekt, wie er auch oft laut
bekundete. Hin und wieder eine Nachlässigkeit ließ er ohne
großes Spektakel mit ironischen Bemerkungen kommentierend
durchgehen. Das galt selbst für die Zivildienst leistenden, auch
wenn es bei ihnen öfters Schwierigkeiten gab, besonders in Bezug
auf Pünktlichkeit. Doch ohne die jungen Kriegsdienstverweigerer
hätte das Krankenhaus enorme Personalengpässe. Gerade hier für
die psychiatrische Abteilung der Uni-Klinik war es schwer Zivi's
zu bekommen, denn keiner drängelte sich in diesen Arbeitsbereich. Wenn sie es allerdings zu bunt trieben, wurden sie schnell
auch wieder abgeschoben, sehr zum Leidwesen des Stammpersonals.
Aber seinen Feierabend ließ sich Dr. Schein nicht gerne zerstören, weshalb Günther die schlechte Laune durchaus verstand. Er
wußte genau, wie mit ihm umzugehen war und daß unter der
Stimmung keiner zu leiden brauchte, wenn man sie ignorieren
würde. Schließlich passierte es öfters, daß der Abend zerrissen
wurde für den Doktor.
Dr. Schein unterschrieb die Überweisungspapiere und überreichte sie den LKH-Pflegern. Die beiden wollten sich gerade verabschieden, als plötzlich Helga's Schrei durch die Gänge schallte.
„Sie ist bei Rudi,“ rief Günther und stürzte auf den Gang, die
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zwei Pfleger hinterher. Dr. Schein folgte als letzter; er kam in der
Wachkabine zum Stehen, um eine Spritze aufzuziehen. Er hatte
den Abschnitt über Rudi's Medikamentierung gelesen und wußte
daher, worauf der Patient zur Beruhigung ansprach.
Günther mit den zwei Pflegern hinter sich kam um die Ecke
zum Gang, wo die Gummizellen lagen. Zelle 2 stand offen; jetzt
schrie Helga noch einmal, doch konnten die heran stürmenden
Männer noch nichts erkennen. Die drei erreichten die Zellentür
und stoppten kurz, um sich zu orientieren. Trotz Gipsarm hielt
Rudi den Plastikfederkern seines Bettes vor sich, womit er
Schwester Helga in eine der hinteren Ecke der Zelle gedrückt
hielt. Als die Pfleger im Eingang erschienen, schaute sich Rudi
um, mit einem Wut verzerrten animalischen Ausdruck im Gesicht.
Er wendete sich seinen neuen Feinden zu und stürzte mit dem Federkern voraus auf die neue Bedrohung los, während Helga ihrer
Zwangslage entledigt schluchzend mit den Händen vorm Gesicht
in sich zusammensackte.
Die beiden für solche Situationen ausgebildeten LKH-Pfleger
machten einen Schritt in die Zelle, um dann seitlich auszuweichen, als Rudi heran gestürmt kam. Günther trat einen Schritt zurück in den Gang, so daß Rudi mit dem Federkern gegen den Türrahmen krachte, durch den er natürlich nicht paßte. Die beiden
Pfleger in der Zelle näherten sich nun vorsichtig von hinten, um
Rudi zu packen. Dieser drehte sich reflexartig um 180 Grad und
stand jetzt im Türrahmen, die beiden hinter dem Federkern vor
ihm.
Angesichts der beiden Widersacher entwickelte Rudi den Instinkt eines in die Enge getriebenen Raubtieres. Es gab für ihn nur
eine Entscheidung: Angriff. Rudi stürmte vorwärts und drückte
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dabei die zwei kräftigen Burschen rückwärts über die Bettlehne,
so daß sie für einige Augenblicke mit dem Abfangen des Sturzes
beschäftigt waren. Rudi hob den Federkern in die Höhe zu einem
vernichtenden Schlag.
Jetzt war allerdings Günther hinter ihm, der vielleicht einen
Moment zu lange gezögert hatte. Er schlang seine Arme um den
rasenden Patienten, der sofort auf diese Attacke reagierte. Man
kann die Kräfte nicht vermuten, die in einem Menschen in solcher
Verfassung stecken. Wie eine lästige Fliege schüttelte ihn Rudi
ab. Dabei riß die Bandage seines noch unverletzten Armes, der bis
jetzt am Federkern angebunden war. Zum Glück für Günther,
denn so geriet Rudi ins stolpern und fiel mit dem Plastikteil auf
ihn drauf. Doch hierbei löste sich nun auch die andere Bandage,
die den Gipsarm bislang fixierte.
Die von selbst eingetretene Freiheit bekam der erste der beiden
Pfleger zu spüren, der sich aus dem Bettgestell gelöst hatte. Wie
eine Keule verwendete Rudi seinen verletzten Arm und der arme
Pfleger segelte bewußtlos in eine Ecke. Der zweite versuchte es
dennoch Rudi zu packen, doch erging es ihm nicht besser als seinem Kollegen. Ein Schlag mit der Gipskeule genügte, um ihn
kampfunfähig zu machen.
Da Günther und Schwester Helga sich lieber ruhig verhielten sie sahen ein, daß es keine Chance gab, Rudi zu stoppen -, glaubte
dieser, alle Hindernisse beseitigt zu haben. Doch jetzt erschien Dr.
Schein in der Tür. „Aber nun wollen wir doch mal ganz ruhig sein
und eine kleine Spritze nehmen und...“ Weiter kam er nicht, denn
schon stürzte Rudi auf seinen neuen Gegner los.
Der Anfall war keineswegs vorüber, er endet in der Regel erst
dann, wenn der Patient vor körperlicher Erschöpfung einschläft.
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Doch so weit war es noch nicht mit Rudi. In letzter Sekunde konnte Dr. Schein zur Seite springen und Rudi stürmte an ihm vorbei
und stand jetzt auf dem Gang. Einen Augenblick wußte er nicht,
was er tun sollte, denn nach zwei Seiten war der Weg nun frei.
Als er diesen Umstand realisiert hatte beschloß er das zu machen,
was er ohnehin vorgehabt hatte: Nach Hause gehen.
Mittlerweile war Günther unter dem Federkern hervor gekrochen. Er stellte sich neben Dr. Schein, der immer noch die aufgezogene Spritze nach oben zeigend in der Hand hielt. Sie schauten
sich an und wußten was zu tun war. Auf keinen Fall durften sie
den Patienten gehen lassen. Zum einen wäre die Eingangstür der
Station keineswegs ein Hindernis für den rasenden Rudi gewesen,
falls er sie gefunden hätte, zum anderen waren die Mitpatienten in
großer Gefahr, die sie höchst wahrscheinlich überhaupt nicht einschätzen konnten. Günther und der Arzt brauchten nur ein paar
Sekunden um die Injektion machen zu können. Nach kürzester
Zeit würde das Mittel intramuskulär verabreicht wirken.
Doch es kam ganz anders, noch bevor sie sich in Bewegung
setzten. Am Ende des Gangs, wo sich die Sechsbettzimmer
befanden kam Terry aus einer Tür und sagte mit einer absolut unbekannten Stimme: „Geh schlafen. Störe uns nicht weiter.“ Dabei
hob er seinen ausgestreckten Arm und zeigte Rudi die offene
Handfläche. Dieser drehte sich prompt um, ging in Zelle 2 zurück
und legte sich auf die herunter gefallene Matratze, um nach zwei
normalen Atemzügen anzufangen laut aber beruhigt zu schnarchen.
Günther blickte zum Ende des Ganges, doch Terry war wieder
in der Tür verschwunden. Dann schaute er auf Rudi, der friedlich
schlief und zuletzt auf das verdutzte Gesicht von Dr. Schein der
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meinte: „Laß' uns um die beiden kümmern.“
Damit waren die beiden verletzten Pfleger gemeint. Doch noch
bevor sie sie wieder auf die Beine stellen konnten, spritzte der Doktor dem Patienten Rudolf Klein das Beruhigungsmittel.
Einer der LKH-Pfleger konnte auf eigenen Füßen zurück in
den Aufenthaltsraum gelangen, der andere wurde auf eine fahrbare Trage gehoben und kam erst vor der Wachkabine aus seiner unfreiwilligen Narkose zu sich. Die Verletzungen waren nicht von
Bedeutung, doch brummte den beiden noch gehörig der Schädel.
Diesen hielten sie nun in ihren Händen gestützt und warteten auf
die Wirkung des Schmerzmittels, daß man ihnen verabreicht hatte.
Zwei dicke Beulen und ein paar Abschürfungen war alles, was
von dem Kampf noch zu sehen war.
Die Unverletzten räumten die Zelle auf; man hatte Rudi mühelos von der Matratze rollen können, um das Bett wieder in seine
alte Form zu bringen. Mit vereinten Kräften war der Patient auf
die frisch bezogene Matratze gehoben worden und selbstverständlich wurden die Bandagen doppelt gesichert an den Hand- und
Fußgelenken befestigt.
Schwester Helga schluchzte nicht mehr; sie kochte einen weiteren Kaffee, denn angesichts der hektischen Geschehnisse dachte
keiner der Beteiligten an nach Hause gehen, obwohl die Dienstzeit
zu Ende war.
Die inzwischen erschienene Nachtschwester bekam den Vorfall
von dem Zivi erzählt, der seinen Posten in der Wachkabine wieder
eingenommen hatte. Langsam beruhigten sich die erregten Gemüter und schließlich meinte Dr. Schein: „Ich weiß nicht so recht,
aber allem Anschein nach hat sich der Patient von alleine beruhigt.“
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Doch wer ihn kannte wußte, daß er selbst daran zweifelte, was
er da sagte. Denn zu Günther gewand fuhr er fort: „Oder was
meinen sie, Günther?“ Dieser schüttelte bedächtig den Kopf, sagte
aber nichts.
Der LKH-Pfleger, der schon erwacht war, als Rudi sich auf seine Matratze gelegt hatte gab zu bedenken: „Mir erscheint das
allerdings nicht normal. Zweimal ist Rudi bei uns in ähnlicher
Form ausgerastet und jedesmal ist er vor der gepanzerten Ausgangstür eingeschlafen, nachdem er bis zur totalen Erschöpfung
versucht hatte dort hindurch zu kommen.“
Der Zivi kam an die Durchgangstür zum Aufenthaltsraum und
sagte: „Ich kann zwar die Zusammenhänge nicht verstehen, doch
was mir auffiel ist vielleicht erwähnenswert. Durch den Krach
angelockt wollte ich nachschauen, ob ich helfen könnte. Die
Wachkabine hatte ich zugeschlossen und bin den Quergang runter,
der genau auf dem Gang zwischen Zelle 2 und dem Sechsbettzimmer von Terry endet. Dort prallte ich wie gegen eine unsichtbare Mauer. Meine sämtlichen Haare standen zu Berge, richtig
unangenehm war das, weil ich auch keine Erklärung dafür fand.“
Günther hatte aufmerksam zugehört, sagte aber immer noch
nichts. Dr. Schein schaute den Ersatzdienstleistenden an und versuchte sich vorzustellen, wie das bei seinen Rasterlocken ausgesehen haben mochte. Eigentlich wollte er noch eine Bemerkung
über die Sensibilität der Kriegsdienstverweigerer anbringen, doch
fiel ihm ein, das auch seine Haare gesträubt waren in dem
Moment, als Terry seine Handfläche gezeigt hatte.
Zweifel beschlichen ihn ob seiner praktischen Denkweise, die
keinerlei paranormales dulden wollte. Doch plötzlich hatte er eine
Idee: „Wie wäre es, wenn wir Professor Ferner von der Uni A.
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einladen würden, damit er sich Terry anschauen kann? Er hat
einen Lehrstuhl für Parapsychologie und ist eine allgemein anerkannte Autorität auf diesem Gebiet.“
Das sagte er zwar, dachte aber, daß es wohl das Beste sei, falls
die Möglichkeit besteht, Terry dorthin zu überweisen. Irgendwie
hatte er ein unangenehmes Gefühl dabei, diesen merkwürdigen
jungen Mann noch länger hier zu behalten. Den Eltern würde er
das schon klar machen. Auf einmal war der Fall für ihn bereinigt.
Gleich morgen wollte er alles in die Wege leiten, schließlich
handelte es sich hier um eine Kompetenzfrage. In dieser Klinik
hatte man wohl nicht die nötigen Kenntnisse für solch einen ungewöhnlichen Fall, um entsprechend darauf reagieren zu können.
Und außerdem ging es um die Ruhe auf Station, für die er letztlich
verantwortlich war und die ab jetzt nicht mehr gewährleistet
werden konnte.
Günther zeigte Interesse an der Idee. Ihm war klar, daß der Doktor weniger an Rudi dachte, als an Terry Heimlich. Doch witterte
er auch die Absicht des Arztes, den ihm unangenehmen Patienten
abzuschieben. Deshalb gab er zu bedenken: „Meinen sie, der
kommt? Soviel ich weiß, ist das ein äußert beschäftigter Typ. Terry da hin zu schicken fände ich überhaupt nicht gut. Sie wissen ja,
wie sensibel er auf Veränderungen seiner Umwelt reagiert. Und
vor allem, was wird aus der Therapie?“
„Wir werden sehen,“ erwiderte Dr. Schein. Für ihn war das
Problem gelöst. Er gab der Nachtschwester noch ein paar Anweisungen für die Neueinlieferung und verabschiedete sich. Den
beiden LKH-Pflegern ging es inzwischen schon wesentlich besser,
so daß auch sie ihren Rückweg antraten mit der Gewißheit, ihren
Kollegen eine spektakuläre Geschichte mitzubringen.
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Der Zivi verschwand ebenfalls, nur Schwester Helga druckste
noch herum. „Es war alles meine Schuld,“ sagte sie endlich zu
Günther, der seinen weißen Kittel abgelegt hatte.
„Wieso?“, fragte er verdutzt.
„Ja, ich hätte Terry nicht fragen dürfen, ob er mir helfen könnte. Als er mir die Tür zu Zelle 2 aufhielt, weil ich das Tablett trug,
fragte er, was dem Mann denn fehle. Doch ich konnte nicht sofort
antworten, denn Herr Klein schrie unentwegt, ich solle ihn losbinden und so. Als ich das Tablett mit den Schnitten auf den Ecktisch gestellt hatte, war Terry mit in der Zelle und Herr Klein war
auf einmal ganz ruhig. Darum dachte ich auch, ich könnte ihn
füttern. Er nervt so, wenn er schreit, hatte Terry noch gesagt, doch
da mußte er ihm die Fußfesseln schon gelöst haben; gesehen habe
ich nichts. Als Terry weg war habe ich ein wenig mit Herrn Klein
gesprochen. Der war richtig nett; nur konnte ich ihm nichts sagen
wegen der Bandagen und so, obwohl er danach bohrte. Zwei Minuten später kriegte er plötzlich einen ganz irren Blick und sprang
aus dem Bett mit dem Federkern an den Handbandagen - die Füße
waren frei. Den Federkern hat er dann über den Kopf nach vorne
gehoben und dann ist er auf mich los. Ach, es war schrecklich.“
Wieder fing sie an zu schluchzen. Günther legte ihr die Hand
auf die Schulter und meinte zur Beruhigung: „Schlafen sie sich
erst einmal gut aus, morgen sieht alles ganz anders aus. Sie haben
nichts falsch gemacht. Es ist gut, daß sie mir das erzählt haben,
sonst hätte ich die ganze Nacht darüber gegrübelt, wie Rudi aus
den Fußbandagen gekommen ist.“
Nach einer insgesamt ruhigen Nacht - Rudi bekam alle vier
Stunden eine Injektion, er würde den Dämmerzustand nicht mehr
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verlassen, es sei denn, der Arzt ordnete es an oder die Spritze
würde einmal vergessen - trat Günther morgens seinen Dienst an.
Er hatte lange nicht einschlafen können gestern abend. Die Idee,
Terry als Versuchskaninchen in ein Forschungslabor abzugeben
hatte ihm Kopfzerbrechen bereitet.
Im Moment jedenfalls war dieses Problem nicht lösbar und
außerdem mußte sich Günther um den Tagesplan kümmern. Er
fand schnell die nötige Konzentration, die ihn auszeichnete und
zum leitenden Stationspfleger hatte aufsteigen lassen. In der Station war alles ruhig und er las die Bestätigung der Nachtschwester,
daß es auch in der Nacht so gewesen sein mußte. Nichts deutete
auf die Vorkommnisse von gestern abend hin.
Im Plan stand oben an: Rudi Klein, Zelle 2 - nächste Spritze
D.N.i.m. 10:00 Uhr, als nächstes: Peter Vollmer, Zim. 8, EEG
9:00 Uhr. Er ging die Liste komplett durch um einen Überblick
über die anstehende Arbeit zu bekommen und seine Leute richtig
einzuteilen.
Das Waschen der bettlägerigen Patienten wurde von den Zivi's
übernommen und die Schwestern kontrollierten die Waschräume
der anderen. Schwester Irmgard kam eine halbe Stunde zu spät,
mit einer hastigen Entschuldigung ging sie an ihre Arbeit. Ein
Tag, wie fast jeder andere begann.
Als Dr. Schein gegen 9:00 Uhr auf Station kam, war das
Hauptpensum des Vormittags schon erledigt. Er blieb nur eine
Stunde, denn er hatte noch zwei Vorlesungen über motorische
Störungen bei Depressionen zu halten. Schon in der Telefonzentrale beim Pförtner hatte er mit Professor Ferner telefoniert
und erwartete eine positive Antwort beim Rückruf, den er vormittags erhalten sollte. Als er ging informierte er Günther darüber.
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„Nehmen sie den Anruf entgegen, falls ich noch im Hörsaal
sein sollte. Machen sie die Überweisungspapiere fertig und bestellen sie auch den Wagen. Falls ich dann immer noch nicht da
sein sollte, piepsen sie mich ruhig an. Er soll heute noch weg.“
„Sie meinen Herrn Heimlich, falls ich recht verstanden habe?“,
erkundigte sich der Pfleger, doch etwas verwirrt über die Eile in
dieser Angelegenheit.
„Sie haben recht verstanden,“ brüskierte sich Dr. Schein und
ließ Günther stehen. Der Arzt wußte natürlich Bescheid über Terry's Ansehen als Lieblingspatient beim Personal. Er dachte es
wäre besser, erst gar keine Diskussion aufkommen zu lassen und
in Kürze wäre sowieso alles vergessen. Die Gedanken an das, was
mit dem jungen Mann passieren würde hatte er längst verdrängt.
Schließlich ging es nicht um das Wohl eines einzelnen Patienten,
sondern ein Stationsarzt hatte auf das Wohl aller in seinem Bereich zu achten.
Als der Doktor weg war, verfing sich Günther augenblicklich
wieder in seine Gedanken um Terry. Ihm war klar, daß er sich im
Kreise bewegte und die Dinge wahrscheinlich so laufen lassen
mußte, weil er eh' nichts daran ändern konnte. Er blickte vom
Schreibtisch in der Wachkabine auf, weil er sich beobachtet fühlte
und sah durch das Glas auf Terry - er stand ihm genau gegenüber
und schaute ihn an. Er bewegte seine Lippen, als wenn er sprechen würde. Gleichzeitig mit dem Gedanken, daß man in der geschlossenen Wachkabine nichts hören konnte, was draußen
gesprochen wurde, verstand Günther Terry's Worte trotzdem:
„Die Wahrheit ist die Zwangsjacke der Gerechten. Aber, wer verstehen will muß auch lügen können.“
Das sagte ihm nichts. Bevor er darüber nachdenken konnte,
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klingelte das Telefon und Professor Ferner ließ mitteilen, daß eine
Unterbringung möglich gemacht wurde und der Patient noch heute überwiesen werden könnte.
Günther nickte und legte auf ohne ein Wort zu sagen. Sein
Blick haftete noch immer auf seinem Gegenüber. Ihm war absolut
klar, was er jetzt zu tun hatte. Er ging auf den Gang, gab Terry
seinen Autoschlüssel und schloß ihm die Stationstür auf. Dieser
ging wie selbstverständlich durch die Halle, durch den Ausgang
direkt auf Günthers Auto zu, um damit in Richtung Stadt zu
verschwinden.
Erst als fünf Minuten vergangen waren - Günther saß schon
wieder in der Kabine beim krampfhaften Versuch zu erklären, was
eigentlich vorgefallen war -, wurde ihm bewußt, daß Terry seinen
Wagen gar nicht kannte. Jetzt fiel es ihm plötzlich wie Schuppen
von den Augen: Terry hatte ihn hereingelegt, wahrscheinlich mit
irgend einem Hypnosetrick. Er wählte die Nummer des Piepsers
von Dr. Schein, ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die
Dringlichkeit klar zu machen und wählte dann die Nummer des
Pförtners der Hauptausfahrt.
Von dem Diensthabenden erfuhr er, daß sein Wagen gerade
eben mit höllischem Tempo vorbei gerast war. Dann legte er
wieder auf und erwartete Dr. Scheins Rückruf.
Nach einer halben Minute klingelte es und am anderen Ende
meldete sich der Arzt mit seinem obligatorischen gedehnten:
„Jaa?“
„Günther hier. Erstens ist mit der Überweisung alles klar und
zweitens hat der Patient soeben das Klinikgelände verlassen.“
„Gut gemacht Günther, glauben sie mir...“
Günther unterbrach ihn mit den Worten: „Sie haben mich
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falsch verstanden, er ist abgehauen.“
„Was? Das kann doch nicht wahr sein. Wie konnte das
passieren? Ist er zu Fuß weg?“
„Nein, mit meinem Wagen.“
„Günther,“ entrüstete sich Dr. Schein, „sie haben doch nicht
etwa ... Warten sie, ich komme.“
Zwei Minuten später betrat er die Kabine, wo Günther auf ihn
gewartet hatte und hörte sich seine Erklärung an. Dann sagte er:
„So ein Mist. Wir müssen was unternehmen.“
Nach einer Weile des Nachdenkens fuhr er fort: „Passen sie
auf. Man kann hier von einem gewaltsamen Ausbruch ausgehen,
also verständigen wir die Polizei.“
„Ich glaube, das kann man nicht verantworten, weil er ja ein
Freiwilliger ist. Außerdem müßten wir im Nachhinein beweisen,
daß er die Stationstür mit Gewalt geöffnet hat.“
„Sie haben recht. Doch mir fällt noch eine Möglichkeit ein.
Wir machen eine Anzeige wegen Autodiebstahl eines Irren, der
der Beaufsichtigung entkommen ist. Und wir verweisen auf die
Allgemeingefährdung, was halten sie davon?“
„Ja, das könnte gehen.“ Schon hatte er den Hörer wieder in der
Hand und ließ sich über die Zentrale die Polizei geben. Damit war
alles getan, was sie im Moment von der Klinik aus tun konnten.
Derweil fuhr Terry in Günthers Kleinwagen in Richtung Stadt
und schaute sich den Film an, der hinter der Windschutzscheibe
ablief. Das matte graue Band mit den weißen Mittelstreifen, teils
unterbrochen - teils durchgehend, wurde praktisch vom Fahrzeug
verschlungen. Jedesmal wenn ein Wagen entgegen kam und hupend auf den Seitenstreifen ausweichen mußte, weil Terry nun
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mal die Mitte der Fahrbahn für die sicherste Spur hielt, lachte er
laut auf. Der Film war spannend und er gefiel ihm gut.
Er fuhr rein instinktiv in dem sicheren Bewußtsein, daß ihm
nichts passieren konnte. Sein Körper vollzog die notwendigen
Schaltungen, Hebelbetätigungen und Lenkbewegungen, seine
Konzentration zielte auf die vereinzelten Begegnungen des
Gegenverkehrs. So manch professioneller Autofahrer wäre vor
Neid erblaßt, hätte er gesehen, was Terry aus dem kleinen Auto
herausholte. Der Weg von der Uni-Klinik hinunter zur Stadt verlief steil abschüssig und sehr kurvenreich.
Nun erreichte er den Fuß des Hügels und der zunehmende
Stadtverkehr machte die Irrfahrt immer gefährlicher. Zweimal
wäre es um ein Haar passiert, daß er einen Unfall provoziert hätte,
doch dann stand plötzlich ein Funkstreifenwagen quer auf der
Straße und Terry stieg in die Eisen. Mit quietschenden Reifen
kam sein Fahrzeug kurz vor dem Hindernis zum Stehen.
Die beiden Beamten waren informiert und hatten den angeblich
gestohlenen Wagen kurz vor dem Zubringer zur Autobahn
erwartet. Da sie allerdings keine genauen Angaben über den Fahrer hatten, gingen sie ganz vorsichtig vor, um die Festnahme
durchzuführen, für die sie beauftragt waren.
Immer noch lachend entstieg Terry dem Auto. Die Beamten
näherten sich und der eine, etwas kleinere und rundlichere der
beiden meinte: „Seien sie vernünftig und steigen sie bei uns in den
Wagen. Sie werden schon vermißt in der Klinik.“
Irgendwo aus der Menge des Menschenauflaufs, der sich sofort
gebildet hatte rief einer: „Das ist einer vom Pavillon Freud, der
hat bestimmt Ausgang.“
Terry hörte das nicht. Er fand die Situation allerdings lustig
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und sein nächster Streich paßte dann auch in die von ihm inszenierte Komödie. Er hob seinen Arm hoch dem näher kommenden Polizisten entgegen und sagte: „Bull-shit!“ Anschließend
drehte er sich zur Seite und ging ausgreifenden Schrittes auf den
Park zu, der von hier aus parallel zur Straße in Richtung Stadtmitte verlief. Zwei Autos die auf dem Gehweg abgestellt waren
überquerte er der Länge nach, indem er auf die Kühlerhaube
sprang, das Dach erklomm und am Heck herunter rutschte, als
wenn es ganz normale Hindernisse auf seinem direkten Weg wären.
Von den Passanten hinderte ihn niemand, denn ihre Blicke
wurden von den Polizeibeamten angezogen, mit denen anscheinend etwas merkwürdiges geschehen war. Diese fühlten sich
außerstande zu reagieren, denn was ihr Körper in diesem Moment
vollzog lag außerhalb der Dienstvorschrift und konnte auch nicht
direkt als Bedrohung ausgelegt werden. Da war eine, jedenfalls
nicht von ihnen gewünschte Fehlschaltung des Schließmuskels geschehen.
Mit bittersüßer Miene stiegen sie breitbeinig in ihr Fahrzeug,
denn die schmunzelnden Gesichter ringsum deuteten an, daß ihr
Mißgeschick nicht unentdeckt geblieben war. Sie versuchten so
bequem wie möglich Platz zu nehmen. Der Beifahrer betätigte die
Funkanlage: „Hier Dora 17, Zentrale bitte kommen.“
„Zentrale hört.“
„Einsatz Bergstraße vorerst abgeschlossen. Der als gestohlen
gemeldete Wagen ist sichergestellt - Fahrzeugführer flüchtig.
Bitte um Ablösung, wir sind nicht einsatzbereit. Flüchtige Person
läuft in Richtung Stadtmitte auf dem Grünstreifen des Schloßtheaters - ist jetzt Höhe Ulmer Straße. Wir bitten um eine Stunde
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Dienstbefreiung wegen Reinigung der Uniform.“
„Was ist denn passiert?“
„Wir melden uns auf dem Revier wenn wir fertig sind. Ich erzähl's dir dann, Karl-Heinz. Jedenfalls eine große Sauerei. Wenn
ich den Arzt erwische, der die Anzeige gemacht hat, kann er was
erleben. Er hätte uns schließlich warnen können. Ende.“
Der Streifenwagen setzte sich in Bewegung. Der inzwischen
entstandene Stau nahm bedenkliche Ausmaße an. Ein zweiter
Streifenwagen rollte heran und bereinigte die Situation, damit der
Verkehr wieder fließen konnte.
Es hatte einige Sekunden gedauert, bis die Zuschauer der Szene
verstanden, was da eigentlich passiert war und erklären konnte sie
sie natürlich erst recht nicht. Die am nächsten Stehenden hatten
als erstes einen unmißverständlichen Geruch aufgefangen, der von
den Beamten ausging, als diese in ihren Wagen stiegen und mehr
war auch gar nicht nötig, um die allseits beliebte Schadenfreude
so richtig aufleben zu lassen. Die Türen des Polizeiautos fielen
gerade ins Schloß, da machte bereits die erste Bemerkung ihre
Runde: „Muß eine beschissene Situation sein für unsere Polizei.“
Ein anderer rief: „Da ist der Festnahmeversuch wohl in die
Hose gegangen.“ Die Vorkommnisse waren noch lange
Gesprächsstoff bei denen, die die Szene beobachtet hatten, doch
nach geraumer Zeit geriet der Zwischenfall in Vergessenheit.
Derweil schlug Terry ein Joggertempo an, die frische Luft auf
dem Rasen tat ihm gut. Er näherte sich einer Gruppe junger Leute,
die im Kreis auf dem Gras saßen. Vor ihnen lagen verstreut Bücher herum, sowie einige Taschen. Terry verlangsamte seinen
Lauf, um bei der Gruppe ganz zum Stehen zu kommen. Da war etwas anziehendes und er nahm den Faden spontan auf.
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Er setzte sich einfach dazu; keiner der Sitzenden zeigte eine
abweisende Geste. Nach einer Weile, während die Studenten - unmißverständlich am Gesprächsinhalt erkenntlich - die ganze Zeit
über organisatorische Dinge ihres Alltags diskutierten, sprach
einer von ihnen Terry an. „Na, du siehst ja ganz schön zerzaust
aus. Willste 'ne Schnitte?“
Terry vermißte sein Mittagessen plötzlich und bekam leuchtende Augen vor Freude. Er langte kräftig zu, die anderen
schwiegen. Ein Mädchen, Terry gegenüber sitzend, erblickte hinter ihm auf der Straße am Rande des Grünstreifens ein Polizeiauto. Terry bemerkte es, schaute sich aber nicht um.
„Die suchen mich,“ sagte er, nachdem er das Butterbrot aufgegessen hatte.
„Haste was ausgefressen?“, fragte einer.
„Nein, abgehauen.“
„Und was hast du vor?“
„Kann ich 'ne Zigarette haben?“
„Klar, Mann.“ Terry zündete sich die Zigarette an und stand
auf.
„Danke,“ sagte er und verneigte sich vor der Gruppe, wobei er
die angewinkelten Arme von der Brust nach außen bewegte. Dann
ging er in Richtung Stadtmitte weiter, den Streifenwagen ignorierend. Er rauchte im Gehen, während das Polizeiauto auf gleicher Höhe mit ihm Schritt hielt. Diesem gegenüber auf der Parallelstraße zur anderen Seite der Parkanlage erschien ein zweites
grünes Auto.
Es waren neue Instruktionen ausgegeben worden. „An Dora 7.
Verfolgung beibehalten, nicht näher heran gehen, Flüchtiger ist
sehr gefährlich, kein Schußwaffengebrauch - nur im äußersten
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Notfall. Klinikpersonal ist unterwegs, um Sicherstellung des
Flüchtigen selbst vorzunehmen. Dora 11, biegen sie von der Arndtstraße in die Parkstraße rechts ein. Abstand halten. Verstanden?
Ende.“
Jetzt hatte Terry seine Zigarette aufgeraucht, wendete plötzlich
um neunzig Grad und ging zielstrebig auf den links fahrenden Polizeiwagen zu. Das Fahrzeug hielt an. Als er nahe genug herangekommen war sagte er: „Ihr könnt mich zurück fahren.“
„Aber keine Zicken,“ meinte der Beifahrer durchs herunter gekurbelt Fenster. Er war von Karl-Heinz aus der Zentrale gewarnt
worden. Terry stieg in die hintere Tür ein. Das Mädchen aus der
Studentengruppe meinte hinter ihm her blickend: „Ich glaube, der
ist nur wegen einer Zigarette abgehauen. Armes Schwein.“
Es war schon etwas kribbelig für die beiden Beamten von Dora
7. Nach drei Straßenecken und dem Abbiegen in Richtung Klinik
löste sich die bedrohliche Situation ein wenig. Eigentlich hätte er
lieber geschwiegen, der Hauptwachtmeister auf dem Beifahrersitz,
doch dachte er, zumal der Flüchtige augenscheinlich durch sein
Einsteigen wieder zu Verstand gekommen war, die Atmosphäre
weiter zu lockern. Die von hinter seinem Rücken ausgehende
Spannung schien noch immer vorhanden, er fühlte sich veranlaßt
etwas zu sagen, doch fiel ihm nichts besseres ein als: „Wir hätten
dich sowieso gekriegt. Wo hättest du auch hingewollt?“
Besonders behaglich war ihm allerdings nicht dabei. Terry
schaute auf seinen Hinterkopf und reagierte seinem Instinkt entsprechend. Er hob seine rechte Hand, mit der Handfläche auf den
Hinterkopf seines Vordermanns gerichtet und sagte: „Wer bist
du?“
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Dieser sagte nichts mehr und der Fahrer merkte nichts von der
Aktion. Sie standen gerade vor einer roten Ampel an der Abzweigung Bergstraße und Rampenweg als der Hauptwachtmeister seine Seitentür öffnete und Hals über Kopf aus dem Auto stürzte.
Auf dem Bürgersteig war eine Bank, auf die er sich sodann setzte,
um stumm zu verharren. Die Ampel sprang auf grün, doch fühlte
sich der Fahrer außerstande zu reagieren. Dann plötzlich griff er
zum Funkgerät.
„Laß das,“ sagte Terry, „wir fahren gerade aus weiter. Dem
Kollegen fehlt nichts.“
Es war ein hypnotischer Befehl und wurde ausgeführt. Die
Straße links hoch führte zur Klinik, gerade aus ging es zu einem
Vorort der Stadt und weiter zur Autobahnauffahrt.
Dem Hauptwachtmeister auf der Bank fehlte wirklich nichts.
Völlig unerwartet hatte er sich selbst gesehen. Das gesamte anerzogene Pflichtbewußtsein war vergessen. Er saß da und hielt eine
Innenschau ab, bei der er sich selbst als unaufrichtig, wichtigtuerisch und gehässig entlarvte. Das mißfiel ihm ganz und gar, lieber
wollte er alle Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, als noch eine
Sekunde länger so weiter machen. Seine Dienstmütze und Jacke
ließ er auf der Bank zurück und ging in Richtung Stadt davon.
Nur wenige hatten Notiz von ihm genommen.
Indessen passierte der Streifenwagen den Vorort, um danach
die Stadt gänzlich zu verlassen. Der Fahrer war jetzt total ruhig
ohne das Terry nachgeholfen hatte. Der Beamte sah ein, daß er
keine Chance gegen die unheimlichen Kräfte des jungen Mannes
hinter ihm besaß. Die Bewegungen, die er gegen seinen eigenen
Willen ausführen mußte, waren überzeugend genug.
Er spürte keinerlei Aggression gegen den Flüchtigen, hier ging
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anscheinend etwas vor, daß seinen Horizont bei weitem überragte.
Der Entschluß sich in die Situation zu ergeben war eine
folgerichtiger Schritt für ihn. Schließlich fragte er: „Was hast du
mit meinem Kollegen gemacht?“
Der Ablauf der Dinge verlief nach Terry's Zufriedenheit; im
Moment bestand von keiner Seite aus Gefahr. Und der Polizist
schien mehr Mensch zu sein, als er es selbst vermutet hätte.
Deshalb antwortete er wahrheitsgemäß: „Er sah das dritte Auge in
einer Kurzmeditation.“
„Verstehe ich nicht.“
Terry sah keine Veranlassung weitere Erklärungen abzugeben.
Nachdem sie eine Weile schweigend weiter gefahren waren, fragte der Beamte: „Was ist das dritte Auge?“
„Die Wahrheit,“ antwortete Terry knapp. Wieder schwiegen
sie. Die Autobahnauffahrt kam näher und Terry deutete auf ein
Schild. „Richtung Süden,“ sagte er zu dem Polizisten. Ohne
Zwang bog er in die angegebene Richtung ein und beschleunigte
das Tempo ohne weitere Anweisungen abzuwarten.
„Du scheinst genau zu wissen, was du willst. Einen Irren stelle
ich mir allerdings anders vor,“ begann er wiederum das Gespräch.
Terry grinste. „Irrsinn ist ein dehnbarer Begriff. Wenn wir uns
gegenseitig als irr bezeichnen und uns selbst als normal, hätten
wir beide recht. Aber was bedeutet denn schon normal? Das was
die Menschen als normal begreifen ist nichts weiter als eine von
allen geduldete Übereinkunft, gestützt auf dem Diktat der Mehrheit. Wirklich krankhafter Irrsinn ist es, wenn mit Gewalt versucht
wird diese unbelegbare Absprache durchzusetzen.“
Der Beamte wußte nichts darauf zu sagen, er fühlte sich ernsthaft betroffen. Bisher war es ihm nie in den Sinn gekommen daran
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zu zweifeln, daß er ein Vertreter des Rechts darstellt und nicht ein
Werkzeug einer Macht ausübenden Gruppe, die ihre Legitimation
allein daraus ableitete, die Mehrheit hinter sich zu wissen.
Einen Moment lang konnte er einen vorurteilsfreien Blick auf
jene werfen, die er schlechthin als Feinde des Systems bezeichnete und fühlte sich dabei reichlich verwirrt. Dann aber wischte er
aus Eigenschutz die Gedanken beiseite und nahm sich vor bei Gelegenheit in Ruhe über sich und sein Leben nachzudenken.
Einiges hatte ihm eingeleuchtet von dem, was sein Hintermann
geäußert hatte, aber die Beweggründe blieben weiterhin unverständlich.
Eine Autobahnraststätte kündigte sich an und Terry gab zu verstehen, daß er dort aussteigen wolle. Kurz vor der Einfahrt meldete sich die Zentrale über Funk: „Dora 7, bitte kommen.“
„Dora 7 hört,“ antwortete der Polizist.
„Fahren sie nach ihrem Einsatz Uni-Klinik in die Nordstraße
12. Eine Mieterin beschwert sich über den Krach einer RockGruppe aus dem Keller. Schaut mal nach, was da los ist. Alles klar
bei euch?“
„Alles klar,“ antwortete der Fahrer, „nächster Einsatz Nordstraße 12. Verstanden. Ende.“
Terry empfand es als selbstverständlich, daß er nicht eingreifen
brauchte. Er hatte an der Schwingung des Beamten gespürt, daß
dieser auch so verstand, was Terry von ihm wollte. Der Mann gefiel ihm gut, er hatte sich nicht getäuscht in seiner Einschätzung
einen Menschen vor sich zu haben. Deshalb bedankte er sich auf
seine übliche Art bei ihm, als er dem Wagen an der Raststätte entstieg.
„Eine letzte Frage noch,“ meinte der Fahrer, „meine Gedanken
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eben bei der Fahrt, waren das meine eigenen oder hast du da mitgemischt?“ Terry lachte nur und schlug die Wagentür zu. Er überließ den Beamten sich selbst, der von allein auf die Antwort kommen würde. Letzterer verließ die Raststätte um an der nächsten
Ausfahrt zu wenden. Dann fuhr er zurück in die Stadt, fand auf
der Bank an der Ampel die Sachen seines Kollegen und ihn selbst
auf dem Weg zur Stadtmitte ein paar Kilometer weiter.
„Hallo Kumpel,“ rief er ihm zu, „ wollen wir nicht gemeinsam
grübeln?“
Der Hauptwachtmeister stieg wieder ein und meinte: „Weißt
du, mich hat's echt erwischt, ich schmeiße den Dienst.“
„Verstehe ich, wirklich,“ erwiderte der andere. „Laß uns mal
richtig ausquatschen bei 'ner guten Tasse Kaffee. Hast du Lust?“
So wurden die beiden Freunde und verbrachten noch etliche
Dienststunden bei gemeinsamen Einsätzen, mit einer etwas geänderten Einstellung gegenüber den Menschen.
An der Autobahnraststätte war nicht viel Betrieb. Trotzdem
brauchte Terry nicht lange zu suchen, um den richtigen Wagen zu
finden, der ihn da hin bringen sollte, wo er hin wollte. Ein junges
Ehepaar mit einem fünfjährigen Jungen ließ sich nach ein paar
Worten davon überzeugen, daß sie noch Platz genug hatten, einen
Tramper ohne Gepäck mitzunehmen. Terry brauchte auch gar
nicht nachzuhelfen, denn der Junge bedrängte geradezu seine
Eltern, den Anhalter doch einsteigen zu lassen.
Zuerst schwiegen alle, während der vierjährige seinen Nebenmann Terry andauernd von der Seite aus ansah. Doch dann überwand er seine durch die Erziehung verordnete Zurückhaltung. Das
was ihn die ganze Zeit beschäftigte, kam schließlich als Frage her54
aus: „Warum hast du eigentlich kein Auto?“
„Ich brauche keines,“ stellte Terry sachlich fest.
Der Kleine überlegte und sagte dann: „Stimmt.“ Nach einer
Weile wollte er wissen: „Aber warum brauchst du keines?“
„Nerv' doch nicht so mit deiner andauernden Fragerei,“ warf
jetzt die Mutter ein. „Du siehst doch, der junge Mann möchte gar
nicht von dir ausgefragt werden,“ fügte sie hinzu.
Nach einer Weile des Nachdenkens fragte er dennoch: „ Darf
ich dich was fragen?“
Terry antwortete: „Ja.“
„Wo wohnst du denn?“
„In der Uni-Klinik der Stadt, wo ihr gerade vorbei gefahren
seit.“
„Bist du denn krank?“
„Nein.“
„Aber warum wohnst du denn in einer Klinik?“
Jetzt meldete sich der Vater in einem verschärften Tonfall zu
Wort: „Nun halt aber mal deinen Rand. Sonst fragst du dem Herrn
noch Löcher in den Bauch.“
Noch einiges hätte er gern gewußt, doch seine Eltern bestimmten immer, wann etwas gesagt werden sollte und wann nicht. Er
widmete sich den vorbei flitzenden Bäumen und fing an zu träumen vom Leben in der Blockhütte, weit weg von Kindergarten
und Eltern. Nun sagte keiner mehr etwas in den folgenden zwei
Stunden. Nur das Ehepaar tauschte kurze Bemerkungen aus, sonst
nichts.
An einem Hinweisschild für einen Parkplatz bat Terry, ihn an
diesem raus zu lassen. Er verabschiedete sich bei dem Jungen mit
den Worten: „Danke fürs mitnehmen,“ und ging die Böschung
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hinter der Parkreihe hinauf, um in einer Gruppe von Büschen dahinter zu verschwinden.
Der Kleine im Wagen war sehr stolz auf sich, während die
Eltern sich ein wenig beleidigt fühlten. Dann fuhren sie weiter,
schweigend. Selbst das Radio unterbrach nicht die Eintönigkeit
der Autobahngeräusche, so daß sie auch nicht die Mitteilung über
den Verkehrsfunk hören konnten. Diese besagte, daß sich ein entflohener Irrer auf der Autobahn in Richtung Süden befand und als
gefährlich einzustufen wäre.
Terry war wieder einmal dort ausgestiegen, wo er schon das
letzte Mal die Bahn verlassen hatte. Vom Parkplatz zum Haus seiner Schwester waren es gut acht Kilometer. Seit ihrer Kindheit
freuten sich die beiden einzigen Kinder der Familie Heimlich über
eine innige Beziehung zueinander. Sie hatten sogar noch bevor
Terry in die Sonderschule kam Blutsbrüderschaft gefeiert, wie bei
den alten Indianern.
Vor vier Jahren verließ seine Schwester Rita nach einem Streit
mit ihren Eltern das Haus, um hier in einem umgebauten Bauernhof mit ihrem Freund Fritz zusammen zu leben. Seitdem hatten
sie sich nur noch selten gesehen, denn der Riß zwischen den
Eltern und ihr war immer noch nicht vollständig gekittet. Das
änderte sich auch nicht wesentlich, als vor zwei Jahren das erste
Enkelkind auf die Welt kam.
Auch zu Fritz hegte Terry herzliche Gefühle, wobei natürlich
noch ein kleiner Unterschied zu Rita erkennbar war. Es wäre nicht
seine Schwester gewesen, wenn sich ihr Freund nicht ebenfalls
auf ähnlicher Wellenlänge befand wie sie.
Terry legte die Strecke in Marschgeschwindigkeit zurück, denn
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die Zeit drängte und er würde bis in die Nacht hinein brauchen,
um das alte Anwesen zu erreichen. Ihn schreckte auch nicht die
Tatsache, daß es nur bis zum Morgen dauern wird, bis die Leute
aus der Klinik zusammen mit seinen Eltern erscheinen würden,
um ihn dort abzuholen. Also blieben ihm nur ein paar Stunden für
sein Aufenthalt; doch das reichte. Er beschleunigte noch etwas
mehr und genoß die frische Luft auf dem Land.
Rita lag in den Preßwehen für ihr zweites Baby. Es war kurz
vor Mitternacht und die Hebamme scherzte mit Fritz über ihre
erste gemeinsame Hausgeburt, die sie erlebt hatten. Fritz meinte
gerade: „Weißt du noch, wie nervös wir waren und dann ging
alles so einfach.“
„Ja, ja,“ sagte darauf die Frau, „wo ist denn eigentlich der
junge Mann jetzt, der uns so geholfen hat?“
„Er ist unterwegs,“ meinte Rita stöhnend während einer Wehenpause.
„Oh,“ warf die Hebamme ein, „wenn er kommt koche ich uns
schon mal einen Kräutertee. Dann wird er die Geburt ja wohl
wieder selbst in die Hand nehmen.“
„Ich glaube schon,“ sagte Rita und lächelte. Sie war ihrem Bruder äußerlich überhaupt nicht ähnlich, aber sie wußte über seine
außergewöhnliche Begabung Bescheid. Nie, auch nicht als Kinder
hatten sie besonderes Aufhebens deswegen gemacht und auch die
wenigen Streiche mit Terry's Unterstützung wurden immer so
gestaltet, daß niemand, auch nicht ihre Eltern, irgend etwas ungewöhnliches entdecken konnten. Sie teilte mit Terry die Ansicht,
seine Fähigkeiten geheim zu halten.
Fritz kuschelte sich an seine Freundin als die nächste Wehe ihren Körper erzittern ließ. Danach streichelte er ihren Bauch und
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wischte ihr den Schweiß von der Stirn. Die Abstände wurden jetzt
immer kürzer und bald würde es soweit sein.
Wie, als wenn es verabredet wäre, klopfte es an der Tür des
Hauses, das früher einmal der Einstellplatz für Kühe gewesen war.
Die Hebamme öffnete und Terry betrat die Diele.
„Sie wartet schon,“ meinte die Frau, die auch sonst öfters hier
zu Gast war und einen guten Kontakt zu den jungen Leuten pflegte. Terry ging in den Schlafraum in der ersten Etage und begrüßte
Rita und ihren Freund Fritz.
„Rechtzeitig wie immer,“ lachte Fritz, denn er war erleichtert
darüber, auch heute nicht die anstrengende Prozedur einer Geburt
miterleben zu brauchen, selbst wenn er ganz im Stillen diese
Erfahrung doch gerne einmal erlebt hätte.
Terry widmete sich ganz seiner Schwester. Er hatte sich beim
Laufen nicht allzu sehr angestrengt und konnte seine ganze
Energie nutzen, um bei der Geburt Hilfe zu geben. Nachdem seine
rechte Hand auf ihrem Bauch lag dauerte es noch dreißig Sekunden, bis das neue Menschenkind seinen ersten Schrei verlauten
ließ, denn mit der nächsten Wehe war schon alles passiert.
Rita wunderte sich erneut. Genau wie beim ersten Mal hatte sie
nicht den leisesten Druck verspürt und ein bißchen bedauerte sie,
nicht dieselben Schmerzen leiden zu müssen wie die anderen
Frauen, mit denen sie oft über dieses Ereignis geredet hatte. Doch
das war nur eine fixe Idee, die sie sofort wieder verwarf. Jetzt
spürte sie doch eine wohltuende Erschöpfung.
Das Baby lag auf ihrem eingefallenen Bauch und versucht sich
an der Brust. Die Hebamme wechselte ein paar Tücher, nachdem
sie die Nabelschnur versorgt hatte und Fritz schenkte Kräutertee
aus.
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Terry ging sich erst einmal waschen und dann in die Küche,
um seinem knurrenden Magen Abhilfe zu verschaffen. Er verdrängte die aufkommende Schläfrigkeit und ging zurück in den
Schlafraum mit zwei dicken Käseschnitten in der Hand.
„Es ist wieder ein Junge,“ jauchzte die Hebamme ihm entgegen, doch das wußte Terry bereits, freute sich aber trotzdem mit
ihr. Der winzige Bursche lag jetzt in seinen ersten Anziehsachen
in einer Wiege neben Ritas Bett, die ihn mit leuchtenden Augen
betrachtete.
„Das ist aber nicht meine Schuld,“ witzelte Terry zur Hebamme gewandt, dann küßte er seine Schwester auf die Stirn. Und
zu Rita meinte er: „Na, wie fühlst du dich? Du sagst, wenn wir
weiter machen sollen.“
„Eß doch erst mal in Ruhe,“ sagte sie und streichelte seine freie
Hand. Als er fertig war befaßten sie sich mit der Nachgeburt und
wieder verlief alles ohne Komplikationen und Schmerzen ab.
Die Hebamme besorgte das Saubermachen und meinte zu Terry: „Also, ich wüßte einen guten Job für dich.“
Der schmunzelte nur und erwiderte: „Hilfe, nein, wenn ich so
oft Blut sehen müßte, würde ich wohl bald depressiv.“ Alle lachten. Rita war jetzt so müde, daß sie kurz später friedlich einschlief. Fritz kam zurück - er war hinter dem Haus gewesen und
hatte alles eingegraben, was nicht mehr gereinigt werden konnte und führte Terry und die Hebamme ins Wohnzimmer zur ebenen
Erde. Dort tranken sie in Ruhe ihren Tee zu Ende.
„Gleich morgen, wenn ich ausgeschlafen habe, werde ich an
der Stelle ein Ahornbäumchen pflanzen,“ erklärte Fritz. Das hatte
er bei der Geburt des ersten Kindes auch schon getan, nur war es
damals eine Kastanie gewesen.
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„Das ist eine gute Sitte,“ sagte die Hebamme und von Terry
wollte sie wissen: „Wie machst du das eigentlich? Vielleicht kann
ich noch was lernen.“
„Alles ist Energie,“ antwortete er, „ich wandele nur um, Kraft
meines Willens.“
„Da kann ich mir herzlich wenig drunter vorstellen. Na ja, ich
würde es ja wahrscheinlich doch nicht verstehen.“
„Wie das funktioniert und warum ich diese Kräfte habe kann
ich beim besten Willen nicht sagen. Ich gehe davon aus, daß es
eine Laune der Natur ist. Und ich bin sicher, daß ich nicht der
einzige auf der Welt bin, der diese Fähigkeiten hat.“
Kurz später verabschiedete sich die Frau, die in ihrer zwanzigjährigen Erfahrung ähnliches noch nicht erlebt hatte. Fritz schloß
die Tür hinter ihr und schaute dann nach Rita und dem Kind beide schliefen fest. Anschließend kam er zu Terry zurück und
entzündete seine Pfeife, mit der er es sich in seinem Sessel gemütlich machte. „Es ist schon was feines, so einen Spezi wie dich
in der Familie zu haben,“ sagte er nach zwei Zügen.
„Alles strebt nach Ausgleich,“ erwiderte Terry, „wer muß für
diese Begabung bezahlen und vor allem was?“
„Ist das im Moment wichtig?“
„Nein, sicher nicht, doch darf es nie vergessen werden, sonst
lösen sich die Kräfte auf.“
„Ist das der Grund, warum du freiwillig in diese Klinik gegangen bist?“
„Ja, denn solange ich selbst für den nötigen Ausgleich sorge,
behalte ich mein gutes Gefühl.“ Dann erzählte er Fritz über die
Ereignisse des letzten Tages.
„Dann bist du ja jetzt Gesprächsthema Nummer eins in der Po60
lizeizentrale,“ lachte Fritz.
„Du weißt ja,“ meinte Terry, „ein Irrer besitzt Narrenfreiheit;
ein Grund mehr für den Aufenthalt dort.“
„Ich weiß, so lange bis du eine Möglichkeit gefunden hast,
deine Identität aufzugeben. Wir sprachen das letzte mal schon darüber.“
„Nur ein toter Terry ist ein guter Terry. Als Geschichte bin ich
all den Chaoten doch wesentlich angenehmer. Meine Anwesenheit
bringt die systemtreuen armen Schweine total aus der Fassung,
deshalb will mich der Stationsarzt doch los werden und als Versuchskaninchen in eine Forschungsklinik für Parapsychologie stecken. Auf keinen Fall laß ich das mit mir machen.“
„Du meinst, sie registrieren dich jetzt als staatsgefährdend und
werden erst dann Ruhe geben, wenn sie dich unter Kontrolle
haben?“
„Oder auf ihrer Seite,“ meinte Terry. Fritz klopfte seine Pfeife
aus.
„Du hast recht,“ sagte er, „die Situation spitzt sich zu. Laß uns
überlegen was wir tun können.“
Terry hatte noch keinen konkreten Plan, wie es weiter gehen
könnte. Die Aussicht ständig gejagt zu werden beinhaltete nun
wirklich nichts, was ihm reizvoll erschien. Genau wußte er nur,
was er nicht machen wollte und meinte: „Hier bleiben ist auf jeden Fall unmöglich. Selbst wenn die mich nachher wenn sie kommen nicht finden, irgendwann wird es auffallen und du kannst sicher sein, daß sie das Haus beobachten werden.“
„Also das ist nun wirklich das kleinere Problem, die stören uns
keineswegs. Vielleicht lade ich sie mal zum Tee ein.“
„Außerdem mag ich das Versteck spielen nicht, ich will mich
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frei bewegen können, das ist doch alles andere als ein zufrieden
stellendes Leben. Auch der Plan zu deinen Freunden nach Italien
zu fahren können wir jetzt wohl aufgeben. Ich will kein gehetztes
Tier sein, sondern frei leben in einer natürlichen Umgebung.“
„Das mit Italien war keine schlechte Idee. Rita und ich wollen
nämlich auch bald dort hin. Das Leben in diesem Land ist mit zuviel Kompromissen verbunden. Die Leute in der Toscana haben
dich übrigens schon letztes Jahr erwartet und sich darauf gefreut.“
„Vielleicht ergibt sich das noch. Im Moment erscheint es mir
jedenfalls aussichtslos.“ Sie schwiegen beide. Dann grinste Terry
plötzlich vor sich hin.
„Hast du eine Idee?“, wollte Fritz wissen.
„Nein, ich habe mir nur gerade vorgestellt wie man vorgehen
würde, um einen Flüchtigen meines Kalibers einzufangen. Mit
großer Kommandozentrale, feldstabsmäßigem Plan und der Parole: Tod oder lebendig.“
„Du hast Nerven.“
„Ich habe keine andere Wahl als,“ er schaute Fritz dabei direkt
an, „als den unabänderlichen Zufall abzuwarten, der mir das Zeichen gibt.“
„Glaubst du immer noch an den Auftrag von ganz oben,“ fragte
Fritz und zeigte mit dem Zeigefinger in Richtung Himmel.
„Das hat nichts mit Glauben zu tun,“ erwiderte Terry, „ich
weiß! Es hat auch nichts mit einem hilflosen Ergeben in sein
Schicksal zu tun. Man muß seine Bestimmung akzeptieren, jeder
muß das. Der Vorteil, den ich gegenüber den anderen Menschen
habe ist, daß ich immerhin die Werkzeuge meines Auftrages
kenne, was ich damit anfange, muß ich genauso selbst entschlüsseln, wie jeder andere auch. Und wenn ich trotz meiner Be62
gabungen dennoch ins Gras beißen sollte, so war das eingeplant
und ist für diejenigen, die davon berührt sind eine weitere Lernaufgabe.“
„Du weißt, daß ich das genauso akzeptiere,“ sagte Fritz, „doch
manchmal braucht der sogenannte Zufall etwas länger. Ich hoffe,
daß alles gut geht für dich.“
„Oder man hilft dem Zufall etwas auf die Sprünge, jedenfalls
bewirkt unser Handeln immer wieder eine Neuordnung des vorgezeichneten Weges.“
„Da hast du entschieden mehr Vorteile als ich, das ist wahr.
Aber mittlerweile gehe ich mit diesen Dingen des Lebens wesentlich gelassener um und mein Vertrauen, daß alles seine Richtigkeit hat, habe ich größtenteils dir zu verdanken.“
„Weil ich dich kenne bin ich sicher, daß du auch ohne mich dahin gekommen wärst. Wenn wir unsere Wichtigkeit als Menschen
richtig einordnen können und nicht überbewerten, haben wir
schon alle Vorteile in der Hand, um die richtigen Entscheidungen
im Leben zu treffen. Doch die meisten scheitern schon bei dem
Versuch zweitausend Jahre Kulturgeschichte abzuschütteln.“
„Manchmal beneide ich dich wegen deiner Gaben und dann
wieder möchte ich auf keinen Fall mit dir tauschen. Meinst du du
wärst auch ohne diese Besonderheiten zu deiner Weltansicht gekommen?“
„Wer weiß. Auf jeden Fall ist es für jeden Menschen möglich schau dich doch an,“ und dabei lachte Terry wieder so herzhaft,
wie er es immer tat, wenn eine Situation zu einem guten Schluß
kam. Er stand auf und verabschiedete sich von Fritz. Der steckte
ihm noch ein Päckchen Tabak und Blättchen in die Tasche, er
wußte daß Terry auf das Rauchen nicht verzichten wollte.
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„Es ist Zeit zu gehen. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.“
„Ich auch,“ meinte Fritz und sie umarmten sich.
„Wir sehen uns,“ sagte Terry beim Hinausgehen, „und grüße
Rita und die beiden Jungs von mir.“
„Wo willst du denn jetzt hin, du hast doch noch gar nicht geschlafen?“, wollte Fritz wissen.
„Ich gehe zurück zur Autobahn. Hab' keine Lust mit dem Krankenwagen zu fahren. Trampen macht mehr Spaß. Sag' bitte den
Leuten, ich wollte wieder zurück in die Klinik. Rita braucht jetzt
Ruhe und sie sollen nicht so lange hier rum schnüffeln.“
„Deine Eltern kommen sowieso nicht hier rein. Du weißt ja:
Angeborene Antipathie gegen alle männlichen Langhaarigen.“
Beide lachten und dann ging Terry hinaus in den frischen Morgen.
„Soll ich dich fahren,“ rief Fritz hinter ihm her.
„Nein nicht nötig. Ich laufe noch ein bißchen. Tut mir gut nach
all den grauen Tagen in der Station.“
Es war noch früh, das erste Licht dämmerte durch den Nebel.
Einige Vögel waren schon wach und begleiteten den Wanderer
mit ihrem Gesang. Langsam wurde es heller und man konnte den
Nebel in dicken Schwaden herumstreifen sehen. Es war sehr
frisch um diese Stunde und Terry verfiel in einen leichten Trab
um warm zu werden.
,Ja,' meinte er zu sich selbst, ,wie es geschehen soll, so wird es
geschehen.' Er näherte sich der Autobahn, deutlich erkennbar am
Dröhnen der vorbei fahrenden LKW's, die nachts das Geschehen
auf der Bahn beherrschten.
Um zum Parkplatz auf der anderen Seite zu gelangen, denn
Terry wollte nicht direkt über die Fahrbahn gehen, mußte er noch
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zwei Kilometer weiter in Richtung Süden laufen, dabei eine
Brücke passieren, um dann die Fußgängerbrücke zu benutzen, die
für Wanderer gebaut war.
Terry ging auf dem parallel zur Bahn verlaufenden Feldweg
auf die Autobahnbrücke zu und war mit seinen Gedanken in Italien. Gerne hätte er das Grundstück mal gesehen, das groß genug
sein sollte für mehrere Familien. Er stellte sich den Bach vor, der
mitten durch die Olivenhaine plätscherte. Rita hatte ihm davon im
Brief berichtet, den sie aus dem letzten Urlaub dort geschrieben
hatte.
Kurz bevor er die Brücke erreichte sah Terry einen PKW, an
einer Notrufsäule auf dem Seitenstreifen abgestellt. ,Merkwürdig,'
dachte er, denn es war kein Fahrer darin, ,normalerweise wartet
man doch auf den Pannendienst an seinem Fahrzeug.' Er vermutete, daß dieser wohl in die Büsche gegangen war und rechnete damit, ihm auf seinem Weg zu begegnen. Doch er traf niemand.
Auf Höhe der Brücke angekommen schaute er sich vorsichtig
um, es war besser nicht gesehen zu werden. Dann rutschte er den
Hang herunter und fand die Treppe zum unter der Brücke
verlaufenden Fußweg. Er stieg auf das Gitter und schaute auf die
andere Seite, die vielleicht dreihundert Meter entfernt lag. Genau
mitten auf dem Weg erkannte er eine Gestalt, die sich über das
seitliche Geländer lehnte.
Terry ging leise voran, die Akustik hier unterhalb der
Autobahn war unheimlich. In jeder Ritze der Betonplatten
klatschten die Reifen der vorbei fahrenden Fahrzeuge und
vermischten sich mit dem dröhnenden Geräusch der Motoren. Das
metallene Geklapper der Füße konnte man nur hören, wenn gerade kein Wagen oben vorbei fuhr.
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Die Gestalt in der Mitte schien ihn nicht zu bemerken, erst als
Terry nur ein paar Schritte von dem Mann entfernt war, drehte
sich dieser hastig um und schrie ihm hysterisch entgegen: „Keinen
Schritt weiter, sonst springe ich!“
Terry blieb stehen. Der Mann sah aus wie Mitte vierzig und
hatte die selbe Statur wie er. Zur Untermalung seiner Drohung
schwang er ein Bein über das Geländer. Jetzt rief er: „Sind sie von
der Polizei oder hat sie meine Frau geschickt? Es hat keinen
Zweck mich überreden zu wollen, ich will nicht mehr. Alles ist
vorbei, ich werde nicht wieder in diesen Knast zurück gehen.“
Terry rief zurück: „Nur keine Panik. Ich will auch springen.
Wollen wir zusammen springen?“
„Das ist doch nur ein Trick, oder was?“
„Ich bluffe nicht, schau her.“ Damit schwang Terry ein Bein
über das Geländer und schließlich das andere, so daß er jetzt mit
den Beinen baumelnd über dem Abgrund saß. „Wollen wir?“,
fragte er. Jetzt war der andere verdutzt.
„Warum willst du denn springen? Du hast das Leben doch
noch vor dir. Wahrscheinlich hast du nicht einmal Kinder.“
„Was kümmern dich denn Kinder? Du willst sie doch allein
lassen oder nicht?“
„Was heißt denn hier allein lassen. Die hat sie doch schon seit
Jahren gegen mich aufgehetzt. Für die bin ich doch nur noch der
Trottel. Die sagen nicht mal mehr Papa zu mir, in ihrem Wortschatz komme ich nur als der Idiot vor. Außerdem sind sie abgesichert, aber hat mir jemals jemand Dankbarkeit gezeigt? Nein, ausgenutzt haben sie mich?“
„Komm, rauchen wir eine Zigarette zusammen und du erzählst
mir, warum du alles aufgeben willst und ich sage dir, warum ich
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springen muß.“ Terry schwang seine Beine wieder zurück und
hockte sich auf das Gitter. Er drehte eine Zigarette für sich und
eine weitere für den verzweifelten Mann. Er hatte eiskalte Finger
bekommen in dieser zugigen Höhenluft.
Zögernd nahm der Angesprochene sein Bein zurück und hockte
sich neben Terry, ebenfalls zitternd. Dieser hatte beide Zigaretten
entzündet und reichte eine seinem Gegenüber. „Ich glaube, ich
habe wieder etwas zu lange gewartet,“ sagte Terry jetzt.
„Wie meinst du das?“, fragte der Andere.
„Ich weiß genau, wenn ich nicht sofort springe und anfange
nachzudenken, verläßt mich der Mut.“
„Mich aber nicht. Ich kann gar nicht mehr zurück.“
„Wieso,“ wollte Terry wissen, „dein Wagen steht doch oben.“
Jetzt fing er richtig an zu schnattern vor Kälte.
„Der gehört doch meiner Frau und die hat einen zweiten
Schlüssel. Außerdem ist sie sowieso froh, wenn ich weg bin.“
„Bist du sicher?“
„Na klar bin ich sicher. Als es mit der Firma bergab ging hat
sie mich doch gezwungen eine hohe Lebensversicherung abzuschließen, die auch bei Selbstmord ausgezahlt wird. Und wenn ich
erst einmal weg bin, hat sie auch wesentlich mehr Zeit für ihren
Freund.“
„Und was ist mit den Kindern?“
„Die werden von den Eltern meiner Frau versorgt, da hatte ich
noch nie was zu melden. Für keinen ist es ein Verlust, wenn ich
nicht mehr da bin. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Folter
ich aushalten mußte, der blanke Terror. Nein, ich will nicht
mehr.“
„Hast du denn keine Freunde, wo du eine Weile unterkommen
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könntest?“
„Freunde? Das hat sie mir doch alles weggenommen, ich hätte
meine Pflichten zu erfüllen und wenn ich das nicht wollte, sollte
ich gefälligst abtreten, das war ihre Ansicht.“
„Wenn du jetzt noch springen kannst, würde ich dich nie
vergessen,“ meinte Terry jetzt und blickte in die Augen eines vom
Leben gezeichneten Mannes, der keine Energie mehr hatte.
„Du glaubst wohl, ich hätte keinen Mut dazu.“ Der gebrochene
Mensch schien selbst nicht mehr so sicher.
Terry sah ihn provozierend an: „Hast du nicht.“ Der Angesprochene zögerte.
„Es ist nur eine kurze Überwindung. Wenn ich es schaffe ist
aller Ärger vorbei.“
„Dann tu's.“
Der Aufgeforderte stand auf und ging ans Geländer. Wieder
schwang er ein Bein darüber, dann aber verharrte er. Plötzlich fing
er an zu schluchzen und dann schrie er: „Aber ich will nicht mehr
zurück. Ich will tot sein.“ Dabei brach er wie ein Häufchen Elend
zusammen und heulte herzergreifend. Terry stand auf und legte
seine Hand auf die Schulter des Mannes.
„Wenn ich dir helfe deine Angst zu überwinden, würdest du
mir dann noch einen letzten Gefallen tun?“
Der arme Kerl bekam sich wieder etwas unter Kontrolle und
blickte Terry fragend an: „Alles was du willst. Was soll ich tun?“
„Tausche die Kleider mit mir,“ sagte er, „ zieh' meinen Ring an
und lege dir meine Kette um, dann wirst du springen können und
noch dabei lachen. Die Welt wird dir wie ein Theater vorkommen
und du selbst ziehst deinen letzten Vorhang.“
Terry empfand diese Begegnung als das Zeichen, worauf er ge68
wartet hatte. Es war ihm klar, daß dies der entscheidende Augenblick in seinem Leben war. Auf der einen Seite würde die Identifizierung einer Leiche aus achtzig Meter Höhe unmöglich sein, zumal sie annähernd gleiche Haarfarbe hatten. Zum anderen sah
Terry seine Aufgabe nicht darin, diesen Menschen mit Gewalt
daran zu hindern in den Freitod zu gehen.
„Wenn du meinst, daß das genügt, will ich es gerne tun,“
stammelte der Mann.
„Dann los,“ sagte Terry. Wie vereinbart tauschten sie die
Kleider bis ins Detail und auch die bezeichneten Wertsachen, nur
den Tabak behielt Terry für sich. „Bist du bereit?“
„Ja, aber ich spüre keine Veränderung.“ Terry stellte sich aufrecht vor den Mann hin.
„Ich möchte dir vorher noch danken,“ sagte er, „du hast mir
den größten Dienst in meinem Leben erwiesen.“ Dann drückte er
den verwirrten Menschen an seine Brust. „Jetzt geh' und schlaf
danach friedlich. Du wirst in einem neuen Leben eine neue Chance bekommen.“
Das Gesicht des Mannes verklärte sich. Die beiden drehten sich
um; während der Mann wiederum ans Geländer trat, ging Terry
seinen Weg in neuer Kleidung zurück. Er stieg aus dem Gitter auf
den Randstreifen, gerade in dem Moment, als die riesengroße
Sonne ihren rot glühenden Körper über den Horizont erhob und
Terry ihre wärmenden Strahlen ins Gesicht schickte. Er drehte
sich in die Richtung um, aus der er gekommen war und sah gerade
noch den fliegenden Körper eines Mannes, der von der Sonne
angestrahlt wurde.
Nun führte sein Weg in eine andere Richtung. Er ging auf das
am Rand stehende Auto zu, fand die Schlüssel des Wagens in der
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Jackentasche und setzte sich hinein, um in Richtung Italien davon
zu fahren. „Wo einer stirbt, wird ein anderer geboren,“ sagte er
laut zu sich und dann rief er: „Grüße alle, ich komme später
nach.“
Terry reihte sich in den jetzt stärker werdenden Verkehr der
Autobahn ein. Er fuhr die dreihundert Kilometer bis zur Grenze in
einem Stück. Dort ließ er das Auto und auch das Land hinter sich,
um ein neues Leben zu beginnen.
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K., 1998
2. Kugelblitz
Die Tagesordnungspunkte 8 und 9 waren endlich abgehandelt.
Felix schaute auf die Uhr. ,Schon wieder nach 10', dachte er und
erinnerte sich daran, daß solche Sitzungen schon mal bis nach
Mitternacht dauern konnten.
,Aber nicht mit mir, nicht heute,' faßte er seinen Entschluß. Zu
seinem Tischnachbarn und Vereinskameraden Oliver sagte er:
„Bei ,Verschiedenes' bin ich weg; muß morgen früh um halb sechs
wieder raus.“
Der nickte nur und spielte ebenfalls mit dem Gedanken, ob er
diese meist überflüssigen Diskussionen, die bei ,Verschiedenes'
unvermeidlich waren, über sich ergehen lassen wollte.
Kreistagssitzungen waren aus organisatorischen Gründen
Pflicht für die Verantwortlichen der zugehörenden Vereine. Denn
um einen reibungslosen Ablauf des Sportjahres für die aktiven
Mitglieder zu gewährleisten, mußte man vor Ort und Stelle mitreden und konnte sich den dort getroffenen Entscheidungen nicht
einfach ergeben, selbst wenn Einsprüche eher selten Gehör
fanden.
Kurz vor halb elf packte Felix seine Unterlagen ein, verabschiedete sich per Handzeichen beim Vorsitzenden und mit einem
freundschaftlichen Schulterklaps bei Oliver. Jetzt kam die Zeit der
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Leute, die sich gerne reden hörten und vor allem derer, die gegen
alles und jeden zu meckern hatten. Das wollte sich Felix nicht antun.
Er bezahlte seinen Deckel und verließ den Sitzungssaal durch
den Hauptausgang. ,Ein schönes Lokal,' dachte er noch und nahm
sich vor, irgendwann einmal mit seiner Familie hier zum Essen
raus zu fahren.
Turnusmäßig wechselte jedes Jahr die Lokalität für die Durchführung des Kreistages; diesmal lag sie weit außerhalb am Rand
des Zuständigkeitsbereiches. Der ausrichtende Verein war bei den
anderen wegen der langen Fahrten zu den Spielen nicht besonders
beliebt, auch wenn nun wirklich keiner etwas dazu konnte.
,Gut, daß sie nächstes Jahr nicht in unserer Klasse spielen,'
ging es Felix durch den Kopf, als er die Tür hinter sich zumachte.
Er blieb einen Moment stehen, denn irgend etwas kam ihm merkwürdig vor. Eigentlich mußte es stockdunkel sein, wenn man die
Parkplatzbeleuchtung außer acht ließ. Doch der Himmel erschien
gelblich und das mit einer gewissen eigenen Leuchtkraft. Und die
Luft war drückend schwül, fast schon stickig, so daß man beim
Atmen das Gefühl hatte Widerstände überwinden zu müssen.
Felix erinnerte sich an die Wettervorhersage und schmunzelte
über sich und seine Entscheidung, die Versammlung früher
verlassen zu haben. ,Hast mal wieder den richtigen Riecher gehabt,' lobte er sich auf dem Weg zu seinem Wagen. Die Unterlagen warf er auf die Rückbank und nach dem Anschnallen und
Starten des Fahrzeuges legte er erst einmal eine Kassette ins Abspielgerät, denn er hatte keine Lust mit seinen Gedanken noch bei
der Sitzung zu verweilen. Das konnte er später nachholen, zumal
er mit Oliver zusammen noch eine Ausarbeitung erstellen mußte.
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Der Wagen rollte vom Parkplatz auf den Zugangsweg und dann
auf die schmale Landstraße, die das abgelegene Lokal mit der
Kreisstraße verband. Felix starrte voraus in das Scheinwerferlicht
seines Autos und registrierte die vorbei huschenden Bäume. Der
Blick nach oben brachte keinerlei Erkenntnis, er war durch die
überhängenden Baumkronen versperrt.
Er drehte die Lautstärke der Musik etwas herunter, weil die Atmosphäre in ihrer Spannung zunahm und größere Aufmerksamkeit von ihm verlangte. Das sich ankündigende Gewitter schien
kurz vor dem Ausbruch zu sein. Felix fragte sich, ob er es noch
schaffen würde vorher nach Hause zu gelangen, zumindest aber
diesen unübersichtlichen Wald hinter sich zu lassen. Immerhin
hatte er noch eine halbe Stunde Wegstrecke vor sich und die
Gegend war berüchtigt für Blitzeinschläge und umgestürzte Bäume. ,Hoffentlich entschließt sich Oliver auch bald für den
Abgang,' dachte er, ,sonst könnte es eng werden für ihn.'
Nach sechs Kilometer Fahrt durch den Wald in unveränderter
Anspannung kam endlich die Abzweigung, die ihn auf die Kreisstraße brachte. Der Wald befand sich jetzt nur auf der rechten Seite
der Fahrbahn; links öffnete sich das Tal und kurzzeitig, je nach
Straßenführung, konnte er im Scheinwerferlicht die gegenüber
liegende Seite erkennen.
Hier fuhr er gerne bei schönem Wetter mit dem Fahrrad lang,
denn er liebte die satt grünen Wiesen und Wälder dieser hügeligen
Gegend, wo man einige Minuten weder Menschen noch Häuser
oder gar Autos zu Gesicht bekam. Jetzt lag alles unter dem gelblichen Licht des Gewitterhimmels, daß er selbst im Kontrast des
Fernlichtes erkennen konnte.
Eigentlich mochte er diese Stimmung der Natur mit der An73
spannung vor der Entladung, wo kein Ton zu hören war, als wenn
alles die Luft anhielt, um dem Ausbruch der Naturgewalten zu
harren. Wenn dann der Regen nieder prasselte und man das Gefühl hat, alle Spannung wird weggespült, setzt die Atmung wieder
ein und man möchte am liebsten draußen herum springen, um sich
in der Natur mit ihr rein zu waschen vom Schmutz des Alltags.
Felix saß bei den letzten Gewittern immer vorm Fenster, wenn
es so richtig blitzte und donnerte - draußen herum springen hatte
er schon lange nicht mehr gebracht. ,Man wird halt älter,' grinste
er in sich hinein und als Entschuldigung ging ihm durch den Kopf,
daß er es immerhin geschafft hatte, seinen Kindern die Angst
vorm Gewitter zu nehmen.
Zwei- oder dreimal in seinem Leben hatte er schon Blitzeinschläge ganz in seiner Nähe beobachten können und die Erinnerung daran hatte nun mal gar nichts mit verklärter Romantik zu
tun, es war eher recht heftig gewesen, so etwas wollte er nicht unbedingt noch mal erleben.
Seine letzte Begegnung mit einer gewaltigen elektrischen Entladung lag erst zwei Jahre zurück, wobei er Zeuge eines Naturphänomens sein konnte. Ein Flächeneinschlag versetzte damals
die gesamte Nachbarschaft seines Wohnortes in helle Aufregung.
Etliche Telefonanlagen waren aus den Steckdosen heraus gerissen
worden und einige Fernseher und Computer-Monitore impludierten. Löcher in Dachrinnen wurden festgestellt sowie sichtbare
Einschläge in Telefonmasten, alles gleichzeitig in einem Umkreis
von einem Kilometer.
Damals hatte Felix im Wohnzimmer gesessen, der Blitz und
der Donner ohne erkennbare Zeitdifferenz ließen ihm seine Haare
zu Berge stehen. Der Donner war wie der Explosionsknall eines
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Sprengkörpers gewesen, als wenn eine Bombe eingeschlagen hätte, nur ohne Druckwelle.
Er war sofort nach draußen gerannt, um eventuelle Schäden in
Augenschein zu nehmen. Dort hatte er die verstörten Nachbarn
auf der Straße angetroffen - von den Schäden war beim ersten
Hinsehen nichts zu erkennen, erst nach und nach gesellten sich die
Anwohner hinzu, deren Bildschirme zerstört waren und bei genauerer Überprüfung fand man auch die restlichen Beschädigungen. Felix bekam in der Nacht nach dem Flächeneinschlag
starkes Nasenbluten, das monatelang immer wieder in Erscheinung trat.
Natürlich war sein Respekt vor diesen Wettereskapaden um ein
vielfaches gestiegen, dennoch bewirkten sie keinesfalls gesteigerte Angst bei ihm - eher mehr Vorsicht.
Bei diesen Gedanken an seine Erlebnisse fiel ihm ein, daß
Blitzeinschläge in fahrende Autos seltener bekannt sind, obwohl
es, wie er neulich noch durch einen Bericht erfahren hatte, nicht
ausgeschlossen ist.
Die Straße schien endlos zu sein. Er fuhr nicht allzu schnell,
weil er keinen Sinn darin sah, ein unnötiges Risiko einzugehen.
Kurve um Kurve schlängelte sich die Kreisstraße durch das sich
immer weiter öffnende Tal. Mal führte sie durch ein Waldstück,
dann konnte er auch öfters Wiesen auf der rechten Fahrbahnseite
ausmachen.
Das diffuse gelbliche Licht wechselte langsam ins rötliche, als
die in seinem verhaltenem Tempo erkennbaren Bäume plötzlich
von einer starken Windböe erfaßt wurden. Er spürte es selbst im
Auto, denn dieses schlingerte leicht und er mußte das Lenkrad fes75
ter anpacken.
Nur Sekunden später durchriß ein greller Blitz den Himmel und
suchte sich in Millisekunden seinen gezackten Weg zur Erde.
Einen Augenblick später ließ ein Donnerschlag die Natur erbeben.
Erst nach einer kleinen Weile des Schocks realisierte Felix, daß
der Blitz in unmittelbarer Nähe zu Boden gegangen sein mußte.
Für einen kurzen Moment hatte der Lichtschein das ganze Tal hell
erleuchtet und gespenstische Formen auf seinem Augenhintergrund erscheinen lassen.
Das kurze aber imposante Schauspiel erschwerte es ihm, zu
seinen üblichen rationalen Gedanken zurück zu finden. ,Hoffentlich bin ich bald auf der Schnellstraße,' war das erste vernünftige,
was ihm danach durch den Kopf ging. Hätte sich das Gewitter erst
einmal so richtig festgesetzt in diesen engen Tälern, würde es sich
hier austoben bis alle Energie verbraucht war und dann erst weiter
ziehen.
Es konnten doch höchstens noch ein paar Kilometer sein.
Jetzt setzte der Wind wieder ein, er merkte es an der starken
Bewegung der Bäume; sein Auto konnte die Spur noch ohne Probleme halten.
Da, wieder ein Blitz, links hinter ihm. Automatisch zuckte sein
Kopf herum und konnte noch den grellen Lichtschein wahrnehmen, der ihn aber auch höllisch blendete. Sein Kopf flog zurück in Fahrtrichtung und es dauerte etwas, bis das Licht seines
Scheinwerfers zurück in normale Stärke wechselte.
Jetzt war der Donner zu hören, was ihn ein wenig beruhigte,
denn es schien, als wenn der Einschlag etwas weiter entfernt stattgefunden hatte.
Als sich nach der nächsten Rechtskurve das Tal noch weiter
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öffnete, konnte er bereits die Beleuchtung der Schnellstraße in
einiger Entfernung erkennen.
Wieder zuckte ein Blitz zu seiner Linken zu Boden. Aber diesmal war er eins mit dem Donner. Sofort danach setzte der Regen
ein. Innerhalb von fünf Sekunden schwoll er von anfangs vereinzelten dicken Tropfen zu einem Guß heran, als wenn Eimer von
Wasser ausgeschüttet würden.
Felix mußte die Geschwindigkeit weiter verringern, die
Scheibenwischer vermochten die Flut nicht zu bewältigen. Von
gelb oder rot des Himmels war jetzt nichts mehr zu sehen, sondern
nur noch Regen aus tiefster Dunkelheit.
Unvermittelt nahm auch der Wind zu; vorher waren es stürmische Böen, nun tobte er in Orkanstärke. Felix verlangsamte seine Fahrt noch mehr und überlegte, ob es nicht besser wäre, den
Wagen ganz anzuhalten, um das Schlimmste vorüber gehen zu
lassen.
Diese Entscheidung wurde ihm jäh durch die Naturgewalten
abgenommen. In einer weiteren Rechtskurve erkannte er, wie sich
ein Baum erst langsam, dann aber mit roher Gewalt aus dem
Boden löste und circa dreißig Meter vor ihm über die Straße
krachte.
Er brachte sein Auto zum Stehen und war für einen Moment
außerstande irgendwelche Gedanken zu formulieren. Was sollte er
tun? Ihm wurde klar, daß jetzt nur Abwarten half. Zurückfahren
wäre kompletter Unsinn gewesen; anderseits konnte sich sein
Zwangsstopp reichlich ausdehnen, denn die Aufräumtruppe der
Straßenwacht würde erst mit ihrer Arbeit beginnen, wenn das Unwetter vorüber war. Und zu Fuß weiter gehen hielt er für die dümmste Idee, auch wenn das Für und Wider in seinem Kopf noch
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nicht abschließend geklärt war.
,Vielleicht kann man die Jungs von der Straßenwacht oder Feuerwehr etwas früher hierher beordern,' dachte er bei sich und
kramte auf dem Rücksitz nach dem Handy. Das stellte sich
allerdings als zu optimistisch gedacht heraus, denn die Anzeige
auf dem Display konnte kein Netz vermelden.
,Also warten,' stellte er zerknirscht fest. Dann etwas nüchterner
dachte er an die Sicherung des Autos. Er ließ den Motor weiter
laufen, nahm aber den Gang heraus und zog die Handbremse an.
Als er die Warnblinkanlage betätigte überlegte er kurz, ob es nicht
angebracht wäre, ein Warndreieck aufzustellen. ,Aber nicht solange es so schüttet,' war seine Überlegung.
Währenddessen blitzte und donnerte es fast unaufhörlich, doch
anscheinend befand sich das Gewitter nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe. Die Musik hatte er ganz ausgemacht und widmete seine Aufmerksamkeit dem Toben der Naturgewalten. Den
Versuch das Seitenfenster etwas zu öffnen, machte er hastig
wieder rückgängig, der Wind peitschte das Regenwasser regelrecht in den Innenraum des Fahrzeugs.
Genauso plötzlich wie der Regen gekommen war, hörte er
wieder auf. Felix blickte sich verwundert um und öffnete jetzt das
Seitenfenster ganz. Auch vom Wind war nichts mehr zu spüren
und Blitz und Donner schienen Vergangenheit zu sein. Doch die
Atmosphäre war keineswegs entspannt. Das erkannte er nicht zuletzt durch das Farbenspektrum des Himmels, der an einigen
Stellen aufriß um sein gelblich-rötliches Licht erneut zu zeigen.
Gleich war die Luft wieder stickig und bereitete leichte
Beschwerden beim Atmen. Ihm wurde sofort klar, das Unwetter
konnte noch nicht vorüber sein. Er machte den Wagen aus und
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öffnete zusätzlich das Fenster der Beifahrerseite in der Hoffnung,
damit etwas Durchzug zu bewirken. Aber es regte sich kein Lüftchen; der Himmel wechselte jetzt in blut-orange und es war
mucksmäuschen still. Selbst die Regentropfen auf den Blättern
schienen anzuhalten und verweigerten ihren platschenden Sturz
nach unten.
Felix spürte eine starke Elektrisierung der Luft, seine Härchen
am Arm stellten sich auf und ein Kribbeln durchwanderte die Wirbelsäule. Das Gefühl auf der Kopfhaut ließ ihn glauben, daß auch
dort die Haare steil nach oben standen. Er vermochte sich nicht zu
rühren, etwas äußerst merkwürdiges ging hier vor.
Dann sah er die grün leuchtende, wabernde Kugel zu seiner
Linken. Die Größe konnte er nicht einschätzen, wie paralysiert
verfolgten seine Augen ihre langsame Bewegung, erst von oben
nach unten, bis sie sich auf gleicher Höhe mit dem Wagen befand,
dann verharrte sie kurz, um sich jetzt direkt auf ihn zu zu bewegen.
Ihre Entfernung vom Fahrzeug betrug keine fünf Meter mehr.
Seine Gedanken überschlugen sich wie wild. ,Das kann nur ein
Kugelblitz sein,' ging ihm durch den Kopf. Er hatte schon einiges
darüber gehört, doch die Berichte waren ihm immer wie Produkte
von übertriebenen Phantasievorstellungen vorgekommen.
Angeblich sollte die Berührung der Kugel mit einem festen
Gegenstand zur Explosion führen. Wenn das stimmte, hatte er
jetzt ein Problem. Denn das grünliche Gebilde bewegte sich weiter langsam auf ihn zu.
Sie strahlte ein intensives, aber nicht grelles Licht aus. Es sah
aus, als würde sie rotieren und eine Angabe über die Größe blieb
weiterhin unmöglich. Als sie sich noch in einiger Entfernung
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befand glaubte er, sie hätte einen Durchmesser von mehr als zwei
Meter. Jetzt, wo sie nur noch wenige Armlängen von ihm entfernt
war, erschien sie ihm nicht größer als ein Medizinball.
Vollkommen erstarrt und absolut handlungsunfähig blickte
Felix auf die Lichtkugel. Die Elektrizität, die diese unheimliche
Erscheinung ausstrahlte schien sein Blut zu erhitzen. Aber das
nahm er nur am Rande wahr. Kurzzeitig durchfuhr ihn der Gedanke, das Auto zurück zu setzen, doch irgendwie fehlte die Verbindung zwischen Denken und Handeln; er konnte seinen Blick
nicht von diesem Ding abwenden.
Sie kam ihm vor wie ein eigenes Universum aus lauter kleinen
Sternen bestehend, die ständig umeinander kreisten. Die Zwischenräume füllte das grünliche, fluoreszierende Licht.
Er ertappte sich bei der Analyse des eigenen Angstzustandes,
kam aber nicht weit damit, denn die langsame aber bestimmte Bewegung des Kugelkörpers ließ ihm kaum Zeit für eigene Gedanken.
Jetzt war sie direkt vor seinem offenen Seitenfenster. Die Erinnerung an einen Bericht über das Verhalten von Kugelblitzen
durchzuckte ihn plötzlich. Er hatte einmal gelesen, daß so ein Gebilde durch ein geöffnetes Fenster einer Wohnung eingedrungen
und durch ein anderes offenes wieder raus geflogen sein soll. ,Wie
gut, daß das Beifahrerfenster offen ist,' dachte er. Aber auch
dieser Gedanke wurde von der Aktualität des vor ihm befindlichen
Phänomens verdrängt.
Er registrierte seinen Körper, der wie von selbst langsam nach
unten zu rutschen begann, von seinem Sitz in den Fußraum. Sein
Kopf befand sich unterhalb der Fensterunterkante als sich der
Kugelblitz in den Wagen vorschob. Das Ding paßte offensichtlich
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durch die Fensteröffnung und bewegte sich jetzt bis über Felix
Kopf. Es hielt an.
Das Licht blendete seine Augen und er schloß die Lider, seine
Atmung verweigerte ihren Dienst. Sonst empfand er nichts in
diesem Moment. Der Schock hatte längst die Regie über seinen
Körper übernommen; weder Angst noch Schmerzen fanden
Zugang zu seinem bewußten Denken.
Die Zeit schien still zu stehen und einen Augenblick huschte
der Gedanke durch den Kopf, was nun wohl kommen würde.
Die Kugel senkte sich abwärts und Felix dachte nur noch, daß
jetzt sein Ende gekommen sei. Er richtete sich langsam wieder etwas auf; sein Kopf stand senkrecht frei von einem Kontakt zur
Kopfstütze. Das wabernde Licht berührte seine Haare.
Felix hatte mit allem abgeschlossen, er hatte nur noch einen
Gedanken, es sollte möglichst schnell gehen. Doch nichts weiter
geschah, als daß die Kugel sich weiter abwärts senkte und nach
einigen Momenten seinen ganzen Kopf einhüllte.
Er kniff die Augen fest zusammen und das letzte, was er bewußt wahrnehmen konnte war eine gewaltige Blähung, die sich
aus seinem Darm entlud. Dann verlor er das Bewußtsein.
So bekam er auch nicht mit, wie die einzelnen Partikel der grünen Kugel durch die nun wieder einsetzende Atmung mit jedem
Zug in seinen Körper gesaugt wurde, bis sie gänzlich von ihm
eingeatmet war. Erst dann kippte er zur Seite.
In dieser Haltung wurde er zwei Stunden später von erstaunten
Helfern gefunden, die keine Erklärung dafür fanden, warum dieser
leicht grünlich fluoreszierende Körper noch lebte, dessen Haare
komplett zerschmolzen und dessen Kopfhaut und Gesicht verbrannt waren.
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Die ersten Gedankenfetzen, die Felix wahrnehmen konnte
waren wie sanfte Berührungen eines lauen Windes. Sie umwehten
ihn ohne sich festzuhaften, wie flüchtige Traumerinnerungen, die
keine Beziehung zum eigentlichen Ich der Person hatten.
Erst nach und nach, träge und zäh wurde er sich seiner selbst
bewußt. ,Habe ich geträumt? Bin ich vielleicht tot?', waren die
ersten Gedanken, die fest in seinem Bewußtseinsinhalt verblieben.
Erst jetzt suchte er nach seinem Körper und konnte keine Verbindung herstellen. Da war nichts, weder Schmerz noch irgendeine Berührung der Haut, die sein Tastsinn hätte erfassen können.
,Also bin ich tot; das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt,'
dachte er weiter. Nach der ersten Rückfrage an den Körper, wie
das Empfinden ist, folgt beim Erwachen normalerweise der
Impuls die Augen zu öffnen. Felix fühlte sich leicht und ohne
Beschwerden, was er nicht so ohne weiteres als körperliches Gefühl auslegen konnte, aber seine Augen fand er nicht.
Hätte er die Absicht die Lider zu öffnen in die Tat umsetzen
können, wäre die Gewißheit wach und damit lebendig zu sein unumstößlich gewesen. Aber wie sehr sich auch bemühte, da fehlte
einfach die Verbindung.
Doch das zu erwartende Panikgefühl blieb aus - ganz im
Gegenteil, er fühlte sich stark und die Erkenntnis breitete sich in
ihm aus, daß die Situation, in der er sich befand, absolut neu und
überaus interessant war.
Vor allem wurde er sich einer Kraft bewußt, die er so noch nie
empfunden hatte. Eine Erkenntnis setzte sich in seinem Denken
fest, die mehr und mehr an Klarheit gewann: Die Wahrnehmungsfähigkeit ist fast ausschließlich an den Körper gekoppelt. So war
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es jedenfalls früher gewesen. Er erinnerte sich an Wärme und Kälte, Geräusche und Stille - und an den Kugelblitz.
Jetzt, da die Rückmeldung zum Körper offensichtlich ausblieb,
fühlte er keinesfalls eine Leere, vielmehr füllte ihn eine Art der
Wahrnehmung aus, die ihm völlig unbekannt vor kam. Es waren
Gefühle von Kraft und Stärke, aber auch von Lebendigkeit um ihn
herum.
Er ertappte sich bei dem Versuch, den Kopf drehen zu wollen,
um das pulsierende Leben lokalisieren zu können und mußte innerlich schmunzeln. ,Du hast keine Augen zum sehen und keinen
Kopf, den du drehen könntest. Lerne vielmehr mit den Sensoren
umzugehen, die dir zur Verfügung stehen.' Der Gedanke manifestierte sich wie ein Befehl in seinem Bewußtsein.
Er begann neugierig und aufmerksam seine Empfindungen zu
beobachten. Nirgendwo konnte er eine Begrenzung erkennen, seine Wahrnehmung schien sich in alle Richtungen ohne Widerstand
ausdehnen zu können. Die Unterscheidungen ergaben sich wie
von selbst. Die stärkeren Impulse konnte er als in seiner Nähe befindlich zuordnen und je schwächer sie wurden, um so weiter entfernt waren sie.
Plötzlich wurde ihm klar, daß eigentlich die Gefühle von ihm
aus gingen und praktisch nur reflektiert zu ihm zurück gelangten.
Da war zum Beispiel ein enorm starkes Empfinden einer großen
Einheit pulsierenden Lebens ganz in seiner Nähe. Je mehr er sich
darauf konzentrierte, um so deutlicher konnte er erkennen, was er
da vor sich hatte.
Er spürte seinen eigenen Körper, der in nicht allzu weiter Entfernung von ihm reglos, aber durchaus lebendig ausgestreckt auf
einem Bett lag. Felix wunderte sich darüber, daß keine Emotion in
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ihm laut wurde, bei dieser eigentlich als erschreckend zu interpretierenden Entdeckung.
Da lag er einfach und dachte aus kurzer Distanz über sich
selbst nach, wie es diesem Körper wohl gehen würde, vollkommen ohne inneren Bezug. Noch nicht einmal ein Gefühl von gespannt sein regte sich, es handelte sich vielmehr um eine überaus
nüchterne, sachliche Betrachtung.
Die Interpretation seiner Wahrnehmung verfeinert sich immer
weiter, die Beschreibungen paßten sich auf Grund seines Erinnerungsvermögens dem Wahrgenommenen an. Die Anpassung bewirkte, daß er ein Bild von sich selbst erstellte, in Gang gesetzt
durch das Gedächtnis und gekoppelt an den Gefühlen des
Moments.
Das Bild vor seinem geistigen Auge erreichte visuelle Stärke,
so daß er von nun an Konturen und Details auch ohne körperliche
Augen sehen konnte.
,Ich bin ja ganz verbrannt im Gesicht und wo, um alles in der
Welt sind meine Haare geblieben.' Ein herzhaftes Lachen breitete
sich als Empfindung in seinem Bewußtseinsinhalt aus.
Eine neue Erkenntnis beeinflußte sein weiteres Vorgehen: ,Du
mußt die Kontrolle behalten, Schritt für Schritt weiter machen und
diszipliniert bleiben,' waren seine Gedanken, denn er spürte mehr
und mehr Fragen in sich aufsteigen, die ein Fortschreiten des begonnenen Lernprozesses behinderten.
,Warum denke ich hier außerhalb meines Körpers?' oder ,Wenn
ich nicht tot bin, warum spüre ich mich nicht?' und ,Warum bin
ich mir so schrecklich egal?' waren die vordringlichsten dieser
Überlegungen.
Er vermutete, dies mit der Zeit schon beantworten zu können
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und fuhr fort, seine Wahrnehmungsmöglichkeiten verstehen zu
lernen. ,Beobachte! Vergleiche! Probiere neues, versuche Dinge
zu tun, an die du noch nie gedacht hast.' Wieder etablierten sich
Befehle in seinem Denken, deren Ausführung selbstverständlich
war.
Da waren noch mehr lebendige Reflektionen, nicht ganz so nah
wie sein eigener Körper, aber anscheinend in dem selben Raum.
Er empfing Gedankenimpulse, die er vorerst nicht verstehen konnte. Die gesteigerte Konzentration darauf entwirrte alsbald was er
wahrnahm. Es befanden sich zwei Krankenschwestern hinter
einem Vorhang, die sich gerade über Infusionen unterhielten.
Merkwürdigerweise sagte die eine etwas anderes, als sie dachte.
Felix gewöhnte sich allmählich an die Gewißheit über
Möglichkeiten der Wahrnehmung zu verfügen, die er früher in
seinem Körper für undenkbar gehalten hatte. Mit der Zunahme
von immer mehr verständlichen Rückmeldungen als Ergebnis seiner forschenden Neugier stellten sich allerdings auch Anflüge von
Chaos im Denken ein.
Er faßte den Entschluß, sich wieder zurück zu ziehen um Ordnung zu schaffen. Das gelang auf Anhieb ohne Probleme. Um das
Geschehen verständlich beschreiben zu können, suchte er in seinem Gedächtnis nach vergleichbaren Begebenheiten und erinnerte
sich an seine berufliche Tätigkeit, wo er häufig mit dem Innenleben von Computern zu tun gehabt hatte. Partionierung der Festplatte war eines dieser Schlagwörter, die das ausdrückten, was er
im Moment mit sich selbst anstellte.
Die Wahrnehmungseingänge mußten nach Wichtigkeit geordnet werden. Allein die Kraft seines Willens reichte aus, feste Bedingungen einzurichten, die einmal installiert ihre zugedachte Tä85
tigkeit ausführten. Zum Beispiel unterteilte er die Erinnerung in
drei übereinander gelagerte Bereiche und schuf darüber hinaus
zwei Kontrolleinheiten, die zum einen seine Gedankenprozesse
überwachten und anderseits die Veränderungen der erkennbaren
Umwelt beobachteten.
Im Zentrum des Geschehens residierte sein eigentliches Ich;
nach der Neuordnung konnte er über alle geschaffenen Bereiche
frei verfügen. Er spürte die Kraft seines Willens, der diese Einteilung und Neuorganisation problemlos im Griff hatte.
Jetzt fühlte er sich imstande die unbekannten Sensoren seiner
Wahrnehmung näher zu untersuchen. Dabei konnte er teilweise
auf Bekanntes aus seiner Erinnerung zurück greifen und immer
dann bekamen die Eindrücke materielle Konturen. Zum Beispiel
fiel es ihm nun leicht, die Ausstattung des Raums bis ins Detail so
wahrzunehmen, wie es mit körperlichen Augen auch gesehen
worden wäre. Offensichtlich befand sich sein Körper in einem Intensivzimmer eines Krankenhauses.
Bei den Wahrnehmungen die ihm unbekannt waren, produzierte sein Denken Erklärungen, wie sie sich spontan darstellten.
Das betraf vor allem den Kontakt, die Verbindungen, die sich zwischen ihm als denkende Einheit und den materiellen Objekten seiner direkten, aber auch weiter entfernten Umwelt herstellen ließ.
Für ihn entstand das Bild von unzähligen kleinen Lichtfasern, die
immer dann aufleuchteten, wenn er sich ihrer bediente. Diese Fasern waren ähnlich wie Bindfäden anfaßbar, er konnte sie Kraft
seines Willens bewegen und damit Reaktionen hervorrufen.
Nach einigen unbeholfenen Versuchen mit diesen Verbindungsfasern zu spielen, lernte er bald sie richtig einzusetzen.
Als erstes gelang es ihm in seinen liegenden Körper einzudringen,
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um dessen Sensoren abzufragen. Erschüttert mußte er feststellen,
daß dieses leicht grünlich fluoreszierende Stückchen Fleisch auch
im Zustand der Bewußtlosigkeit von unsäglichen Schmerzen
heimgesucht wurde. Felix betrachtete es als Gnade, daß sein Denken zur Zeit außerhalb des Körpers stattfand und diese Schmerzen
nicht körperlich zu empfinden brauchte.
Auch wenn es nicht als emotionale Reaktion aufzufassen war,
so merkte er doch eine gewisse Betroffenheit bezüglich des jämmerlichen Zustands seines Körpers. Um sich abzulenken streckte
er seine Fühler in andere Richtungen aus, wobei sich eine der
beiden Intensivschwestern als ein brauchbares Lernobjekt anbot.
Ihre Gedanken kreisten hauptsächlich um die Frage, ob ihre
Kollegin sie genügend respektierte, ob sie als Vorgesetzte die nötige Anerkennung erhielt. So formulierte sie ihre Worte im
Gespräch mit der anderen immer dergestalt, um die Anerkennung
ihrer Autorität zu provozieren. „Schau mal Kleines,“ sagte sie
jetzt, „wenn du soviel Erfahrung wie ich hättest wüßtest du, daß
man Infusionen unbedingt regelmäßig kontrollieren muß. Das
brauche ich dir doch nicht noch einmal erklären, oder?“
Die Andere merkte nichts von den Absichten ihrer Vorgesetzten, sie war mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Ihre Gedankeninhalte wurden von der Angst beherrscht ihren Freund zu verlieren. Immer wieder versuchte sie sich zu zwingen an die Arbeit
zu denken, doch gelang es ihr nur unzureichend. Deshalb waren
ihre Antworten unkonzentriert, womit sie ihrer Kollegin ausreichend Anhaltspunkte für die Vermutung der Nichtakzeptanz ihrer
Kompetenz lieferte.
Felix experimentierte mit den Lichtfasern, die ihn mit dem
Willenszentrum der Vorgesetzten verband. Nach ein paar Versu87
chen ergab sich das gewünschte Ergebnis. Sie meinte auf einmal:
„Was rede ich da die ganze Zeit für einen Unsinn. Eigentlich
möchte ich nur, daß du mich magst.“
Etwas verwirrt und überrascht der unbeabsichtigten Worte
wegen, hielt sie einen Moment inne und schaute in die verdutzten
Augen der Anderen. „Ich meine, es kommt bei dieser Arbeit doch
nur darauf an, daß man sich konzentriert, hab' ich recht?“
Die Angesprochene nickte nur und für eine kleine Weile
vergaß sie ihren Freund und die Frage, ob er es mit einer anderen
getrieben hatte. Die vorgesetzte Intensivschwester kam mit ihrer
Verwirrung nicht so richtig zurecht und Felix zog sich lieber
wieder zurück.
Das er über neue, überaus brauchbare Fähigkeiten verfügte lag
klar auf der Hand. Aber dies war nur die eine Seite der Medaille,
auf der anderen Seite erkannte er die Gefahr Schaden zu erwirken;
aber das wollte Felix auf keinen Fall.
Wiederum zog er sich in sich selbst zurück und beschloß eine
weitere Kontrollebene einzurichten, die ihn selbst überwachte, in
dem er ihr die Aufgabe zuteilte, die Wirkung seiner Aktivitäten
im Vorfeld abzuwägen, um eventuell auftretende Schäden auszuschließen. Er nannte diese Ebene Intensivgewissen und schmunzelte innerlich über seine Formulierung. Doch gleichzeitig war er
mit seinem Werk zufrieden.
Er widmete sich erneut den Wahrnehmungen, die unverändert
intensiv auf ihn einstürmten. Da war so etwas wie eine Energiequelle, die überall um ihn herum wirkte. Es schien aus mehrere
einzelnen Komponenten zu bestehen. Bei genauerer Untersuchung
konnte er sie unterscheiden lernen. Es stellte sich für ihn als Licht88
fasern mit eigener Färbung dar, welche er nur zu berühren brauchte, um mit ihrer Energie versorgt zu werden.
Als er sie zurück verfolgte bemerkte er, daß es sich sowohl um
nicht definierbare Energiebündel, um einfache Elektrizität in der
Luft, als auch um kosmische Strahlen handelte, die überall zu erkennen waren und keinerlei Anfangs- oder Endpunkt aufwiesen.
Sobald er willentlich Kontakt mittels seiner Lichtfasern mit diesen
Bündeln kosmischer Strahlung herstellte, öffnete sich die ganze
Welt für ihn. Das war so atemberaubend, daß er glaubte in einem
Meer der Endlosigkeit zu versinken. Wieder mußte er schmunzeln, als er sich dieser Beschreibung bewußt wurde, denn schließlich atmete sein Geist nicht wie ein Körper.
Doch nachdem er sich daran gewöhnte, interpretierte er diese
Bündel als Gleise eines Bahnhofs, die ihn in alle Richtungen
bringen konnten, die ihn aber auch speisten, wenn er sie berührte.
Fasziniert ob all dieser Eindrücke seiner Wahrnehmungen konzentrierte er sich wieder auf die Aktualität des Geschehens jetzt
hier in diesem Raum.
So wollte er seinen Körper nicht sich selbst überlassen; da
mußte etwas geschehen. Entlang der Lichtfasern hangelte er sich
in seinen Körper und betrachtete die verbrannten Hautfetzen seines Gesichtes und des Schädels von innen.
Sein Organismus war damit beschäftigt neues Gewebe zu erstellen. Doch Felix war damit nicht zufrieden, denn deutlich lief
dieser natürliche Vorgang viel zu zäh und langwierig ab.
Außerdem würden Narben entstehen und eine unansehliche Entstellung zurück bleiben. Zudem konnte er nicht mit Sicherheit
feststellen, ob der Körper über ausreichend genug Energie verfügte, den Heilungsprozeß bis zum Ende durchzuhalten.
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Für die Aktivitäten der Zellerneuerung waren Hormone zuständig, die nur in unzureichendem Ausmaß zur Verfügung standen.
Deshalb schaltete er sich in den Hormonhaushalt der Hyophyse
ein, veränderte die Produktionsbedingungen und regte zusätzlich
den Transport an die geschädigten Stellen an.
Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, daß er sich seit sein neuer
Zustand vorherrschte, keinerlei Gedanken über die Zeit gemacht
hatte. Bislang hatte er dazu keine Beziehung gefunden. Erst jetzt
innerhalb seines Körpers, bei der Aktivität zur Zellerneuerung
hatte Zeit eine Bedeutung.
Er spürte den ansteigenden Energiebedarf seines Körpers und
die Überwachungsebene für Vorgänge außerhalb seines Ichs
meldete gesteigerte Aufmerksamkeit der Krankenschwestern, weil
das Überwachungsgerät des Intensivzimmers einen erhöhten Pulsschlag akustisch signalisierte.
Felix empfing die Gedanken der Vorgesetzten: ,Der müßte
doch eigentlich längst hinüber sein. Bäumt er sich jetzt etwa ein
letztes Mal auf?' Sie kam an sein Bett und überprüfte die Instrumente. Sie schüttelte mit dem Kopf und dachte: ,Sieht aus, als
wenn er gleich wach würde.' Laut sagte sie: „Irina, komm mal her,
hier tut sich was komisches.“
Die andere Schwester kam ebenfalls ans Bett und meinte:
„Schau mal, sein Gesicht verändert sich.“ Felix war es egal, wie
die beiden seinen Zustand bewerteten, er war mit seiner Arbeit zu
sehr beschäftigt und empfand keine Notwendigkeit auf ihre
Verwunderung zu reagieren. Erst als Irina fragte, ob sie dem Arzt
Bescheid sagen solle, griff er ein und stellte dabei fest, daß es ihm
keinerlei Mühe bereitete gleichzeitig den Heilungsprozeß seiner
Haut voran zu treiben und sich dazu noch mit den Gedankeninhal90
ten der beiden vor seinem Körper stehenden zu befassen.
Er änderte die Bewertung ihrer Beobachtung, indem er beiden
den Gedankenimpuls aufzwang, daß alles ganz normal und in
Ordnung sei. Sie verschwanden wieder hinter dem Vorhang und
Felix konzentrierte sich auf seine Kopfhaut.
Die Informationen, wie eine gesunde Haut auszusehen hat,
waren in seinen Genen hinterlegt. Auch die Bausteine von Haarwurzeln ließen sich isolieren. Er aktivierte dies Informationen und
verband sie mit dem Heilungsvorgang. Innerhalb von Minuten - er
hatte sich entschlossen den Faktor Realzeit mit einzubeziehen waren die Voraussetzungen für das Nachwachsen seines Kopfschmuckes geschaffen.
Diese Aufgabe war erledigt, so daß er sich dort ausklinken
konnte, um die Konzentration auf die Bildung der bekannten
Gesichtskontur zu bündeln. Schon nach kurzer Zeit sah sein
Gesicht wie neu aus und gleichzeitig meldeten seine Körpersensoren einen Rückgang des Schmerzempfindens.
Jetzt kam er richtig in Fahrt. Die eingetretenen Erfolgserlebnisse beflügelten ihn, seinen Körper mal so richtig unter die Lupe
zu nehmen. Er ging sofort daran alte Mallessen, wie zum Beispiel
den Knorpelschaden im Knie, der ihn früher beträchtlich behindert
hatte zu beheben.
Es kam ihm keineswegs in den Sinn, sein Handeln zu bewerten, er empfand es als Pflicht jetzt, da die Fähigkeiten zur
Verfügung standen, diese auch zu benutzen. Er durchforschte seinen Körper nach weiteren Beschädigungen, wobei er einiges fand,
von dem er bisher keine Kenntnis gehabt hatte.
Als er mit allen Reparaturen fertig war entschied er, eine weitere Kontrollebene zur Überwachung des körperlichen Zustands
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einzurichten, die ohne Umwege Meldungen über auftretende Störungen seines Körpers sofort an sein Denkzentrum weiterleiten
sollte.
Innerhalb einer Stunde Realzeit war alles erledigt und sein
Körper komplett beschwerdefrei. Felix überlegte, was er als
nächstes tun sollte. Er entschloß sich dazu, sein Denkzentrum
wieder zurück in den Körper zu verlagern. Schließlich hatte dieser
seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten, die er nicht ungenutzt lassen wollte und ihn auf eigene Weise mit der materiellen
Welt verbinden konnte.
Hätte er die Trennung beibehalten - das schien ihm sicher wäre der Körper über kurz oder lang gestorben, zumindest aber
nicht mehr aus dem Koma aufgewacht. Wollte er die Kontrolle
über den Körper von außen betreiben, würde er ihn zur Marionette
degradieren - dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht, zumal es
zusätzlichen Energieaufwand bedeutete, ständig auf Umwegen mit
ihm zu kommunizieren.
Das Vorhaben seinen Geist im Körper zu intrigieren verursachte anfangs ein paar Schwierigkeiten. Er spürte so etwas wie
Flatterhaftigkeit seines Geistes, der sich nicht so ohne weiteres
örtlich festmachen ließ. Mit einem kleine Trick erreichte er
schließlich dennoch das gewünschte Ergebnis.
Beim experimentieren mit Reflexionen seiner Lichtbündel in
bestimmten Gehirnbereichen stellte sich heraus, daß er vom Körper aus die Überwachungsebenen des körperlichen Empfindens
einbauen mußte. Sobald dies geschehen war, verband sich der
Geist ohne Probleme mit dem neuen Aufenthaltsort, ohne die
Freiheit einzubüßen, über willentliche Befehle ihn auch wieder
verlassen zu können.
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Als er diese Veränderungen vollzogen hatte wurde ihm bewußt,
daß alle Menschen glauben, ihr Ich wäre in ihrem Gehirn beheimatet. Das wußte er jetzt besser. Denn der Geist ist gar nicht
materiell, also nicht örtlich zuzuordnen- es ist lediglich ein Arrangement, das vom Geist geduldet wird, weil es ihm egal ist, wo
der Mensch ihn vermutet.
Das Fixieren in seiner neuen Position brachte enorme Vorteile;
zu sämtlichen körperlichen Funktionen hatte er direkten Zugriff
und mußte nicht erst den Umweg über das Abtasten der Lichtfasern beschreiten. Des weiteren verfügte er nun über zwei Wahrnehmungsmöglichkeiten; zwischen denen er je nach Anliegen
wechseln konnte. Und er hatte die Freiheit am materiellen Leben
als Person teil zu nehmen.
Ihm war jetzt klar, hätte er den Schritt nicht gemacht, seinen
Körper gesunden zu lassen, wäre sein Geist ohne Bindung zur materiellen Welt geblieben und hätte mit Sicherheit das Interesse
daran aufgegeben.
Mit der neuen Situation zufrieden ging er daran, die Unzulänglichkeiten des Körpers zu analysieren. Da lag soviel Potential
brach, da blieben Ressourcen ungenutzt und Fähigkeiten wurden
in ihrer Ausübung behindert daß er sofort entschied, Abhilfe zu
schaffen.
Wiederum war eine Neuorganisation erforderlich, wobei er die
eingerichteten Ebenen in den brachliegenden Regionen des Gehirns verankerte und somit die Speicherkapazität des Gedächtnisses um ein vielfaches erweiterte.
Auch die Restbereiche der bislang unbenutzten Gehirnteile
wurden mit Aufgaben bedacht, was eine wesentlich höhere Aufnahmefähigkeit der Sinne bewirkte.
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Er fand den Schlüssel zur Zellerneuerung, die mit dem Ende
der Pubertät ihre Aktivität eingestellt hatte und änderte auch die
damit verknüpfte Geninformation, die ab dieser Zeit den Alterungsprozeß einleitet. Sein Körper sollte nicht weiter altern; wie
er später damit umgehen würde, war jetzt nicht relevant, damit
konnte er sich noch befassen, wenn er wieder in der realen Welt
leben würde.
Damit war es beschlossene Sache, als Mensch aufzuwachen
und mit den neuen Fähigkeiten sein Leben fortzuführen. Wie er
dies gestalten wollte, konnte er erst entscheiden, wenn er sich an
die neue Situation gewöhnt hatte.
Auf keinen Fall sollte jemand von seinen Veränderungen erfahren. Aber wie er sich in Kenntnis seiner Möglichkeiten in die reale
Welt einbringen würde, darauf war er selbst gespannt.
Bevor er sich daran machte, die Motorik des Körpers zu mobilisieren und endlich aus der von außen so interpretierten Bewußtlosigkeit zu erwachen, bemühte er sich das Phänomen des
grünen Leuchtens abzustellen. Das erwies sich als gar nicht so
einfach. Es störte ihn persönlich überhaupt nicht, aber um nicht
direkt von allen als Sonderling angesehen zu werden, mußte er
sich eine Lösung ausdenken.
Natürlich konnte er die Gedankeninhalte der ihn beobachtenden Menschen beeinflussen, doch das kam ihm doch zu mühselig vor. Das Leuchten selbst konnte er nicht verhindern; anscheinend handelte es sich um einen Nebeneffekt, der durch die
Veränderungen zustande kam. Ihm war klar, daß es auch keine
Kleidung oder besondere Stoffe vermochten, das grüne Licht
einzudämmen.
Er entschied, die Sache auf sich beruhen zu lassen, denn die
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Menschen haben fast alle Augen zum Sehen, aber wirklich hinschauen tun nur die wenigsten. Dann wenn es erforderlich war,
würde er schon einschreiten, schließlich wachte seine Kontrollebene für die Beobachtung der Geschehnisse in der materiellen Welt ständig.
Sein Geist empfand den neuen Aufenthaltsort wie das eigene
zu Hause. Der Körper hatte einen eigenen Erinnerungsspeicher,
den er zwar schon vorher angezapft hatte, als er sich noch
außerhalb aufhielt, aber sich jetzt vollkommen mit den eingerichteten Gedächtnisebenen verband. Somit war das Gefühl für die
Bewegung der Gliedmaßen sofort wieder verfügbar, was er auch
gleich ausprobierte.
Sein Körper war mit einigen Kabeln und Schläuchen mit den
Instrumenten neben seinem Bett verbunden. Bevor er seinem Körper den Befehl zum Aufwachen geben wollte, sollten diese Dinge
erst entfernt werden. Er beeinflußte die ältere der beiden
Schwestern mit dem Namen Sabrina, damit sie den Arzt herbei
holte.
Weil er sich vorgenommen hatte, Manipulationen an den Gedankeninhalten der Menschen so gering wie möglich zu halten,
brauchte er für den jetzt gewünschten Effekt nur die Einflußnahme von vorhin rückgängig zu machen.
Nebenbei bemerkte er, daß sich sein Eingriff ins Denken dieser
Frau deutlich von ihren Eigengedanken unterschied. Die aufgezwungen Impulse stellten sich für ihn wie vibrierende Fasern dar,
die die ruhig schwingenden der Frau überlagerten. Somit war sein
erneutes Eingreifen eigentlich nur eine Reinigung ihrer Bewußtseinsinhalte und wurde seinem Anspruch möglichst wenig
Druck auszuüben vollkommen gerecht.
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Sein Intensivgewissen meldete sich und signalisierte, daß er
beide Frauen von seinen überlagerten Gedanken befreien mußte,
wenn er Komplikationen verhindern wollte. Befreit von seinem
suggestiven Befehl erinnerten sie sich an den merkwürdig
veränderten Zustand des ohnmächtigen Patienten und Irina wurde
von ihrer Kollegin beauftragt den Arzt zu rufen. Dann standen
beide staunend vor seinem Bett und glaubten ihren Augen nicht
trauen zu können.
In sich hinein horchend machte er eine neue, sehr interessante
Entdeckung. Jetzt da er wieder im Körper weilte, spielten Emotionen eine wichtige Rolle. Außerhalb hatte er geglaubt keine zu
empfinden; das stellte sich als nicht ganz korrekt heraus. Der Unterschied bestand darin, daß die Emotionen die innerhalb des Körpers auftauchten eine Reaktion forderten, also eine Veränderung
der körperlichen Wahrnehmung bewirkten. Unbeeinflußt vom
Körper hatten diese Regungen keine Wirkung, auch wenn sie von
der Geisteinheit wahrnehmbar waren.
Er nannte sie deshalb warme und kalte Emotionen und betrachtete diese Vorgänge als wichtigen Erfahrungsschritt auf dem Weg
zurück ins Leben. Damit war klar, daß er sich immer isoliert vom
Körper in seine Geisteinheit zurück ziehen würde, wenn die warmen Emotionen des Körpers zu starken Einfluß auf die Gedanken
haben sollten.
Genau dies war gerade in diesem Moment, wo alle auf den
Arzt warteten sehr von Vorteil, denn seine Gedanken waren damit
beschäftigt abzuwägen, was er außerhalb des Krankenhauses
vorfand. Die Frage nach der Dauer des Komas spielte dabei mehr
eine nebensächliche Rolle; ihm wurde plötzlich bewußt, daß er
eine Familie hatte, zu der er zurück kehren würde.
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Er verschloß den dafür zuständigen Erinnerungsspeicher sofort
wieder, denn mit dem Öffnen der Bereiche seiner Vergangenheit
sprudelten Informationen heraus, die er jetzt nicht gebrauchen
konnte. Damit wollte er sich später auseinander setzen.
In diesem Augenblick betrat der Arzt das Zimmer. „Hallo,
meine Hübschen,“ waren seine Worte, „was gibt es denn so
wichtiges?“
Jetzt hielt er die Eintragungen des Krankenblattes in den
Händen und nach einer Weile meinte er: „Das kann doch gar nicht
sein.“
Den zur Hälfte geöffneten Vorhang ganz beiseite schiebend trat
er an Felix Bett. Mit sichtbarer Entrüstung sagte er noch mal:
„Das kann doch gar nicht sein. Was habt ihr mit ihm angestellt?“
Jetzt schaltete sich Felix ein und verpaßte ihm den vorbereiteten Gedankenimpuls. „Ihr könnt ihm die Schläuche entfernen, anscheinend will unser Herr Felix Krause aufwachen,“ gab er zu
verstehen. Die beiden Schwestern gerieten in Bewegung und nach
kurzer Zeit war der Patient von allen Geräten getrennt.
Ungläubiges Staunen beherrschte die Gedanken des Arztes.
„Wie ist so was möglich?“, fragte er jetzt. Bevor er seinen nächsten Gedanken formulieren konnte, denn er beabsichtigte noch weitere Leute herbei zu holen, schaltete sich Felix ein und lenkte die
Gedanken in die gewünschte Richtung.
„Ich sag ja immer, es gibt Vorkommnisse in der Medizin, die
auch von einem Arzt nicht zu erklären sind,“ waren statt dessen
seine Worte.
Für Felix war jetzt der geeignete Zeitpunkt gekommen, den
Schalter umzulegen. Noch bevor er die Augen ganz öffnete wurde
ihm bewußt, daß die Dominanz der körperlichen Wahrnehmung
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nicht so leicht zu umgehen war. Er zog aus diesem Grund seine
Geisteinheit etwas weiter in den Hintergrund zurück und beobachtete sich selbst um abzuwarten, bis eine Routine in den körperliche Handlungen zu erkennen war.
Er nahm allerdings keine Rücksicht auf die jetzt mit offenem
Mund staunenden Krankenhausangestellten; er wußte, daß er nicht
umhin kam, gewisse Dinge aus den Speichern der drei zu löschen,
um nicht zur Attraktion für Presse und deren Publikum zu werden.
Felix richtete sich auf und ließ die Beine über dem Bettrand
baumeln. „Kann ich was zu trinken haben?“, waren seine ersten
Worte und schaute dabei reihum in die Gesichter der
Anwesenden.
„Ja, ja, einen Moment,“ stotterte Irina, die als erste zu einer Reaktion fähig war. Sie holte ein Glas Mineralwasser aus ihrem
persönlichen Vorrat, denn für Patienten, die sich in diesen
Zimmern normalerweise aufhielten, waren Getränke aus der Flasche eigentlich nicht von nöten.
„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte Felix.
„Genau sechzehn Tage,“ antwortete der Doktor etwas monoton, denn seine Überraschung hatte sich noch keinesfalls gelegt.
Sogar Sabrina konnte sich schneller an die unerwartete Situation
anpassen und fragte: „Sollen wir ihre Frau anrufen?“
„Gute Idee,“ meinte Felix lächelnd, „vielleicht könnte sie mir
was zum Anziehen mitbringen.“
Doktor Vollmer hatte sich immer noch nicht unter Kontrolle.
Zu absonderlich, zu unnormal war das, was sich hier vor seinen
Augen abspielte. Seine gesamte medizinische Ausbildung war genauso wenig in der Lage eine beruhigende Erklärung zu formulieren, wie auch sein überdurchschnittlicher Verstand, den ihm
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Felix beim Durchforsten des Bewußtseinsinhalts attestieren konnte.
Nachdem die ersten Begegnungen seines genesenen Körpers in
der materiellen Welt zu seiner Zufriedenheit ausgefallen waren
entschloß er sich, den Arzt und die Krankenschwestern aus ihrem
Dilemma zu befreien. In dezenter Weise änderte er die nötigen
Eintragungen in ihren Erinnerungsspeichern, denn es erschien ihm
zu gefährlich, Zeugen seiner überraschenden Heilung mit ihren
Beobachtungen an die Öffentlichkeit zu lassen.
Um nicht als erster Patient in der Geschichte des Krankenhauses Furore zu machen, der direkt aus dem Intensivzimmer als
geheilt nach Hause entlassen wurde, veranlaßte er den Arzt ihn
auf Station zu verlegen. Er ließ ihn auch die nötigen Notizen ins
Krankenblatt eintragen, damit möglichst wenig Nachfragen auftauchten. Sicher waren diese drei Leute nicht die einzigen gewesen, die seinen Zustand wahrgenommen hatten und eine Erklärung brauchten, wie diese Veränderung zustande gekommen sei.
Sofort endete die Phase des Bestaunens, denn die drei glaubten
zu wissen, daß sich Patient Krause schon seit einiger Zeit auf dem
Wege der Besserung befand. Dr. Vollmer hatte auf Station 3 ein
Bett beziehen lassen und verabschiedete sich von seinem Patienten. „Und passen sie ein bißchen auf, wenn es ein Gewitter
gibt,“ waren seine Worte, als sie sich die Hände schüttelten.
Schwester Irina begleitete ihn auf Station mit dem Krankenblatt unterm Arm und einer Plastiktüte mit den angesengten Kleidungsstücken in der Hand. Felix hatte ein zweites OP-Hemd verkehrt herum übergezogen, damit sich auf dem Gang nicht alle
Leute nach ihm umdrehten. So begann ein neuer Abschnitt seines
Lebens mit veränderten Bedingungen.
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Auf Station 3 wurde er in einem Vierbett-Zimmer untergebracht. Es war der chirurgischen Abteilung zugeordnet und so
wunderte es nicht, daß zwei seiner Mitbewohner mit eingegipstem
Bein auf ihren Betten lagen - zufällig auch noch das gleiche. Der
dritte Patient schien zu schlafen. Felix bewegte aus dem Hintergrund seine Lichtfasern und erkannte, es handelte sich um
einen frisch operierten Blindarmpatienten.
„Tag, die Herren,“ grüßte Felix beim Betreten des Zimmers,
„ich heiße Felix und bin hoffentlich bald wieder draußen.“
Eine weitere Schwester hatte sich eingefunden, die ihn willkommen hieß. „Dort ist ihr Bett,“ sagte sie und zeigte auf das
einzig unbenutzte. „Ich sage dem Stationsarzt gleich Bescheid, damit er sie untersuchen kann.“ Felix war das nur recht, denn allzu
lange wollte er hier nicht verweilen.
Auf der digitalen Anzeige des Radioweckers eines Patienten
war 16:30 Uhr zu lesen. Sein Magen fühlte sich recht leer an und
er fragte seine Mitbewohner, wann es denn Abendbrot gäbe. Die
Schwestern waren gegangen und einer der Eingegipsten antwortete: „So gegen halb sieben. Ich bin der Rudi und hier neben mir ist
der Karl. Der Kleine da hinten heißt Rüdiger; wenn der gleich aufwacht, wird er wohl wieder zu jammern anfangen.“
Nach einer Weile fragte er: „Was hast du denn, siehst doch
ganz passabel aus?“ Felix hatte es sich im Bett bequem gemacht
und erwiderte: „Bin wohl etwas zu nah an einen Blitz geraten war ein paar Tage bewußtlos. Scheint aber wieder alles in Ordnung zu sein.“ Das reichte an Information, denn warum sollte er
ihnen mehr verraten, da sie ihn morgen sowieso wieder vergessen
hatten.
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Die beiden wachen Zimmergenossen schienen keine weitere
Notiz von ihm zu nehmen und Felix entspannte sich auf seinem
Bett. Er nutzte die Ruhe des Moments um seine Sensoren auszufahren und damit zu experimentieren. Beinahe wäre ihm ein Mißgeschick passiert, denn er fand heraus, wie man materielle Strukturen umwandeln konnte in transportable Energie. Er merkte erst
an den erschreckten Gedanken des Mitpatienten Rudi, daß er im
Begriff war, sich körperlich aufzulösen.
Noch bevor Rudi etwas sagen konnte, hatte er ihn schon wieder
beruhigt, indem er ihm suggerierte ein Staubkörnchen ins Auge
bekommen zu haben, um den beobachteten Vorgang als optische
Täuschung ab zu tun. Felix war wieder vollständig anwesend und
nahm sich vor, Experimente dieser Art in Zeiten fortzusetzen, wo
er unbeobachtet war.
Karl warf einen Blick auf Felix, als er gerade eine Seite seiner
Zeitung umblätterte und hielt für einen Moment inne. „Scheinst ja
doch was vom Blitz abbekommen zu haben,“ meinte er, „du
leuchtest ja wie eine gedimmte Glühlampe.“
„Ja, ich weiß,“ entgegnete Felix, „hat man mir schon öfters gesagt. Ich merk' nichts davon.“ Karl schien mit der Aussage zufrieden, es war nicht seine Art etwas zu hinterfragen.
Keine fünf Minuten später klopfte es an der Tür und Felix Frau
trat herein. Wieder deutlich erkannte Felix den Unterschied zwischen kalter und warmer Emotion. Er stellte dabei fest, daß er sich
gar nicht auf diese Situation vorbereitet hatte. Er ließ seiner körperlichen Wahrnehmung den Vorrang und zog sich selbst weiter
in den Hintergrund zurück.
„Mein Hasi,“ begrüßte er seine Frau, die eigentlich Hertha mit
Vornamen hieß, weshalb sie ihr Eltern heute noch verabscheute.
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Sie umarmten sich und Hasi ließ ihren Tränen freien Lauf.
„Weißt du eigentlich, was für Sorgen wir uns gemacht haben?“,
sagte sie, nachdem die beiden sich wieder voneinander gelöst
hatten. „Noch vorgestern am Telefon meinte Dr. Vollmer ...,“
wollte sie fortfahren, doch Felix unterbrach sie.
„Laß uns draußen weiter reden,“ meinte er, „hast du was zum
Anziehen mitgebracht?“ Sie holte aus einer Sporttasche einen
Morgenmantel und ein paar Hausschlappen. Auch Strümpfe waren
dabei, die sie ihm gab und die er sofort überstreifte.
Sie verließen das Zimmer und gingen eng umschlungen den
Gang zur Stationstür herunter. Felix war sich überhaupt nicht sicher, ob er ihr alles erzählen sollte. Das hatte nichts mit Vertrauen
zu tun, eher bedachte er die Schwierigkeiten, in die er sie nicht
bringen wollte. Auf der anderen Seite war es nicht zu verhindern,
daß sie seine Veränderung zweifelsohne bemerken würde.
Um Zeit zu gewinnen fragte Felix nach den beiden Jungen Lukas und Christoph. „Die wollten eigentlich mitkommen,“ erwiderte Hasi, „ich konnte doch nicht wissen daß du ....“ Sie führte
den Satz nicht zu Ende, weil die Tränen wieder liefen und sie
drückte sich noch enger an ihn.
„Lukas ist die erste Woche nicht zur Schule gegangen, er war
gar nicht ansprechbar. Christoph hat zwei Tage geweint und ist
dann wieder spielen gegangen. Wir haben kaum geredet miteinander, nur Lukas meinte vor drei Tagen, der Papa käme bald nach
Hause. Ich konnte nichts dazu sagen, ich wollte ihm ja auch nicht
weh tun,“ erklärte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.
Sie kamen an einer Sitzgruppe vorbei, die von Patienten und
Besuchern besetzt war. Deshalb gingen sie weiter, was Felix sehr
entgegen kam. So fand er nicht nur mehr Zeit seine Gedanken zu
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ordnen, sondern das Gehen selbst fühlte sich sehr angenehm an;
anscheinend hatte sich sein Körper richtig darauf gefreut.
„Schatz, ich glaube ich habe eine Menge Glück gehabt, es hätte
auch anders ausgehen können,“ meinte er mehr oder weniger ausweichend.
„Ist doch egal, Hauptsache du bist wieder heil.“
Felix erkannte beim Durchforsten ihres Bewußtseins, daß sie es
auch so meinte und gar nicht an einer detaillierten Erklärung interessiert war. Wahrscheinlich würde sie später mehr Fragen stellen.
Nebenbei bemerkte Felix, daß er sich nicht in ihr getäuscht hatte.
Sie war tatsächlich der herzensgute Mensch, den er schon vorher
in ihr gesehen hatte. Weitere Einzelheiten wollte er gar nicht
wissen; sein Eindringen in ihr Denken kam ihm wie Voyeurismus
vor und dazu hatte er zuviel Achtung vor ihr.
Er behielt den einmal eingeschlagenen Weg bei und fragte, ob
sie ihn morgen früh gegen neun Uhr abholen könnte. „Aber natürlich Felix,“ entgegnete sie freudestrahlend. Sie unterhielten sich
noch über das Auto, welches den Vorfall anscheinend unbeschadet überstanden hatte. Hasi erzählte ihm von den vielen Anrufern, die teilweise ihr Mitleid zum Ausdruck brachten, aber
auch Hoffnung auf Besserung vermittelten.
Felix wollte wissen, wie Oliver nach Hause gekommen war.
Sie berichtete, daß es bis halb vier in der Nacht gedauert hatte, bis
die Straße frei geräumt war. Er wurde schon früher gefunden,
denn die Feuerwehr hatte am Anfang des Tals mit den Aufräumarbeiten begonnen; zwei weitere Bäume waren hinter ihm umgefallen und mußten auch noch entfernt werden.
Sie schüttelte mit dem Kopf, als wenn sie die Erinnerung an die
schrecklichen Erlebnisse los werden wollte. Sie sagte: „Ach bin
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ich froh, daß der Alptraum vorbei ist.“ Er pflichtete ihr bei, dachte
aber daran, daß nichts mehr so sein würde wie früher.
Sie gingen noch eine Weile die Gänge auf und ab und sprachen
dabei weniger über das Ereignis, als vielmehr über Belanglosigkeiten des täglichen Lebens. Er brachte sie zum Haupteingang und
sie küßten sich zum vorübergehenden Abschied.
Felix ging zurück ins Zimmer. Begeistert nahm er den Essenswagen für das Abendbrot vor der Zimmertür zur Kenntnis.
Rüdiger hatte seine Narkose weitestgehend abgebaut und
wimmerte fortwährend.
Als Felix seinen Teller mit den Schnitten auf den Nachttisch
gestellt bekam, geriet er in eine äußerst widersprüchliche Situation. Sein körperliches Empfinden signalisierte offensichtlich
Hunger, ja sogar richtigen Heißhunger. Seine Überwachungssensoren allerdings warnten ihn eindringlich vor dem, was auf dem
Teller lag.
Ohne Zweifel lief ein Analyseprogramm ab, mit einer Reihe
von Informationen über schädliche Inhaltsstoffe. Felix grinste und
entschloß sich zu einem Kompromiß. Es gab wohl kaum eine
Nahrung, die nicht irgendwelche Mängel aufwies und da alle,
außer Rüdiger, dasselbe aßen, gönnte er sich wenigstens ein paar
Happen.
Kurz nach dem Essen erschien der Stationsarzt um nach den
beiden zu schauen. Nachdem er mit Rüdiger fertig war und sich
Felix zuwandte, schaute er auf das mitgebrachte Krankenblatt.
Felix wollte erst gar keine Mißverständnisse aufkommen lassen
und bewirkte in den Gedanken des Doktors die Einsicht, daß es
kein Grund gäbe, ihn länger hier zu behalten. „Tja Herr Krause,
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wie es aussieht können sie morgen nach Hause. Ich mache ihnen
gleich die Papiere fertig. Das war ja ein kurzer Aufenthalt hier bei
uns. Aber insgesamt wird ihre Familie bestimmt froh sein, sie
wieder zu Hause zu haben.“ Mit diesen Worten verabschiedete er
sich und keiner der Anwesenden empfand irgend etwas ungewöhnliches an diesem Vorgang.
Kurze Zeit später kam eine Schwester, die Rüdiger die vom
Arzt verordneten Medikamente brachte. Ansonsten lief den
ganzen Abend der Fernseher, für den Felix kein Interesse aufbringen konnte. Er stellte sich schlafend und nutzte die Zeit, um
sich über das Kommende Klarheit zu verschaffen.
Was sollte er mit seinen neuen Fähigkeiten anfangen und welcher Sinn verbarg sich hinter dieser offensichtlichen Laune der
Natur. Mit diesen und ähnlichen Gedanken beschäftigte er sich,
ohne ein brauchbares Ergebnis zu erzielen. Irgendwann zwischendurch hörte er Rudi laut schimpfen über Rüdigers
permanentes Gejammer. Das brachte ihn auf eine Idee. Schon seit
einer Weile spielte er mit dem Gedanken seinen Körper zu
verlassen, um Ausflüge entlang der kosmischen Strahlen zu unternehmen. Bislang hatte er damit gewartet, weil er nicht sicher sein
konnte, was zwischenzeitlich hier im Raum passierte. Deshalb
stattete er seine Kontrollebene für die Überwachung der Geschehnisse in der materiellen Welt mit einem automatischen
Rückholsystem aus, daß ihn jederzeit von überall her auf der
Stelle in den Körper zurückversetzen konnte. Er nannte es Rückruftaste und grinste innerlich, vor allem, weil Geist keineswegs
eine humorlose Angelegenheit zu sein schien.
Nachdem seine Aufgabe zu seiner Zufriedenheit erledigt war,
beschäftigte er sich mit den Strahlen, die ihn in alle Richtungen
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bringen konnten. Er brauchte seine Konzentration nur auf ein gewünschtes Ziel auszurichten und schon befand sich sein Geist am
Ort seiner Wahl. Zuerst war es schwierig die materiellen Konturen
der Örtlichkeit zu erkennen und er benutzte die Bilder, die er bei
anwesenden Personen vorfand. Schnell stellte er fest, daß dies ein
Umweg bedeutete und zudem selten ein vollständiges Bild ergab.
Deshalb wählte er anschließend Orte, an denen sich kein
Mensch aufhielt und lernte anhand der Eigenstrahlung der Objekte, wie ein komplettes Bild der materiellen Umgebung zu erstellen
war. Zuerst besuchte er den Eingangsbereich der Klinik, dessen
Aussehen ihm schon bekannt war und verglich seine Erinnerung
mit den neuen Eindrücken.
Dann glitt er hinaus und betrachtete die Klinik vom Parkplatz
aus. Dabei stellte er fest, daß zur Vereinfachung seines Vorhabens
nur die Objekte Formen anzunehmen brauchten, auf die er seine
Konzentration fixierte. Somit entstand der Eindruck, als wenn er
durch ein Fernrohr ohne Vergrößerung blicken würde. Alles was
nicht im Fokus seines Willens lag, ergab auch kein Bild.
Außerhalb des sichtbaren Ausschnittes kommunizierten Gefühle; teilweise von ihm ausgehend und von den Objekten reflektiert
oder auch umgekehrt. Der Unterschied zur Betrachtung mit einem
menschlichen Auge zeigte sich darin, daß wenn er den Blick
wendete, er anfangs ein konfuses Bild sah, welches erst nach dem
Zusammenfügen der Informationen aus den Gefühlen scharf
wurde.
Er machte einen autodidaktischen Schulungsprozeß durch, bei
dem er gleichzeitig Schüler und Lehrer war. Denn die Art der
Wahrnehmung die er vollführte, kamen ihm keinesfalls neu vor.
All die Eindrücke hatte er schon früher gehabt und er wußte auch
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wie. Dies hatte alles bereits in seinen Träumen stattgefunden, wie
er sich nun erinnerte. Er hatte es lediglich vergessen, weil sein
Körper früher diese Dinge nicht verstehen konnte.
Jetzt leistete die wieder gewonnene Erinnerung hilfreiche
Dienste. Trotz dieser Erkenntnis mußte er sich in der Anwendung
des Wissens sehr darum bemühen alles richtig zu ordnen, Erfahrungen zu speichern und eine Sicherheit im Umgang mit den Fähigkeiten erreichen.
Im Zustand der geistigen Aktivität spielte Zeit keine Rolle, nur
wenn er sich auf materielle Dinge konzentrierte, schloß er sich
dem aktuellen Zeitschema an. Als er zum Beispiel in dem nahen
Wald herum wanderte und die Bäume betrachtete stellte er nicht
nur fest, wie stark deren eigene Lichtfasern waren, sondern er sah
auch ihr Zeitverständnis, daß sich ganz enorm vom menschlichen
unterschied. Das wurde noch deutlicher bei der Erkundung eines
Felsens, der auf einer Lichtung im Wald aus dem Boden ragte.
Seine Forschungsreisen waren äußerst spannend und fesselten
ihn über alle Maßen. Es war allerdings weniger eine Müdigkeit,
die ihn zur Rückkehr bewegte, denn er fand überall Energiequellen, es war vielmehr eine Sättigung der Eindrücke, die erst
einmal verarbeitet werden wollten.
Zurück in seinem Körper fand er die Ruhe das Erlebte zu überdenken. Anscheinend war er stundenlang weg gewesen, im
Zimmer schliefen alle, sogar Rüdiger.
Beim Abgleich des Erlebten mit dem Gedächtnisspeicher des
Körpers stieg eine Emotion in ihm hoch, die er mehr als nur warm
bezeichnen mußte. Ein wirklich heftiges Gefühl von Liebe zu
dieser Welt füllte ihn aus und auf einmal wußte er, was er mit sei107
nen Fähigkeiten anfangen wollte.
Diese Welt war krank, ein Parasit namens Mensch wütete im
gesamten Organismus dieser Erde und stand im Begriff, die
Lebensbedingungen für sich und seine ihm anvertrauten Kreaturen, Tiere und Pflanzen zu vernichten. Die Laune der Natur, die
ihm diese außergewöhnlichen Fähigkeiten beschert hatte, übergab
ihm den Auftrag zu retten, was zu retten ist.
Ihm war klar, daß nicht der Einzelne Ursache der Mißstände
auf der Erde war, sondern die Aktivitäten der Masse. Und er fand
es unerheblich, ob sie nun gelenkt waren oder man sie gewähren
ließ in der Ausübung ihrer zerstörerischen Kraft.
Die weiteren Schritte seines Vorgehens zeichneten sich immer
deutlicher in seinem Bewußtsein ab. Zuerst galt es die Mechanismen der Macht verstehen zu lernen, denn dort war der Hebel
anzusetzen, um die Rückbesinnung der Massen einzuleiten. Jede
Gruppe von Menschen - sei sie auch noch so groß - besteht aus
Einzelwesen, wobei keiner isoliert betrachtet eine Zerstörung der
Lebensräume wünscht. Nur in ihrem Anpassungswahn, in der
Angst gegen den Strom zu schwimmen unterstützen sie ungewollt
das Fortschreiten des Untergangs der Spezies Mensch.
Felix empfand Dankbarkeit beim Erkennen daß dieser Plan, das
neu gesteckte Ziel nur deshalb Gestalt angenommen hatte, weil er
Körper besaß. Ohne ihn wären ihm die Geschicke der Menschen
recht egal gewesen.
Beim Überdenken der Vorgehensweise schloß er die Möglichkeit, sich selbst ins Zentrum der Öffentlichkeit zu begeben aus; es
war ihm schon immer unangenehm gewesen im Mittelpunkt zu
stehen. Mit seinen Möglichkeiten würde er zwar einiges bewirken
können, doch man konnte sicher davon ausgehen, daß viele, die
108
die bestehende Ordnung beizubehalten wünschten, sich als Feinde
aufstellen werden um ihn zu bekämpfen.
Das war nicht das, was er wollte. Besser erschien es ihm im
Hintergrund und unerkannt zu bleiben, selbst wenn er des öfteren
gewisse Manipulationen an verschiedenen Schlüsselpersonen vornehmen müßte.
Im Moment kam ihm sein Vorhaben noch recht unübersichtlich
vor und er wußte nicht genau, wo er anfangen sollte. Doch
vertraute er darauf, daß mit Hilfe seiner Fähigkeiten die einzelnen
Schritte erkennbar würden.
Erst einmal gab es noch viel zu lernen, zumal er die Grenzen
seiner Möglichkeiten noch gar nicht berührt hatte. Noch eines fiel
ihm beim Überdenken des Zieles auf: Wo waren all seine bösen
Gedanken geblieben?
Er hatte sich selbst immer als einigermaßen guten Menschen
gesehen. Doch waren die dunklen Seiten nicht vergessen; er
brauchte sein Gedächtnis nicht allzu sehr bemühen, um daran erinnert zu werden. Ungerechtigkeiten gegenüber seinen Mitmenschen, neidische Seitenblicke auf Arbeitskollegen und auch
Wut wegen Nebensächlichkeiten waren ein Teil dieser Erinnerungen. Er hatte damit leben müssen und war ab und zu überhaupt
nicht zufrieden mit sich gewesen.
Zu verschiedenen Gelegenheiten hatte er sich vorgenommen,
seine negativen Eigenschaften zu bekämpfen, doch meistens
waren diese Versuche im Sande verlaufen, beschwichtigt mit der
Begründung, daß er auch nicht schlechter sei als andere.
Jetzt in seinem neuen Zustand waren diese negativen Gedanken
einfach nicht vorhanden und er untersuchte diesen Umstand um
Antworten zu erhalten. Alsbald stellten sich diese ein. Er fand her109
aus, daß die energietragenden Lichtfasern, die er bisher noch nicht
berührt hatte - weil er sie nicht brauchte -, unterschiedliches Aussehen hatten.
Teilweise waren es reine, klar leuchtende Bündel, andererseits
gab es aber auch fast schon schmutzig aussehende mit gezackten
Rändern. Sie waren ihm bisher wenig einladend vorgekommen
und hatte sie auch aus diesem Grund gemieden.
Die reinen Lichtfasern erweckten schon wesentlich mehr Vertrauen und er wollte versuchen, wie sie sich anfühlten. Schon
beim ersten Kontakt überfluteten ihn freundliche warme Gefühle,
die sich nach und nach in Gedankenimpulse verwandelten. Einer
davon überlagerte die anderen und er empfing einen Willkommensgruß von allumfassender Liebe.
,Sei uns gegrüßt,' verstand er, ,wir beobachten dich schon eine
Weile und wir sind glücklich darüber, dich auf dem richtigen Weg
zu sehen.' Felix war überwältigt von so viel Reinheit, daß er den
Kontakt beendete weil er befürchtete, zu tief in dieses Meer der
Glückseligkeit einzutauchen und sich selbst darin zu vergessen.
Eine wichtige Aussage, die er unter den Stimmen heraus gehört
hatte blieb ihm vordergründig im Gedächtnis: ,Wenn du Hilfe
brauchst sind wir immer für dich da.'
Seine Neugierde trieb ihn dazu, auch die unreinen Lichtbündel
anzufassen und wich sofort erschreckt zurück, als er die Flut von
Haß und Anstachelung zu bösen Taten gewahr wurde. Diese Verbindung wollte er nie wieder eingehen, das stand spontan für ihn
fest.
Die Antwort auf die Frage, wo seine bösen Gedanken geblieben waren, konnte er sich jetzt selbst geben. Es war sein
Wille, der ihn davor zurückhielt, sich an diese unterschiedlichen
110
Fasern anzuschließen. Sie waren ständig um ihn herum, hatten
aber selbst keine Chance den Kontakt von ihrer Seite aus herzustellen, solange sein Wille stark war und dieses untersagte. Er begriff plötzlich, daß alle Menschen mit weniger starkem Willen
hilflos den Einflüssen der negativen, wie auch positiven Einflüsterungen ausgeliefert waren.
Unter den Stimmen der unreinen Fasern hatte er selbst in dem
kurzen Moment des Kontaktes einige erkannt, die direkt auf ihn
persönlich einzugehen versuchten, indem sie ihn überreden wollten, seine Fähigkeiten zu benutzen, um die Welt zu beherrschen.
Er erkannte eine große Kunstfertigkeit bei dem Versuch ihn zu
verführen und schüttelte sich innerlich, angewidert von der Boshaftigkeit, die sich dahinter verbarg.
Noch eines war ihm aufgefallen: Bisher hatte er sich mit der
Einteilung von warmen und kalten Emotionen zufrieden gegeben,
wobei er die warmen ausschließlich dem Körper und seiner besonderen Empfindlichkeit zuschrieb. Bei den Kontakten mit den unterschiedlichen Lichtfasern war das allerdings ganz anders. Die
Emotionen, die er bei der Berührung gefühlt hatte waren überaus
heftig und bewegend. Er ordnete diese neue Erkenntnis unter Ausnahmen ein, weil er im Moment keine bessere Erklärung fand.
In dieser Richtung wollte er vorerst nicht weiter forschen, aber
das Hilfsangebot der reinen Fasern hatte er nicht vergessen.
Ein weiterer Lernschritt war abgeschlossen und schon drängte
es ihn wieder Ausflüge zu unternehmen. Er konzentrierte sich und
berührte mit seinen Lichtfasern ein Band, daß ihn zu seiner Familie brachte. Er wanderte durch die Zimmer und hatte keinerlei
Probleme ein reales Bild der Umgebung zu erstellen.
111
Lukas und Christoph schliefen ruhig in ihren Betten und Felix
klinkte sich kurz in ihre Träume ein. Da war nichts, was ihm
Sorgen machen mußte. Deshalb entfernte er sich und glitt ins
Schlafzimmer der Eltern. Hasi lag dort in unruhigem Schlaf. Trotz
der Vorbehalte sich nicht übermäßig bei ihr einmischen zu wollen,
nahm er Kontakt mit ihren Traumbildern auf.
Es überraschte ihn sehr, was er da sah. Panische Angst war zu
erkennen, so daß er sich dazu entschloß einzugreifen. Er projizierte ein Bild von sich selbst in ihren Traum, wobei er ihre Hand
nahm und sie aus den dunklen Bildern herauszog auf eine Ebene,
wo Harmonie und Frieden herrschte.
Sofort beruhigte sich ihr Körper. Felix fragte sich, warum er
die Ausmaße ihrer unterbewußten Ängste nicht früher bemerkt
hatte. Jedenfalls schien sie im Wachzustand in der Lage zu sein,
sich nichts anmerken zu lassen. Er nahm sich vor, sie darauf anzusprechen.
Er verließ das Haus gerade aus nach oben und vermied es sich
ein materielles Bild zu erstellen. ,Du wirst noch so manche andere
Überraschung erleben,' überlegte er, noch in Gedanken an Hasi's
Angstträume. Doch dann ließ er sich einfach treiben.
Das Gleiten durch die Sphäre der geistigen Ebene berauschte
ihn und er genoß es in vollen Zügen. Auch wenn er es nur als
kalte Emotion empfinden konnte, es bereitete keine Schwierigkeiten zu assoziieren, wie sein Körper dies empfinden würde. ,Welch
eine wunderbare Welt,' dachte er bei sich und beobachtete die
Lichtfasern seines Geistes, wie sie durch die all gegenwärtigen
Bündeln von Licht glitten, immer entlang der kreuz und quer
laufenden kosmischen Strahlen.
Eine kaum überschaubare Vielfalt verschiedenster Lichter
112
durchzog diesen Kosmos und doch war der Übergang in die materielle Welt nur ein kleiner Schritt. Was wäre, wenn die Menschen
von der Existenz der ineinander verflochtenen Sphären wußte?
Felix gestand sich ein, daß die Frage rein hypothetisch war, denn
die Menschen waren nicht imstande, einer anderen Ebene als ihrer
materiellen Existenz zuzuschreiben.
Und er, der dies alles sehen durfte wußte nicht, ob es nur ein
Zufall oder die Absicht einer höheren Macht war, die ihn in diese
Lage versetzte. Er würde das noch raus kriegen, nahm er sich vor.
,Vielleicht frage ich die reinen Fasern mal danach,' überlegte er.
Er stoppte seinen Flug um sich zu orientieren, an welcher
Stelle der materiellen Welt er sich gerade befand. Anscheinend
handelte es sich um einen bisher unbekannten Ort, denn es dauerte
eine Weile, bis ein Bild erkennbar wurde. Das war allerdings
überaus faszinierend und ein wenig bedauerte er, keine warmen
Emotionen zur Verfügung zu haben.
Vor ihm befand sich der Mond, riesengroß und schön. Er
wechselte die Blickrichtung und sah die Erde in weiter Entfernung
- der blaue Planet, klein wie ein Tennisball. Innerlich mußte er
grinsen. Ein weiterer Schwenk seines Wahrnehmungsfeldes zeigte
ihm die Sonne, nicht wesentlich größer, als wenn man sie von der
Erde aus sah. Wieder wunderte er sich, mit welcher relativen
Gleichmütigkeit er seine Fähigkeiten hin nahm.
In diesem Moment meldete sich sein Warnsystem und er konzentrierte sich auf die Strahlen, die ihn ohne Zeitverzögerung zurück in seinen Körper zurückversetzte. Eine Schwester hatte das
Zimmer betreten um nach Rüdiger zu schauen. Felix überlegte, ob
er das Warnsystem nicht etwas großzügiger modellieren sollte,
doch entschied er sich, es so zu belassen. ,Besser etwas sensibler,
113
als plötzlich überrascht zu werden,' dachte er.
Die Uhr an Karls Bett zeigte 05:30 Uhr, als die Schwester das
Zimmer verließ. Felix hatte erst einmal genug vom Reisen und
entschloß sich, etwas für seinen Körper zu tun. Er zog seinen
Morgenmantel und die Strümpfe an und wanderte die Gänge der
Station auf und ab, stieg ein paar Treppen runter und wieder hoch
und wiederholte das Ganze, bis sein Kreislauf genug angeregt
war.
Dabei dachte er an seine neue Aufgabe und schmiedete Pläne,
wie er vorgehen wollte. Jetzt war Frühstückszeit und er ging zurück ins Zimmer. Gestern abend hatte er nur ein paar Bissen zu
sich genommen, heute ignorierte er das Warnsystem komplett und
langte kräftig zu. Allerdings ließ er den Kaffee weg, weil das
Analyseprogramm regelrechten Alarm schlug, während es bei den
anderen Sachen lediglich warnte.
,Das kann ja heiter werden,' dachte Felix, akzeptierte
allerdings, daß der Körper nun mal ein Recht auf gesunde Ernährung hat. Er nahm sich vor, mit Hasi ausführlich darüber zu sprechen. Höchst wahrscheinlich mußte sich einiges in der Küche zu
Hause ändern, schließlich hätte es zuviel Aufwand bedeutet, ständig gegen die inneren Widerstände anzugehen.
Trotz der vielen Einwände meldete sein Organismus Zufriedenheit, weshalb er das Thema zurück stellte und die Sporttasche
nach Zahnbürste und Pasta durchsuchte. Hasi hatte an alles gedacht. Er stand vor dem Spiegel und das gab die nächste Überraschung.
Es war nicht die Stoppelfrisur, die ihn zurückschrecken ließ,
diesen Anblick hatte er erwartet; über Nacht waren die Haare
schon einige Millimeter gewachsen. Vielmehr ergab sich ein kon114
fuses Bild beim Betrachten im Spiegel. Im ersten Moment sah er
sein reales Gesicht mit den Augen des Körpers. Aber dann
wechselte das Abbild zu einem Lichtkegel, von dem unendlich
viele Lichtfasern ausgingen.
Felix konzentrierte sich, er wußte daß diese Konfusion aus der
mangelnden Routine im Umgang mit seinen verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten entstand und zog seine Geisteinheit zurück. Sofort erschien das bekannte Gesicht mit dezent grünem
Leuchten und überraschend jugendlicher Ausstrahlung, daß in
jetzt recht befriedigt angrinste.
Niemals würde er seiner geistigen Ebene gestatten, seinen Körper als hinderlich anzusehen. Das war ein heiliger Schwur, den er
sich nun gab.
Einige organisatorische Dinge waren noch zu erledigen, die er
schnell hinter sich brachte. Tasche packen und in der Klinikverwaltung auschecken gehörte dazu. Die angebrannten Kleidungsstücke übergab er dem Müllschlucker.
Hasi war etwas früher da und brachte Anziehsachen für
draußen mit und schon verließen sie die Klinik. Felix hielt sich
währenddessen im Hintergrund auf und übergab die Kontrolle der
Handlungen seinem Körper. Er konnte alles was um ihn herum
geschah in Ruhe beobachten und fand diese Rolle gar nicht mal
ungeeignet. Solange der Körper aktiv war, hätte ein Verlassen
dazu geführt, daß er augenblicklich in sich zusammen gesackt und
eingeschlafen wäre, was für Außenstehende bestimmt zu erheblicher Verwirrung führen würde.
Mit diesem Kompromiß konnte er zufrieden sein, zumal er die
Gelegenheit nutzten wollte, um die Bewußtseinsinhalte der Men115
schen zu betrachten, denen sie begegneten. Bei Hasi unterließ er
es, sie bekleidete einen Ausnahmestatus. Doch bei den anderen
schlüpfte er mit seinen Sensoren mal hierhin und mal dahin, der
Neugierde Willen und auch um zu lernen.
Wenn der Körper sich ganz ruhig verhielt reichte die Konzentration des Geistes sogar aus um kleine Eingriffe
vorzunehmen. So warnte er einen Fußgänger, der unbedacht die
Straße überqueren wollte. Währenddessen hörte er Hasi zu, die
gerade davon erzählte, wie rücksichtsvoll der Chef seiner Firma
reagiert hatte, als Felix sich noch im Koma befand.
„Die Jungs sind ganz aus dem Häuschen,“ meinte sie jetzt, „die
wollten gar nicht zur Schule gehen.“ Sein Gesicht zeigte ein Lächeln, als sie ihn für einen Moment anschaute. „Du bist so still“
stellte sie fest, „ist alles in Ordnung mir dir?“
„Ich fühle mich prächtig, wie neu geboren,“ erwiderte er und
stellte befriedigt fest, daß die Wechsel der Bewußtseinsebenen
vollkommen problemlos verliefen.
„Du siehst verdammt gut aus, mein Schatz,“ fuhr sie fort und
griff fordernd an seinen Oberschenkel. „Aber das grüne Licht um
dich herum ist immer noch nicht weg.“
„Das wird auch noch eine Weile bleiben, meinte der Arzt. Ist
wohl ein Nebeneffekt des Blitzes.“ Dabei dachte er eigentlich daran, wie sich der ausbleibende Alterungsprozeß in ein paar Jahren
auf ihre Beziehung auswirken würde. Hasi war eh schon vier Jahre älter als er und in zwei Jahren wird sie vierzig, dann sah er
immer noch aus wie höchstens Anfang dreißig. ,Es wird sich
schon zeigen.' Damit unterbrach er seine Gedanken an die Zukunft.
Sie bogen jetzt in die Einfahrt ihres Hauses ein und stiegen aus
116
dem Wagen. Eine ältere Nachbarin schaute aus dem Fenster und
rief: „Das ist aber schön, Herr Krause, daß sie wieder zu Hause
sind.“ Allerdings konnte Felix ihre wahren Gedanken erkennen.
,Warum hat der soviel Glück und mein armer Mann nicht?', dachte die Witwe in Wirklichkeit.
Felix grüßte sie und war sich darüber im Klaren, daß er noch
einige Begegnungen dieser widersprüchlichen Art vor sich hatte.
Sie gingen ins Haus und Felix stellte seine Sporttasche an die
Badezimmertür. Hasi hängte ihre Jacke und den Autoschlüssel an
die Haken und stellte sich vor ihn hin, um ihn ganz fest in die
Arme zu nehmen. Sie biß ihn zärtlich ins Ohrläppchen, wobei sie
sich auf die Zehen stellen mußte.
Dann flüsterte sie ihm zu: „Die Jungs kommen erst in zwei
Stunden aus der Schule. Ich wüßte schon, was wir mit der Zeit
anfangen könnten.“ Die Dominanz seiner Wahrnehmung
verlagerte sich eindeutig zum Körper hin. „Meinst du, du wärst
schon fit genug für einen kleinen Ausritt?“, wurde sie etwas direkter, weil sie nicht sicher war, wie seine ausbleibende Reaktion zu
verstehen sei.
„Aber hallo,“ ging er auf das Angebot ein, „ich habe siebzehn
Tage an nichts anderes gedacht. Ich will nur schnell den Krankenhausgeruch weg duschen.“ Sie küßten sich überaus intensiv und
konnten nur schwer wieder voneinander lassen.
Felix ging unter die Dusche und stellte dabei fest, daß seine
körperlichen Funktionen keinesfalls beeinträchtigt waren. Gespannt auf das, was ihn erwartete trocknete er sich ab und ging
nackt ins elterliche Schlafzimmer. Hasi hatte die Decke über den
Kopf gezogen und er glitt vom Fußende aus darunter, um sich
langsam aufwärts zu arbeiten.
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Die nachfolgende Stunde war für ihn ein Erlebnis von höchster
Intensität, wobei er es nicht unterlassen konnte seine Fähigkeiten
zu benutzen, um ihr ebenfalls eine Zeit vollster Verzückung zu
bereiten.
Als sie schweißnass und körperlich ermattet danach halb aufeinander lagen, fand sie zuerst gar keine Worte. Erst nach einer
Weile brachte sie mehrere ,Oh's' heraus und sagte dann immer
noch um Atem ringend: „Was war das denn? Das war ja ... unglaublich.“
Felix wußte, daß sie kein Freund großer Worte war und ihre sexuellen Begegnungen bisher nie so richtig kommentiert hatte. Er
schmunzelte befriedigt in sich hinein und küßte sie abermals, um
ihr die Chance zu geben, nicht weiter nach Worten suchen zu
müssen. Aber da hatte er sich vertan. Kaum das ihre Lippen
wieder getrennt waren jauchzte sie erneut: „Schatz, ich habe noch
nie vier Orgasmen hintereinander gehabt. Was haben die dir im
Krankenhaus gegeben? Das läßt du dir auf jeden Fall weiter
verschreiben.“
Felix erinnerte sich an die Kontakte vor dem Blitz und mußte
zu seiner Schande eingestehen, daß er oft sehr egoistisch gewesen
war - das sollte nie wieder so sein. Aufgestachelt durch die für
beide neue Erfahrung fielen sie wieder übereinander her. Wie ausgehungert ließ sich Hasi in eine Woge der Ekstase fallen und
konnte erst von ihm lassen, als ihr Körper vor Erschöpfung
einfach so einschlief.
Felix verfügte durch die Eingriffe, die er an sich vorgenommen
hatte über ganz andere physiologische Voraussetzungen. Vollkommen zufrieden und überaus erfrischt stand er auf, nachdem er
ihr ein paar Minuten zärtlich übers Haar gestrichen hatte und zog
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sich an.
In der Küche bereitete er das Essen für die Familie und freute
sich sehr auf die beiden Jungen, die alsbald nach Hause kamen.
Christoph, der jüngere der beiden kriegte sich gar nicht mehr ein
und tanzte und johlte um den Küchentisch herum. Lukas, in der
Rolle des schon Reiferen sagte immer wieder: „Hab' ich doch gesagt - hab' ich's nicht gesagt?“
Hasi war von dem Lärm aufgewacht und bald saß die ganze Familie am Tisch um zu essen. Sie wirkte ein klein wenig verwirrt
und Felix bemerkte, daß sie ihn öfters nachdenklich von der Seite
anschaute. Auch ohne nachzuhelfen wußte er ihre Gedanken
richtig einzuordnen.
Es war nicht allein das außergewöhnliche Erlebnis vorhin im
Bett, auch nicht die Tatsache, daß er ein vorzügliches Essen
angerichtet hatte, was sie dazu veranlaßte ihren Mann mit ganz
anderen Augen zu sehen. Vorerst konnte sie es noch nicht richtig
verstehen, doch Fakt war für sie, daß er eine Veränderung von
nicht unerheblichem Ausmaß vollzogen hatte.
Christoph machte eine Bemerkung über die neue Frisur seines
Papas und ausgelassen wie er war meinte er: „Irgendwie steht dir
das gut und der grüne Schimmer ...“
Da unterbrach ihn sein älterer Bruder und wies ihn zurecht: „So
was sagt man nicht, Christoph.“
Felix beschwichtigte die beiden. Kaum war das Essen vorüber
nahm Lukas seinen Papa an die Hand, zog ihn in sein Zimmer, um
ihm sein neues Computerspiel zu zeigen. Christoph kam natürlich
hinterher, denn der Nachholbedarf der beiden Jungs, was die Nähe
zu ihrem Vater betraf war noch lange nicht gesättigt. Felix ließ sie
gewähren, denn auch er hatte sie vermißt. Doch nach einer Weile
119
erinnerte er sie an ihre Hausaufgaben mit dem Versprechen, am
kommenden Wochenende mit ihnen verbringen zu wollen.
Er ging zurück in die Küche und half Hasi beim Abtrocknen.
„Sicherlich hast du gemerkt, daß sich einiges bei mir geändert
hat,“ begann er den Versuch ihre Verwirrung zu besänftigen.
Halb fragend, halb feststellend meinte sie nur: „Ach?“ Dann
lachte sie aber und küßte ihn auf die Wange.
„Ich habe tatsächlich das Gefühl wiedergeboren zu sein,“ fuhr
er fort, „eine neue Chance erhalten zu haben. Sicherlich verstehst
du das.“
Wieder schaute sie ihn prüfend von der Seite aus an. Sie ahnte,
daß es nur ein Teil der Wahrheit sein konnte, gab sich aber
dennoch mit seiner Antwort zufrieden. Felix sagte weiter: „In Zukunft werden wir viel mehr Zeit füreinander haben, das verspreche ich dir. Ich habe mir so einige Gedanken gemacht und glaube,
du hast jetzt keinen Grund mehr dich zu fürchten.“
„Zu fürchten“, fragte sie, „was meinst du damit? Wovor?“
Die Art, wie Felix das Thema angeschnitten hatte forderte eine
konsequente Weiterführung. „Ich meine einfach, daß du eine stetige Angst in dir herum trägst, die du gar nicht so offen zeigst.“
Jetzt war sie erst recht verunsichert und kämpfte einen Moment
lang mit dem aufkommenden Drang sauer auf ihn zu werden.
Doch er hatte einen wunden Punkt in ihr angesprochen und da ihr
bisher streng gehütetes Geheimnis keines mehr war, ergab sie sich
der Offenlegung und empfand ein befreiendes Gefühl dabei.
Sie legte den Teller beiseite und umarmte ihn. „Das ist alles so
komisch, Felix,“ sagte sie und ließ die stillen Tränen einfach
laufen. „Du bist so ... anders. Bestimmt nicht schlechter als vorher, aber besser ... ? Ich weiß auch nicht, bestimmt verändert
120
meine permanente Angst mein Denken. Ich kann auch nichts dafür, aber irgendwie macht mir dein Zustand Angst, vielleicht weil
es so ungewohnt ist.“
„Guck mal Lukas,“ rief Christoph in diesem Moment an der
Küchentür, „zwei Verliebte.“
„Schon fertig,“ fragte Felix.
„Kannst du mir mal helfen? Ich weiß nicht wie das geht.“ Seine
vorher strahlende Miene zeigte nunmehr ein wenig Resignation.
Felix dachte nicht daran die Atmosphäre in der Küche einfach
so aufzulösen und nahm deshalb Hasi an die Hand. In Christophs
Zimmer setzte er sich auf den Bettrand und zog seine Frau zu
sich, damit sie auf seinem Schoß Platz nehmen konnte. Dabei hielt
er sie fest umschlungen, was sie, jetzt innerlich wieder ausgeglichen gerne erwiderte.
Das kleine Problem mit dem Bruchrechnen ließ sich schnell beheben. Die beiden schauten noch bei Lukas vorbei und gingen
dann eng umschlungen in die Küche zurück. Nicht ohne Begleitung durch Christophs neuerlichen Kommentar, der den Umgang der Eltern miteinander anscheinend nicht gewohnt war.
„Gleich knutschen sie wieder,“ rief er hinter ihnen her.
Felix faßte Hasi an beide Schultern und stellte sich dabei gerade vor sie hin. Mit fester Stimme und direktem Blick in ihre
Augen sagte er: „Willst du meine Frau werden?“ Sie lachte etwas
verlegen und wußte im ersten Moment nicht wie sie reagieren
sollte. „Na ja,“ meinte er weiter, „wenn ich schon so anders bin,
dann möchte ich, daß du den anderen Felix auch zu deinem Mann
haben willst.“
Die Überzeugungskraft seiner Worte ließ sie nicht ungerührt.
Ihn heftig umarmend meinte sie: „Ach, du Dummerchen, natürlich
121
will ich dich.“ Die Sorgen über die Veränderungen ihres Mannes
waren wie weggeblasen.
Ihre Lippen berührten sich für einen zärtlichen Kuß und
Christoph rief von hinten: „Zwei Verliebte, zwei Verliebte.“
Lukas meinte nur: „Du Spanner.“ Und schon waren sie am
Streiten - es war fast wie immer.
Felix ging zu ihnen hinüber und stellte sich gespielt empört vor
ihren Zimmern auf, so daß sie ihn beide sehen konnten. „Aber
meine Herren, ist das die Art der Wiedersehensfeier für euren
blitzsauberen Vater?“ Beide lachten und vergaßen ihren Streit.
Als Christoph mit den Hausaufgaben fertig war, gesellte er sich
zu den Eltern, die im Wohnzimmer Platz genommen hatten und
sich über die Pläne fürs kommende Wochenende unterhielten. Er
schnappte noch auf, daß vom Spazierengehen die Rede war. „Oh,
langweilig,“ murrte er.
„Abwarten,“ gab Felix zu bedenken, „ich kenne da eine Ecke
mit Höhlen und Kletterfelsen, die dir bestimmt gefallen wird.“ Die
Jungs verbrachten ihre Freizeit viel zu selten in der freien Natur.
Wenn sie schon mal raus gingen, hingen sie mit Nachbarkindern
rum und stellten dabei allerlei Unsinn an. Ansonsten beschäftigten
sie sich hauptsächlich mit dem Computer oder dem Fernsehen.
Felix nahm sich vor ein wenig Einfluß auf ihre Freizeitgestaltung zu nehmen. Hasi fragte ihn, wie lange er noch krank geschrieben sei. „Vorerst noch vierzehn Tage,“ gab er zur Antwort.
Dabei war er sich ganz sicher, daß das Thema Arbeit für ihn abgehakt war. Es würden sich andere Möglichkeiten ergeben, die Familie zu ernähren. Außerdem sahen seine Pläne keinen Platz vor,
um ein Drittel seiner Tageszeit unsinnig zu vergeuden.
122
Als Lukas kam und die Fernbedienung für das Fernsehgerät in
die Hand nahm reagierte Felix sofort. „Nee, nee,“ meinte er, „das
ist nichts für uns. Laßt uns lieber was spielen.“ Die beiden Kinder
schauten sich verwundert an, sie waren es nicht gewohnt und
fanden es interessant, mal was anderes zu machen.
So verbrachten sie den Nachmittag mit vielen Spielen, die sie
noch nie gespielt hatten und keiner dachte auch nur für einen
Moment ans fernsehen oder raus gehen. Erst als die Abendbrotzeit
heran rückte drängte es sie nach draußen, um ihren Freunden von
der Rückkehr ihres Vaters zu berichten. „Zieht euch die Jacken
an,“ rief Hasi ihnen hinterher, „es ist schon recht kühl und seit um
sieben wieder hier, okay?“
Schon waren sie verschwunden und Hasi kuschelte sich an
Felix. So verbrachten sie einige Minuten ohne was zu sagen. „Es
gibt da noch etwas, was ich dir erzählen muß,“ begann er den Versuch, ihr etwas mehr von seinen Veränderungen näher zu bringen.
Dabei beabsichtigte er nicht den gesamten Umfang der Fähigkeiten auszubreiten, den sie eher zum Anlaß genommen hätte ihn für
verrückt zu erklären, als es zu verstehen.
Natürlich hätte er ihr mit praktischen Beispielen seine Andersartigkeit belegen können, doch konnte er nicht sicher sein, daß sie
den unvermeidlichen Schock verkraftet hätte. Und eine Beeinflussung ihres Bewußtseins kam für ihn nach wie vor nicht in
Frage.
Sie änderte ihre Sitzposition, in dem sie ihre Ellbogen auf die
Rücklehne des Sofas stützte und ihren Kopf in die Hand legte. Die
freie Hand legte sie auf Felix Knie seiner übereinander geschlagenen Beine. Wie immer wippte er mit dem freien Unterschenkel, was er auch früher schon aus Gewohnheit gemacht hatte
123
wenn er redete.
Er fuhr fort: „Als ich im Koma war hatte ich einige seltsame
Erlebnisse, an die ich mich nach dem Aufwachen noch erinnern
konnte. Ich konnte mich selbst sehen, ohne Beschönigung und
ohne Vorwürfe. Dann habe ich versucht alles zu ordnen und glaube jetzt, daß ich nicht mehr in der Form wie früher weiter leben
will.“
Gespannt auf ihre Reaktion schaute er sie an. „Dein Knie
knirscht nicht mehr,“ sagte sie und dann, nach einer Weile: „Ja,
weiter.“
„Ich möchte mich bemühen wesentlich bewußter zu leben:
keine Kompromisse mehr, weder beim Essen, noch bei all den
anderen Dingen des Alltags. Das Leben früher erscheint mir heute
so seicht, so oberflächlich, als wenn man kein anderes Ziel hätte
als alt zu werden und die Zeit bis dahin mit irgendwelchen banalen Tätigkeiten tot zu schlagen. Deshalb war ich auch immer unterwegs, weg von zu Hause, um nicht darüber nachdenken zu
müssen, wie sinnlos das Leben eigentlich ist.“
Er sah sie wieder an, neugierig erwartend, wie sie das aufnehmen würde. Sie hatte den Blick gesenkt und grübelte. „Was
kann man denn schon daran ändern,“ fragte sie, „jetzt so kurz
nach dem Unfall ist das alles noch so frisch. Natürlich verstehe
ich dich voll und ganz, nach so einem Erlebnis wird einem bestimmt einiges bewußt. Aber was wird sein, wenn uns der Alltag
wieder eingeholt hat?“
„Genau das ist der Punkt,“ meinte Felix, „es wird keinen Alltag
mehr geben. Es kommt doch nur darauf an, sich jeden morgen bewußt darüber zu sein, daß das Leben ein Geschenk ist, das man
nicht einfach so vergeuden darf. Man muß sich unnachgiebig dar124
um bemühen das gesteckte Ziel zu verfolgen. Eine dritte Chance
kann man wohl kaum erwarten.“
„Was für ein Ziel meinst du?“
„Die Welt zu verbessern natürlich. Sie ist doch schon schlecht
genug. Und wenn der eigene Versuch etwas zu ändern nur ein
Milliprozent im Vergleich ausmacht, so ist das immer noch besser
als gar nichts zu tun. Ich will nicht irgendwann sterben mit dem
Gedanken mein Leben verschwendet zu haben. Ich will nicht mit
dem Bewußtsein abtreten, trotz besseren Wissens nichts gegen
diesen Unsinn auf der Welt unternommen zu haben. Es würde
mich krank machen, wenn ich wie all die Anderen den Kopf in
den Sand steckte und glaubte, nichts mit all dem zu tun zu haben.“
Hasi war eher zu einem häuslichen Typ erzogen worden und
hatte nie besonderes Interesse für Politik oder andern Dingen des
Weltgeschehens gezeigt. Doch die Dringlichkeit von Felix Ausführungen hatte sie berührt. Jetzt blickte sie ihn wieder an und
sagte: „Da bin ich aber mal gespannt, wie das in der Praxis aussieht.“
Felix schaute sie zufrieden an, mehr hatte er eigentlich nicht
gewollt. Damit glaubte er den Grundstein gelegt zu haben und
hatte seine beabsichtigten Aktivitäten schon im Vorfeld begründet. „Was hältst du davon, wenn wir aufs Land raus ziehen?
Wir verkaufen hier alles und fangen noch einmal ganz von vorne
an.“
Dieser Vorschlag kam nun doch etwas überraschend. „Wie, du
meinst einfach so?“ Ihre Gedanken waren jetzt so richtig aufgewühlt. Alle möglichen ,Wenn' und ,Aber' wollten bedacht sein.
Zum Einen tendierte sie eh nicht zu schnellen Entschlüssen, zum
Anderen gab ihr das bisherige Leben hier im Vorort einer
125
Kleinstadt die Ruhe und Sicherheit, die sie brauchte. Gedanken an
Veränderungen dieser Situation waren ihr bisher noch nie gekommen.
Felix Argumente waren allerdings vollkommen verständlich
und diese überzeugende Aufbruchsstimmung, die er ihr vermittelt
hatte war nicht ohne Reiz. Eigentlich kämpfte sie innerlich nur
mit ihrem gewohnten Angstgefühl. „Was wird aus den Jungs, was
ist mit deinem Job?“, fragte sie, weil der Konflikt sich nicht von
alleine auflöste.
Er hatte ihr Problem durchschaut und natürlich auch erwartet.
Deshalb nahm er ihren Kopf in beide Hände, damit sie seinem
Blick nicht ausweichen konnte. „Vertraust du mir?“, fragte er sie,
„glaubst du ich wäre durchgeknallt oder hätte einen Schaden zurückbehalten?“
Der Ernst seiner Aussprache beschwichtigte sie keineswegs
und ihr Dilemma verschlimmerte sich eher, als das es behoben
wurde. Deshalb drängte er weiter. „Natürlich werden wir nichts
überstürzen und wenn du irgendwelche Zweifel hast, finden wir
einen anderen Weg. Aber laß uns doch die Sache einfach mal
durchspinnen. Das kann doch nicht schaden, oder?“
Das war schon eher geeignet sie zu beruhigen. „Du weißt doch,
daß ich dir vertraue,“ meinte sie jetzt, als sie ihre kuschelnde Position wieder eingenommen hatte, „ehrlich gesagt macht mir deine
wahnsinnige Energie richtig Angst.“
„Mir auch,“ lachte er los, „aber nur weil es so neu ist.“ Damit
sprach er genau das an, was sie auch empfand.
Die beiden Jungen kamen zurück und waren überaus hungrig.
Hasi wollte sofort aufspringen, um in der Küche das Abendbrot zu
bereiten. Doch Felix hielt sie fest. „Nein, nein, das kannst du noch
126
oft genug machen, heute bin ich dran. Kommt Jungs, heute sind
die Männer mit dem Küchendienst an der Reihe.“
Lukas und Christoph hatten sich die Hände gewaschen und
diese weitere Änderung des gewohnten Tagesablaufs nahmen sie
wenigstens heute als Abwechslung dankbar an. Hasi blieb auf der
Couch und schüttelte lächelnd den Kopf. Dann nutzte sie die Ruhe
zum Nachdenken, womit sie reichlich zu tun hatte.
Nach dem Essen räumten die drei alles ab, machten noch die
Küche fertig und saßen dann gemeinsam im Wohnzimmer. „Das
könnte mir gefallen,“ meinte Hasi in Anspielung auf die Küchenarbeit der Männer.
Die Kinder waren da aber ganz anderer Meinung. „Das ist doch
Frauenarbeit,“ erklärte Christoph.
„Langsam, langsam,“ entgegnete Felix, „was machen denn all
die Männer die keine Frauen haben und alleine wohnen? Na?“
„Die können jeden Tag nach McDonalds gehen,“ wußte Lukas
schlagfertig zu erwidern.
„Und für das sauber machen muß man sich eben eine Putzfrau
kaufen,“ rief Christoph und alle mußten lachen.
„Du Faultier,“ meinte Felix und stand auf um seinen Jüngsten
mal ordentlich durchzukitzeln. Dann wieder ernst sagte er: „Jeder
Mensch, ob Mann oder Frau sollte in der Lage sein den Dreck den
er macht selbst wieder weg zu machen. Und wer sein essen nicht
selber kochen kann, muß den Mist essen, den andere herstellen.
Nein danke, das ist nichts für mich. Ich will euch mal eine Geschichte erzählen.“
Auch das war neu für die Kinder. Sie konnten sich kaum daran
erinnern, wann sie das letzte Mal eine Geschichte erzählt be127
kamen. Deshalb war es auch nicht besonders anstrengend, sie zum
Zuhören zu bewegen.
Fast zwei Stunden erzählte Felix eine frei erfundene Story mit
allem, was Jungen gerne hören. Zum Schluß waren sie richtig
müde geworden und Christoph fielen ab und zu schon die Augen
zu. Zähne putzen und Nachtanzug anziehen wurde noch schnell
erledigt. Dann lagen beide ohne einmal während des Abends an
fernsehen gedacht zu haben in ihren Betten. Sie bekamen noch
einen Gute-Nacht-Kuß von den Eltern und Felix sagte zum Abschluß: „Morgen wird ein schöner Tag.“
„Anscheinend hast du schon konkrete Vorstellungen,“ nahm
Hasi ihr Gespräch von vorhin wieder auf, als sie auf der Couch
Platz genommen hatten.
„Na ja,“ schmunzelte Felix, „so konkret auch wieder nicht.
Und ohne dich mein Schatz, läuft gar nichts.“ Einmal mehr fühlte
sie sich überwältigt von seiner Bestimmtheit und da auch nicht der
Ansatz eines Hintergedanken spürbar war, ließ sie sich auf einer
Woge der Zuneigung in seine Arme gleiten und kostete das Gefühl der reinen Liebe zu ihrem Mann - die hinderlichen Bedenken
waren verschwunden.
Erst eine ganze Zeit später begannen sie wieder zu reden und
Felix beschrieb ihr, wie er in etwa vorzugehen gedachte. Die Uhr
zeigte kurz nach zwölf als sie zu Bett gingen. Die schmiegten sich
eng aneinander und redeten nicht mehr. Viele Eindrücke des
Tages wollten verarbeitet werden, bis Hasi endlich in den Schlaf
sank.
Felix hatte die Zeit ebenfalls damit verbracht, alles noch einmal zu überdenken. Als sie eingeschlafen war rutschte er auf seine
Seite des Bettes und schaute nach, ob sie richtig zugedeckt war.
128
Er nahm sich die zweite Zudecke und ließ seinem Körper den nötigen Schlaf. Seine Geisteinheit übernahm das Kommando, wobei
er feststellte, daß die stundenlange Dominanz des körperlichen
Empfindens jetzt so wirkte, als wenn der Geist aus einem Traum
erwacht.
Viele neue Fragen waren aufgetaucht, die sich zu den noch
nicht beantworteten gesellten. Er setzte sein Vorhaben, die reinen
Lichtbündel anzufassen um Antworten zu erhalten sofort in die
Tat um.
„Sei gegrüßt im Namen Jesu,“ waren die ersten Worte, die er
verstand, ausgehend von der Stimme, die er schon kannte. Die
anderen hielten sich noch weiter im Hintergrund auf, als bei der
ersten Kontaktaufnahme.
Er hatte eine religiöse Komponente nicht erwartet und war etwas überrascht. Vor allem deshalb, weil ihm einfiel, daß er selbst
seit er aus dem Koma erwacht war, nicht über Gott oder andere
Belange des Glaubens nachgedacht hatte. „Das hat auch seinen
Grund,“ sagte die Stimme jetzt weiter, die anscheinend seine Gedanken erfassen konnte.
„Du bist einem Irrtum erlegen und hast dabei richtiges Glück
gehabt. Denn eigentlich war deine Lebensuhr abgelaufen und wir
erhielten die Information, dich zur Aufnahme in dein himmlisches
Haus vorzubereiten. Doch Gottes Pläne sind auch für uns nicht
immer durchschaubar; offensichtlich hatte er anderes mit dir vor.“
Nun war Felix total verwirrt und wußte nicht, wie er das Gesagte einordnen sollte.
Die Stimme fuhr fort: „Das was du als Kugelblitz glaubtest zu
erkennen war gar keiner. Es war eine Energieblase, die die Aufgabe hatte dein Bewußtsein und alles was zu deiner geistigen
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Ebene gehört zu entführen. Dein Körper als unbrauchbares
Anhängsel sollte dabei zurückbleiben und wäre gestorben. Die
Erbauer der Blase wußten allerdings nichts von Methangas und
seiner Wirkung auf ihr Werkzeug. So hatten sie keine Ahnung davon, daß du sie aufsaugen würdest, weil das Methangas als Katalysator eben diesen Effekt erzeugt. Du hast die grünlich leuchtende Energie sehr zu deinem Vorteil benutzt und konntest dadurch Fähigkeiten frei machen, die für Menschen normalerweise
nicht vorgesehen sind. Aber es entstand ein weiterer nicht voraussehbarer Nebeneffekt, der dir einige Kopfschmerzen bereitete.
Denn durch die Energieaufladung deines Geistes ging die Verbindung zu deiner Seele verloren und somit wunderte es dich, daß
deine bösen Gedanken verschwunden waren. Im ständigen Kontakt mit deiner Seele wäre der Zugriff auf die Erinnerungen deiner
früheren Leben offen gewesen und du hättest gesehen, daß du ein
genauso sündiger Mensch bist, wie alle anderen auch. Wie das
funktioniert wissen wir auch nicht, genauso wie die Erbauer der
Blase vor einem Phänomen standen, daß in ihrer Entwicklungsgeschichte noch nie vorgekommen war. Übrigens vermissen sie ihr
Gerät und wollen es wieder haben.“
„Wer sind die?“, fragte Felix.
„Oh, das ist eine außerirdische Rasse, die eine weit fortgeschrittene Technologie besitzt und nur noch wenig Interesse an
materiellen Lebewesen zeigt. Sie suchen nach Unsterblichkeit des
Geistes und versündigen sich damit an Gottes Gebot. Wir lassen
sie gewähren, weil der freie Wille der Kreaturen oberste Priorität
hat. Wir kommunizieren sehr oft mit ihnen, aber sie hören nicht
auf uns. Durch das Mißgeschick mit dir laufen allerdings auch die
Menschen Gefahr, den Heilsplan Gottes zu gefährden. Wir haben
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deine Pläne durchschaut und sollen dir ausrichten, daß es dich
ehrt, was du vor hast - aber es ist nicht Gottes Wille die Erde und
die Menschen auf diese Weise gerettet zu sehen. Es wäre auch gar
keine Rettung, denn nur wenn jeder Einzelne solche Entscheidungen wie du treffen würde, könnte seine Seele gerettet werden.
Auch bei dir ist es nicht sicher, ob du zu den gleichen Rückschlüssen gekommen wärst, wenn der Kontakt zu deiner Seele
nicht unterbrochen worden wäre.“
„Warum haben diese Aliens die Energie nicht sofort zurück geholt?“, wollte Felix wissen.
„Nun, sie haben ganz andere Zeitvorstellungen als ihr Menschen. Nachdem sie merkten, daß ihre Energieblase nicht zu dem
einprogrammierten Zeitpunkt zurück kehrte, mußten sie sich erst
einmal beraten. Der Grund dafür ist, sie treffen niemals Entscheidungen als Individuum, sondern nur als Kollektiv. Da sie aber
überrascht waren, weil es sonst immer funktioniert, wußten sie
nicht weiter. Deshalb haben sie Kontakt mit uns aufgenommen
und wir gaben ihnen die Informationen die sie brauchten. Noch
heute Nacht bringen sie ein Fanggerät in Position, das die
Energieblase zurück holt. Wir haben ihnen das Versprechen abgenommen, daß dir nichts geschieht. Du wirst nichts davon merken
und die Veränderungen an deinem Körper bleiben auch bestehen.
Allerdings wirst du keine Ausflüge mehr ohne deinen Körper machen können, was nicht heißt, daß du mit uns keinen Kontakt
mehr herstellen kannst, denn wir sind für alle Menschen erreichbar. Und die Verbindung zu deiner Seele wird wieder hergestellt
und wir sind richtig gespannt, wie du das verarbeiten wirst. Bis
jetzt hast du dich hervorragend gehalten und wir hoffen, daß du
den Kontakt zu den gezackten Lichtbündeln auch in Zukunft
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meiden wirst. Denn auch sie sind für jeden Menschen erreichbar
und leider werden sie viel zu häufig benutzt. Wir wünschen dir
auch ohne Extraenergie soviel Kraft wie du benötigst, um deinen
eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Damit hast du Gott eine
große Freude bereitet. Leb wohl.“
„Wartet, wer seid ihr denn eigentlich?“
Kurz bevor der Kontakt von ihrer Seite aus beendet wurde
hörte er noch: „Finde es selbst heraus und du bist wieder ein Stück
weiter.“ Eine andere Stimme rief: „Wir sind die Engel, die über
dich wachen.“
Er ließ sich zurück gleiten in seinen Körper und war für eine
Weile zu keinem konstruktiven Gedanken fähig. Das mußte erst
einmal alles verdaut werden.
Er merkte nicht, daß die Energie der Blase langsam aus ihm
entwich, es war noch nicht einmal ein Übergang zu erkennen. Erst
nach einer Weile, als er Sehnsucht nach dem Weltall bekam stellte
er fest, daß er seinen Körper nicht mehr verlassen konnte. Damit
war das eingetreten, was die Engel voraus gesagt hatten. Nach
einem weiteren Versuch seine Fähigkeiten zu testen, als er sich in
den Traum von Hasi einschalten wollte und seine Lichtfasern
nicht mehr sehen konnte, ergab er sich in die neue Situation.
Doch die Eindrücke aus der kurzen Zeit mit der Energieblase
hafteten fest in seinem Bewußtsein. Und als er merkte, wie böse
und rachsüchtige Gedanken von ihm Besitz ergreifen wollten,
wußte er was zu tun war. Sein Wille hatte eine vorzügliche Schulung erhalten und es machte keine Mühe, den Einflüsterungen zu
widerstehen und sein gutes Gefühl zu behalten.
Er verbannte die bösen Gedanken aus seinem Kopf und
schmunzelte in sich hinein. Seine Pläne, die er mit Hasi durch132
dacht hatte, wollte er auf jeden Fall in die Tat umsetzen. Der einmal begonnene Weg und all die Erkenntnisse über die Existenz
Gottes und welchen Beitrag er zur Verbesserung der Erde auch
ohne außerirdische Energie leisten konnte versetzten in in Freude.
Wieder hatte er das Gefühl die Welt umarmen zu können.
Dann schlief er mit seinem Körper, denn seine letzten Gedanken wurden von ihm am nächsten morgen als Traum
verstanden. Ein grünes Leuchten um ihn herum war nicht mehr zu
sehen.
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134
E., 1976
3. Ein Weg ins nichts
In die unendliche Stille eines nicht wahrnehmbaren Raumes
ergoß sich mein Schrei. Ein Schrei nach einer langen Zeit des
Leblosen, bewußt geworden eben nach diesem Schrei der Befreiung.
Es war ein Gefühl, als hätte ich eine Ewigkeit die Luft angehalten und dürfte jetzt wieder atmen. Aber weder erkannte ich eine
Atmung, noch konnte ich den eigenen Schrei hören. Ich war mir
nicht einmal sicher, ob ich mich in einem Raum oder einer
fremden Dimension befand. Ja nicht einmal das Denken
funktionierte so wie es hätte sein sollen.
Eine Kette von Gefühlen huschte an mir vorbei, gerade ausreichend, um mich selbst wahr zu nehmen. Ich dachte nicht, eher
kam mir alles wie im Traum vor. Und doch wußte ich, daß ich es
war, der so empfand.
Wo waren die Erinnerungen und warum konnte ich keine Gedanken formulieren? Diese Eingebungen blieben genauso wenig
haften, wie alle anderen Eindrücke auch. Es kam mir vor wie das
zähe Ringen eines Neugeborenen bei dem Versuch der Befreiung
aus der Umklammerung des Muttermundes, ohne Möglichkeit
Arme und Beine zur Hilfe zu nehmen.
Aber ich spürte Lebendigkeit, ich hatte mich selbst erkannt 135
oder handelte es sich doch nur um die unbekannte Form des
Todes? Keine Rückmeldung war zu verzeichnen, egal welchen
Versuch ich unternahm eine Verbindung zum Körper herzustellen
und es bestätigte mir - gar nichts. Es ließ sich einfach nichts spüren.
Die nächste Schlußfolgerung brachte mich dennoch ein ganzes
Stück weiter. Wenn ich nach meinem Körper suche, kann ich
nicht wirklich tot sein, formierte sich wenigstens der Ansatz eines
Gedankens.
Gegen diese These sprach meine Unfähigkeit ein Bewußtsein
zu benutzen, das nur durch das Vorhandensein eines Körpers zur
Verfügung stehen konnte.
Doch nach und nach wurde mir klar, ich dachte zwar nicht,
aber das was da an flüchtigen Gefühlen hin und her huschte, ließ
sich immer besser greifen.
Mit dem sich Abfinden in eine unbekannte Situation beginnt
der Überlebenstrieb mit seiner Arbeit. Die neuen Bedingungen
mußten erforscht werden. Und gerade dies löste Optimismus aus
und steigerte die Motivation zu forschen. Wenn sich ein Überlebenstrieb regt, ist auch ein Körper vorhanden. Nur welcher?
Dann auf einmal vollbrachte ich die entscheidende Wende in
mein eben neu geborenes Leben. Ich spürte meinen Willen und
sofort brach die Erinnerung über mich herein. Es mußte eine grausam lange Zeit der Ohnmacht vergangen sein, bis der Schrei von
eben mich ins Leben zurück holte.
Davor war ich ein Mensch gewesen, der seinem Tod ins Angesicht geschaut hatte. Ich sah die letzten Sekunden des Autounfalls
noch einmal an meinem geistigen Auge vorbei ziehen; das
lähmende Entsetzen, die Paralyse des Schocks, das Erinnern an
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mein ganzes Leben in Bruchteilen von Sekunden und dann die
plötzliche Nacht. Nichts mehr. Und jetzt?
Habe ich überlebt oder nicht? Wo waren die Erlebnisse des
Sterbens und das in den Himmel kommen, was ich mir als Mensch
immer ausgemalt hatte? Konnte ich mir sicher sein, daß ich nicht
gestorben war?
Zu viele Fragen und keine Antworten. Aber immerhin schaffte
es mein Wille die Gefühle zu sortieren; sie wurden abrufbar oder
konnten zurück gestellt werden, wenn die Linie der willentlich
abgerufenen Gefühle zu unterbrechen drohte. Es war wie das Denken im Traum, wenn einem bewußt wird, daß man träumt.
Die angsterfüllte Emotion des Anfangs meiner Selbstfindung
ebbte ab. Als die Anstrengung des Willens in Einklang mit dem
Ich-Bewußtsein ein brauchbares geistiges Arbeiten erlaubte, war
fast schon alles wie früher - nur der Körper fehlte. Doch daraus
ergab sich die nächste Aufgabe, die ich mir stellte. ,Benutze
deinen Willen um deinen Körper zu finden,' befahl ich mir.
Das erwies sich als wesentlich schwieriger, als die Gefühle zu
ordnen. Kein Anhaltspunkt, nicht die Andeutung von irgend etwas
Greifbaren zeigte sich - es machte mich total hilflos. Ich kam mir
vor, wie im Weltall ausgesetzt, ohne Augen oder andere körperliche Wahrnehmungsmöglichkeiten.
Mit einmal kam mir der Faktor Zeit in den Sinn. ,Zeit ist nur
wahrnehmbar, wenn Körper vorhanden ist,' dachte ich und wieder
überfiel mich Panik. Wie lange war ich schon in diesem Zustand?
Vor allem, wie lange wird es noch dauern, bis sich diese Situation
verändert? Und wenn sich gar nichts ändert und ich für immer in
dieser Form der geistigen Existenz verweilen muß? Die Panik verstärkte sich.
137
„Du hast einen Körper, du mußt nur noch lernen mit ihm umzugehen.“
Dieser Satz saß auf einmal in mir drin und ich wußte sofort, er
kam nicht von mir. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte,
was da vorging, spürte ich die Schockwirkung, die der Fremdgedanke auslöste. Vielleicht war es das völlig neue Empfinden, jemand anderes in mir zu vernehmen oder die Bewußtwerdung nicht
allein zu sein. Jedenfalls löste sich plötzlich alles auf. Mein Geist
zerzauste sich wie hilflose Nebelschwaden im Wind und wurde
vom absoluten ,Nichts' abgelöst.
Wie lange es dauerte, bis ich mich selbst wieder fand wußte ich
nicht. Es geschah einfach - und vor allem plötzlich. Die Eindrücke
des zuletzt Wahrgenommenen waren sofort wieder verfügbar.
„Du mußt vorsichtig sein. Dein Körper braucht einen festen
Halt und einen starken Willen, sonst verpufft die Verbindung in
die Unendlichkeit und alles war sinnlos.“
Wiederum drang ein Gedanke in mich ein, doch erreichte er
mich dieses mal vorbereitet. Mit der Ahnung, daß der Fremddenker, der mich offensichtlich beobachtete, auch meine Gedanken
empfangen konnte, formulierte ich sofort meine Fragen. „Wer bist
du? Wo bist du? Wie sehe aus? Wie lange ist es her, daß ich eingeschlafen bin?“
„Ich bin genau wie du. Ich lebe nur schon länger in dieser
Existenzform. Du mußt genau wie ich lernen damit umzugehen,
sonst wirst du sterben. Denn ohne lebendigen Körper kann keiner
im Universum existieren. Deshalb lerne schnell. Ich bin sozusagen
einer deiner Nachbarn und stelle mich gerne für deine Fragen zur
Verfügung, denn es ist wichtig, daß du früh genug lernst, deinen
138
Körper zu beherrschen. Viel zu viele unserer Spezies fristen ein
dumpfes Dasein, ohne Aufgabe und nur mit dem Ziel eines Tages
auseinander zu platzen, um endlich die Bindung zu ihrem Körper
zu verlieren und dann in den Himmel der geistigen Familie zurück
zu kehren.
Im Moment bist du noch Eruptionsmasse einer Sonne, auf dem
Weg zu einer hoffentlich stabilen und günstigen Umlaufbahn.
Mein Körper ist bereits abgekühlt und seit einigen tausend Umdrehungen leben intelligente Wesen auf mir, die dich zur Zeit beobachten. Laß nicht den Zufall entscheiden, ob du in eine günstige
Umlaufbahn gebracht wirst, er ist ein unzuverlässiger Partner. Du
wirst erst später begreifen, warum es so wichtig ist. Es ist trostlos
als lebloser Planet auf sein Ende zu warten. Interessanter ist es,
wenn etwas auf dir wächst. Aber das größte Erlebnis, daß einem
Planeten widerfahren kann ist es, wenn denkende Kreaturen auf
dir herum spazieren. Glaube mir.“
„Ich danke dir.“ Von diesem Augenblick an wußte ich, daß ich
mir alle Fragen selbst beantworten konnte. Diese Äußerungen
meines Nachbarn machten mich überaus zufrieden. Nicht einen
Moment verschwendete ich an zweifelnde Überlegungen, wie kurios die Geschicke sind und welch merkwürdiger Weg mir vorbehalten schien. Ja, ich spürte sogar Wohlbehagen in mir aufsteigen.
Erstaunlich schnell fand ich mich mit der Tatsache ab, ein
werdender Planet zu sein. Offensichtlich gehörte dieser Vorgang
zu einer vernünftigen Ordnung des Lebens und Sterbens der Natur. Zweifelsohne steckte eine Logik dahinter, die wie ich mit Hilfe meiner Erinnerung erkannte, nicht von Menschen einsehbar ist.
Warum sollte ein Planet als Körper nicht von einem Geist
beseelt sein? Aber unverständlich schien mir der Aspekt, daß ein
139
ehemaliger Geist eines menschlichen Körpers nach dessen Ableben an diesen neuen Körper gebunden wurde. War das etwa
auch normal? Ging es anderen Menschen ebenso? Diese Fragen
konnten im Moment nicht beantwortet werden und ich verdrängte
sie vorerst.
Jetzt waren andere Dinge wichtig und ich versuchte meinen
Willen auf die bevorstehende Aufgabe zu fixieren. Nun erkannte
ich auch den Fehler den ich gemacht hatte, als ich versuchte
meinen Körper zu finden. Ich hatte meine Erinnerung an den
menschlichen Körper benutzt und die konnte mir jetzt nicht helfen. Vielmehr besann ich mich auf das Gefühl des Wohlbefindens
von vorhin, was mir Gewißheit gab, Kontakt mit meinem Körper
zu haben.
Auch jetzt verspürte ich dieses angenehme Empfinden in mir.
Ich konzentrierte mich mit all meiner Kraft und Intensität und tatsächlich ließen sich Unterschiede erkennen. Bei näherer Untersuchung unterteilte es sich in drei verschiedene Bereiche, die nach
und nach immer deutlicher zum Vorschein kamen. Als erstes
beschäftigte ich mich mit der unterschiedlichen Stärke des Empfindens und schaffte damit eine lokale Zuordnung. Es war nicht
schwer dies als Temperaturunterschiede anzunehmen und sobald
ich mich für diese Auslegung entschied, stellte sich ein Verständnis für meine Körperform ein.
Der innere Teil des nur annähernd kugelförmigen Gebildes war
der heiße Kern und die wenig stabile, zerzauste Außenhaut würde
zur Oberfläche erkalten. Mit dieser Definition meines Körpers erklärte sich auch der zweite Bereich meines Empfindens. Während
sich der Kern als der stabilere Teil interpretieren ließ, weil er sich
im Schutz der Außenhaut befand, drückte die Tätigkeit der sich in
140
Aufruhr befindenden Oberfläche genau das Gegenteil aus. Mir fiel
der Begriff Schwerkraft ein und sofort ließ sich das Verhalten des
Körpers verstehen.
Die Kombination der beiden Bereiche führte folgerichtig zum
Dritten. Denn die Zuordnung der Schwerkraft und die unterschiedlichen Temperaturen bewirkten Rückmeldungen zu anderen
Objekten in meiner Umgebung. Plötzlich konnte ich die Bewegung meines Körpers nachvollziehen, einschließlich der Bahn, die
er bisher zurück gelegt hatte. Aber auch sein Ziel wurde dadurch
erkennbar und das gefiel mir gar nicht - es war viel zu weit weg
von der Sonne, dem Ausgangspunkt der Bewegung. Dafür nahm
ich meine Erinnerung an die Lebensbedingungen auf der Erde zur
Hilfe, sonst wäre mir dies sicherlich nicht sofort aufgefallen.
Aber wie konnte ich den Flug korrigieren? Es gab nur eine
Möglichkeit. Mit den verläßlichen Informationen von Schwerkraft, Anziehung der anderen Objekte und Fliehkraft mußte ich
experimentieren. Durch einfaches Ausprobieren stellte sich nach
kurzer Zeit eine Rotation meines Körpers ein. Die physikalischen
Gesetze konnten nicht umgangen werden, aber ich konnte sie
benutzen um eine Änderung der Bahn zu einzuleiten.
Auch der Zufall kam mir zur Hilfe, denn die Konstellation von
zwei sich bereits in annähernd stabiler Umlaufbahn befindenden
Planeten stand so günstig, daß ich die Massenanziehung des einen
benutzte, den Flug abzulenken und den anderen, um ihn zu
beschleunigen. Nun befand ich mich wesentlich näher an der
Sonne und erreichte durch eine Beschleunigung der Eigendrehung
den genauen Punkt zwischen den Kräften.
Allerdings registrierte meine stark verbesserte Wahrnehmung,
daß der Planet, dessen Masse ich benutzt hatte um zu
141
beschleunigen, selbst aus seiner Bahn geriet. Da mein Zeitempfinden bestimmt wurde durch die eigenen Aktivitäten im Verhältnis zur Bewegung der anderen Gestirne, kam es mir vor wie ein
kurzer Moment, als die beiden Fixsterne kollidierten und in
Millionen von Bruchstücken zerschellten.
Sie verteilten sich im Laufe der nachfolgenden Zeit durch ihre
Aufprallenergie zu einem kreisrunden Gürtel um die Sonne und
hielten dann etwas weiter außerhalb meiner fast stabilen Bahn ihre
Position. Ich erinnerte mich an den Aufbau des Sonnensystems, in
dem ich als Mensch gelebt hatte und dachte dabei an den Asteoritengürtel. Ob der damals auch so entstanden war?
In dem Moment des Zusammenstoßes hatte ich deutlich zwei
Gedankenimpulse auffangen können. Aber wie sie zu einzuordnen
waren, entzog sich meinem Verständnis. Der eine kam mir vor
wie der erschreckte Aufschrei eines Sterbenden, doch der andere
zeigte einen Ausdruck von Dankbarkeit. Vielleicht konnte mein
Nachbar mir später einmal diese Widersprüchlichkeit erklären. Im
Moment war noch zu viel zu tun.
Denn auch wenn ich eine gewisse Befriedigung auf Grund der
gelungenen Aktionen empfand, so war ich mir dennoch voll bewußt darüber, noch nicht fertig zu sein mit der Erledigung der
Aufgabe, die Voraussetzungen für lebensfähige Bedingungen erreicht zu haben. Die Fliehkräfte zerrten mehr an meinem Körper,
als ich erwartet hatte und von einer wirklichen Stabilität konnte
absolut noch keine Rede sein.
Wieder kam mir der Zufall zur Hilfe. Durch die heftige Rotation bildeten sich immer wieder große Ansammlungen von Körpermasse in den äußeren Bereichen. Ohne Chance selbst eingreifen
zu können, löste sich fast ein Sechstel meines Körpers plötzlich
142
vom Rest und driftete in den Kosmos ab. Augenblicklich verlangsamte sich die Geschwindigkeit der Eigendrehung und dies war
wohl der entscheidende Effekt, der die abgetrennte Masse in ihrer
Fluchtbewegung einfing und sie in eine Umlaufbahn um mich
selbst zwang. Erstaunt aber glücklich stellte ich fest, daß ein
Mond geboren war.
Die vereinte Bewegung des Trabanten mit dem übrigen Körper
schaffte endlich die Gleichmäßigkeit, die ich mir gewünscht hatte,
ohne selbst viel dazu beigetragen zu haben. Meine Sensoren
meldeten ein Gleichgewicht der Kräfte und ich wußte jetzt, daß
ich meine endgültige Bahn erreicht hatte.
Nun stellte sich ein Gefühl von Müdigkeit ein; ich verstand
dies als Resultat auf den Abschluß der Vorarbeiten. Mein bislang
aufgewühlter Geist beruhigte sich in gleichem Maß wie der Körper selbst, der jetzt keine Eruptionsmasse mehr frei ließ, sondern
sich in gleichmäßiger Drehung glättete. Die Oberfläche kühlte
langsam ab und auch der Mond stabilisierte sich. Irgendwie verlor
ich die Bindung zu ihm, obwohl er ja eigentlich ein Teil von mir
blieb und bei der Abtrennung ein Schmerzgefühl hervorgerufen
hatte.
Ich durfte diese Begebenheiten nicht durch Einbeziehung
meiner Erinnerung bewerten, vielmehr spürte ich instinktiv, wie
wichtig es war, all diese neuen Erfahrungen möglichst schnell als
gegeben zu akzeptieren. Die Konzentration meines Willens zielte
auf den verbliebenen Teil des Körpers. Auch das Verständnis für
die Zeit regulierte sich allmählich. Nun zählte ich die Umdrehungen um die Sonne und wieder deutlich war die Abhängigkeit
des Zeitverständnisses vom Körper zu erkennen.
Mit der Beruhigung meines Geistes nach Erfüllung der ersten
143
Aufgabe öffnete ich mich auch wieder nach außen und erschreckte
über das, was an Gedankenimpulsen von verschiedenen Seiten auf
mich einredete. „Was hast du getan?“- „Du hast gegen die
Gesetze verstoßen.“ - „Er hat seine Geschwister getötet, das ist
nicht zu akzeptieren.“ Dies war nur ein Teil der Beschimpfungen,
die ich vernahm.
Ich konnte die Aufgeregtheit erst gar nicht verstehen und fragte
deshalb: „Warum beschimpft ihr mich? Ich habe doch nichts
anderes getan, als das was mein Überlebensinstinkt von mir
forderte. Wenn es falsch ist überleben zu wollen, dann habt ihr
recht.“
„Du hast den vorbestimmten Weg geändert und zwei deiner
Geschwister sind daran zerbrochen. Das war rücksichtslos und
brutal. So etwas dulden wir nicht.“
Dieser Gedankenimpuls kam von weit her und drückte durch
seine Dominanz so etwas wie eine Anführerrolle in der Gemeinschaft der Planeten aus, denn die anderen schwiegen, wenn er sich
äußerte.
„Mir blieb doch keine andere Wahl. Hätte ich meine Bahn
nicht geändert, würde ich mich jetzt in einer Umlaufbahn befinden, die kein Leben auf mir zuläßt.“
Meine Ausführung ließen die Planeten um mich herum erneut
aufbegehren. Wieder setzte sich der Wortführer durch. „Wie
konntest du so schnell erkennen, daß deine dir zugedachte Position für die Entstehung von Leben ungeeignet ist?“
„Ein freundlicher Nachbar riet mir dazu.“
Dieser meldete sich jetzt. „Ich habe dir nur gesagt, was wir
allen neu entstehenden Planeten mitteilen. Nur selten gelingt es
diesen tatsächlich eine Änderung ihrer Bestimmung durchzu144
setzen. Aber das du zwei deiner Geschwister opferst, hätte ich
nicht von dir erwartet. Kein anderer Planet hat dies jemals vorher
getan.“
Irgendwie kam mir das alles sehr widersprüchlich vor, sollte
ich mich tatsächlich schuldig fühlen? „Vielleicht hätte ich anders
reagiert, wenn ich gewußt hätte, daß ihr den Verlust der beiden
Planeten bedauert - vielleicht auch nicht. Ich kann das jetzt nicht
mehr rückgängig machen. Jedenfalls schien der eine der Planetengeister dankbar zu sein für sein plötzliches Ende. In meinem
früheren Leben als denkendes Wesen auf einem Planeten war es
ebenfalls nicht gestattet seine Artgenossen zu töten.“
Diese Gedanken lösten einen regelrechten Aufschrei in der
Planetengemeinschaft aus. Ihr Anführer schaffte es erst einige Zeit
später die aufgebrachten Stimmen zu beruhigen. „Du willst uns
also weis machen, daß du schon einmal gelebt hast und das als
denkende Kreatur. Mach dich doch nicht lächerlich.“
„Aus deiner Aussage schließe ich, ihr habt alle keine Erinnerung an früheres Leben.“
Begriffe wie Wahnsinn, Blasphemie und Gotteslästerung
machten die Runde. „So etwas gibt es nicht und wird es auch nie
geben,“ meldete sich die dominante Stimme zu Wort.
Anscheinend hatte ich ein Tabu übertreten, anders war ihre
Empörung nicht zu verstehen. Deshalb schwieg ich zu diesem
Thema und versuchte die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet zu
verlagern. „Wenn ich einen Fehler gemacht habe, so tut es mir
leid. Bestimmt war es nicht meine Absicht gegen eure Gesetze zu
verstoßen. Ich handelte in dem Glauben, die notwendigen Schritte
durchzuführen, um Leben auf meinem Körper entstehen zu lassen,
so wie ich den Rat verstand. Vielleicht könnt ihr mich ja in eure
145
Gesetze einweihen, damit ich nicht noch weitere Verfehlungen
begehe.“
„Wir werden dich beobachten. Dein Verhalten zeigt uns, daß
du dich nicht in die bestehende Ordnung einpassen willst. Es gibt
keine weiteren Gesetze, die du übertreten könntest. Fast alle
Planetengeister haben sich in ihre Bestimmung gefügt. Diejenigen, die auszubrechen versuchten haben es fast durchweg
bitter bereut. Wenn wir neu entstehenden raten ihren Körper
kennen zu lernen, so geschieht das vorausschauend auf die
Möglichkeit, daß sie von allein eine brauchbare Bahn vorfinden.
Denn nur die Geisteinheiten sind wach und zu einer Unterhaltung
fähig, wenn Lebewesen auf ihrer Oberfläche wandeln. Alle
anderen ziehen sich im Laufe der Zeit zurück. Wir sind gespannt
darauf, wie du dich entwickelst. Wenn wir eine Gefahr erkennen,
die für uns von dir ausgeht, werden wir unsere Lebewesen auf
dich ansetzen. Verlaß dich darauf.“
Damit endete das Gespräch das mir mehr Aufklärung brachte,
als ich zu hoffen gewagt hatte. Sollte ich mich als Sonderling fühlen? Brachte mir die Möglichkeit der Erinnerung Vorteile gegenüber den anderen? Keineswegs bedauerte ich meine Ausnahmestellung. Welche Rolle hatte mir die Natur zugedacht und was
heißt eigentlich Bestimmung? War es nicht eher so zu verstehen,
daß mein Ausbruch aus dem eigentlichen Weg ebenfalls als vorbestimmt anzusehen ist?
Noch ein Aspekt beschäftigte mich eine ganze Weile. Einige
hatten von göttlicher Ordnung gesprochen. Glaubten sie an den
Willen Gottes, der sie in in ihre Position gebracht hatte? Doch
wenn das stimmte, so war meine Ausnahmestellung ebenfalls
göttliche Fügung.
146
Die Erinnerung an mein vorheriges Leben brachte mir meine
damalige Einstellung ins geistige Bewußtsein und ich mußte eingestehen, daß ich mich nie wirklich ernsthaft mit Gott beschäftigt
hatte. Nach meiner Version gab ich der Kirche dafür die Schuld,
die mehr Verwirrung stiftete als Wahrheiten zu verbreiten.
Jetzt bei meinen Gedanken darüber wurde mir klar, daß ich
selbst die Verantwortung für Glaubensfragen zu tragen hatte und
auch früher hätte tragen müssen. Diese Erkenntnis brachte mich
allerdings auch nicht weiter. ,Auf jeden Fall werde ich mich in
meiner neuen Existenzform mehr darum bemühen Gottes Willen
zu verstehen,' nahm ich mir vor.
Eine andere Überlegung schob sich unvermittelt in den
Vordergrund. Das Gespräch gerade endete abrupt und ich konnte
keine weiteren Gedankenimpulse der anderen empfangen. Waren
meine jetzt auch für sie verschlossen oder mußte ich etwas tun,
um dies zu erreichen? Vorhin konnte mein Nachbar eindeutig
meine Gedanken empfangen, also, folgerte ich daraus, muß ich
erst noch lernen mich zu verschließen.
Die geschärften Sensoren für die Beobachtung der körperlichen
Entwicklung registrierten ein gleichmäßiges Abkühlen der Oberfläche. Nach und nach pendelte sich die Drehbewegung in eine
Richtung ein, wobei die Drehachse zur Sonnenumlaufbahn leicht
gekippt Norden und Süden unterscheiden ließ. Innerhalb einer
Umdrehung um die Sonne schwankte die Achsneigung leicht und
gleichmäßig einmal hin und her, so daß die Einteilung in Sommer
und Winter in den jeweiligen Regionen erreicht wurde.
Als nächstes entstand ein Magnetfeld, weil die Drehbewegung
zwischen dem flüssigen Kern und der zähen Außenhaut unterschiedlich war. Die chemischen Prozesse in Zusammenwirkung
147
mit den physikalischen Gesetzen trennte die Materie in verschiedene Gruppen. Es bildete sich Wasser in noch ungeordneter Verteilung und gleichzeitig schaffte die Verdunstung und Verdampfung ein Aufsteigen der leichteren Moleküle. Die Atmosphäre entstand.
Ich zählte die Umdrehungen nicht mehr; viel zu viele hatten es
mich leid werden lassen. Aber mein Zeitverständnis verhinderte
ein Aufkommen von unangenehmen Gefühlen. In Anbetracht
meiner Erinnerung an das menschliche Dasein, wo in Minuten
und Stunden gedacht wurde, empfand ich diese jetzt vorherrschende, Körper bedingte Zeitauffassung als Gnade. Hier in
meiner neuen Existenzform kamen mir tausend Sonnenumdrehungen wie ein Wimpernschlag vor. Die Bildung der Luft über
der Oberfläche hatten allein schon hunderte dieser Wimpernschläge gedauert. Doch in keinem Moment des Erlebens kam Langeweile auf - noch nicht einmal Gedanken stellten sich ein, wie
lange doch alles währte, trotz meiner Möglichkeit zu vergleichen.
Mein Geist arbeitete während der Entwicklung meines Körpers
ununterbrochen. Nach einer Zeit der Willensschulung, die mir auf
Grund meiner Erinnerung wie das Training für sportliche Höchstleistungen vorkam, glaubte ich, meine Gedanken abgeschirmt zu
haben. Natürlich erwartete ich keine Bestätigung durch meine
Nachbarn, aber ich fühlte mich jetzt mental stark und glaubte alles
nötige dafür getan zu haben. Mehrere millionen Umläufe hatte ich
schon nichts mehr von ihnen gehört, obwohl davon auszugehen
war, daß sie mich beobachten ließen.
Meine Gedanken kreisten um die Verhältnismäßigkeit der zeitlichen Abläufe und es wurde mir bewußt, daß ich wahrscheinlich
die selben Stimmen kein weiteres Mal vernehmen würde. Sicher148
lich wurde auch die Beobachtung immer wieder von neuen und
anders gearteten Spezies weitergeführt. Für die intelligenten Lebewesen auf einem Planeten, die eine Evolutionszeit von vielleicht
zehntausend Jahren durchlebten, konnte die Beobachtung meiner
Entwicklung nur ein winziger Bruchteil des Ganzen sein.
Wenn ich die Aussagen der Planetengeister bei dem Gespräch
damals richtig verstanden hatte, war es ihnen anscheinend
möglich Einfluß auf die Gedanken ihrer Kreaturen zu nehmen.
Vielleicht schaffte es der eine oder andere sogar die Gesetzmäßigkeiten zu umgehen und längere Evolutionsepochen zuzulassen.
Oder sie bewirkten eine Weitergabe von technologischen Errungenschaften von einer Kulturepoche auf die nächste.
Von der Erde wußte ich, es konnte mehrere millionen Jahre
anhalten, daß die Spezies Mensch als denkende Geschöpfe die
Oberfläche besiedelten. Aber war die Erde wirklich ein geeignetes
Beispiel für die Möglichkeiten der Ausbreitung intelligenter
Lebensformen? Meine Erinnerung bezog sich ausschließlich auf
das Wissen als Mensch; was die Natur auch in Hinblick auf die
Einflußnahme der Geister tatsächlich zu schaffen in der Lage war,
entzog sich meiner Kenntnis.
Letztlich mußte ich mir eingestehen recht wenig darüber zu
wissen und gleichzeitig stellte sich die Gewißheit ein mit Dingen
konfrontiert zu werden, die ich nicht erwartete. Jedenfalls glaubte
ich auf jede Überraschung vorbereitet zu sein. Der Entschluß,
meinen eigenen Werdegang entsprechend der mir zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten optimal zu beeinflussen setzte sich fest.
Ich nahm mir vor zu beweisen, daß eine Beschleunigung der
Entwicklung des Lebens auf mir durchführbar war und gelobte
mir selbst alles in meinen Kräften stehende zu tun, Verbesse149
rungen der Lebensbedingungen im Vergleich zu denen aus meiner
Erinnerung durchzusetzen.
Mittlerweile stellte sich für mich die Verbindung zwischen mir
und meinem Körper als Einheit dar. Der Unterschied zum
menschlichen Körper bestand neben der anderen Form und den
Bewegungsmöglichkeiten vor allem in der Tatsache, daß ich kein
Gehirn hatte und somit auch kein Bewußtseinsschaubild. Trotzdem lief das Denken ähnlich ab, weil der Wille eine disziplinierte
Abfolge der Gefühle durchsetzte. Dazu kamen die Meldungen der
Körper ausgerichteten Sensoren, die ähnlich wie beim Menschen
fast als Sinne bezeichnet werden konnten. Es gab zwar keine Nerven, die zum Beispiel Schmerz signalisierten, dennoch empfand
mein Geist ein entsprechendes Gefühl. Meteoriteneinschläge zum
Beispiel bewirkten dieses Empfinden, aber auch Vulkanausbrüche, die immer noch reichlich zu spüren waren.
Ich ahnte, daß gerade in dieser Phase Veränderungen durch
Willenskraft noch relativ leicht möglich waren. Später nach der
weiteren Abkühlung der Außenhaut würde es wesentlich schwieriger werden und ich könnte an der Formung nicht mehr viel ausrichten. Deshalb schaltete ich mich aktiv in diese Vorgänge der
Gestaltung der Oberfläche ein, soweit ich es vermochte.
Das war gar nicht wenig, wie sich herausstellte, schließlich
hatte ich genügend Zeit zum Experimentieren. Die Trennung zwischen Wasser und Land beschäftigte mich vorerst am Meisten.
Kleine Korrekturen durch Verschiebung des Kerns, Zusammenziehen von erstarrter Materie und die Ausnutzung
physikalischer Kräfte halfen Kontinentalplatten entstehen zu
lassen und Räume zu schaffen, wo sich das Wasser sammeln
konnte. Auch an der Veränderung der chemischen Struktur der
150
Oberfläche beteiligte ich mich, unterdrückte unbrauchbare Vorgänge und forcierte diejenigen, die mir nützlich erschienen.
Meteoriten- und Kometeneinschläge brachten Sporen und
andere Spuren von Lebensformen auf meinen Körper und die Bildung von Aminosäuren vollzog sich schon nach kurzer Zeit.
Algenartige Gewächse breiteten sich Flächen bedeckend immer
weiter auf der Oberfläche aus und bewirkten eine Veränderung
der Luftzusammensetzung. Die Kräfte meines Trabanten, den ich
selbstverständlich als Mond bezeichnete, nutzte ich aus um die
Gezeiten zu schaffen. Die regelmäßige Annäherung und Entfernung seiner Bahn zu mir erreichte ich in weniger als hunderttausend Umdrehungen um die Sonne. Dadurch wurden Brutstellen
für Einzeller bereit gestellt, die in den Zonen der wechselnden Bedingungen zwischen der bereits spärlich vorhandenen sauerstoffhaltigen Luft mit direkter Sonneneinstrahlung und Überflutung
prächtige Fortschritte machten.
An den Polkappen bildete sich Eis, was eine Regulierung des
gesamten Klimas zur Folge hatte. Während an den Rändern der
Meere die Entwicklung der Lebewesen voran ging, wuchsen bereits Moose und Geflechte auf dem Boden. Die dauerhafte Erosion hatte mittlerweile große Mengen an Erde geschaffen, als Nährboden für die weitere Entwicklung der Vegetation. Die ersten höher entwickelten Pflanzen bildeten sich, wobei ich meine
Möglichkeiten benutzte, um überlebensfähige zu bevorzugen und
andere zu unterdrücken.
Meine Sensoren waren inzwischen so ausgeprägt, daß ich sogar
Bewegungen außerhalb meines Körpers erkennen konnte. Eines
Tages erspürte ich unter dem ständigen Hagel von Meteoriten ein
Flugobjekt, daß ich einem meiner Nachbarn zugehörig vermutete.
151
Solange sie nur beobachteten, störten sie mich nur wenig. Ich
sendete einen Gedankenimpuls aus mit der Frage: „Zu wem gehören denn diese Lebewesen? Soll ich sie als Freunde oder Feinde
einordnen?“
Zuerst kam keine Antwort, doch dann meldete sich eine bisher
noch nicht gehörte Stimme. „Wir sind erstaunt über deine Fortschritte - aber auch besorgt. Dein Körper benötigte für den derzeitigen Entwicklungsstand nur ein Zehntel der Zeit, die er eigentlich
gebraucht hätte. Das ist nicht normal und widerspricht unseren
Prinzipien von der Fügung in die Gesetze der Natur. Vor allem
machen wir uns Gedanken über deine Motive. Was willst du mit
der Beschleunigung erreichen? Unsere Vorgänger haben uns vor
dir gewarnt. Ich kann dir versichern, daß einige von uns schon
jetzt der Überzeugung sind, du solltest vernichtet werden, weil du
nicht nur die Ordnung unterläufst, sondern deine Einstellung auch
eine Gefahr für die Planetengemeinschaft darstellt.“
„Liebe Nachbarn. Selbst wenn es euch ungewöhnlich erscheint,
was ich mit meinem Körper anstelle, so bedeutet es noch lange
nicht, daß ich euch gefährden will. Ich nutze einfach nur meine
Möglichkeiten aus und bin selbst gespannt darauf, wie sich das
Leben auf mir weiter entwickelt. Ich hege keinerlei böse Absichten.“
„Ein Teil von uns ist sich da gar nicht so sicher, denn wenn erst
einmal intelligente Lebewesen auf dir wohnen, wie wirst du sie
beeinflussen? Wie können wir dir vertrauen, ob du dich dann auch
noch so friedlich gibst, wo du doch schon jetzt so viele Anzeichen
von Eigenmächtigkeit zeigst?“
„Wenn ihr meinen Gedanken sowieso keine Glaubwürdigkeit
abgewinnen könnt, ist es ganz egal, was ich zum Ausdruck
152
bringen möchte und da nützen auch die ernst gemeinten Beteuerungen nichts. Ich bitte euch einfach darum, mir eine Chance zu
geben beweisen zu können, daß ich es ehrlich meine. Sonst
nichts.“
Ich erhielt keine Antwort mehr, aber das kleine Raumschiff
verschwand. Ein wichtiges Detail fiel mir während des Gespräches auf, über das ich nun nachdachte. Es gab einen Unterschied
in den Gedankenmustern der Planeten zu denen, die ich in früheren Gesprächen aufgefangen hatte. Denn als die Stimme zu mir
sprach, die zu den Kreaturen des Raumschiffes gehörte, empfing
ich im Hintergrund die Gedanken der anderen Planetengeister.
Erstens war - wie ich erwartet hatte - der damalige Sprecher mit
seiner dominanten Ausdrucksweise nicht mehr zu vernehmen und
zweitens vermißte ich auch meinen Nachbarn, der mir die ersten
Ratschläge gegeben hatte.
Ich schätzte mein Alter auf ungefähr hundert Millionen Jahre
und konnte davon ausgehen, die Entwicklung war auch bei den
anderen Planeten weiter gegangen. Es erschien mir nur allzu logisch, daß die Lebewesen auf den Oberflächen dieser Planeten
nicht mehr vorhanden waren und also die Fähigkeit des Gedankenaustauschs bei ihnen im gleichen Maße verloren ging. Damit bestätigte sich die Ordnung, von der die Planeten damals
gesprochen hatten. Ein Planetengeist ist nach ihrem Verständnis
nur so lange aktiv, bis das Leben auf ihm erlischt. Dann fällt er in
einen Dämmerzustand, weil sein Körper nur noch wenig Anregung für nach außen erkennbare Lebendigkeit bietet.
Wie früher schon drängte sich mir der Vergleich zu den Menschen auf, wo die meisten meiner Artgenossen auch nur so lange
geistig aktiv waren, wie es ihr Körper ihnen gestattete. Je näher
153
sie dem Tod kamen, um so mehr verflachte die geistige Frische,
die Bereitschaft den Überlebenskampf fortzuführen verminderte
sich drastisch. Aber ich erinnerte mich auch an andere Beispiele
von sehr agilen alten Menschen, die niemals das Lernen aufgaben.
Das machte mich optimistisch und ich entschloß auf mich selbst
zu achten, wenn die Zeit es erforderte.
Wenn meine Schlußfolgerung richtig war, mußte den jetzt vorherrschenden Planeten das Wissen über die Ordnung weiter gegeben worden sein. Sie hatten sogar von einer Warnung gesprochen,
die sie bezüglich meiner Aktivitäten von ihren Vorgängern erhalten hatten. Eine Frage ließ sich nicht spontan beantworten und ich
gab mich damit zufrieden es später noch herausfinden zu können:
Wie fanden diese Planetengeister zu der offensichtlichen Übereinkunft in ihrer Gemeinschaft? Welche Kriterien waren dafür ausschlaggebend, daß sich zur jeweiligen Zeit des Gesprächs immer
ein Anführer als solcher zu verstehen gab?
Da sie alle einheitlich eine Gefahr in mir sahen, mußte ich die
Möglichkeit ausschließen, mit jemanden darüber sprechen zu
können, um mehr Informationen zu erhalten. Einerseits fand ich
diesen Umstand bedauerlich, aber anderseits ließ es sich nun mal
nicht ändern. Vielleicht würde es mir später gelingen Zugang zur
Planetengemeinschaft zu finden, wenn ich ihnen Veranlassung
zum Vertrauen gegeben hatte.
In dieser Zeit der Entwicklung der Pflanzenwelt und dem
Wandel vom Einzeller zu höher entwickelten Tierarten verbrachte
ich viel Zeit mit Gedanken über den Sinn meines Daseins. War
ich eine Laune der Natur, hatte man - egal welche höhere Ordnung auch immer - mir besondere Aufgaben zugedacht oder gab
154
es weitere Gesetzmäßigkeiten, die ich einfach nicht durchschauen
konnte? Diese Fragen hatten mich schon als Mensch beschäftigt,
wenn ich es damals auch ausschließen konnte, über einen Sonderstatus zu verfügen.
Doch konnte ich nicht umhin, selbst zu diesem Punkt ein
,Wenn' und ,Aber' einzustreuen. Denn vielleicht hatte ich die mir
eigene Besonderheit während meines Lebens gar nicht wahr genommen und hätte insofern mein Leben vertan. Bei näherer Betrachtung dieser Frage mußte ich mir eingestehen, daß jede Geisteinheit, egal in welchem Körper sie sich gerade befindet, zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen hat, etwas besonderes zu sein.
Warum so viele Menschen ihr Leben als Mitläufer und Duckmäuser einrichten, erschien mir damals schon unbegreiflich und
mit meiner eigene Rolle konnte ich wahrlich auch nicht zufrieden
sein.
Die Aussage der Planeten, jedes Individuum muß seine Bestimmung akzeptieren, erschien mir durchaus gerechtfertigt. Wer aber
den Drang verspürt sich von der Masse abzuheben, ohne sich über
sie stellen zu wollen tat nichts anderes, als seiner Bestimmung zu
folgen. Ganz erstaunt über meine philosophischen Höhenflüge,
denn als Mensch hatte ich mich nicht gerade zu den hellsten Denker gezählt, schloß ich diesen inneren Dialog vorerst ab.
Auf meinem Körper hatte die Zeit nicht still gestanden und die
ersten Kriechtiere verließen die Meere. Ich hatte mich daran gewöhnt ihn als Erde zu bezeichnen ohne damit eine Trennung zwischen Geist und Körper zu verknüpfen. Es entstand einfach aus
dem Umstand, weil ich in den letzten Jahrtausenden die ständigen
fast schon automatisierten Eingriffe mehr beobachtete und bei den
155
Gesprächen mit mir selbst den Körper als eigenständig reagierend
wahr nahm. Aber wenn ich mich selbst definierte und von ,Ich'
sprach, meinte ich immer Geist und Körper. Auch Sonne und
Mond hatten längst ihren festen Namen, womit ich meinen
eigenen Rahmen des Lebensraumes abgesteckt hatte. Der beobachtende Geist registrierte eine ausgeprägte Zufriedenheit, gepaart
mit gespannter Erwartung.
Immer noch konnte ich unvermindert an der Erdkruste formen,
obwohl ich erwartet hatte, daß es im Laufe der Abkühlung und
Stabilisierung weniger werden würde. Aber meine jahrmillionen
dauernde Schulung zahlte sich aus. In der folgenden Zeitepoche
benutzte ich das Ausleseverfahren, um weiterhin die beschleunigte Entwicklung fortzuführen.
Ich erinnerte mich daran, daß die Forscher auf der Erde von
drei- bis vier Milliarden Jahren ausgingen, bis der Mensch mit seinem aufrechten Gang seinen Siegeszug antrat. Auf meiner Erde
heute würde es keine millionen Jahre mehr dauern, bis zu diesem
Zeitpunkt, dabei hatte ich jetzt erst ungefähr dreihundert
Millionen Jahre hinter mich gebracht.
Mit besonderem Interesse beobachtete ich mich selbst, denn
während ich am Anfang einen großen Zeitraum als Momentaufnahme ansah, beschleunigte sich mein Denken beim Anblick des
Wachsens der Kreaturen. Sie schritten auf der Evolutionsleiter
voran und wenn ich mich auf sie konzentrierte und ihre spärlichen
Gehirnimpulse vernahm, änderte sich mein Zeitempfinden sofort
und paßte sich den jeweiligen Geschöpfen an.
Es hatte sich ein für Warmblüter geeignetes Klima eingestellt,
wobei alle zehntausend Jahre eine größere Fläche von den Polen
her vereiste, um zweitausend Jahre später wieder zur ursprüngli156
chen Lage zurück zu kehren. Das gab für viele Regionen Rückschläge in der Entwicklung, doch auf der anderen Seite stärkte es
die Widerstandsfähigkeit der Arten, die diese Perioden überlebten.
Das brachte mich auf die Idee, ob nicht Vögel am Besten geeignet
seien, um zu intelligenten Wesen zu mutieren.
Der Nachteil dieser Variante bestand darin, daß die Vögel nicht
durch die benötigte Herausforderung im Überlebenskampf bewußtes Denken bilden würden, weil ihre Fähigkeit kritischen Klimazonen zu entkommen schon von vornherein die Arterhaltung sicherte - ich hätte da schon nachhelfen müssen. Der Vorteil lag
allerdings gerade in dieser Tatsache, da es durchaus brauchbar
sein konnte, besonders bei unvorhersehbaren Ereignissen, wenn
sie von selbst in der Lage wären, sich aus bedrohlichen Bereichen
zu entfernen. Es war mir sehr egal, daß es sich dabei um Eier
legende Spezies und nicht um Säugetiere handelte, schließlich
wollte ich ja die Erde meiner Vergangenheit nicht kopieren.
Jetzt begann eine neue Phase des Lernens für mich. Denn als
ich mich letztlich dafür entschied, die Vögel oder besser, eine ausgewählte Unterart davon als Träger intelligenten Denkens einzusetzen, galt es heraus zu finden, wie ich es ihnen vermitteln konnte. Doch noch war es nicht soweit. Die ersten Wirbeltiere mit Ansätzen von Gliedmaßen bildeten sich gerade an Land, als gleichzeitig verschiedene Fischarten ausprobierten, ob sie nicht ebenfalls den Luftraum benutzen könnten. Ich konnte mich nicht direkt
entscheiden, welcher Zweig die besten Voraussetzungen für
meine Pläne mit sich brachte.
Der Wechsel von Kiemen- auf Lungenatmung hatte sich bei
den Kriechtieren bereits vollzogen, weshalb ich mich entschloß, in
diesem Bereich einzugreifen. Einige tausend Generationen später,
157
unterstützt durch die Anpassung an die neuen Lebensräume und
meine Einflußnahme, trennten sich schließlich bei den Landtieren
die Säuger von den Brütern. Meine Beobachtungen bezüglich der
Entwicklung der schon recht unterschiedlichen Spezies ergab
letztlich die Einsicht, daß meine Idee von den Vögeln als führende
Rasse keine Perspektive hatte.
Die Säuger boten wesentlich bessere Voraussetzungen zur Bildung von mehr Gehirnmasse, während die flugfähigen Geschöpfe
zurückblieben. Sie entwickelten zwar optimale Flugeigenschaften
und zeigten ein robustes Durchsetzungsvermögen in der Behauptung von Nahrungsterritorien, aber ihre Fortschritte in der
Bewußtseinsbildung blieben irgendwann einfach stehen und fortan ging es in ihren kleinen Köpfen nur um vier Dinge: Fressen,
Fliehen, Fortpflanzen und Faulenzen. Ich mußte innerlich Lachen,
als sich wie von selbst aus meiner Erinnerung die vier ,F's' aufdrängten, die mir als Regeln des Turnvater Jahn bekannt waren; so
groß unterschiedlich kam es mir nicht vor.
Die Säuger spalteten sich in reichlich viele Unterarten, die bei
allen eine Spezialisierung nach sich zog und ein Ende ihrer
Entwicklung im Moment nicht absehen ließ. Das Ausleseprinzip
schaffte Formen und Verhalten, was allein wahrscheinlich schon
ausgereicht hätte, um irgendwann eine Abkopplung von denkenden Kreaturen hervor zu rufen. Doch das genügte mir nicht.
Jetzt lehnte ich mich doch wieder mehr an mein Wissen an, was
mir aus meinem früheren Leben zur Verfügung stand.
Während unzählige fleischfressende Tierarten die Oberfläche
für die anderen unsicher machten, gab es einige, die sich von
Fleisch und von Pflanzen ernährten. Wieder andere, die gar keine
tierische Nahrung brauchten, weil sie in Regionen lebten, wo das
158
Jagen überflüssig war, fraßen ausschließlich Gräser und Früchte.
Unter den Allesfressern befanden sich bereits affenähnliche Geschöpfe, die Überlebenstaktiken herausfanden, was mir sehr vielversprechend erschien. Aber es gab auch andere Lebewesen, wie
zum Beispiel welche, die der Ratte ähnlich waren, die sehr gute
Instinkte und brauchbare Einfälle aufwiesen, wie sie sich gegenüber den Raubtieren behaupten konnten.
Es stellte sich ein paar tausend Jahre später heraus, daß das
Gleichgewicht der Arten nicht mehr gegeben war. Vielleicht hatte
ich es mit meiner Beeinflussung übertrieben, in dem ich versuchte, bei allen Tieren geistige Anregungen zu vermitteln. Innerhalb
weniger Generationen entwickelten sich einige Raubtiere zu
richtigen Monstren und wuchsen überdies zu sehr in die Größe.
Ich überprüfte an Hand meiner Sensoren die Bedingungen auf der
Oberfläche und stellte fest, daß etwas mit der Schwerkraft nicht
stimmen konnte. Denn nicht nur bei den Raubtieren war das Phänomen der überproportionalen Größe zu beobachten, sondern
auch Pflanzenfresser erreichen Körpermaße, die ich als unnormal
einstufte.
Ich wußte im Moment keinen Rat, da mir zum Einen die geänderte Beschaffenheit der Lebensbedingungen unerklärlich war
und zum anderen zu diesem Zeitpunkt eine Korrektur der Umlaufbahn ausgeschlossen schien. Mehrere Experimente, wie zum Beispiel die Veränderung der Umdrehungsgeschwindigkeit brachten
kein brauchbares Ergebnis und auch der Mond ließ sich in seiner
Bewegung nur noch minimal beeinflussen.
Die Befürchtung größeren Schaden anzurichten als Nutzen hervor zu bringen dämpften meine Versuche weitestgehend. Da kam
mir wieder der Zufall zu Hilfe, wobei ich sofort beim Erkennen
159
der Chance reagierte und ein wenig nachhalf. Ein größerer Komet
kreuzte meine Kreisbahn und wäre nahe an mir vorbei geflogen.
Durch leichte Änderung der Rotation gelang es mir ihn anzuziehen, so daß er in die Atmosphäre eintauchte und tief in die Oberfläche meines Körpers einschlug.
Der Schmerz, den ich als solchen wahrnahm war heftig und für
einen Moment verlor ich die Fähigkeit, meine Gedanken zu blockieren. Auf meiner Oberfläche entstand ein Chaos. Riesige
Mengen von Staub wurde durch den Aufprall aufgewirbelt, verteilte sich fast komplett über den ganzen Planeten und verhinderte
über hunderte von Jahren ein Durchdringen der Sonnenstrahlen.
Alle übergroßen Tierarten wurden ausgerottet und nur die stärksten unten den kleinen Lebewesen überlebten, vor allem in den Regionen am Rande des ewigen Eises, wo die Staubwolken nicht so
dicht waren.
Eine Weile war ich mir nicht sicher, ob der Zusammenstoß
nicht zu heftig gewesen war. Aber als sich der Staub legte und die
Pflanzen wieder wuchsen, regulierte sich das Leben auf der Oberfläche sehr rasch. Die Kontrolle durch meine Sensoren ergab das
gewünschte Ergebnis. Die Schwerkraft hatte sich leicht erhöht und
ich konnte davon ausgehen, daß die Zeit der Riesenkreaturen vorüber war. Ich fühlte mich überglücklich und zufrieden. Sogar die
Umlaufbahn um die Sonne hatte sich nur geringfügig verändert
und das eher zum Vorteil.
Neue Kontinente bildeten sich, denn der Einschlag des Kometen hatte eine ganze Platte mit in den flüssigen Bereich des Inneren gezogen und die anderen verbliebenen bewegten sich, um
die Lücke zu schließen. Das bewirkte zwar anfangs Risse und
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Austrittsstellen für das Magma, aber im Laufe von hunderttausend
Jahren beruhigte sich die Oberfläche wieder.
Während dieser Phase der Neuordnung hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem neuen Nachbarn, der meinen
Schmerzensschrei bei dem Einschlag aufgefangen hatte. Einige
Zeit nach diesem Ereignis spürte ich einen Gedankenimpuls mit
der Frage, ob es mir gut gehe. Etwas verwundert über die Anteilnahme antwortete ich: „Danke der Nachfrage, aber es war ein
heilsamer Zusammenstoß, der einen Erneuerungsprozeß bewirkte.
Wärt ihr denn nicht zufrieden gewesen, wenn ich meinen Körper
hätte aufgeben müssen?“
„Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber für meinen Teil
empfinde ich so etwas wie Mitgefühl, wenn ein Artgenosse in
Schwierigkeiten ist. Außerdem verstehe ich mich nicht besonders
mit den anderen Planeten. Sie sind so stur und auf ihre Ordnung
fixiert, daß ich manchmal an dem Sinn unseres Daseins zweifle.“
Seine Aussagen weckten sofort mein ganzes Interesse. Ich betrachtete ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten genauer und
stellte fest, daß er noch sehr jung sein mußte, denn auf seiner
Oberfläche brodelte es noch recht heftig.
„Hast du eine günstige Umlaufbahn erreicht?“, fragte ich
deshalb.
„Ich bin mir nicht sicher. Mir fehlen einfach zu viele Informationen. Das bißchen, was mir die anderen mitteilten als ich geboren wurde, betrachte ich als Scherz. Die Umlaufbahn um mein
Zentralgestirn hat sich von allein eingestellt und mir bleibt nichts
anderes übrig als abzuwarten, ob Leben wächst oder nicht. Darum
geht es doch wohl in diesem Spiel. Hab' ich recht?“
„Oh ja, und wie recht du hast. Wenn meine Sensoren mich
161
nicht trügen, ist deine Bahn recht günstig. Hast du nachgeholfen
oder ist das Zufall?“
„Wie, Zufall? Gibt es denn eine andere Möglichkeit?“
„Du bist doch darüber aufgeklärt worden, daß man schnell lernen muß seinen Körper zu verstehen, um nicht den Zufall entscheiden zu lassen.“
„Ja sicher, aber das ist doch nur leeres Gerede. Es gehört zu
den Überlieferungen unserer Spezies. Das ist wie ein Ritual, jedenfalls hat man es mir so erklärt. Aber in Wirklichkeit
funktioniert es gar nicht.“
„Hat man dir von mir erzählt, daß ich es geschafft habe, den
eigentlich vorbestimmten Weg zu verlassen?“
„Nein. Und du behauptest es sei dir gelungen?“
„Ich glaube, ja. Aber es wundert mich doch sehr, daß sie dir
das verschwiegen haben. Dann haben sie dir auch nicht berichtet,
daß ich Erinnerungen an mein voriges Leben habe. Stimmt's?“
Es folgte eine Weile des Schweigens. Mein neuer Nachbar
schien darüber nachzudenken. Anscheinend hatte er es früh gelernt seine Gedanken zu blockieren. In dieser Gesprächspause
hörte ich entfernt andere Planeten, die ihre Entrüstung über mich
und meine Ausführungen bekundeten, ohne mich aber direkt
anzusprechen. Eine dieser Gedankenimpulse machte mich nachdenklich. „Da haben sich die richtigen zwei gefunden. Die Abartigen scheinen sich zu vermehren,“ hörte ich heraus.
Jetzt sprach der Nachbar wieder: „Du hast gehört, was die
anderen sagen. Wir sind abartig und entsprechen nicht der Norm.
Das du Erinnerungen an ein früheres Leben hast finde ich sehr interessant. Meine Abartigkeit besteht darin, daß ich glaube mit
Geistwesen in Kontakt zu stehen, die nicht zur Gemeinschaft der
162
Planeten gehören. Die haben mich ausgelacht und ich dachte
schon, ich wäre verrückt.“
„Was erzählen die Geistwesen denn so?“
„Erst einmal vielen Dank dafür, daß du mir einfach glaubst. Es
erleichtert mich ungemein nicht der Einzige zu sein, der besondere Gaben hat. Die Planeten hatten mich fast schon soweit, daß ich
glaubte wahnsinnig zu sein. Was die Geistwesen erzählen ist gar
nicht so einfach wieder zu geben. Denn eigentlich rede ich nicht
mit ihnen, weil ich nicht sicher sein konnte, ob es nur Einbildung
war oder der Wahrheit entspricht, daß sie wirklich existent sind.
Also reden sie auf mich ein, wenn ich mich ihnen öffne. In den
letzten Jahrhunderten hatte ich mich allerdings verschlossen, weil
ich nicht als Sonderling dastehen wollte. Das wird sich aber nach
dem Gespräch mit dir ändern. Ich werde wieder Kontakt mit ihnen
aufnehmen. Sie meinen zum Beispiel, das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist jeder Kreatur die denkt angeboren. Doch gibt es
auch welche die lieber Einzelgänger sein wollen, das wäre ebenfalls natürlich, auch wenn es bei Planetengeistern eher selten vorkommt und von ihnen als abartig aufgefaßt wird. Unter anderem und das empfand ich als das Wesentliche von dem was sie sagten
- behaupten sie, das die Planetengeister nur eine Aufgabe zu erfüllen haben, nämlich ihre Bestimmung demütig zu ertragen. Es wäre
Gottes Wille, in dieser Existenzform zu leben.“
„Ergibt sich daraus nicht der Rückschluß, daß dieses Dasein als
Konsequenz zu verstehen ist, als Resultat auf Geschehnisse und
Verhaltensweisen vor der Geburt als Planet?“
Wieder entstand eine Pause und auch die Planetengeister im
Hintergrund schienen ihren Dialog eingestellt zu haben. „Weißt
du, was du da sagst,“ fragte mein Nachbar, „vor allem welche
163
Auswirkungen es auf die panisch an der Ordnung fest klammernden Planeten haben könnte?“
„Aber die Sache ist doch gar nicht so dramatisch, wie das unsere Kollegen so gerne hinstellen. Wenn es Gott gibt - und darüber
bin ich mir mittlerweile hundert Prozent sicher -, dann geschieht
sein Wille und sonst nichts. Wir als Individuen, ob nun als Kreaturen auf einem Planeten oder als Planet selbst, haben das zu akzeptieren. Das bestätigt die aufgestellte Ordnung und unterstreicht
sie sogar, nur eben in einem toleranteren Rahmen. Der Rahmen
wird von dem Willen des Einzelnen bestimmt und genau dort
können wir Irrtümer begehen. Das habe ich als Mensch erlebt und
finde es hier in dieser Ebene wieder. Der freie Wille, wie er uns
von Gott zugedacht wurde, birgt nun mal die Möglichkeit gegen
ihn und seine vom Individuum verstandenen Absichten zu revoltieren. Es kommt also ausschließlich auf unsere Taten an, die wir
vollbringen, ob wir Gottes Plan entsprechen oder nicht. Gott ist
ohne Zweifel unfehlbar, aber wir Kreaturen können einiges falsch
machen. Vor allem wenn wir uns krampfhaft hinter überlieferten
Ordnungen verstecken, deren Sinn nur darin besteht, die Kreativität zu unterdrücken und uns das Denken abzunehmen. Wozu sollte
uns Gott sonst die Fähigkeit mitgegeben, altes umzustoßen und
neues zu kreieren?“
Jetzt gab es einen richtigen Aufruhr unter den Planetenstimmen. Offensichtlich hatte sich ein neuer Sprecher der Gemeinschaft gefunden, denn die Gedankenmuster gehörten nicht zu
dem von früher. Er brauchte etwas, um die anderen Stimmen in
den Hintergrund zu drängen und sagte dann: „Aber du hast getötet
und damit dir selbst widersprochen. Denn Teil dieser Ordnung,
die du umzustoßen gedenkst ist es, das Leben zu ehren. Insofern
164
hast du recht, wenn du sagst, wir Individuen können einiges falsch
machen. Das hast du getan.“
Mein Nachbar fragte: „Stimmt das?“
„Ich kann nur wiederholen, was ich schon früher euren Vorgängern gesagt habe. Es geschah ohne böse Absicht, ohne Ahnung
davon, etwas unrechtes zu tun. Und nachdem ich das Unrecht erkannte, habe ich mein Handeln bedauert. Was kann ich tun um das
Geschehene rückgängig zu machen?“
„Die Frage muß anders lauten,“ meldete sich wieder der Planetensprecher, „hast du den Tod deiner Planetengeschwister bewußt
in Kauf genommen, um dir einen Vorteil zu verschaffen oder
nicht?“
Ich versuchte ernsthaft, meine Gedanken von damals ins Gedächtnis zu rufen und antwortete schließlich: „Wenn ich es mir
recht überlege, war es eher ein Unfall, denn ich konnte damals die
Folgen meiner Aktion nicht voraussehen.“
„Dann möchte ich anders fragen: Hättest du diese Aktion unterlassen, wenn dir bewußt gewesen wäre welche Folgen entstehen?“
Genau diese Frage hatte ich mir selbst oft gestellt und hatte
keine Antwort gefunden. Darum erwiderte ich: „Wenn ich ehrlich
sein soll, ich weiß es nicht. Könnt ihr euch in mich rein versetzen
zu diesem Zeitpunkt vor dem Unfall, einschließlich der Erkenntnis
wiedergeboren zu sein? Wie hättet ihr an meiner Stelle reagiert?“
Es kam keine Antwort und ich fragte weiter: „Hat eigentlich
keiner von euch irgendwelche Korrekturmanöver durchgeführt in
den Anfängen seines Werdens?“
Der Sprecher antwortete: „Aus den Überlieferungen unserer
Vorfahren wissen wir, daß Änderungen der Bahn am Anfang
165
durchaus durchgeführt werden, aber keiner hat dabei andere in
den Tod gerissen. Und an ein Leben vor der Geburt und somit
eine Erinnerung daran kann sich niemand von uns vorstellen. Das
ist undenkbar.“
„Durch euer Eingreifen auf euren Körpern werden auch Kreaturen getötet oder wollt ihr euch der Verantwortung entziehen, die
die Einflußnahme mit sich bringt?“
„Was redest du da für einen Unsinn. Sie sind doch alle Teile
von uns selbst, aus uns entstanden. Wir sind ihre Schöpfer; wir geben und nehmen, so wie es für die Gesamtheit erforderlich ist.“
„Da sehe ich keinen Unterschied im Verhalten zu mir. Und
noch etwas: Wie verhält es sich mit den Geisteinheiten der einzelnen denkenden Kreaturen auf euren Körpern? Habt ihr ihnen euren Geist gegeben oder wo kommt der her?“
Ein wirres Durcheinander von Stimmen folgte, wobei ich nur
Bruchstücke aufschnappen konnte. Besonders eindrucksvoll fand
ich eine Aussage, als sich ein Redner darüber entrüstete, daß ich
anscheinend die Geisteinheiten der lebenden Kreaturen auf den
Planeten mit dem der Planeten auf eine Stufe stellte.
Eine ganze Zeit später setzte sich wieder der Planetensprecher
durch. „Ich gebe zu, daß du uns verwirrt hast, weil einige von uns
der Auffassung sind, die Geistinhalte der Kreaturen käme durch
uns, während andere das Gegenteil behaupten. Wir ziehen uns
jetzt zurück und werden diesen Umstand näher untersuchen.
Deine Entwicklung werden wir weiterhin beobachten, wie es unsere Vorfahren uns angeraten haben. Vielleicht hast du es geschafft, daß ein paar von uns die Gefahr, die von dir ausgeht, nicht
mehr als so vorrangig einstufen. Dennoch sind wir vorsichtig,
denn es geschieht etwas außergewöhnliches bei dir.“
166
Damit endete der Kontakt zu den Planetengeistern, doch den
jungen Nachbarn hätte ich gerne noch weiter befragt. „Bist du
noch da?“, fragte ich, wobei ich meinen Gedankenimpuls direkt
auf ihn richtete. „Wärst du so freundlich mich zu unterrichten,
wenn du im Kontakt mit den Geistwesen weiter gekommen bist?“
„Natürlich. Und meinerseits wäre ich froh, wenn du ab und zu
ein paar Antworten für mich bereit hättest. Denn ganz offensichtlich habe ich noch viel zu lernen.“
Ich sagte ihm selbstverständlich zu und zog mich dann ebenfalls zurück. Viele Aspekte der Unterredung wollten verarbeitet
werden und ich mußte mir eingestehen, daß die Planetengeister
ganz enorm an meiner Selbstsicherheit gerüttelt hatten. Wenigstens konnte ich jetzt einige mehr nebensächliche Dinge im Umgang mit den Geisteinheiten der Planeten besser einordnen.
Meine verbesserten Sensoren hatten herausgefunden, daß es
unter den Planeten viele gab, die noch in der ersten Phase der
Entwicklung steckten und lediglich gelernt hatten, die Ordnung
der Planeten zu übernehmen. Wenn ich meinen Block der Gedanken kurzzeitig aufhob und in die Tiefen des Alls lauschte,
hörte ich sie miteinander reden, Fragen stellen und Erfahrungen
austauschen. War die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß
Leben auf ihnen wuchs, lernten sie ihre Gedanken zu blockieren.
Ich vermutete, sie sprachen dann regelmäßig, aber nicht mehr unentwegt miteinander.
Doch diese Zeit hielt nicht lange an, weil die Periode des
Wachstums im Vergleich mit der gesamten Zeit der Entwicklung
nur gering war. Tatsächlich konnte man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, die geistig aktive Phase eines Planetengeistes dauerte weniger als die Hälfte seiner gesamten Lebens167
erwartung an, wobei der Planetengeist in der Anfangszeit als
Jungspund angesehen wurde, der noch keine Anerkennung seiner
Kollegen genoß. Deshalb wechselten auch die Sprecher so
schnell, denn nur aus dem Kreis der Aktiven wurden die ausgewählt, die im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten waren und
dies von ihren Artgenossen anerkannt bekamen. Bei meinem neuen Nachbarn schienen diese Regeln ausnahmsweise nicht zuzutreffen, denn zum Einen hatte er früh gelernt den Gedankenblock
einzurichten und zum Anderen hatte man ihm genau wie mir
einen Sonderstatus zugedacht, der ihn von der Gemeinschaft ausschloß.
Fasziniert stellte ich einmal mehr fest, wie unterschiedlich
doch die Zeitauffassung eines Planetengeistes gegenüber der des
Menschen ist. Ich konnte mich in dieser Existenzform tausende
von Jahren ohne auszuruhen um jedes kleinste Detail meines Körpers kümmern und fand das genauso selbstverständlich, wie einige
hunderttausend Jahre ohne besondere körperliche Aktivität mit
Denken zuzubringen, wobei ich dann die Zeit ganz anders empfand, als in den Momenten, wenn ich mich mit den Kreaturen auf
meinem Körper beschäftigte. Ich konnte mir nicht vorstellen, als
Mensch das alles auch nur annähernd verstehen zu können.
Doch diese Episode lag schon lange zurück und auf meiner
Oberfläche und in den Gewässern ging es äußerst spannend zu. Es
war vielleicht ganz heilsam, nach diesem Gespräch etwas Ablenkung zu finden, wobei mich ein Gedanke ständig begleitete
und meine weiteren Aktionen beeinflußte. Wenn ich die Planeten
richtig verstanden hatte, fühlten sie sich wie Götter gegenüber den
auf ihnen lebenden Wesen. Ob sie sich als solche auch verehren
ließen? Das wollte ich heraus finden und formulierte damit einen
168
Plan, der jetzt eingeleitet werden mußte. Wenn ich schon in der
Lage war meine Entwicklung zu beschleunigen, so wollte ich
auch Wesen hervorbringen, die sich möglichst über einen langen
Zeitraum technisch so weiter entwickelten, um Raumschiffe bauen zu können. Dadurch würde ich die Möglichkeit haben, andere
Planeten zu besuchen, um die Frage zu beantworten.
Die Staubwolke hatte sich längst gelegt und die Artenvielfalt
lebte in ausreichend ökologischem Gleichgewicht. Die Zeit war
reif für die Spezies Mensch. Von allen anderen Überlegungen
hatte ich mich mittlerweile verabschiedet und folgte den
Vorgaben meiner Erinnerung. Eine Gattung von hüpfenden und
hauptsächlich in Bäumen beheimateten Allesfressern bot sich an,
zu intelligenten Kreaturen zu reifen. ,Der Mensch stammt nicht
vom Affen ab,' dachte ich schmunzelnd, als ich mehrere Gruppen
der besagten Tiere an verschiedenen Orten beobachtete. Diese Betrachtung ergab sich aus dem Einschalten in ihre Bewußtseinsinhalte, wobei es mir nach einiger Übung sogar gelang, die direkte
Umwelt mit ihren Augen zu sehen.
Immer öfters verschaffte ich ihnen die Möglichkeit ihr Ich-Bewußtsein zu entdecken, indem ich sie dazu veranlaßte in ruhige
Gewässer zu schauen, um sich Gedanken über das gesehene Bild
zu machen. Vier Generationen später ergriff ich die Gelegenheit,
als ein Blitzschlag einen Baum in Flammen setzte, ihnen das Feuer als nützliches Element begreiflich zu machen. Weil das bei einzelnen Horden gut gelang, wendete ich dasselbe Verfahren auch
an anderen Stellen an, denn dieser Vorläufer des Menschen und
der Affen hatte sich fast über die gesamte Oberfläche verbreitet.
Dabei halfen willkürlich erzeugte Blitze mit anschließendem Feu169
er nach und schon bald waren die Hüter des Feuers die wichtigsten Personen einer bereits überlegenen Rasse, die kein Raubtier
und auch keine Kälte zu fürchten brauchte.
Als nächstes ging es an die Nutzung von Werkzeugen, wobei
der aufrechte Gang zwangsläufig den Trott auf allen Vieren ablöste. Innerhalb von fünfhundert Jahren hatte sich die neue Rasse
etabliert und vermehrte sich ungemein. Ich achtete peinlich genau
darauf, daß keine Konkurrenz der Stämme untereinander aufkam,
denn an diesem Punkt der Evolution der Menschen gab es genügend Futter für alle.
Sie verließen nach und nach ihre Höhlen und nutzen geschickt
ihre neuen Fähigkeiten im Umgang mit Werkzeugen um Siedlungen zu bauen, wobei sich meist mehrere Stämme zusammenfanden, was eine enorme Arbeitserleichterung brachte. Auch in
den bislang verstreut lebenden Savannenstämmen setzte sich die
Einsicht durch, sich für den Bau von Ortschaften zusammen zu
tun.
Die Gestaltung der Sprache machte rasch Fortschritte, wobei
die klimatischen Unterschiede auch die Ausdrucksweise der Kreaturen beeinflußte. Besonderes Augenmerk legte ich auf die
Entwicklung der sozialen Strukturen. Vor allem das Verhältnis
zwischen männlichen und weiblichen Artgenossen sollte
möglichst nicht in solche Bahnen gelenkt werden, wie sie mir aus
meiner Vergangenheit als negativ bekannt waren. Ich achtete darauf, daß es keine Wertunterschiede zwischen den Geschlechtern
gab, jeder sollte gleich viel Achtung erhalten und nur dann sich jemand anders unterordnen, wenn die Gemeinschaft es zur Sicherung für nötig hielt. Also durften auch keine Besitzansprüche
aufkommen, womit ich von Anfang an die Bildung von Zweierbe170
ziehungen unterbinden wollte.
Die Fortpflanzung mußte zur Angelegenheit der Gemeinschaft
werden und nicht nach dem Prinzip des Stärkeren vonstatten gehen. Die inzwischen gereiften Menschen halfen mit eigenen Vorschlägen und Ideen, diese Zielsetzungen in die Tat umzusetzen.
Auf ihre Veranlassung hin entstanden Wohngemeinschaften
entweder ausschließlich für Frauen oder für Männer. Zur Paarung,
die zur öffentlichen Angelegenheit erhoben wurde, trafen sich die
Ausgewählten in den für gemeinsame Zwecke eingerichteten Gebäuden. Auch die gezeugten Nachkommen gehörten nicht den
leiblichen Müttern, sondern wurden von allen ernährt und erzogen.
Rasch schritt die Zeit voran, längst hatten die Hüter des Feuers
ausgedient, denn das Feuer machen gehörte bald zur täglichen Gewohnheit. Die Organisation des Alltags war die nächste Herausforderung für die heranwachsende Spezies Mensch. Entsprechend
der Umwelt in der sie lebten, mußte die Nahrungsbeschaffung
angepaßt werden. In den nördlichen Bereichen überwog das Jagen
und die fleischliche Ernährung, im Süden lernten sie Pflanzen zu
kultivieren und den Boden zu bestellen.
Ich suchte mir immer einzelne Personen aus den verschiedenen
Siedlungen aus, denen ich wichtige Hinweise für das Fortschreiten
ihrer Entwicklung gab. Daraus entstand automatisch ein
hieraisches System, wo Anführer und Untergebene nach ihren Fähigkeiten zusammen arbeiteten.
Sehr darauf achtend, jegliches Machtverlangen einzelner
Wesen zu unterdrücken, vermittelte ich ihnen ein Verständnis für
Religion. Die Erklärungen, die ich über Mittelspersonen anbot
sollten ausreichen, um ihnen klar zu machen, warum einige mehr
171
und andere weniger begabt waren. Für den religiösen Bereich
wählte ich im Denken besonders fortgeschrittene Geschöpfe aus
und schaltete mich regelmäßig in ihre Grübeleien ein. Dabei
wendete ich Oberflächen umspannend die selben Methoden an
und vermittelte gleiche Sinnesinhalte damit später, wenn die Population so groß geworden war, daß sich die verschiedenen Siedlungen und Sippen zu Nationen zusammen finden würden,
einheitliche Denkweisen bezüglich des Glaubens herrschten.
Die Inhalte hatte ich so gestaltet, daß ein friedliches Zusammenleben und die Achtung vor dem Nächsten oberstes Gebot
wurde. Das gelang auf anhieb hervorragend, anscheinend gehörte
es zu den Urbedürfnissen der Menschen über ein befriedigendes
nachvollziehbares Konzept für Glaubensfragen zu verfügen.
Keine zweitausend Jahre waren seit dem ersten sich selbst Erkennen des Menschen vergangen und ich fühlte mich müde und
bedurfte einer Erholungsphase.
Befriedigt über das bisher geleistete zog ich mich für eine Weile zurück, um neue Kraft zu schöpfen. Ich ging davon aus, das
weitere Fortschreiten bedurfte in dieser Phase meine direkte
Anwesenheit nicht. Meine Sensoren richteten sich auf die anderen
Geschehnisse auf meiner Oberfläche und meldeten keinerlei Ungewöhnliches. Für einige hundert Jahre ließ ich meinen Geist ausruhen, indem ich versuchte an gar nichts zu denken.
Danach wendete ich mich wieder meinen Kreaturen zu, um die
Entwicklung anzukurbeln. Doch ernüchternd mußte ich feststellen, daß in meiner Abwesenheit Dinge vor sich gegangen
waren, die ich nicht einkalkuliert hatte. Mit dem Anwachsen der
Anzahl dieser Gattung, die ich ohne weiteres Nachdenken von
Anfang an schon als Mensch bezeichnet hatte, entstanden Proble172
me, die ich vorerst nicht erklären konnte. Sie hatten alles was sie
brauchten, doch wurden immer mehr Menschen unzufrieden.
Einige verweigerten sogar die Arbeit und brachten damit die
Organisation der Gemeinschaft durcheinander. Andere zogen das
Alleinsein vor und verließen in kleinen Gruppen die Siedlungen.
Letztere ließ ich einfach ziehen, denn ihre separate Entwicklung
sollte ohne meinen Einfluß weiter gehen; vielleicht brauchte ich
sie später noch einmal.
Bei den Unzufriedenen schaltete ich mich in die Bewußtseinsinhalte ein um zu ergründen, wo die Ursache ihres Verhaltens lag.
Ich mußte konsterniert feststellen, daß es meine eigene Schuld
war. Denn durch meine Einflußnahme über Generationen hinweg
hatte ich den natürlichen Entwicklungsprozeß umgangen, wodurch die Widerstandskräfte der Einzelnen verarmten. Es ging
alles viel zu leicht und die ausbleibenden Herausforderungen
brachten eine Form von Dekadenz zum Vorschein.
Mir wurde klar, daß ich die Komplexität der menschlichen Psyche unterschätzt hatte. Mein Plan schien im großen und ganzen
ungefährdet, weil sich die Mehrheit der Siedlungsbewohner nach
meinen erdachten Richtlinien weiter entwickelten. Aber ich konnte mir ausrechnen, daß es auch bei diesen Leuten über kurz oder
lang zu ähnlichen Konflikten kommen würde. Alles in allem
führte diese Angelegenheit zu Verzögerungen, die ich mir nicht
erlauben wollte. Sollte ich die Konflikte unter den Bewohnern offen austragen und damit Feindseligkeiten zulassen oder mußte ich
mir etwas anderes ausdenken, um die Verzögerung der Entwicklung zu umgehen?
Letztlich führte mich diese Frage zu einer weiteren. Hatte ich
das Recht natürliche Prozesse auszuhebeln und vor allem, wel173
chen Preis mußten meine Bewohner dafür zahlen? Da ich mir das
Recht schon von Anfang an heraus genommen hatte, konnte ich
an diesem Punkt nichts mehr rückgängig machen. Deshalb entschloß ich mich dazu, die Entwicklung der Menschen zweigleisig
weiter laufen zu lassen. Die friedliche Grundeinstellung der Mehrheit sollte nicht geändert werden, aber die Unzufriedenen durften
den Fortgang nicht aufhalten. Deshalb gab ich den Anführern der
Siedlungen die Idee, die Unzufriedenen aus der Gemeinschaft zu
entfernen.
Sie sollte mitnehmen was sie tragen konnten, in die Welt hinausgehen und ihr Glück versuchen. Keiner sollte schlecht über sie
reden und sie sollten sich auch nicht als ausgestoßen fühlen. Doch
ihre Unzufriedenheit wurde als Prüfung Gottes bezeichnet und als
solche hatte es das Entfernen von den Anderen zur Folge.
Ein Teil dieser Gruppe änderte seine Meinung nach dem Bekanntwerden dieser Anordnung und fügte sich wieder in die Gemeinschaft ein. Insgesamt ein Viertel der Rasse Mensch aus den
verschiedensten Regionen der Erde ging allerdings tatsächlich und
ich entließ sie aus meiner Einflußnahme. Sie sollten wie die
anderen bereits früher schon gegangenen sich auf natürlichem
Weg weiterentwickeln. Mir kam es so vor, als wenn ich eine
Zwei-Klassengesellschaft geschaffen hätte und war gespannt, wie
sich die Unbeeinflußten in der Zukunft bewähren würden.
Bei den Verbliebenen ließ ich einen Orden gründen; sie gaben
sich den Namen ,Bund der Wissenschaftler'. Die einfallsreichsten
und pfiffigsten Menschen sollten sich in diesem Orden zusammen
tun, um die Technologie anzukurbeln, aber auch die Geisteswissenschaften auszubauen. Sie erhielten besondere Privilegien,
damit der Anreiz gewährleistet war. Als Bestandteil der religiösen
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Struktur sollten sie von den anderen versorgt werden und gleichzeitig die Anerkennung genießen bevorzugt zu sein.
Der Inhalt des Glaubensmodells, daß ich den religiösen Führern vermittelte und welches sie an die anderen weiter zu geben
hatten bestand in der Vorstellung, daß ein Planetengeist über sie
wachte. Sie nannten ihn den großen Geist, der von Gott eingesetzt
war, um den Planeten zur vollen Blüte zu führen. Ich wollte nicht,
daß sie mich anbeteten; sie sollten glauben, ich wäre ihr großer
unsichtbarer Bruder, der besonderes mit ihnen vor hat. Da dieses
Glaubensmodell der Wahrheit sehr nahe kam, war ich zufrieden
mit meinem Werk und hoffte ohne weitere Komplikationen weiter
voran zu kommen.
Der Glaube an Gott als der Kern des Modells wurde von allen
in den Siedlungen verbliebenen bereitwillig angenommen. Die
Zielsetzung die Menschheit durch meine Mithilfe zu großen Taten
zu führen, reichte natürlich nicht aus um die Menschen langfristig
ausreichend zu motivieren. Es stellte sich schnell heraus, daß die
Herausforderung nicht überzeugend genug war um ihre Geistinhalte reifen zu lassen. Es ging ihnen einfach zu gut. Also mußte
ich eine Bedrohung einrichten, die so gewaltig war, daß sie zumindest eine Gefahr für ihre Existenz erkannten.
In den nächsten zwanzig Generationen vermittelte ich die Ansicht, eine große Gefahr lauere im Weltall, hervorgerufen durch
fremde Wesen von anderen Planeten, die beabsichtigten, die Menschen zu überfallen und zu vernichten. Das reichte zumindest um
die Grundlagen der Astronomie einzuführen. Sie lernten Geräte
herzustellen, die sie in die Lage versetzten den Weltraum zu beobachten und bekamen Einblicke, wie ein Planet entsteht und wie
die Sterne zueinander stehen.
175
In dieser Zeit begann ich aktiv an ihrem Leben teilzunehmen.
Die religiösen Führer richteten an den regelmäßigen Feiertagen
Zusammenkünfte aus, zu denen die ganze Gemeinschaft eingeladen wurde, einschließlich der Vertreter des Ordens. Dabei übernahm ich eine willige und geistig reine Person, um durch ihren
Mund zu sprechen. Anschließend konnten Fragen gestellt werden,
die den Menschen auf der Seele brannten. Das funktionierte am
Anfang recht gut und das Glaubensgerüst der Menschen
stabilisierte sich zusehend. Dieses aktive Eingreifen vollzog ich
erdumspannend, damit an allen Stellen die gleichen Voraussetzungen geschaffen wurden.
Nach und nach traten aber immer mehr Zweifler auf, die die
Sinnlosigkeit ihrer zugedachten Rolle zum Ausdruck bringen
wollten. Es waren wahrlich keine kleingeistigen Menschen mehr,
sondern durchweg intellektuell sehr gereift. Zur Untermauerung
meiner Argumente gebrauchte ich immer häufiger Tricks, wie
zum Beispiel angekündigte Blitze oder auch Lichterscheinungen
am Himmel. Doch auch dieses Vorgehen hielt die Zweifler nicht
davon ab, ihre Einsprüche hervor zu bringen.
Bei einer dieser Versammlungen fragte ein Mann, ob es der
Wahrheit entspräche daß ich, der große Geist, wie sie mich nannten, sie nur benutzen würde für meine ehrgeizigen Ziele. Ich bewertete diesen Einwand als Resultat meiner Offenheit und ging
davon aus, daß der Mann nicht der Einzige war, der so dachte.
„Was wünschst du dir, guter Mann?“, ließ ich ihn fragen.
„Freiheit, großer Geist,“ erwiderte er ohne Umschweife wohl
wissend, die Mehrheit auf dem großen Platz der versammelten
Menschen würde dies nicht für gut heißen.
„Mein Freund. Es gibt keine Freiheit, außer der, die du schon
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genießt. Allein dadurch daß dein Geist in einem Körper wohnt
reicht aus, um dir ein Gefühl von Unfreiheit zu geben. Könntest
du vergleichen, zwischen deinem Leben und dem der Kreaturen
auf anderen Planeten würdest du dir wünschen, niemals so etwas
gefordert zu haben.“
„Es gibt doch gar keine Lebewesen außerhalb unseres Planeten. Wir sind noch nicht sehr weit vorgedrungen mit unseren Teleskopen, aber wenn es welche gäbe, hätten wir sie doch schon
längst entdeckt.“
Die Menschen um mein Medium herum murrten auf, weil er an
meiner Glaubwürdigkeit zweifelte. „Nehmt es ihm nicht übel, daß
er mir keinen Glauben schenken will,“ sprach ich durch das Medium. „Er wird es erst verstehen, wenn es zu spät ist. Denn wie er
richtig sagte, könnt ihr mit euren Teleskopen nicht weit und nicht
genau genug schauen. Doch der Weltraum ist groß und es existieren dort andere Lebewesen, ich habe sie gesehen. Und sie sind
nicht alle freundlich gesinnt.“ Zu dem Mann weiter sprechend
sagte ich: „Vor einigen Generationen sind Menschen aus der Gemeinschaft fortgegangen, aus den gleichen Gründen wie du.
Meinst du, die hätten mehr Freiheit?“
Der Mann kannte die Geschichte seiner Gattung, obwohl man
von den damals Unzufriedenen nur selten redete. Aber das Gerücht, sie wären alle umgekommen weil ich, der große Geist sie
nicht mehr beschützte, war bei allen Bestandteil der Glaubenslehre. „Ich werde nicht klagen, wenn du mich auch in den Tod schicken willst, großer Geist,“ sagte er stolz, „aber das ändert nichts
an der Tatsache, daß wir deine Marionetten sind.“
Ein Aufschrei der Entrüstung folgte auf seine Worte und nur
die friedliche Grundeinstellung hinderte die Mithörenden ihn
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nicht sofort zu ergreifen und die Wildnis hinaus zu stoßen. „Ich
werde dich nicht für deine Ansichten bestrafen, sondern belohnen.
Und ihr anderen solltet gut aufpassen, denn euer Freund der große
Geist liebt freigeistig denkende Menschen. Trete in den Orden ein
und gründe dort die Fakultät der Philosophen. Damit dienst du
deinem Volk und findest eine lohnende Aufgabe für dein Leben.
Mehr Freiheit kann ich dir nicht anbieten es sei denn, du möchtest
von dir aus dein Volk verlassen.“
Die Versammelten lobten meine Großzügigkeit und der Mann
war es zufrieden.. Er und noch ein paar seiner Gefolgsleute
wurden vom Orden aufgenommen und man richtete ihnen einen
eigenen Arbeitsbereich ein. In den nächsten Wochen kümmerte
ich mich besonders um ihn, denn wenn er seinen Kopf schon so
hervorragend benutzen konnte, sollte er ihn wenigstens zum Wohle der Menschen einsetzen.
Mein Eingreifen in sein Bewußtsein ließ die Schrift entstehen.
Seine mit der Zeit anwachsende Fakultät übernahm die Aufgabe,
diese unter ihren Mitmenschen einzuführen. Des weiteren archivierten sie alles bis dahin erlangte Wissen, indem sie es zuerst auf
Fellen niederschrieben, um später nach der Erfindung des Papiers
dies noch präziser zu bewerkstelligen. Alle neu entstehenden geistigen Errungenschaften wurden ebenso notiert, wie auch die Glaubenslehre.
In anderen Ortschaften entstanden ähnliche Situationen und ich
drängte die Anführer dazu, regelmäßige Meinungs- und Wissensaustausche einzurichten, denn später würden die Siedlungen sowieso zusammen wachsen. Für die nächsten fünf Generationen
hatte ich erst einmal Ruhe, auch wenn der technische Fortschritt
nicht in dem Maß voran kam, wie ich es erhofft hatte. Dabei
178
vertraute ich auf die stetig anwachsende Bevölkerungszahl, die
neue Herausforderungen bringen würde.
In dieser Zeit suchte ich die Abtrünnigen auf, die sich in
eigenen Siedlungen zusammen gefunden hatten. Der Überlebenskampf gestaltete sich für sie wesentlich härter und von Frieden konnte keine Rede mehr sein. Teilweise ging es recht barbarisch zu; in einigen dieser Ortschaften gab es überhaupt keine
Ordnung. Jeder war sich selbst der Nächste und wer etwas besaß
mußte auf der Hut sein und sich zu verteidigen wissen, denn Raub
und Mord gehörten zum Alltag.
Andere Siedlungen wiederum erlebten Dynastien von Macht
besessenen Despoten, die Krieger um sich scharrten und ihre Mitmenschen als Sklaven arbeiten ließen. Immerhin ließ sich eine gewisse Ordnung erkennen, wenn auch vom moralischen Standpunkt
betrachtet nichts erstrebenswertes in dieser Art des Zusammenlebens zu finden war. Allerdings zeigten sie eine enorme Geschicklichkeit in der Herstellung von Waffen und es war
anzunehmen, daß sie in späteren Zeiten, wenn es enger wurde in
meiner Welt, Vorteile gegenüber den friedlichen Bewohnern
haben würden.
Bei meinen Streifzügen auf der Oberfläche fand ich auch einzelne Gruppen, die in durchaus als harmonisch zu bezeichnenden
Gemeinschaften zusammen lebten. Sie hatten sich größtenteils sogar eine religiöse Grundhaltung bewahrt. Hauptsächlich traf ich
diese Sonderlinge in den nördlichen Regionen, wo es rauh und
kalt war und der Überlebenskampf einiges abverlangte. Meist
handelte es sich um Gruppen von etwa dreißig Personen, wobei
kaum einer über die selbst gewählte Lebensweise klagte. Sie ernährten sich von der Jagd und in geringem Maß auch vom Garten179
bau, wie sie es aus der Überlieferung kannten. Ich betrachtete ihr
Streben mit Wohlwollen, auch wenn sie nicht in meine Pläne paßten. Denn ihre Grundeinstellung zum Leben bezog sich auf das
Bewahren des vorhandenen Status ohne Sinn für Verbesserungen.
Meine Konzentration begab sich wieder zurück zu den Siedlungen des großen Geistes und begann mit den nächsten Schritten
der Evolution. Die Gewinnung und Nutzung von Eisen sollte in
Angriff genommen werden. Gleichzeitig mußten neue Rohstoffe
entdeckt und ebenfalls in den täglichen Gebrauch eingegliedert
werden. Die jetzige Epoche der Menschheit zwischen den alle
zwölftausend Jahre wiederkehrenden Eiszeiten war bereits die
dritte, die in Siedlungen lebte, Landwirtschaft betrieb und nach
den gleichen religiösen Prinzipien ihr Dasein organisierte. Bis zur
nächsten Eiszeit würden etwa noch dreitausend Jahre verstreichen
und ich nahm mir vor, in dieser Epoche den entscheidenden
Durchbruch zu schaffen.
Mit dem Beginn der Eisenzeit - acht Generationen nach der
Einführung der Schrift - hatte sich die Anzahl der Bevölkerung
verzehnfacht. Ich schätzte die Gesamtzahl der auf meiner Oberfläche lebenden Menschen auf eine halbe Millionen, wobei in den
von mir beeinflußten Siedlungen und Städten ungefähr
vierhunderttausend wohnten.
Mit der Nutzung des Eisens und der Herstellung von Verteidigungswaffen wurde die Gefahr ausgeschaltet, daß die abtrünnigen
Barbaren mit ihrer kriegerischen Einstellung übermäßig großen
Schaden anrichten konnten.
Diese Bedrohung durch die eigenen Artgenossen schaffte ein
schnelleres Fortschreiten der technologischen Entwicklung. Denn
180
es galt nicht nur die Ansiedlungen zu schützen, sondern auch die
Transporte zwischen den Städten und den Orten, wo die Rohstoffe
gewonnen wurden. Auch die Barbaren waren zahlenmäßig angewachsen, sie versuchten ständig wo sie konnten Beute zu machen.
Zu dieser Zeit scharrten sich plündernde Horden mit wenig ausreichender Organisation zusammen, um Überfälle durchzuführen. Es
blieb nicht aus, daß sie die verbesserten Waffensystem in die
Hände bekamen, auch wenn sie sonst fast überall zurück geschlagen werden konnten.
Ich ließ diese Zeit der Konfrontation einfach weiter laufen, da
es half, die Menschen der beschützten Siedlungen zu motivieren
und noch größere Anstrengungen zu unternehmen, mit möglichst
wenig Schaden aus diesem Konflikt heraus zu kommen. Die Ortschaften selbst wurden immer stärker befestigt, doch die umliegenden Höfe zur Erzeugung der Nahrung eigneten sich ausgezeichnet als Ziel für Barbaren. Es mußte also ein mobiles
Verteidigungssystem eingerichtet werden und die ersten Soldaten
begannen mit ihrer Arbeit.
Man nannte sie vorerst noch Bürgerwehr, doch ich konnte mir
denken, wohin sich die Dinge entwickeln würden. Weitere zweihundert Jahre gingen ins Land. Die Anzahl meiner Gefolgsleute
überstieg die Millionengrenze - verteilt auf hauptsächlich sechs
Zentren. In jedem dieser Ballungsgebiete herrschte ein vom Volk
gewähltes Königspaar. Die Auseinandersetzungen mit plündernden Horden hielt immer noch an. Die Barbaren mußten sich
immer wieder zurückziehen, weil sie durch die Kämpfe auf ein
Minimum reduziert wurden. Doch in der Regel erholten sie sich
nach zwei Generationen wieder, um dann noch stärker als vorher
erneut Unruhe zu stiften.
181
Das Fortschreiten der technologischen Entwicklung ging zügig
voran - unter anderem wurden solche brauchbaren Materialien wie
Glas erfunden, aber auch das verheerende Schießpulver. Doch
besonders stolz war ich auf die Ergebnisse der Geisteswissenschaften. Das früh eingerichtete Glaubensmodell erwies sich als
sehr nützlich; Philosophie hatte inzwischen die gleiche Bedeutung
wie Religion. Doch auch der Bereich Magie genoß große Beachtung und konnte erstaunliche Ergebnisse vorweisen.
Meine Besuche beschränkten sich in dieser Zeit auf die gemeinsamen Sitzungen der verschiedenen Fakultäten - meine Teilnahme bei öffentlichen Anhörungen ließ sich wegen der Vielzahl
der Menschen nicht mehr gerecht durchführen, weshalb ich es
nach und nach ganz einstellte. Diese Zusammenkünfte des Ordens
hatten es allerdings in sich; so manches mal konnte ich selbst noch
einiges dazu lernen und verfolgte deshalb ihr Treiben mit großem
Interesse. Zum Beispiel definierte man die Kräfte ,Gut' und ,Böse'
für diese Welt durch die Existenz der Kinder des großen Geistes,
wie sie sich selbst nannten und den Barbaren. Als Grundlage
dieser Beschreibung erkannte man die Notwendigkeit, als Mensch
dual zu denken um geistig gesund zu bleiben.
Ich mußte mir eingestehen, daß ich diesen Aspekt immer außer
Acht gelassen hatte. Die vorherrschenden Verhältnisse bestätigten
allerdings eindeutig, wie recht die Wissenschaftler mit dieser Auslegung hatten. Es gab noch einen weiteren interessanten Zweig
der Geisteswissenschaften, der aus dem Bereich Magie hervorging. Man beschäftigte sich ausgiebig mit der Geisterwelt, so wie
mein Nachbar es auch beschrieben hatte. Es wunderte mich sehr,
daß ich von der Existenz der körperlosen Wesen nichts mitbekommen hatte. Verweigerten sie sich mir gegenüber, hatte ich sie
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ignoriert oder war ich zu unsensibel um sie wahr zu nehmen? Ich
nahm mir vor, diese Frage bei Gelegenheit näher zu untersuchen.
Die Geistforscher bauten die Wesen, die mit eigenen Medien in
Kontakt standen, geschickt in das Glaubensmodell ein und erreichten dadurch eine Abrundung des Gesamtbildes. Somit unterteilten sie die Welt in gute und böse Kräfte, wie es von den Geistern bestätigt wurde.
Der Name Teufel wurde für diese Welt geboren, als Gegenspieler zu Gott. Mich selbst ordneten sie dazwischen ein, ohne Beziehung zu einer von den beiden Seiten - sozusagen als Neutrum.
Das ich mich selbst als von Gott eingesetzt ihnen gegenüber darstellte hinderte sie keineswegs daran, dieses erweiterte Glaubensmodell zu verbreiten, schließlich verfolgte ich eigene Interessen,
wie sie es richtig verstanden. Mit Sicherheit konnte ich davon ausgehen, mich in dieser Rolle ganz enorm von den anderen Planetengeistern zu unterscheiden.
Bei einer dieser Sitzungen fragte ich, was die Geistwesen über
mich zu sagen wußten. Die darauf folgende Befragung ergab ein
überraschendes Resultat. Demnach wurde ich als Sonderling
angesehen, mit dem Gott ganz eigene Pläne hatte, die sie erst am
Ende aller Tage - wie sie es ausdrückten - offenbaren würden.
Wenigstens bestätigten sie mit ihrer Aussage, daß die Menschen
keinen Grund hatten mir und meinen friedlichen Absichten zu
mißtrauen.
Doch bald - und das war ein richtiger Schock - wurde unser
Verhältnis entscheidend geprüft. Ich hatte mich bis zu diesem
Zeitpunkt als Herrscher dieser Welt empfunden, der es noch nicht
einmal nötig hatte, dies von seinen Gefolgsleuten bestätigt zu bekommen; es war einfach selbstverständlich. Immer wieder hatte
183
ich meine Taten überprüft und glaubte eher kritisch als selbstherrlich damit umzugehen. Trotz einiger Fehlschläge und Falscheinschätzungen empfand ich große Zufriedenheit über mein Werk.
Doch jetzt durch die neu gewonnen Erkenntnisse wurde mir klar,
daß all mein Streben von einem weit über mir stehenden Prinzip
gelenkt wurde. Dieser Körper, den ich mein eigen nannte, entpuppte sich als Instrument in einem kosmischen Spiel, deren
Regeln mir vorenthalten wurden. Es wurde Zeit, mich mit dieser
neuen Situation auseinander zu setzen.
Doch bevor ich mich zurück zog, erreichte mich eine erschreckende Nachricht aus den beiden Ballungsgebieten der nördlichen
Regionen. Eine Seuche war ausgebrochen und tausende von Menschen wurden dahin gerafft. Zu allem überflüssigem Ungemach
nutzten mehrere herum streunende Barbarenhorden die Gelegenheit und entmachteten nach heftigem Kampf das Königspaar eines
der beiden Zentren. Der Anführer der Banden setzte sich an die
Spitze. Mit Waffengewalt übernahm er die geschwächte
Bürgerwehr und alle, die sich ihm widersetzten wurden umgebracht. Er selbst beteiligte sich nicht an den Kämpfen, sondern
agierte geschickt solange im Hintergrund, bis die Seuche abebbte
und keine Gefahr mehr für ihn bestand.
Dann zog er mit Tamtam in die Hauptstadt ein, stellte den ansässigen Orden vor die Wahl, entweder für ihn zu arbeiten oder zu
sterben und gab dem Volk neue Gesetze, die ihn zum Alleinherrscher dieser Region deklarierte. Das konnte ich nicht zulassen,
denn diese Art des Umgangs der Menschen untereinander führte
keinesfalls zu einem guten Gelingen meines Plans.
Das zweite nördliche Zentrum hatte ebenfalls fast die Hälfte
seiner Einwohner durch die Epidemie verloren, konnte sich aber
184
gegen weniger gut organisierten Banden behaupten. Als erstes
wies ich den Orden dort an, die medizinische Fakultät auszubauen, damit sich solche Naturereignisse nicht wiederholen konnten.
Dann beriet ich mich mit den Anführern, wie der barbarische
Despot des etwa zweitausend Kilometer entfernten Nachbarstaates
zu entfernen sei.
Das stellte sich als sehr schwierig heraus, denn in den Bewußtseinsinhalten meiner Gefolgsleute kamen Angriffsstrategien
nicht vor und von selbst einen Krieg anzuzetteln schien ihnen undenkbar. Sie hatten sich auch nur widerwillig und gezwungenermaßen zur Verteidigung gegen Eindringlinge bereit erklärt. Sie ließen sich nicht überreden gegen den Abtrünnigen in
den Kampf zu ziehen, nahmen den Vorfall aber zum Anlaß, die
Verteidigung weiter auszubauen. Dazu beitragend vermittelte ich
ausgesuchten Wissenschaftlern Kenntnisse über verbesserte
Transportfahrzeuge zu Land und zu Wasser, wobei die Nutzung
von Wasserdampf für den Antrieb den entscheidenden Durchbruch brachte.
Aber auch der Luftraum sollte erschlossen werden und bald experimentierten die ersten Menschen mit Ballons und Segelflugzeugen. Dann konzentrierte ich mich auf die südlichen Gebiete
und unterrichtete sie über die Ereignisse im Norden. In den vier
Zentren der von Menschen bewohnten Lebensräume war man
einheitlich ganz anderer Ansicht, wie mit dem Frevler hätte umgegangen werden müssen, so daß ich mich wunderte, warum es so
einen Unterschied in der Einstellung zwischen dem Norden und
Süden gab.
Die Transportmöglichkeiten waren noch nicht so ausgereift,
um von Süden aus eingreifen zu können, mit den vorhandenen
185
Mitteln war der räumliche Abstand einfach zu groß. Deshalb verfuhr ich genauso wie im Norden. Bald schon tuckerten die ersten
mit Dampf betriebenen Kutschen über die holprigen Wege und
junge mutige Forscher unternahmen die ersten Flüge mit selbst
gebastelten Gleitern.
Die von Menschen besiedelten Gebiete vergrößerten sich sehr
schnell und die Aufgaben der Verwaltung und Organisation
wuchsen mit. Die Einführung des Geldes als Zahlungsmittel ergab
sich als logische Folge der Unterbrechung der Nahrungskette,
denn viele Menschen waren nicht mehr direkt an der Nahrungsbeschaffung beteiligt, sondern arbeiteten in Werkstätten und Betrieben, die Gebrauchsgegenstände, Transportmittel und Straßen
oder auch Waffen herstellten. Ebenfalls wurden viele Arbeitskräfte für Verwaltung und Dienstleistung gebraucht; es mußten also
Überschüsse erwirtschaftet werden, die die Versorgung der
Bürgerwehr und der Orden ermöglichten.
Mittlerweile lebten in den beiden großen Ländern des Südens jeweils zwei Ballungsgebiete hatten sich zusammengeschlossen insgesamt zehn Millionen Menschen. Die staatliche Organisation
funktionierte ausreichend und die aufständischen Barbaren
wurden weit ins Hinterland verdrängt.
Der Verbrennungsmotor brachte eine regelrechte technologische Revolution und mit den verbesserten Fahrzeugen dehnte
sich das Aktionsradius immer weiter aus.
Anders verlief es im Norden. Die Dynastie der Barbarenherrschaft schaffte ungewöhnliches Wachstum und überflügelte die
noch friedliche Region meiner Gefolgsleute. Die Nachkommen
des damaligen Eroberers verfügten über ein Welt umspannendes
Spionagenetz und erschlichen sich dadurch technische Neue186
rungen, ohne selbst etwas dafür getan zu haben. Der Orden
verwandelte sich in eine Sekte, die ohne Scham und ganz öffentlich den Teufel als ihren Herrscher deklarierte. Die Nachfahren
der Herrscherfamilie nannten sich oberste Diener des Teufels und
so regierten sie auch.
Keine zweihundert Jahre nach der Eroberung des ersten Ballungsgebietes erdreistete sich ein eifriger Teufelsdiener auch die
letzte noch verbliebene nördliche Gemeinschaft meiner Treuen zu
überfallen. Die Gegenwehr war viel zu gering, denn anstatt, wie
ich ihnen angeraten hatte, wenigstens die Verteidigung zu verstärken, hatten sie mehr Arbeit in die Geisteswissenschaften gesteckt
und vielleicht darauf gehofft, ich würde ihnen schon helfen. Doch
ich sah keine Veranlassung dazu, da ich ihnen die eintretenden
Konsequenzen früh genug bekannt gemacht hatte.
Resultat dieser Eroberung war, daß sich nach einem halben
Jahrtausend seit der Erfindung des Schießpulvers, zwei große
Machtblöcke gegenüber standen: Der barbarische Norden und die
Gefolgsleute aus dem Süden. Da die Zahl der Einwohner der
beiden südlichen Staaten mehr als dreimal so groß war wie die des
Nordens, drängten sie dazu in den Krieg zu ziehen, um die Herrschaft der Barbaren zu beenden.
Ich hatte meine Meinung inzwischen geändert, denn für meine
Ziele schien die Konstellation sehr günstig. Ohnehin war es jetzt
zu spät für einen Feldzug zur Befreiung meiner versklavten
Anhänger. Darüber hinaus hätte ein Kampf in dieser Größenordnung zu viele Opfer auf beiden Seiten gefordert und letztlich hatte
ich Bedenken, daß die im Kampf unerfahrenen Südländer trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nur geringe Chancen besaßen,
die Nordländer zu besiegen.
187
Deshalb untersagte ich den Anführern des Südens dieses Vorhaben und begründete es durch der Unvereinbarkeit mit den religiösen Prinzipien. Vielmehr veranlaßte ich sie dazu, die Verteidigungsanlagen auszubauen und selbst ein Spionagenetz zu installieren, um die Absichten der Feinde im Norden früh genug erkennen zu können. Solange Gut und Böse auf der Welt klar getrennt voneinander existierten, konnte der Fortschritt weiter gehen. Würde es kein Feindbild mehr geben, gäbe es auch keine
Herausforderung und die Menschen würden schwach und dekadent. Letzteres teilte ich ihnen nicht mit, denn ich ging davon aus,
sie würden selbst dahinter kommen.
In den nächsten drei Generationen folgte man noch meinen
Anweisungen und die Rasse Mensch schritt unglaublich schnell
voran. Man erschloß bisher ungenutzte Gebiete und vermehrte
sich rapide. Natürlich blieb auch der Norden nicht stehen, sondern
holte sogar noch auf. Das wurde vom Süden als Rückschlag
verstanden und man warf mir offen vor, den Norden geschützt zu
haben. Sie waren wild entschlossen den Norden auszuradieren und
meine Appelle an die Friedfertigkeit brachten keinen Erfolg mehr.
Als letzte Chance den Krieg noch zu vermeiden, der immense
Schäden an beiden Blöcken verursacht hätte bot ich an, mich an
einer diplomatischen Mission zu beteiligen. Die Verhandlungsgrundlage sollte ein Nichtangriffspakt sein, sowie ein Austausch
von Rohstoffen. Denn der Norden, der ebenfalls Verbrennungsmotoren betrieb brauchte dringend das Mineral Öl, welches im
Süden in ausreichender Menge gewonnen wurde. Der Süden hatte
Mangel an Erzen und so erschien mir dieser Vorschlag sehr sinnvoll.
Inzwischen hatten sich Kommunikationsmittel etabliert und
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trotz großer Anstrengungen konnte ich die Erfindung des Fernsehens nicht verhindern. Diese Aktion hielt ich für nötig, da ich aus
meiner Vergangenheit die Machtposition der Bildübertragung
kannte. Immerhin schaffte ich es, die Nutzung des Fernsehens auf
ein geringes Maß zu reduzieren, indem ich einzig dem Orden die
Aufgabe der Ausstrahlung der Sendungen zukommen ließ. Auf
diesem Weg wurde der Norden aufgefordert eine Verhandlungsdelegation zusammen zu stellen, die sich mit der gleichen Anzahl
von Diplomaten aus dem Süden an einem neutralen Platz treffen
sollte.
Für diesen Ort wählte man ein großes Feld genau in der Mitte
zwischen den beiden Blöcken, welches ohne Möglichkeit für
einen Hinterhalt offen für alle einsehbar war. Ich weilte in einem
Medium, der die Aufgabe hatte im Hintergrund zu bleiben und die
Verhandlungen zu beobachten. Von einem Verzicht auf Waffen
gingen meine Gefolgsleute von vorn herein nicht aus und es
wurde somit kein Teil der Abmachung zur Durchführung der
Verhandlungen.
Es wurden Zelte aufgebaut und zwanzig Vertreter jeden
Blockes nahm am provisorischen Verhandlungstisch Platz. Der
Sprecher der Barbaren nahm kein Blatt vor den Mund. Nur weil
ich die Verhandlungsführer unserer Seite auf den Umgangston der
Nordländer vorbereitet hatte, konnte der Verlust ihrer Souveränität verhindert werden.
„Was wollt ihr dreckigen Südländer von uns. Wenn ihr euch
ergeben wollt, sind wir einverstanden.“
„Haben euch eure Spione nicht mitgeteilt, wie stark wir sind es sollte doch genügen, um eine faire Verhandlung zu führen,“ erwiderte unserer Sprecher und fuhr fort: „Wir wollen herausfinden,
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ob ihr für einen Nichtangriffspakt zu gewinnen seid, der auch in
unserem Interesse wäre, auch wenn viel meiner Mitbürger eine
andere Ansicht vertreten. Des weiteren wissen wir, daß eure Ölvorkommen nur sehr dürftig sind und da wir im Überfluß diesen
Rohstoff besitzen gilt es auszuloten, welche Dinge ihr uns zum
Tausch anzubieten gedenkt.“
Der Unterhändler des Nordens starrte mit offenem Mund aus
seinem fratzenhaften Gesicht. Dann lachte er lauthals bis er husten
mußte und schlug sich dabei unentwegt auf die Schenkel. „Ihr
degenerierten Ratten, glaubt ihr wirklich wir hätten nicht gemerkt,
daß ihr am Ende seid? Warum solltet ihr sonst verhandeln
wollen?“ Dann lehnte er sich nach vorne und schaute unserem
Wortführer direkt in die Augen. Dieser mußte alle Anstrengung
aufbringen sich nicht abzuwenden, weil der penetrante Mundgeruch seines Gegenüber ihm den Atem verschlug. „Hör zu, du
schlitzäugiger, kackfarbener Sohn einer Hure. Wenn wir Öl brauchen holen wir es uns einfach. Und jetzt nenne mir die Bedingungen eurer Kapitulation.“
Der Unterhändler des Südens beherrschte sich vortrefflich.
„Nun, wenn ihr die Situation so einschätzt muß ich euch sagen,
ihr seid nicht auf dem Laufenden. Ich betrachte die Unterredung
für beendet.“
Er stand auf und zog sich aus dem Zelt zurück, mit seinen
anderen Unterhändlern im Gefolge. Ich studierte die Bewußtseinsinhalte der Barbaren und erkannte was ich erwartet hatte. So wollten sie sich nicht abspeisen lassen. Sie zogen ihre Handfeuerwaffen und hätten ohne Gnade die Delegation des Südens von
hinten erschossen. Da griff ich ein. Ich blockierte ihre Gedanken,
so daß sie nicht in der Lage waren einen Finger krumm zu ma190
chen. In ihrem Gedächtnis fand ich die Information, daß einige
hundert Soldaten außerhalb des Sichtkreises im Hinterhalt lagen
um einzuschreiten, wenn sie den Befehl dazu erhielten. Aber der
Befehl konnte nicht erteilt werden.
Erst als wir unsere Flugmaschinen bestiegen und in sicherer
Entfernung vom Verhandlungsplatz waren, hob ich die Blockade
auf. Der Sprecher der Barbaren fluchte wie er es noch nie
vermocht hatte und wutschnaubend trat die Delegation ihre Heimreise an.
Zurück in einem der Hauptstädte der südlichen Territorien ließ
ich die Anführer beider Staaten zusammen rufen. Ich teilte ihnen
mit, ich hätte eingesehen, daß mit dem Norden nicht zu
verhandeln sei. Dann versprach ich ihnen, mich selbst um die
Angelegenheit zu kümmern und trug ihnen für die nächsten Jahre
auf, die Abwehr noch weiter zu verstärken und den Haushalt für
Militärausgaben drastisch zu erhöhen. Auch die Techniker des
Ordens sollten aufgefordert werden alles zu tun, um die Ausgangslage zu verbessern. Es konnte jetzt jederzeit mit einem Angriff gerechnet werden.
Durch ein Medium ließ ich verlauten: „Treue Gefolgsleute. Sicher habe ich viele Fehler gemacht, aber immer habe ich versucht
das Beste für die Menschen zu tun. Der Norden ist mir entglitten,
doch soll der Süden nicht mehr darunter leiden als nötig. Nach der
Ausführung meines Plans werden sie von Norden her in Scharen
kommen; doch sie werden nicht als Heer auftreten, sondern als
plündernde Flüchtlinge. Darauf sollt ihr vorbereitet sein. Ich
werde das Eis herbeiholen und die Brut des Teufels vernichten.
Sorgt ihr dafür, daß die Fliehenden entwaffnet werden und verschifft sie dann auf den unbewohnten Kontinent im Westen, damit
191
sie sich nicht so schnell erholen.“
Dann ließ ich die wichtigsten Ordensvertreter zusammen rufen
und leitete sie an, die geeigneten Maßnahmen für die kommende
Veränderung des Klimas zu treffen. Ich fühlte mich innerlich stark
aufgewühlt und natürlich sehr erbost. Vor allem über mich selbst,
da ich die Entwicklung des Bösen offensichtlich unterschätzt
hatte.
Um für spätere Generationen Informationen parat zu haben, damit sich dies nicht wiederholen konnte, konzentrierte ich mich auf
den Norden. Ich wollte erfahren, wie diese Menschen zu solch
häßlichen Bewußtseinsinhalten gekommen waren. Ich schlüpfte in
das Bewußtsein des obersten Dieners des Teufels und erschrak.
Eine nie für möglich gehaltene Ausuferung von Bosheit und
Haß auf die Menschen fand ich vor. Wäre er nicht von menschlicher Gestalt gewesen, ich hätte ihn garantiert für den Teufel selbst
gehalten. In seinem Denken besaß das Auslöschen von Leben
noch nicht einmal oberste Priorität, sondern das Foltern und Quälen, vor allem den Schmerz, den es galt anderen zuzufügen.
Um ein Haar wäre ich in eine Falle getappt, denn anscheinend
war man auf meinen Besuch vorbereitet. Der Herrscher des Bösen
verließ den Raum, in dem ich ihn angetroffen hatte. Aus Neugier
über die Ansichten seiner Untergebenen versetzte ich mich in das
Bewußtsein eines an der Tür stehenden Wächters. Der dachte nur
an eines: ,Geht er in die Falle, geht er da rein?' Ich schaute mit
seinen Augen auf den Herrscher, der in diesem Moment einen Käfig betrat und die Tür hinter sich schloß.
„Wir haben ihn, wir haben ihn!“, triumphierte der Wächter und
die anderen Anwesenden jubelten ebenfalls. Erst beim genaueren
Überprüfen ihrer Gedanken stellte ich fest, was sie meinten. Die
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Sekte der Diener des Teufels hatte unter Anleitung der bösen
Geister einen Käfig gebaut, der keine mentale Energie durchließ.
Anscheinend hatte man ihn so gut geschult, daß er meine
Anwesenheit zweifelsfrei erkennen konnte. Der Herrscher war in
der Lage ohne sich etwas anmerken zu lassen, sofort bei meinem
Eintritt in sein Bewußtsein den Käfig aufzusuchen, um mich in
ihm darin gefangen zu nehmen.
Dabei hatte der oberste Diener des Teufels bereitwillig die
Rolle des Köders und Opfers gespielt. Der Käfig konnte von innen
nicht geöffnet werden und die Untergebenen hatten den Befehl,
egal was der Herrscher sagte, nachdem er erst einmal in den Käfig
gegangen war, ihn nicht wieder heraus zu lassen. Die Belohnung
die sein Herr der Teufel ihm für diese Tat versprochen hatte mußte riesig gewesen sein.
Ich dankte Gott für seine Unterstützung, denn niemand sonst
hätte mich vor diesem Hinterhalt schützen können. Augenblicklich verschwand ich mit meiner Konzentration aus dieser unheilvollen Gegend, denn vermutlich hatte sich die Sekte noch andere
Teufeleien ausgedacht, um meiner habhaft zu werden. Noch nie auch nicht als Mensch - hatte ich so einen Groll empfunden. Ich
wußte schon, daß man nicht in Wut irgendwelche Handlungen beginnen sollte, doch mein Plan war bereits fertig und letztlich war
es mir jetzt ganz egal.
Konzentriert auf meinen Körper begann ich mit den Vorbereitungen für das Vorhaben. Meeresströmungen mußten umgeleitet werden, ausgelöst durch Abschmelzen riesiger Mengen Eis.
Schon nach zwei Erdumdrehungen um die Sonne hatte ich den
Anfang geschafft, das Klima kippte um und sofort begann das Eis
des Nordpols sich auszubreiten und nach Süden zu wandern. In193
nerhalb von zwei Monaten nach dem Ausbleiben der warmen
Meeresströmungen, die bis dahin den Sommer und das Seeklima
im Norden bewirkten, begann der unerbittliche Winter und die
Temperaturen sanken auf minus zwanzig Grad und darunter. Im
nächsten Winter laut Kalender unterschritten sie sogar minus
sechzig Grad und es schneite fortwährend.
In den Städten der Barbaren brach heillose Panik aus. Zu
tausenden flohen sie vorwiegend ungeordnet gen Süden. Selbst
ihre Teufelsanbeter konnten weder die Katastrophe verhindern,
noch die Flüchtigen zur Ordnung bringen.
Auf die fliehenden Gruppen vorbereitet nahmen die südlichen
Soldaten sie in Empfang, entwaffneten sie und brachten sie alle in
einen Hafen im Westen. Dort wurden innerhalb von drei Monaten
hunderttausende verfrachtet und auf den unbewohnten westlichen
Kontinent geschickt. Durch Hungersnöte und Krankheiten dezimiert, überlebten rund vierhunderttausend der Nordländer diese
spontane, durch mein Eingreifen ausgelöste Eiszeit.
Die Metropolen des Nordens wurden allesamt von den Eismassen überrollt und nur ganz wenige hartgesottene überlebten
dieses Klima. Dazu gehörten ausschließlich die vereinzelt
lebenden Gruppen, die sich zuallererst von meinen geschützten
Siedlungen entfernt hatten. Es war mir ein besonderes Bedürfnis
ihnen so gut ich es vermochte zu helfen, denn schließlich sollten
sie nicht leidtragende meines Zorns werden.
Das Eis stoppte an der südlichen Grenze des nördlichen Territoriums, tausend Kilometer von den Südstaaten entfernt. Auch
dort hatte sich das Klima geändert und einige Kinder konnten zum
ersten Mal in ihrem Leben mit Schneebällen werfen. Es kam keine
lebensbedrohende Situation auf, die Vorbereitungen gerade be194
züglich der Umstellung der Landwirtschaft trugen ihre Früchte.
Die Eiszeit würde etwa zweitausend Jahr anhalten und für die Natur selbst war dieses regelmäßig wiederkehrende Geschehen wie
ein Reinigungsprozeß.
Ich hatte auch keinerlei Bedenken wegen meines willkürlichen
Vorgehens in den Rhythmus der Natur, mein Eingreifen beinhaltete lediglich eine kleine zeitliche Änderung im gesamten Werdegang meines Körpers. Eines konnte ich mit Sicherheit sagen um
verbliebene Restzweifel an meinem Handeln endgültig zu
zerstreuen: Hätte ich nicht eingegriffen und die Nordländer weiter
gewähren lassen, wäre es noch schlimmer gekommen.
Die Entwicklung in den südlichen Staaten stagnierte keineswegs, nachdem die Bedrohung des Nordens aufgehoben war. Im
Gegenteil, diese neue Herausforderung durch die Natur bedingt
stärkte sie eher. Wenn sich das Eis aus dem Norden wieder zurück
zieht, würde der entstehende Lebensraum bei der Ausbreitung
meines Volkes sehr nützlich sein. Mit Wohlwollen betrachtete ich
das Werden meiner bevorzugten Gefolgsleute und entließ sie für
einige Jahre aus meiner direkten Beobachtung.
Neugierig auf die Entwicklung der Nordländer in ihrer neuen
Heimat suchte ich sie auf. Sie mußten sich zuerst mit der unbekannten Wildnis zurecht finden, da der westliche Kontinent durch
seine geographische Lage zu einem Drittel aus Urwald bestand.
Die Schiffe hatten sie an einer Stelle zwischen den Klimazonen
abgesetzt, damit sie sich entscheiden konnten, wo sie ihren
Lebensraum einrichteten. Schließlich entschieden sie sich dafür,
in der Nähe des Meeres zu bleiben und verbrachten die ersten
zwei Generationen damit, das Überleben zu sichern. Von den
195
technischen Errungenschaften hatten sie nur wenig mitnehmen
können und bei der heillosen Flucht hatte auch niemand daran gedacht Pläne einzustecken, um den Neuanfang zu erleichtern.
Sie fielen zurück auf den Status eines Entwicklungslandes und
würden sicher hunderte Jahre brauchen um sich zu erholen. Die
Sekte der Teufelsanbeter verlor ihre Macht gänzlich, denn niemand schenkte ihnen mehr Glauben, weil ihr Herrscher sie nicht
hatte schützen können vor diesem Zusammenbruch. Bei meinen
Nachforschungen fand ich keinen der Anführer und auch die Familie des obersten Dieners schien umgekommen zu sein.
Ich war einigermaßen beruhigt und vermutete, es würde sich
vielleicht sogar eine neue Machtstruktur durchsetzen. In dieser
Zeit fand man wenig Muße sich um Politik zu kümmern, doch
zwangsläufig würde sich die Gemeinschaft mit diesen Dingen
auseinander setzen müssen. Daß die Teufelsanbeter im Untergrund ihr Wissen weitergeben schien unvermeidlich, doch
mußte der Herrscher der Finsternis Menschen finden, die er beeinflussen konnte, was im Moment in dieser Phase des Wiederaufbaus nicht gegeben war.
Mit der Zeit wurde deutlich, wie tief der Schock der Niederlage
in den Gedanken dieser Menschen lag. Teilweise zogen sich
vereinzelte Gruppen sogar ganz aus der Gemeinschaft zurück, um
nicht an die Vergangenheit erinnert zu werden. Obwohl ich zuerst
keinen Einfluß mehr auf die Menschen ausüben wollte, konnte ich
es nicht unterlassen hier und da an das alte Glaubensmodell zu erinnern und tatsächlich bildete sich einige Generationen später der
Orden neu. Sehr zaghaft mit viel Rücksichtnahme auf die verletzten Seelen begann er mit seiner Arbeit und ich konnte beobachten,
wie sich langsam wieder friedliche Gedankeninhalte formten.
196
Sie sollten sich in Ruhe weiter entwickeln, eine stärkere
Einflußnahme meinerseits hielt ich in dieser Phase für unangebracht, weshalb ich sie nach fünfhundert Jahren wieder verließ. Es
wurde Zeit um bei meinem bevorzugten Volk nach dem Rechten
zu schauen.
Abgesehen davon, daß die Gesamtbevölkerung auf über
vierhundert Millionen angewachsen war, was mich einerseits zufrieden stellte, hatte sich eine Stimmung unter den Menschen verbreitet, die mir gar nicht gefiel. Zum Einen hielten sie die
Verteidigungsanlagen nicht mehr besetzt, was zu einem Verfall
der Einrichtungen führte. Trotz meines gegenteiligen Rates glaubten sie mittlerweile keine Feinde mehr zu haben. Aus diesem
Grund ließ auch ihre Aufmerksamkeit bezüglich der Beobachtung
innerhalb der Gesellschaft nach.
Das hatte fatale Folgen wie ich feststellen konnte, als ich in
verschiedenen Städten die Gedanken der Leute überprüfte. Es war
nicht nur eine Abnutzung der Motivation zu erkennen, die allgemein Erscheinungen von Dekadenz aufkommen ließ, sondern viel
schlimmeres hatte inzwischen Fuß gefaßt. Bei der Flucht der
Nordländer mußte es einigen von ihnen gelungen sein, sich unerkannt unter das Volk der Südländer zu mischen.
Vielleicht hatten sie sich eine Weile versteckt und waren dann
erst nach und nach heimlich in die Städte gekommen. Mit welchen
Tricks auch immer, es gelang ihnen sich in einer nicht geringen
Anzahl innerhalb des südlichen Territoriums zu etablieren. Sie
bauten ein Netz im Untergrund auf und gewannen im Laufe der
Zeit immer mehr Anhänger. Sie verschlossen ihre religiösen Neigungen vor der Öffentlichkeit und gewannen an Einfluß, in dem
sie mehr und mehr ihre Mitglieder in Führungspositionen brach197
ten.
Dann begannen sie das Volk aufzuwiegeln und Zwietracht zu
säen. Dadurch daß die Menschen nicht mehr so vorsichtig gegenüber Anfeindungen waren und auch sonst die Widerstandskräfte
erlahmten, fanden die Aufrührer nahrhaften Boden. Zu dem Zeitpunkt, als ich meine Konzentration wieder auf das südliche Gebiet
legte, war es eigentlich schon zu spät, etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen.
Im Orden hatte sich eine Opposition aufgestellt, die sich nicht
scheute offen meine Glaubenslehre anzuzweifeln. Sie predigten
unverfroren, daß der große Geist ein Freund des Teufels sei, der
seinen Anhängern auf dem westlichen Kontinent behilflich sei,
um neue Macht zu erlangen. Sie führten noch weitere Belege an,
für ein in ihren Augen berechtigtes Mißtrauen gegen mich. Zum
Beispiel verbreiteten sie die Meinung, daß ich ihnen die wahren
und ultimativen technischen Errungenschaften vorenthalten
würde, damit sie nicht so mächtig würden.
Was sollte ich machen? Das Mißtrauen war gesät und tatsächlich trug es schon bald Früchte. Noch einige Generationen beobachtete ich enttäuscht, wie es sich fortan entwickelte ohne direkt Einfluß zu nehmen. Die Opposition übernahm schon bald die
Macht und verkündete dem Volk, daß nichts anderes mehr den
Untergang aufhalten könnte, als mir zu entsagen. Während dessen
ging der Fortschritt unaufhaltsam voran.
Das Eis im Norden hatte noch nicht den Rückzug angetreten
und die Versorgung war keineswegs stabil, doch katapultierten revolutionäre Erfindungen die gesamte Menschheit in ein neues
Zeitalter. Daraus resultierten einschneidende Änderungen, die
letztlich das gesamte Glaubensmodell zu einem Ammenmärchen
198
verkommen ließ. Des weiteren vergrößerte man die Anstrengungen den Weltraum zu erobern. Denn dort, so die falschen
Propheten, wären die technischen Errungenschaften zu finden, die
ich ihnen versagte.
Ich fühlte mich müde und entmutigt. Mein jahrmillionen langes
Wirken hatte dieses Resultat hervorgebracht, daß zwar den
technischen Standart erreichte den ich anstrebte, aber die Denkweisen der Menschen weit von dem entfernt hatte, wie ich es mir
wünschte. Ohne weiteres Zögern zog ich mich für fünfhundert
Jahre aus der Beobachtung der Menschen zurück.
Enttäuscht aber keineswegs zornig erörterte ich, wie es weitergehen sollte. Noch zählte ich zu den jungen Planeten und selbst
die Rasse Mensch befand sich eigentlich noch in den Anfängen
ihrer Entwicklungsgeschichte. Konnte ich mir sicher sein, daß die
natürlichen
Gesetzmäßigkeiten
meines
Körpers
diese
Menschheitsepoche wieder von der Oberfläche verschwinden
ließ?
Meinen Humor wiederfindend verglich ich die jetzige Zeit einschließlich ihrer denkenden Kreaturen mit einem Hautausschlag
auf einem menschlichen Körper. Doch welche Medizin half
dagegen? Dabei stufte ich das Jucken, daß ich mir anscheinend
einbildete im Rahmen des Verträglichen ein.
Doch es blieb nicht beim Juckreiz; obwohl ich das Kratzen unterließ, entzündete sich der Ausschlag und wurde zur ernst zu
nehmenden bedrohlichen Krankheit, deren Auswirkungen auf
andere Körper nach einer gewissen Zeit nicht mehr auszuschließen war.
Nach einer Weile des Abwägen zwischen Selbstvorwürfen und
Selbstmitleid spürte ich immer häufiger Raumschiffe von meiner
199
Oberfläche starten. Ihr eifriges Bemühen den Weltraum zu
erkunden wurde deutlich. Erst beobachtete ich neugierig ihre Fortschritte, dann wollte ich doch lieber wissen, welche Motive sie
wirklich antrieb.
Dann schaltete ich mich erstmals wieder in die Bewußtseinsinhalte der Menschen ein. Was ich allerdings wahr nehmen mußte,
übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Wieder hatte es Blockbildungen gegeben. Die inzwischen auf zehn Milliarden angewachsene Bevölkerung teilte sich in drei Machtzentren auf, die
sich alle zu übertreffen suchten in Bosheit und Haß. Jetzt konnte
ich mir auch das körperliche Empfinden des Juckreizes erklären,
daß ganz und gar nichts mit Einbildung zu tun hatte.
Es war keineswegs ein rein metaphysisches Gefühl, wie ich
anfangs glaubte, sondern resultierte in Wirklichkeit durch die
Ausbeutung der Ressourcen, der Vernichtung des Öku-Systems
und unzähliger bekannter und unbekannter Umweltsünden. Dem
gegenüber konnten die Verfehlungen der Menschen aus meinem
früheren Leben als Kinderkram bezeichnet werden.
Doch das war noch lange nicht alles. In den Bewußtseinsinhalten hatten sich Zielsetzungen eingenistet, die sich auf Eroberung
und Unterwerfung anderer Planeten ausrichteten. ,Meine lieben
Nachbarn,' dachte ich, ,was ihr befürchtet habt, steht kurz davor
Realität zu werden'. Ich schämte mich über alle Maßen über mich
selbst.
Ob nun diese unhaltbaren Zustände aus meiner naiven aber
ehrgeizigen Grundeinstellung oder durch dilettantisches Angehen
der gestellten Aufgabe unter zur Hilfenahme meiner Erinnerung
an das vorherige Leben entstand, schien mir nicht mehr von Belang. Vielleicht hatte ich einfach nur die Macht des Teufels un200
terschätzt. Doch bei längerem Nachdenken kam mir dieses Argument wie eine Entschuldigung meiner eigenen Schwäche vor und
ich verwarf es wieder.
Auf keinen Fall wollte ich diese entarteten Wesen weiter machen lassen, das war ich mir schon meinem Stolz gegenüber
schuldig. Sollte ich sie einfach vernichten? Würden meine
Möglichkeiten überhaupt noch ausreichen ohne selbst Schaden zu
nehmen, die Menschheit so weit zu dezimieren, daß ein Neuanfang folgen konnte? Ich ging davon aus, sie hatten sich längst
auf eine solche Attacke meinerseits vorbereitet und hatten ihre
Geschicklichkeit genutzt sich zu wappnen. Keine Naturkatastrophe konnte groß genug sein, sie zurück auf den Nullpunkt zu
werfen. Und waren nicht alle bisherigen Versuche meinerseits gescheitert, Frieden und gemeinsames Vorgehen durchzusetzen?
Hatten sich nicht immer wieder nach einem Genesungsprozeß aus
winzigen Zellen Böses neu gebildet und im Laufe der Zeit alles
gesunde überwuchert? Plötzlich war ich mir sicher, es wäre egal,
wie ich es auch anpackte, das Resultat würde immer das gleiche
bleiben.
Auf einmal drängte die Zeit und all meine Überlegungen, egal
von welcher Seite ich sie durchführte endeten bei der einzig verbliebenen Möglichkeit: Ich mußte mich selbst vernichten, wollte
ich nicht zulassen andere Planeten in Mitleidenschaft zu ziehen.
In kurzer Zeit legte ich einen Plan zurecht, wie ich vorzugehen
gedachte. Dazu wollte ich die technischen Fortschritte der
Menschheit gegen mich selbst einsetzen.
Zuerst beeinflußte ich einige Piloten der übermäßig bewaffneten Raumschiffe. Sie erhielten die Order, die drei großen äußeren
Planeten meines Sonnensystems zu sprengen. Nachdem dies voll201
bracht war und die betroffenen Fixsterne in tausende Bruchstücke
zerfielen, begannen sie mit dem Rücksturz in die Sonne. Dabei
kollidierten sie mit den inneren Planeten und warfen diese aus ihrer Bahn. Nur mich selbst trafen sie nicht, was vor allem an den
Maßnahmen der alarmierten Menschen lag, die die gefährlich nahen Brocken rechtzeitig zerstörten.
Ein Anflug von Panik machte sich in mir breit und ich vergrößerte meine Anstrengung. Die Menschen hatten nun die Raumflüge eingestellt, um mir nicht noch weitere Gelegenheiten für
meinen Vernichtungsfeldzug zu geben. Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft versuchte ich mich selbst zu bewegen. Zuerst gelang es mir, den Mond aus seiner Bahn zu katapultieren; er
verschwand kurze Zeit später in den Tiefen des Weltraums.
Mich selbst warf das Manöver so weit aus der Bahn, daß auch
ich von der Anziehungskraft der Sonne eingefangen wurde und
wie die Brocken der Fixsterne den endgültig letzten Weg antrat.
Zu diesem Zeitpunkt lebte kein Mensch mehr auf meiner Oberfläche; alles Leben auf meinem Körper verschwand. Mit mir selbst
zufrieden wenigstens außerhalb meines Sonnensystems keinen
Schaden angerichtet zu haben, verfolgte ich geduldig den Fall
meines Körpers in den letzten hunderttausend Jahren seiner
Existenz, bis er mit dem Zentralgestirn verschmolz.
Eigentlich hatte ich erwartet, mein Denken würde mit diesem
Zeitpunkt aufhören. Noch in den letzten Jahren vor dem Zusammenstoß wunderte ich mich, warum ich keine körperlichen
Empfindungen mehr hatte. Es wurde nur dadurch einigermaßen
verständlich, weil ich den nahen Tod vor Augen hatte und aus
meiner Erinnerung als Mensch wußte, wie sich der Körper auf das
202
sichere nahe Ende einstellt.
Einmal mehr hatte ich mich getäuscht und dachte kurz daran,
wie oft dies, auf Grund meiner Fähigkeit mich an ein früheres
Leben zu erinnern, im Laufe meines Planetenlebens passiert war.
Dieser Körper existierte nicht mehr und sämtliche Sensoren mit
ihm, trotzdem dachte ich immer noch.
Natürlich reichten auch jetzt meine Kenntnisse - von Erfahrungen wagte ich überhaupt nicht mehr zu reden - bei weitem
nicht aus, die folgenden Prozesse zu verstehen, geschweige denn
voraus zu ahnen. Inzwischen waren die Massenanteile von acht
Himmelskörpern in die Sonne zurück gestürzt. Im Verhältnis zur
Gesamtgröße des Zentralgestirns zwar nur ein Bruchteil, aber
dennoch ausreichend ihn zum Kollabieren zu bringen. Die Sonne
blähte sich in kurzer Zeit durch die Wirkung der zunehmenden
Hitze enorm auf; ich dachte schon, sie würde jeden Moment auseinander platzen. Doch dann - wie ich später erfuhr, hatte sich bereits Antimaterie im Kern gebildet - stürzte sie in sich zusammen.
Innerhalb von hunderttausend Jahren wandelte sich die gesamte
Implusionsenergie in Antimaterie um und ein schwarzes Loch entstand. Dadurch wurde ein Prozeß in Gang gesetzt, der mir heillosen Schrecken bereitete. Es begann erst allmählich, um nach
und nach zu einem richtigen Sturm anzuwachsen. Eigentlich war
es mehr ein aufsaugen, denn benachbarte Sonnensysteme wurden
vom schwarzen Loch angezogen und dann näherten sich auch
weiter entfernte. Wie ein Mahlstrom im Meer - warum ich mich
gerade jetzt an eine Erzählung von Lovcraft erinnerte wußte ich
selbst nicht - verschwand immer mehr Materie in diesem
schwarzen Loch. Ich spürte die Todeserwartung sämtlicher betroffener Planetengeister in teilweise panischem Entsetzen, die mich
203
allerdings mit Verachtung straften und bewußt ignorierten.
Warum konnte ich diese Geschehnisse überhaupt wahrnehmen,
wo ich doch keinen Körper und also auch keine Sensoren mehr
besaß? Dieser Gedanke versetzte mich mehr in Panik, als daß ich
Zufriedenheit über meine anscheinend noch vorhandene Existenz
empfand. Doch dann vernahm ich plötzlich eine Stimme in mir,
die mit den Gedankenmustern der Planetengeister nicht vergleichbar war. Sofort wußte ich, es handelt sich um ein Geistwesen. An
der Reinheit und von mir empfundenen Helligkeit erkannte ich sie
als Engel Gottes. ,Jetzt kommst du in den Himmel,' dachte ich als
erstes und freute mich sogar darüber, denn nach meiner Einschätzung wäre die Hölle eher für mich zuständig, nach all den
Verfehlungen.
Sie sagte: „Nun bewahrheitet sich das, was wir dir schon früher
angekündigt hatten. Dieser Teil der Galaxis wird in dem
schwarzen Loch verschwinden und dieses Raum-Zeit-Kontinuum
für immer verlassen. Auch du wirst hinüber gehen in ein paralleles
Universum. Gottes Plan hat sich erfüllt. Du hast deine Rolle entsprechend deinen Möglichkeiten gut gespielt. Sei nicht verzagt,
denn auch wenn du einige Fehler gemacht hast, du hättest die
Entwicklung nicht aufhalten können. Wenn dir deine Rolle im
Plan Gottes nicht gefällt sei getröstet, auch du wirst wieder zu ihm
zurückkehren - aber erst wesentlich später.
Durch deinen Selbstmord - oder wenn du willst Opfer - hast du
dir das Privileg verdient, weiterhin mit Körper leben zu müssen.
Wir Engel empfinden das übrigens als Strafe. Denn nach unserem
Wissen sollte es das Ziel jedes Geistes sein Leben so positiv zu
gestalten, daß er nicht mehr zurück in einen Körper muß. Du wirst
auf der anderen Seite kein Planet mehr sein, sondern eine ganze
204
Galaxis. Behüte deine Kinder gut und bewahre dir den Glauben an
Gottes Werk. Dort drüben wirst du den Teufel wiederfinden, denn
er will auch in dem neu geschaffenen Universum seiner Bestimmung nachgehen.
Wie du gemerkt hast, kann er dich nicht beeinflussen. Für diese
Bevorzugung mußten wir guten Geister unsererseits auf eine Einmischung verzichten. Letztendlich geht es nur um eines: Die sündigen Seelen müssen gereinigt werden. Dies kann nur in der
Existenzform des körperlichen Lebens vonstatten gehen. In den
Bewußtseinsinhalten aller denkenden Kreaturen tummeln sich
gute und böse Kräfte und nur der freie Wille des Individuums entscheidet, welche von beiden bevorzugt werden. Schaffen sie es
ihre Sünden zu erkennen und sich unnachgiebig für das Gute zu
entscheiden, werden sie nicht mehr in einen Körper zurück
müssen. Schaffen sie es nicht, werden sie wiedergeboren.
Genau diese Aufgabe hatte Gott dir übertragen, nämlich neuen
Raum zu schaffen, damit die auf Erlösung wartenden Seelen neue
Körper vorfinden. Die Macht des Teufels in diesem Universum
wurde zu groß und es entstand ein Stau im Wiedergeburtszyklus.
Zu wenige Seelen schafften den endgültigen Einzug in den
Himmel. Übrigens kennt der Teufel Gottes Plan und weiß, daß er
ihn letztlich nicht verhindern kann. Aber er kämpft bis zur letzten
Seele, um sich ihrer habhaft zu machen, denn seine Existenz ist
ausschließlich von dem Vorhandensein böser Kreaturen abhängig.
Als letzter Mosaikstein zum Verständnis deiner eigenen Geschichte sei dir gesagt: Es war ein Versehen, daß du nach deinem
Ableben als Mensch direkt als Planetengeist wiedergeboren
wurdest - wenigstens von unserer Seite aus. Im Nachhinein gehen
wir davon aus, daß Gott genau wußte, warum er dich nicht zum
205
Ausruhen in den Zwischenhimmel gelassen hat, dort wo die
Seelen auf die Wiedergeburt warten. Dafür hattest du den Vorteil,
dich an dein menschliches Leben erinnern zu können.
Nun wünschen wir weiterhin Gottes Segen; drüben werden die
guten Engel ebenfalls keinen Kontakt mit dir herstellen dürfen aber Gott wacht über dich. Hast du noch Fragen?“
Tausende Fragen quollen hervor, doch konnte ich sie nicht alle
so schnell formulieren. Doch eine sprach ich sofort aus, als ich ihrer gewahr wurde: „Wo ist denn Jesus? In meiner Welt als
Mensch hat er denke ich viele Seelen gerettet.“
„Ja, er ist der Meister. Aber du kannst dich sicher an den Begriff ,Vollbeschäftigung' erinnern. Es müßte tausende von ihm geben, damit die Macht des Teufels in der Galaxis entscheidend eingedämmt würde. Vor und nach seinem Besuch auf der Erde hat er
hunderte anderer Planeten in der selben Form aufgesucht und
überall wo er hin kam Segen gebracht. Aber es gibt ihn nur einmal. Sein Bruder hat es da viel einfacher, denn die Menschen fühlen sich überall in der Galaxis magisch von ihm und seinen Versprechungen angezogen.
Du hast ja selbst schon zweimal erlebt, wie die Kreaturen vor
seiner Pforte Schlange stehen. Wir guten Engel können uns nicht
über den selben Zuwachs erfreuen, wie es der Teufel kann. Die
Aussichten die Jesus und wir - seine Diener - den Menschen
bieten können sind Enthaltsamkeit, Opfer und Entbehrungen,
wobei das damit verbundene Seelenheil für materielle Wesen all
zu fiktiv erscheint. Der Herrscher der Finsternis bietet Wohlstand
und Macht dafür, das man Gottes Geboten entsagt. Es ist eine
wahrlich große Herausforderung dem zu widerstehen.
Und noch eines, als Quintessenz aller Lehren. Nicht das Leben
206
des gerade zur Verfügung stehenden Körpers genießt in Gottes
Augen höchste Priorität, sondern die Liebe. Auch wenn die Menschen den Körper als Heimstatt zum Tragen des Geistes als Gottes
Geschenk erhalten haben. Sie müssen ihn bewahren und schützen
- der Überlebenstrieb ist körpereigen und es ist mit harter Strafe
zu rechnen, wer aus Feigheit oder Selbstsucht seine Heimstatt vernichtet. Aber die Liebe steht darüber, weshalb wir deine Entscheidung deinen Körper zu zerstören achten, anstatt deinen Nachbarn
den Dienern des Teufels auszuliefern. Und nun lebe wohl, dein
neuer Körper wartet.“
207
208
S., 2004
4. Sieglinde
Unter all den Kindern mit den schweren Schulranzen auf dem
Rücken, die sich kreischend aus der Schule stürmend auf den
Heimweg machten befand sich eines mit dem Namen Sieglinde.
Sie beteiligte sich nicht am allgemeinen Geschrei, erstens weil sie
kein Junge war, denn die verhielten sich immer am Lautesten und
zweitens, weil sie sowieso mehr in sich gekehrt lebte und wenig
Interesse am Gruppenverhalten verspürte.
Bestimmt konnte man sie nicht als häßliches Kind bezeichnen,
eher schon als durchschnittlich aussehend, aber sie selbst fand
sich weniger schön. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie
sich von den Mädchencliquen fern hielt, deren Gesprächsthemen
und Gebaren sich hauptsächlich ums Aussehen drehte, um Haarklammern und schöne Kleider.
Da sie sich aus allem raus hielt und mit keinem längere Kontakte pflegte, wurde sie natürlich auch als Außenseiter behandelt.
Als achtjähriges Mädchen hat man da ganz schön zu leiden, wenn
man das Ziel von Schmähungen, Spott und manch übler Streiche
ist.
Sieglinde ließ das kalt. Sie steckte diese Anfeindungen mal mit
Gelassenheit, mal mit Trotz weg. An Revanchieren dachte sie
schon lange nicht mehr. Früher hatte sie sich vehement zur Wehr
209
gesetzt, doch jetzt mit den Erfahrungen der Vergangenheit im
Hinterkopf wußte sie, daß jede Gegenwehr die anderen nur noch
mehr anstachelten im Erfinden von Boshaftigkeiten und Hetze
gegen sie.
Sie mochte die Jungen aus ihrer Klasse nicht besonders, weil es
teilweise schlimme Flegel waren oder schon früh erkennbare Machos. Aber die Mädchen haßte sie und im Grunde haßte sie es,
selbst ein Mädchen zu sein.
Wie jedesmal ging sie auch an diesem Tag den Schulweg allein
nach Hause. Das war eine ihrer Lieblingszeiten des Tages, allein
zu sein, zu trödeln und sich an Dingen zu erfreuen, die andere
noch nicht einmal wahr nahmen. Zum Beispiel blieb sie jeden Tag
auf der Brücke eines Flusses stehen und starrte minutenlang auf
das Wasser. Wie schön sich die Wellen kräuselten, wie mächtig
sah es aus, wenn sich Strudel bildeten und gewaltig kam ihr die
Kraft vor, die in diesen Massen von Wasser steckten.
Ab und zu träumte sie ein Wassertropfen zu sein, der mitgerissen wurde von den Fluten des Stromes auf seinem langen
Weg an vielen schönen Wiesen und Wäldern vorbei. Manchmal
versank sie so tief in die Betrachtung des Flusses, daß sie alles um
sich herum vergaß, um dann zu Hause geschimpft zu bekommen,
wo sie denn so lange gewesen sei.
An jenem Tag blieb sie nur kurz an ihrem Lieblingsort, spukte
zum Abschied noch mal hinein in den Fluß und war zufrieden, etwas zu seiner Größe beigetragen zu haben. Vom Fluß aus ging es
berghoch in die Siedlung, wo das Haus ihrer Eltern stand. Der
Ranzen drückte und die warme Mittagssonne trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn.
Auf der Hälfte des Anstiegs hatte sie plötzlich einen Einfall,
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der sie sogar zum Stehenbleiben brachte - so überwältigend nahm
er sie in Beschlag. ,Stell' dir doch nur mal vor,' dachte sie bei sich,
,die Welt und alle Menschen, die darauf leben wären gar nicht real. Sie glaubten das nur, weil man ihnen die Möglichkeit dazu
gegeben hat. Stell' dir vor, das ganze Leben wäre nur ein Experiment, durchgeführt von einer riesengroßen Rasse, die diese Welt
in einem Retortenglas gezüchtet hat und plötzlich sagen die: ,Na
ja, jetzt ist es genug,' und schütten dann das Gläschen in den Abguß. Dann ist alles vorbei und keiner hätte mehr Zeit darüber
nachzudenken, daß man mal glaubte gelebt zu haben.'
Das war das erste einschneidende Erlebnis des jungen Mädchens auf ihrem Weg zu einem mysteriösen Leben. In diesem
Moment erschreckte sie keineswegs wegen dieses gerade erdachten Tagtraums, sondern eher amüsierte sie sich und ganz im
Stillen hoffte sie, das Gläschen würde tatsächlich bald ausgeschüttet. Für ihr späteres Leben blieb durch diese Vorstellung die
Überzeugung haften, daß die überall und von jedem bestätigte
Realität durchaus eine Einbildung sein könnte.
Bei ihr zu Hause ging es mal so und mal so. Sieglinde fand Ihre
Mutter häufig ätzend, vor allem wenn sie schimpfte, wie zum Beispiel: ,Zieh doch mal ein Kleid an,' oder: ,Wie sehen deine Haare
denn schon wieder aus?' Wenn sie nicht an ihr rum nörgelte, kam
sie gut mit ihr zurecht, dann war ihre Mutter ganz in Ordnung.
Richtig Streit gab es, wenn sie ihr Zimmer aufräumen sollte.
,Warum muß immer alles an einem bestimmten Platz sein', fragte
sie sich dann, ,man findet doch die Sachen viel besser, wenn sie
auf dem Boden liegen, wo man sie hingeschmissen hat.' Ihr Kommentar zum Schreibtisch, den ihr Mutter immer Müllhalde nannte
211
lautete: „Wozu soll man immer alles in die Schubladen räumen,
wenn man es doch wieder raus holen muß?“ Sie war der Ansicht,
daß die Erwachsenen diese einfachen Dinge nie begreifen würden.
Von ihrem älteren Bruder Alexander bekam sie zu ihrem letzten Geburtstag ein Poster geschenkt, wofür sie ihm sehr dankbar
war und das jetzt direkt vor dem Schreibtisch an der Wand hing.
Mit großen Buchstaben stand darauf: Das Genie überblickt das
Chaos.
Was ihre Mutter auch nicht verstand war, warum Sieglinde
keinen Spiegel in ihrem Zimmer haben wollte. „Mädchen müssen
sich doch mal schön machen,“ sagte sie zu ihrer Tochter und die
antwortete nur: „Warum soll ich mich denn andauernd anstarren?
Nee, der Spiegel im Badezimmer reicht.“
Ihren Vater mochte sie allerdings recht gerne. Leider kam er
meist erst spät nach Hause. Mit ihm konnte sie sogar albern sein
und auch kuscheln, was mit ihrer Mutter schon lange nicht mehr
ging.
Ihr kleinerer Bruder Benjamin neckte sie öfters, vor allem
wegen ihrer schwarzen krausen Haare, die oft ungepflegt einer
Bürste harrten. „Struwelliese, Struwelliese,“ rief er dann. Doch
den ,Hosenschisser', wie sie ihn nannte, konnte sie sowieso nicht
leiden. In ihren Augen war er ein verhätschelter kleiner Bubi, der
alles durfte und nie geschimpft bekam.
Mit Alex verstand sie sich viel besser. Er war drei Jahre älter
als sie und beschützte sie in diesen Jahren vor allzu frechen
anderen Kindern. Das hörte allerdings auf, als er fünfzehn wurde
und jede freie Minute zum Fußball ging. Aber da brauchte sie
keinen Beschützer mehr, denn mit zwölf war sie schon recht selbständig.
212
Zu dieser Zeit ging ihre Mutter tags über arbeiten, wegen des
Zweitwagens, wie sie sagte, wobei die Kinder ihre Hausaufgaben
allein machen mußten. Sieglinde besuchte im zweiten Jahr die Realschule. Nachmittags, wenn Alex auf dem Fußballplatz mit seinen Freunden spielte, war Sieglinde mit Benjamin allein zu
Hause. Sie hatte die Aufgabe übernehmen müssen, nach ihrem
drei Jahre jüngeren Bruder zu schauen, wenn er Probleme mit den
Hausaufgaben bekam.
Seit er auch zur Schule ging, war er wesentlich ruhiger geworden und ließ Sieglinde meist in Ruhe. So war das Mädchen
kurz vor ihrer zweiten pupertären Phase oft allein. Sie ging nur
selten raus zum Spielen mit den anderen, die ihr durchweg viel zu
doof waren. Sie lag lieber auf ihrem Flokati und träumte vor sich
hin.
An ihrem dreizehnten Geburtstag bekam sie eine kleine Stereoanlage geschenkt und ab da hing sie nur noch in ihrem Zimmer.
Einige Wochen danach begann die Krise, ausgelöst durch Träume,
die sich zuerst als Alpträume zeigten und später zu regelmäßigen,
unglaublich tief greifenden Erlebnissen der Nacht wurden.
Die Phase der Alpträume hielt etwa zwei Monate an. Schon
nach dem ersten dieser Horrorerlebnisse im Schlaf entwickelte sie
eine wahnsinnige Angst vorm Einschlafen. Natürlich ließ sich das
letztlich nicht verhindern, doch sie unternahm krampfhaft jede
Anstrengung, diesen Punkt so lange wie möglich hinaus zu zögern.
Sieglinde hatte noch nie jemanden um Hilfe gebeten, doch die
erdrückende Belastung veranlaßte sie in einer der vielen Nächte,
wo sie schreiend und schweißnaß aufwachte ins elterliche Schlaf213
zimmer zu gehen und sich einfach zwischen die beiden Eltern legte. Zum ersten Mal war auch ihr Vater wütend auf sie, weil er von
ihren nassen Klamotten wach wurde und brüllte sie an. Seit dem
konnte sie ihn auch nicht mehr leiden und versuchte allein mit
dem Problem fertig zu werden.
Ihre Leistungen in der Schule fielen rapide ab und als die Mutter zu einem Gespräch geladen wurde und wieder zu Hause
Sieglinde wegen der schlechten Noten schimpfte, sagte diese gar
nichts dazu. Weil die Alpträume auch durch das Schimpfen nicht
nachließen und von keiner Seite Hilfe in Aussicht stand, verlor
das Mädchen einfach die Kraft, gegen die Peinigung anzukämpfen.
Sieglinde wurde krank, magerte zusehend ab und wollte nicht
mehr aus dem Bett aufstehen. Der herbei geholte Arzt fand
allerdings keinen Grund für die Schwächung und empfahl, sie in
eine Kinderklinik zu überweisen. Das Mädchen bekam das Gefühl, eine Belastung für ihre Eltern zu sein, auch wenn diese sich
zu diesem Zeitpunkt gegen eine Einweisung aussprachen.
Eine weitere Woche verging und Sieglinde hatte das Sprechen
eingestellt; sie antwortete einfach nicht mehr, wenn sie etwas
gefragt wurde. Nur wenn Alex in ihr Zimmer kam redete sie, weil
er der Einzige war, zu dem sie Vertrauen hatte. Am Ende der Woche brachte er ihr einen selbst gepflückten Blumenstrauß mit,
worüber sie so glücklich war, daß ihr die Tränen die Wange runter
liefen.
„Was hast du denn, Schwesterlein,“ fragte er einfühlsam,
„kannst mir ruhig alles erzählen.“
Sie berichtete ihm von den Alpträumen und welche Angst sie
vorm Einschlafen hatte. „Weißt du, großer Bruder, jede Nacht
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kommt dieser schreckliche Mann. Manchmal lauert er mir einfach
irgendwo auf, aber ab und zu suche ich ihn sogar in irgendwelchen Höhlen oder in Löchern in der Erde. Wenn ich ihn dann
sehe, versuche ich wegzulaufen und komme nicht von der Stelle.
Es ist so schrecklich. Immer holt er mich ein und berührt mich
dann auf meiner linken Schulter. Dann schreie ich und schreie, bis
ich wach werde. Und dann will ich einfach nicht mehr einschlafen. Verstehst du das?“
„Ach Sieglinde, du Armes,“ er streichelte ihr über das krause
Haar. „Das geht von alleine wieder weg. Ich hatte früher auch
Alpträume und die sind von alleine weggegangen. Du mußt
dagegen kämpfen.“
„Ja, wie denn?“, fragte sie schluchzend.
„Ich weiß auch nicht, auf keinen Fall darfst du aufgeben.“
Das Gespräch mit ihrem Bruder brachte die entscheidende
Wende in diese Alptraumphase. Da war jemand, der sich Sorgen
um sie machte. Nicht so wie ihre Eltern; die machten sich doch
nur Sorgen um sich selbst und was die undankbare Tochter ihnen
antat.
Alexander gab ihr das Gefühl, daß nicht alle Menschen
schlecht sind und sie begann zu kämpfen. Sie fing an, in ihrem
müden Zustand über die Träume nachzudenken. Durch die Hoffnung bestärkt, die ihr Alex mitgegeben hatte wurde Sieglinde auf
einmal klar, daß eigentlich nur ihre Angst die Sache so schlimm
machte. Also mußte sie diese bekämpfen. Immer wieder wie eine
Litanei redete sie auf sich ein; „Du brauchst keine Angst zu
haben, es sind nur Träume. Du brauchst keine Angst zu haben, du
bist stärker als alle bösen Mächte des Traums.“
In der nächsten Nacht schien draußen der klare Vollmond. Sie
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redete solange auf sich ein, bis sie die Augen nicht mehr offen
halten konnte. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf. Sie träumte, sie
wäre auf dem Heimweg von der Schule. Kurz hinter der Brücke
am Fuß des Hügels der Siedlung ragte eine steile Felswand auf.
Unten direkt am Anfang der Bergstraße befand sich ein zugemauerter Eingang, wo sich früher im Krieg die Menschen vor den
Bomben versteckt hatten. Sie sah, daß die Ziegelmauer eingefallen war und wollte gerade hinein steigen in die dahinter
liegende Höhle.
Da fiel ihr ein, erst ihren Bruder suchen, denn ab jetzt wollte
sie dem Mann nicht mehr alleine begegnen. Im nächsten Traumbild lief sie über den nahen Fußballplatz und fand Alex vor einem
Tor hockend. Sie näherte sich ihm und erkannte, daß er mit einem
Nagel versuchte die Luft aus dem Ball zu lassen. Sie forderte ihn
auf mitzukommen und irgendwie ahnte sie, daß heute Nacht die
letzte Begegnung mit dem Mann stattfinden würde.
Alex nahm den Nagel mit und sagte zu ihr, damit werde er ihm
die Luft raus lassen. Dann stiegen sie in die Höhle und liefen
kreuz und quer durch die Gänge. Plötzlich war Alex weg und der
Mann kam um die nächste Ecke. Diesmal lief Sieglinde nicht davon, sondern schrie den Mann an. ,Wenn du mich holen willst, da
bin ich.' Der Mann stand nur einfach da und sagte: ,Ich bin der
Tod. Ich hole dich, wenn die Zeit gekommen ist.'
In diesem Moment wurde sich Sieglinde bewußt, daß sie
träumte. Mit der sicheren Erkenntnis sich im Traumzustand zu befinden, fiel alle bis dahin tapfer unterdrückte Angst wie eine
schwere Last von ihr ab. Sie breitete die Arme aus und lachte und
weinte zugleich. Augenblicklich verschwand das Traumbild der
Höhle und sie fand sich auf dem Rücken liegend fliegend in der
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Luft wieder. Über ihr zogen die Wolken dahin und sie fühlte sich
leicht und unbeschwert wie noch nie in ihrem Leben.
Eine überwältigende Freude nahm von ihr Besitz und sie kostete den Flug in vollen Zügen aus. Sie drehte sich auf den Bauch
und erkannte die Landschaft unter ihr. Da war ihr Fluß und im
Sturzflug tauchte sie in das Wasser und flog darin weiter. Fische
zogen an ihr vorbei und sie genoß dieses herrliche Gefühl der
Freiheit. ,Ich bin frei, ich bin frei,' rief sie immer wieder und dann
wachte sie auf.
Die letzten Gefühle ihres Traumes blieben in ihrem Bewußtsein haften, aber die Alptraumphase endete mit dieser Nacht und
kam nie wieder. Nach zwei Tagen konnte sie wieder zur Schule
gehen, nachdem sie sich bei gutem Essen und einigen Spaziergängen mit Alex im Wald erholt hatte. Sie erzählte ihm den
Traum und schwor dabei, daß sie keinen besseren Freund als ihn
hätte.
Das Verhältnis zu ihren Eltern verbesserte sich schlagartig; sie
gab sich sogar Mühe, den versäumten Stoff des Unterrichts nachzuarbeiten, was außer in Mathe recht gut gelang. Ihre Beziehung
zum Träumen hatte sich grundlegend geändert. Jetzt konnte sie es
kaum mehr erwarten, abends ins Bett zu kommen. In der Folgezeit
gelang es ihr regelmäßig, sich im Traum des Träumens bewußt zu
werden, denn das war anscheinend der Auslöser für die Flugerlebnisse in ausschweifendster Form.
Ihre Gedanken während der nächtlichen Ausflüge waren so
klar, daß sie ohne Mühe Ziele aussuchen konnte, wo sie hinfliegen
wollte. Bei einem dieser Abenteuer, Wochen später - es war gerade Neumond -, fand sie eine kleine Insel in ihrem Fluß, wo sie
in einer Gruppe von Büschen landete und sich dann ans Wasser
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hockte, um in die Wellen zu starren.
Dort erkannte sie ihr Gesicht und plötzlich gefiel ihr, was sie
sah. Aus dem Wasser schaute sie ein wunderschönes Mädchen an.
In diesem Moment empfand sie überschwengliches Glück und
Freude lebendig zu sein. Doch schon im nächsten Augenblick
schlug die Stimmung abrupt um. Das Bild verfärbte sich rot und
sie erschrak heftig. Was war passiert?
Grübelnd wachte sie auf, die Eindrücke des Traums mitnehmend. Sie hatte zum ersten Mal ihre Tage bekommen und war
entsetzt und ärgerlich zugleich. Natürlich hatte man sie theoretisch auf die Veränderungen ihres weiblichen Körpers vorbereitet,
aber in der Praxis, wenn man es am eigenen Leib gewahr wird,
muß man doch alleine damit fertig werden.
Bei der Morgentoilette betrachtete sie sich zum ersten Mal ausgiebig im Spiegel. Das Gefühl sich selbst zu gefallen war zwar geblieben, bezog sich aber ausschließlich auf ihr Gesicht. Die
anderen Partien, wie zum Beispiel der deutlich sichtbare Brustansatz, rief dagegen regelrecht ein Gefühl von Ekel hervor.
Ihre Mitschülerinnen ließen keine Gelegenheit aus, mit den
Veränderungen ihrer Körper zu prahlen, ja sie stellten ihn sogar
zur Schau. Sieglinde verstand dieses Verhalten überhaupt nicht.
Wozu sollte das gut sein? Die Mädchen in ihrer Klasse
schminkten sich fast alle schon und trugen bauchfreie Klamotten
mit tiefen Ausschnitten, damit jeder erkennen konnte, daß sie
einen BH brauchten. Sieglinde fand das peinlich, sie hätte sich am
Liebsten in einen Sack gehüllt, wo nur ihr Gesicht raus schaute.
In den nächsten Tagen hatte sie ganz merkwürdige Träume.
Auf ihren nächtlichen Ausflügen fand sie andauernd irgendwelche
Spiegel, denen sie versuchte aus dem Weg zu gehen. Das nervte
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sie so sehr, daß sie im Traum beschloß, ihr Zimmer nicht mehr zu
verlassen. Doch auch dort wurde sie verfolgt. Sie ließ sich immer
wieder neue Verstecke einfallen, um nicht ihrem Konterfei zu begegnen.
Bei einer Gelegenheit verwandelte sich Alex Poster plötzlich in
einen Spiegel. Sie verkroch sich in ihrem Kleiderschrank und
kuschelte sich dort in einen Haufen von Wäsche. Weil die
Schranktür nicht von alleine zubleiben wollte, drehte sie den
Schlüssel einfach mit ihrer Gedankenkraft.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, wußte sie gar nicht,
wo sie sich befand, jedenfalls lag sie nicht in ihrem Bett. Es war
stockdunkel und überall um sie herum spürte sie Wäschestücke.
Sie tastete die Umgebung ab und erkannte die Innenwände des
Kleiderschranks. Nur - die Tür war verschlossen und ließ sich
nicht von innen öffnen. Sie schlug mit der flachen Hand gegen die
Wände, daß es ein mächtiges Gepolter gab. Ihre Mutter, die sie
wecken wollte, fand das Kind in dem Schrank, nachdem sie die
Tür aufgeschlossen hatte.
„Was machst du denn da drin?“, wollte sie wissen. „Hast du
etwa im Schrank geschlafen? Kind, du machst mir immer mehr
Kummer. Ich bin schon spät dran, komm, beeil' dich.“ Das war
alles, was die Mutter dazu sagte. Das man die Tür nicht von innen
verschliessen konnte, hatte sie anscheinend nicht weiter interessiert.
Sieglinde machte sich so ihre Gedanken über dieses merkwürdige Erlebnis. Es bereitete ihr keine Angst, sie konnte es nur
nicht erklären. Für die Zukunft nahm sie sich vor, ein paar Experimente durchzuführen.
In der nächsten Nacht träumte sie, daß sie auf ihrem Bett sitzt
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und über den Traum mit dem Schrank nachdenkt. Für sie war es
zur Selbstverständlichkeit geworden im Schlafzustand vollste Erinnerung an alles zu haben, genauso wie sie sich mittlerweile auch
daran gewöhnt hatte, sich ständig des Träumens bewußt zu sein.
Sie schaute sich um und stand auf, um im Zimmer herum zu
gehen. Als sie sich umdrehte, erkannte sie sich selbst im Bett
liegend. Das Erlebnis war zwar neu, aber sie registrierte es als
normal. Warum sollte es ungewöhnlich sein, daß ihr Körper dort
lag und schlief, während ihr Traumkörper sie beobachtete? Sie
ging zum Arbeitstisch; das Poster hing wie immer an seinem Platz
und veränderte sich nicht. Doch dann sah sie die Tür, die plötzlich
zu schimmern anfing, um sich kurz danach in einen Spiegel zu
verwandeln.
Genervt von dieser hartnäckigen Verfolgung nahm sie den
Schrank und schob ihn vor die Tür. Das machte sie mit einer
lässigen Handbewegung; ohne Anstrengung ließ er sich beiseite
schieben. Zufrieden mit ihrem Werk legte sie sich auf ihren Flokati und träumte davon wieder einzuschlafen.
Am nächsten Morgen wachte sie dort am Boden auf, geweckt
durch den Krach, den ihre Mutter verursachte, als sie von hinten
gegen den Schrank schlug, der die Tür versperrte.
„Sieglinde, was soll denn das? Bist du jetzt total übergeschnappt?“, rief sie von hinter dem Schrank. Sieglinde fand die
Sache lustig, dann schaute sie aufs Bett, welches jetzt leer war.
Mit vereinten Kräften wurde der Schrank wieder zurück auf
seinen Platz geschoben. Die Mutter hörte nicht auf zu schimpfen.
„Du mußt doch langsam mal vernünftig werden. Du bist doch
schon fast eine junge Frau, so Kindereien will ich nicht mehr sehen. Du bringst mich noch ins Grab.“
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Sieglinde entschuldigte sich mehrmals, aber innerlich amüsierte sie sich darüber, vor allem weil ihre Mutter gar nicht gemerkt hatte, daß sie im Wachzustand niemals in der Lage gewesen
wäre, den Schrank von allein zu verrücken. Die Idee ihr das zu erklären, kam ihr nicht in den Sinn. Zum Einen war sie sicher, daß
ihr das niemand glauben würde, andererseits betrachtete sie ihre
nächtlichen Aktivitäten als ihr persönliches Geheimnis, das niemanden etwas anging.
Sie nahm sich vor, nachts nichts mehr zu tun, was am nächsten
Tag zu Komplikationen führen konnte. Alex wollte sie auch nicht
einweihen, denn der war mit seinen Freunden und dem Sport
beschäftigt genug.
Dann kam eine Phase, wo sie nichts mehr träumte und sie
wunderte sich darüber. Erst drei Wochen später konnte sie ihre
Experimente fortsetzen. Sie stellte fest, daß ihre aktiven Traumerlebnisse nur dann zum Vorschein kamen, wenn sie ihre Tage
hatte. Anscheinend gab es irgendeine Verbindung, wobei sie es als
gegeben akzeptierte und nicht weiter nach Gründen suchte.
Drei weitere Jahre vergingen. Sieglinde verbrachte ihren Alltag
mit Hausaufgaben und Küchenarbeit und die Freizeit in ihrem
Zimmer. Auf Benjamin brauchte sie nicht mehr aufpassen. Der
mied seine Schwester, wobei er seinen Freunden auf sie angesprochen versicherte, daß sie einen Sprung in der Schüssel haben mußte, wie er sich ausdrückte.
Alexander hatte eine Lehre als Fotolaborant begonnen und war
den ganzen Tag aus dem Haus. Sieglindes Mutter arbeitete nur
noch halbtags, neuerdings für neue Möbel, die sie angeblich
dringend brauchte. Vater kam nach wie vor spät nach Hause und
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war dann regelmäßig so müde, daß er den Kontakt mit den
Kindern am Liebsten aus dem Weg ging.
Sieglinde kümmerte sich immer weniger um die Angelegenheiten der Familie. Die aufgetragenen Arbeiten erledigte sie mehr
geistesabwesend und handelte sich dadurch den Spitznamen
,Träumerlein' von ihrer Mutter ein. Wie viel Wahrheit dahinter
steckte, konnte sie nicht einmal ahnen.
Sieglinde hatte sich dem Rhythmus ihres Monatszyklus angepaßt. In den drei Wochen traumloser Zeit schrieb sie in der Freizeit Gedichte und Geschichten in ihr großes Tagebuch oder hörte
Musik. Wenn die Traumphase einsetzte lebte sie innerlich richtig
auf, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
Ihre Experimente machten erstaunliche Fortschritte. Die
Traumausflüge wurden immer ausgedehnter und die Handlungen
die sie vollzog verschafften ihr Vorteile, die sie in der realen Welt
gut gebrauchen konnte.
Einmal versetzte sie sich in das Arbeitszimmer ihres Mathelehrers und korrigierte an Hand des Lösungsblattes ihre eigene Mathearbeit. Sie wollte nicht mit einer fünf auf dem Abschlußzeugnis
von der Schule gehen. In der darauf folgenden Mathestunde am
nächsten Morgen wurde sie von ihrem Lehrer über alle Maßen gelobt, allerdings mit der Einschränkung, daß die vielen durchgestrichenen Ergebnisse und Nachkorrekturen kein sauberes Bild
abgaben und die Vermutung abgeschrieben zu haben nicht ganz
auszuschließen wäre. Einen Monat später aus den Erfahrungen
schlau geworden, tauschte sie in der Nacht ihre nächste Arbeit
komplett aus und diesmal gab es eine glatte eins und die Abschlußnote war gerettet.
Während eines anderen Traumes besuchte sie einen Mu222
sikladen. Ihr Taschengeld reichte nicht aus, um sich die Musik zu
kaufen, die sie gerne bei sich zu Hause hören wollte. Deshalb
durchstöberte sie in ihrem Traumkörper die Regale und steckte
alle CD's, die ihr gefielen in ihre Tasche. Dann legte sie sich
schlafen, um zurück in ihrem Zimmer aufzuwachen. Am Nachmittag durchstöberte sie ihre erweiterte CD-Sammlung und war
glücklich über ihre Errungenschaften. Es bereitete ihr kein
schlechtes Gewissen, denn die Menschen verhielten sich nicht nett
zu ihr. Sie nahm sich halt, was ihr - wie sie glaubte - zustand.
Im letzten Schuljahr begann sie mehr und mehr über sich und
ihr Verhältnis zu dieser Welt nachzudenken. Sie hatte wohl
verstanden nicht so wie die anderen zu sein. Doch darüber war sie
eher froh, als daß ihr dieser Umstand Kummer bereitet hätte. Die
Mädchen in ihrem Alter verhielten sich zumeist zickig und
beschäftigten sich fast ausschließlich damit, beachtet und von
Jungen angeschaut zu werden. Was war da schon besonderes
dran? ,Der einzige Junge, der wirklich toll ist heißt Alex,' dachte
sie und bedauerte nur, daß sie ihn so selten zu Gesicht bekam.
Während einer Traumphase besuchte sie rein zufällig das elterliche Schlafzimmer, weil sie das quietschende Geräusch des Bettgestells anzog. Was die beiden da vollführten war so eklig, daß sie
sich schwor, nie irgend etwas mit einem Jungen anfangen zu
wollen.
Des öfteren wurde sie in der Schule angesprochen von
Klassenkameraden und auch von älteren Schülern des parallelen
Gymnasiums, die schüchtern und äußerst nervös fragten, ob sie
mal mit ins Kino gehen oder zur Disco mitkommen würde. Erst
ließ sie sich alle möglichen Ausreden einfallen; dann, als ihr
nichts mehr einfiel, begann sie schwarze Klamotten zu tragen und
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sonderte sich dadurch endgültig ab und das Interesse der Jungen
an ihr verschwand.
Ihrer Mutter gefiel das neue out-fit überhaupt nicht, zumal es in
dieser Zeit darum ging eine Lehrstelle zu finden. Sieglinde machte
sich keine Gedanken über die Zukunft. Das reale Leben kam ihr
langweilig, als viel zu lange Zwischenzeit zu ihrem eigentlichen
Leben im Traum vor.
Die von ihrer Mutter geschriebenen Bewerbungen wurden zum
größten Teil schon von vorne herein abgelehnt und wenn sich
Sieglinde einmal irgendwo vorstellen sollte, machte sie keinen
besonders motivierten Eindruck und wurde deshalb auch nirgends
angenommen. Um die Zeit nach der Schule zu überbrücken wurde
sie kurzerhand ins Berufsgrundschuljahr angemeldet, denn sie
hatte ja noch über ein Jahr Schulpflicht zu absolvieren.
Den Realschulabschluß schaffte sie mit Ach und Krach und begann den neuen Lebensabschnitt notgedrungen. Das Klima zu
Hause war in dieser Zeit recht gespannt und immer öfters versuchten ihr die Eltern mit eindringlichen Worten klar zu machen, was
der Sinn des Lebens sei. Sie ließ das alles über sich ergehen und
sagte zu allem Ja und Amen, wobei sie überlegte, was die denn
eigentlich von ihr wollten.
Die nächste Krise begann, als sie ein paar ebenfalls schwarz
gekleidete Jugendliche in ihrer neuen Schule kennenlernte. Die
waren anders als die unreifen Jungens und ständig mit dem Handy
redenden Mädchen. Sieglinde erhoffte sich im Stillen Gleichgesinnte zu finden und nahm deshalb eine Einladung dieser Leute
an, doch mal mit zu kommen, wenn sie sich nachmittags trafen.
Zwei der mit Piercing überhäuften lebten in einer Wohngemeinschaft des betreuten Wohnens. Der Aufpasser ließ den Jugendli224
chen sehr viel Freiraum und sie fühlten sich dort in Ruhe gelassen.
Selbst bei der Erfüllung der häuslichen Pflichten hielt man es
nicht so genau, dem entsprechend sah die Wohnung auch aus.
Sieglinde fand das cool. ,Keinem fällt direkt der Kopf ab, wenn
er mal was liegen läßt,' war einer ihrer Lieblingssprüche, die ihre
Eltern ganz schön auf die Palme brachten.
Nach einigen Besuchen stellte sie allerdings fest, daß es sich
nicht um Gleichgesinnte handelte, sondern vielmehr um Freaks,
die ihre Andersartigkeit zur Schau stellen wollten ohne besonderen Hintergrund. Wenn sie sich nicht gerade mit Alkohol saufen
beschäftigten, sprachen sie über Teufelsanbetungen und schwarzer
Magie, die sie alle zu erlernen hofften. Damit wollte Sieglinde
nichts zu tun haben.
Aber der Reiz unabhängig von zu Hause zu leben war geweckt
und in der nächsten Zeit bemühte sie sich um Informationen, wie
sie es für sich selbst umsetzen konnte.
Dann lernte sie Jo kennen. Sie saß gerade im Flur des
Arbeitsamtes und wartete auf ein Gespräch zur Berufsberatung als
er durch die Glastür kam. Lang und schlacksig mit bunten Klamotten und ungekämmten langen Haaren stellte er sich vor sie
hin, schaute sie an und meinte: „Schwarz ist keine Farbe, das ist
ein Zustand.“
„Was?“
„Das paßt doch gar nicht zu dir; du solltest was farbiges, helles
tragen. Du hast den Sonnenschein in den Augen und versteckst
dich im dunklen Keller.“
„Was?“
„Ich heiße Jo, stört's dich wenn ich mich zu dir setze?“
225
Er sah Alex ein bißchen ähnlich, außer den Haaren und hatte
auch ungefähr sein Alter. Sie war etwas verstört, denn irgendwie
äußerten sich Gefühle in ihr, die sie noch nie empfunden hatte.
Das war nicht die übliche Anmache, wo die Jungen mehr auf den
Busen starrten, als einem in die Augen zu gucken. Jo dagegen
strahlte sie mit einer offenen Art an, die sie selbst bei Alex noch
nicht gesehen hatte.
„Ist doch Platz genug da,“ erwiderte sie mit einer aufgesetzt
coolen Miene, weil ihr der gewohnte unnahbare Gesichtsausdruck
nicht gelingen wollte.
Er verstand es als Ablehnung und fragte deshalb: „Ich wollte
aber gern neben dir sitzen. Deine Ausstrahlung ist so ... ah.“ Er
machte eine Bewegung, als wenn er etwas umarmen wollte. „Ich
will aber nicht aufdringlich sein. Also wenn ich dich störe - sag's
nur.“
„Quatsch,“ entfuhr es ihr, sein gewinnendes Lächeln steckte sie
an. Sie schauten sich eine Weile in die Augen - neugierig und prüfend. Dann senkte sie den Blick, denn sie spürte eine unbekannte
Anziehungskraft, die von ihm ausging.
„Jetzt kapiere ich es. Du versteckst dich hinter deinen Klamotten. Das ist nur eine Tarnung, stimmt's?.“
Sehr überrascht, aber auch ein wenig trotzig, weil sie sich
ertappt fühlte entgegnete sie: „Woher willst du das wissen?“
„Das hat mir mein kleiner Mann im Ohr verraten,“ meinte er
spitzbübig.
Sie fühlte sich von seiner Art gefangen und der Trotz verflog
sofort. Schnell faßte sie Vertrauen zu ihm. Ohne Umschweife und
längeres Abwägen gab sie das zu Verstehen, was sie empfand:
„Du bist sehr nett. Ich kenne eigentlich keine netten Menschen
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außer meinem Bruder. Ich heiße Sieglinde und die Sachen trage
ich nur, damit die Leute einen Bogen um mich machen.“ Mit
strahlendem Blick und tiefer Dankbarkeit schaute sie wieder in
seine Augen.
„Was machst du eigentlich hier? Laß uns doch einfach gehen
und die Sonne suchen,“ fragte er.
Sie hatte ihren Termin nicht vergessen, doch jetzt war er bedeutungslos. Ohne Zögern stand sie auf, hängte sich ihre Tasche
um und zeigte ihm, daß sie bereit war. Jo stand ebenfalls auf,
nahm ihre Hand und so gingen sie raus, über die Straße in den
nächsten Park.
Unbeschreibliche Gefühle durchströmten sie, nie hatte sie so
etwas erwartet oder sich vielleicht erträumt. Aber es geschah
einfach und die Vergangenheit war wie ausgelöscht. Jo's Gegenwart öffnete Bereiche in ihrem Denken, wo sie zum ersten Mal in
ihrem Leben ihr weiblich sein akzeptierte. Immer noch weit davon
entfernt Sexualität als Bestandteil des zwischenmenschlichen
Kontakts mit einzubeziehen, hatte sie zumindest den Schritt
vollzogen, sich als Frau zu fühlen, die Freude dabei empfindet mit
einem Mann zusammen zu sein. Auf Grund ihrer weitestgehend
durch sie selbst verabreichten Erziehung, konnte dieser Wandel
nur dadurch entstehen, weil keine Bedingungen an sie gestellt
wurden.
Sie vertraute Jo ganz und gar und dachte nicht einen Moment
darüber nach, ob vielleicht irgend etwas anderes dahinter stecken
könnte. Noch nicht mal ihre Gefühle wollte sie in diesem Augenblick kommentieren, denn ob das nun Verliebt sein war oder
nicht, interessierte sie nicht. Viel zu neu und ungemein erregend
kam ihr das alles vor und sie kostete dieses bisher nie erlebte
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Empfinden aus.
Wie ausgelassene Kinder hüpften die beiden über die Wiesen
zwischen den Wegen des Parks. Dann setzten sie sich auf eine
Bank, weil ein Opa mit einem Krückstock drohte und rief, daß das
doch verboten sei.
„Wenn die alten Heinzelmänner nichts zu schimpfen haben,
sind sie nicht zufrieden,“ sagte Jo. Er saß seitlich zu ihr gedreht
und schaute sie unentwegt an. „Wie schön du bist,“ flüsterte er
und dann in normaler Lautstärke meinte er: „Aber diese
schwarzen Sachen, nein wirklich. Ich bekomme dabei ein echt
mieses feeling. Wenn ich soviel schwarz sehe, muß ich immer an
den Tod denken. Komm, das ändern wir einfach.“
Sieglinde mußte lachen. „Wie denn, ich hab' doch gar nichts
anderes zum Anziehen.“
Er stand auf, streckte ihr seine Hand entgegen und sagte:
„Komm mit, wir finden schon was.“
Sie gingen, wieder Hand in Hand aus dem Park, ein paar Straßen weiter und standen dann vor einem alten Haus, daß früher
wohl einmal bessere Zeiten erlebt hatte. „Hier wohne ich,“ bezeichnete Jo.
Sie stiegen einige morsche Stufen hoch und betraten eine
Wohnung. Musik drang ihnen entgegen und Tabakqualm. Jo
führte sie in eines der Zimmer. Es sah noch schlimmer aus als ihr
eigenes. Eine Matratze lag auf dem Boden, Haufen von Klamotten
mischten sich mit undefinierbaren Gegenständen. In einem Regal
an der Wand befanden sich Bücher kreuz und quer liegend, sowie
ein paar bunte Sachen wie Federn, ein Äffchen aus Stoff mit
Trommeln und einiges mehr. In einer Ecke stand eine Gitarre; auf
dem Boden verteilten sich Zeitschriften, Zettel, Aschenbecher und
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sogar eine Stereoanlage konnte Sieglinde unter wahllos hingeworfenen Kleidungsstücken erkennen.
Abgesehen von dem schmuddeligen Bettzeug konnte sie nichts
anstößiges an diesem Zimmer finden. „Du rauchst?“, fragte sie
ihn.
„Nur wenn ich Geld habe,“ grinste er. „Warte kurz,“ fuhr er
fort, „leg' dir Musik auf, wenn du willst.“ Er verschwand und sie
setzte sich auf die Matratze, da keine Stühle vorhanden waren. Ein
wenig später kam er mit einem Mädchen zurück. „Das ist Jeana,
sie hat bestimmt noch ein paar Sachen für dich übrig.“
„Hi,“ grüßte das Mädchen mit den auffallend roten, gefärbten
Haaren, „laß uns mal nachschauen. Die Größe wird dir passen.“
Sieglinde folgte Jeana in ein anderes Zimmer, daß nur unwesentlich aufgeräumter aussah. Jeana kramte aus einem Stapel
Wäsche eine Jeans hervor und aus einer anderen Ecke ein T-shirt
mit buntem Aufdruck.
„Hier habe ich noch ein Halstuch. Ich brauche die Sachen nicht
- kannst alles behalten. Probier's gleich mal an.“
Sieglinde zog ihre schwarzen Klamotten aus und die anderen
an, die tatsächlich paßten. Dann gab ihr Jeana eine Plastiktüte und
meinte: „Hier kannst du deine Sachen rein tun, so was zieht hier
keiner an.“
Sieglinde bedankte sich und ging zurück in Jo's Zimmer. Sie
wurde mit einem lang gezogenen ,Jaa' empfangen. „Komm, setz
dich und erzähl mir was von dir.“
Sieglinde nahm das alles als selbstverständlich hin. Die Atmosphäre kam ihr so leicht und überhaupt nicht belastend vor, aber
von sich erzählen - was sollte sie sagen?
„Möchtest du gerne Musik hören? Ich habe aber nur drei CD's,
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such dir was aus.“ Jo kramte unter den Zeitschriften zwei Hüllen
hervor. „Hier,“ meinte er, „die höre ich jeden Tag.“ Er reichte ihr
die Hülle und Sieglinde las ,Tyrannos Saurus Rex, Unicorn'.
„Kenne ich nicht, aber leg ruhig auf. Ich höre viel Musik zu
Hause. Eigentlich jeden Tag; am Liebsten heavy metall und hard
rock.“
„Finde ich auch gut. Die Anderen haben viel davon.“ Dann
holte er ein Päckchen Tabak aus seiner Hosentasche und drehte
sich eine Zigarette. „Möchtest du auch?“, fragte er.
„Ich habe noch nie geraucht,“ meinte sie, „was ist daran gut?“
„Ich weiß nicht, darüber mache ich mir keine Gedanken.
Vielleicht rauche ich, weil es der einzige Luxus ist, den ich mir
leisten kann - wenigstens ab und zu.“
„Du arbeitest nicht?“
„Ich bin für einen festen Job nicht geschaffen, glaube ich. Ein
bißchen Kohle braucht man halt. Deshalb mache ich hier und da
ein paar Aushilfsjobs, um das Zimmer zu bezahlen und für ein
wenig Futter.“
Die Musik hatte so was melancholisches, was Sieglinde nicht
so gut gefiel. „Was hast du denn noch an Musik,“ fragte sie
deshalb.
„Oh,“ meinte er, „gefällt dir das nicht? Egal, hier habe ich noch
Fleetwood Mac, Then play on. Das gefällt dir bestimmt.
Sieglinde schaute ihm beim Rauchen zu und wurde neugierig.
„Laß mal probieren,“ forderte sie ihn auf. Erst einmal mußte sie
husten und gab ihm schnell die Zigarette zurück. Er lachte nur und
meinte, daß das ganz normal sei beim ersten Mal. Er erklärte, wie
man den Rauch einziehen müßte, damit man nicht husten brauchte. Sie probierte es noch mal und nun klappte es besser. Allerdings
230
wurde ihr ganz schummrig im Kopf und sie legte sich lang auf die
Matratze.
Jo legte sich neben sie und streichelte ihr übers Haar. „Irgend
etwas besonderes ist da drin,“ sagte er plötzlich und sie verstand,
daß er ihren Kopf meinte.
„Hat dir das das Männchen im Ohr verraten?“, wollte sie
wissen.
„Genau, der erzählt mir alles was ich wissen will.“ Seine Hand
lag jetzt auf ihrem Bauch und bemühte sich unter das T-shirt zu
gelangen. Sie drehte sich ihm den Rücken zuwendend auf die Seite und gab ihm zu verstehen, daß er sich hinter sie legen sollte, indem sie seinen Arm mitzog.
„Laß uns einfach nur so liegen,“ flüsterte sie und Jo fand das
ganz in Ordnung.
Der Körperkontakt war ein neues, aber ungemein angenehmes
Gefühl für sie. Der Nebel im Kopf verflüchtigte sich und nüchtern
gestand sie sich ein, daß es im Leben schöne Dinge gibt, die sie
früher nie vermutet hätte.
„Laß uns nie wieder aufstehen. Wir bleiben jetzt einfach so
liegen und die Welt kann sich drehen wohin sie will. Ja?“
Er griff ihre Hand und drückte sie sanft zum Zeichen seines
Einverständnis. „Nie wieder,“ fügte er hinzu.
Sie mußten wohl eingeschlafen sein, denn als sie die Augen
öffneten, war es dunkel draußen. Sieglinde hatte nicht geträumt,
aber sie fühlte sich glücklich. Jo erwachte ebenfalls und streckte
sich. Dann setzte er sich auf und meinte, es gäbe Dinge, die man
nicht verschieben könnte. Er ging zur Toilette und kam nach einer
Weile wieder.
Sieglinde hatte sich ebenfalls gesetzt. „Ich hab überhaupt keine
231
Lust nach Hause zu gehen,“ gestand sie ihm.
„Dann bleib' doch einfach.“
„Meine Mutter flippt aus - und außerdem muß ich auch mal.“
Sie ging ebenfalls zur Toilette, nachdem ihr Jo den Weg beschrieben hatte. Auf dem Rückweg hörte sie aus den anderen
Zimmern Leute sprechen mit leiser Musik im Hintergrund und ein
süßlich herber Geruch wehte durch den Flur.
Jo hatte sich eine neue Zigarette gedreht und bot ihr einen Zug
an. Sieglinde wollte jetzt nicht. Sie nahm sich ihre Plastiktüte und
sagte: „Ich hau jetzt ab. Aber ich komme wieder, o.k?“
Jo stand auf, nahm sie in den Arm und küßte sie kurz auf den
Mund. „Ja, bitte,“ war alles was er sagte.
Draußen auf der Straße mußte sie sich erst einmal orientieren,
wo sie sich überhaupt befand. Dann ging sie zum Busbahnhof und
erwischte so gerade den letzten Bus nach Hause. Die Kirchenuhr
schlug Mitternacht als sie die Haustür aufschloß. Die Busfahrt und
den Fußweg hoch in die Siedlung hatte sie in seliger Zufriedenheit
erlebt, in der Wohnung empfing sie ein Donnerwetter.
„Wo warst du? Warum kommst du so spät? Bist du denn von
allen guten Geistern verlassen?“ Mit dieser Schimpfkanonade
wurde sie in Empfang genommen.
Sie ließ das alles über sich ergehen und entschuldigte sich. „Ich
hab gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist.“
„Geh ins Bett,“ schrie der Vater, „wir sprechen uns morgen
noch mal, verlaß dich drauf.“
Sieglinde ging in ihr Zimmer und schmiß die Plastiktüte in eine
Ecke und sich selbst aufs Bett. „Wie ätzend,“ sagte sie zu sich.
Nach einer Weile in konfusen Gedanken drängte es sie wieder
aufzustehen und zur Toilette zu gehen. Es war Neumond und die
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nächste Traumphase kündigte sich an. Der Gedanke sich das Gezeter ihrer Eltern nicht länger antun zu wollen reifte in ihr heran.
Vorm Spiegel betrachtete sie ihr Gesicht und dann lachte sie, weil
ihr der blöde, aber passende Spruch durch den Kopf ging: ,Brave
Mädchen kommen in den Himmel - böse Mädchen kommen überall hin.' Und dann stand ihr Entschluß fest.
Sie nahm sich ein paar Utensilien mit, die sie in ihrer Umhängetasche verstaute. Zurück im Zimmer holte sie die Plastiktüte, drehte sie um und ließ die schwarzen Klamotten auf den Boden
fallen. Dann stopfte sie ihre ganzen CD's hinein und legte sich mit
der Tüte und ihrer Tasche vorm Bauch aufs Bett. Auch wenn sie
gar nicht müde war, konnte sie in der Zeit des aktiven Träumens
einschlafen, wann sie wollte.
Kaum hinüber geglitten in die andere Welt, versetzte sie sich in
Jo's Zimmer. Er war wohl weggegangen, aber das störte sie nicht.
Sie legte sich auf die Matratze und träumte dort einzuschlafen, um
ihren realen Körper nachzuholen.
Kurz später fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Jo,
der verwundert aber äußerst erfreut feststellte: „Da bist du ja
wieder.“
„Ich hab doch gesagt, ich komme zurück.,“ grinste sie ihn an
und gab ihm die Plastiktüte. „Hier, ich hab uns ein bißchen Musik
mitgebracht.“
Jo setzte sich und kramte in der Tüte. Er holte eine CD hervor
und meinte: „Die wollte ich schon immer mal hören,“ und legte
sie auf.
Es war Nirvanas nevermind und beide lauschten den harten
Klängen aus den Boxen. „Was ist denn mit deinen Augen,“ wollte
Sieglinde wissen, nachdem sie ihn angeschaut hatte, „die sind ja
233
ganz rot.“
„Ach das. Ich war gerade drüben bei Hopsi im Zimmer. Der hat
echt gutes Zeug zu rauchen. Solltest du auch mal probieren.“
Erst wußte sie nicht, was er meinte. Dann fiel ihr der Geruch
vom Nachmittag wieder ein und sie kombinierte, daß es sich um
Rauschgift handeln mußte. Natürlich hatte sie in der Schule bei etlichen Aufklärungsversuchen der Lehrer von der fatalen Wirkung
der Drogen gehört. Aber einerseits war es ihr immer egal gewesen, was andere taten und zweitens nahm sie die Aussagen der
Lehrer nie so richtig ernst. Also hatte sie sich mit Drogen und deren Wirkung nicht wirklich befaßt. Und wenn Jo das gut fand,
konnte es doch gar nicht schlecht sein.
Dennoch unsicher fragte sie: „Ich hab das noch nie probiert.
Wie ist das denn?“
„Das kann ich nicht beschreiben, daß muß man ausprobieren.
Du brauchst keine Angst zu haben, das ist nicht gefährlich. Nur
harte Drogen machen einen kaputt, Haschisch nicht. Warte, ich
frage Hopsi mal, ob er mir was abdrücken kann.“
Nach fünf Minuten kam er wieder. „Das ist ein richtiger
Knauser. Aber ich habe ihm doch ein Fitzel abgeschwatzt.“ Er
mischte die Hälfte mit dem Feuerzeug klein gemacht unter den
Tabak, drehte davon eine Zigarette und und versah sie mit einem
Papierfilter. Nachdem er sie entzündet hatte, gab er sie an
Sieglinde weiter. „Mach nur kleine Züge und zieh den Rauch vorsichtig in die Lunge. Das kratzt ein bißchen.“
Sieglinde folgte seinen Anweisungen. Das Nikotin ließ sie
schwindlig werden, aber sonst merkte sie nichts. Sie erzählte ihm,
daß sie zu Hause gewesen war und was sie dort erlebt hatte. Wie
sie hierher gekommen war verschwieg sie. „Die können mich mal.
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Ich gehe nicht mehr zurück. Fertig.“
„Gute Entscheidung. Du kannst hierbleiben so lange du willst.“
Sie quatschten eine Weile über ihren Alltag, über Eltern und
die Gesellschaft, woran sie übereinstimmend nichts erstrebenswertes fanden. Dann meinte Sieglinde: „Was soll denn an dem
Zeug da besonderes dran sein? Ich hab keine Veränderung gemerkt. Es ist genauso als wenn man eine Zigarette raucht.“
„Oh ja, das hab ich vergessen zu sagen. Die Wirkung beim
ersten Mal ist nicht bei allen Leuten gleich. Vielen wird es
schlecht, andere merken nichts und einige sind schon beim ersten
Mal stoned. Das ist also ganz normal. Ich hab dir doch von dem
kleinen Mann im Ohr erzählt - den habe ich vom Rauchen. Der
hat mir erklärt, man muß Respekt vor der Droge haben. Haschisch
hat eine starke Seele und sucht sich sogar selbst aus, wen sie mit
ihrer Wirkung beglückt. Wenn man ihr Achtung erweist, nimmt
sie einen schneller an.“
Sie schaute ihn forschend an. Jo erklärte weiter: „Paß auf, ich
zeig dir wie es geht.“ Er entzündete mehrere Kerzen und schaltete
die Deckenbeleuchtung aus. Er drehte einen weiteren Joint und
legte ihn auf den Aschenbecher, ohne ihn zu entzünden. Dann
forderte er Sieglinde auf, sich an den Matratzenrand zu setzen und
sagte: „Wenn ich dir jetzt Feuer gebe, dann hältst du ihn an deine
Stirn und bittest die Seele der Pflanze darum, dir ihre Wirkung zu
schenken und verspreche ihr dabei, immer gut zu Pflanzen zu
sein. Damit erweist du ihr die Achtung die sie verdient.“
Sie führten die kleine Zeremonie aus und Sieglinde sog den
Rauch in ihre Lungen. Gespannt wartete sie, was nun kommen
würde. Nach ein paar weiteren Zügen gab sie den Joint an Jo weiter und fing an zu lachen. Sein erwartungsfrohes Gesicht hatte
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einen Ausdruck, der so lustig war, daß sie gar nicht anders konnte.
„Deine Nasenflügel beben,“ sagte er und sie lachte noch mehr.
„Ich kann sogar fliegen damit,“ jauchzte sie und weil ihr ihre
eigene Stimme so ungewöhnlich und merkwürdig vorkam, kriegte
sie sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Sie hielt sich den Bauch
fest und beruhigte sich erst eine ganze Weile später wieder. Sie
hatte vom Lachen Tränen in den Augen und als sie jetzt über die
Kerzen hinweg ins Leere schaute, verschwamm alles in bunt
schillernden Farben. Fasziniert starrte sie in die Flammen und
mußte sich eingestehen, noch nie so etwas schönes gesehen zu
haben.
Sieglinde konnte die Zeit nicht mehr einschätzen; es mußten
Minuten vergangen sein beim Betrachten des tanzenden Kerzenlichts als Jo plötzlich meinte: „Ich machen Lala.“ Wieder überkam
sie ein Lachanfall und sie jibberten um die Wette. Er suchte die
dritte seinen eigenen CD's und legte sie auf. „Komm, laß uns
wieder wie vorhin einfach nur daliegen,“ meinte er.
Sie nahmen die Position ein und jetzt erlebte Sieglinde Musik
in vollendeter Harmonie. Niemals zuvor hatte sie so intensiv so etwas schönes gehört. ,Wish you were here' sang es aus den Boxen
und sie schwebte auf den Klängen dahin. Sie fühlte sich wie auf
einer Wolke liegend mit Jo eng umschlungen hinter ihr - die Welt
hatte keine Bedeutung mehr.
So schlief sie ein und übernahm das Bild der Wolken hinüber
in ihren Traum. Jo schien zu schlafen. Sie drehte sich um, rüttelte
an seinen Schultern und hauchte ihm ins Ohr: „Aufwachen Schlafmütze, es ist Zeit zum Träumen.“
Er richtete sich auf und rieb sich die Augen. „Wo bin ich?“,
fragte er.
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„In meinem Traum. Jetzt zeige ich dir, was da drin steckt,“
lachte sie und tippte mit dem Finger an ihren Kopf. „Komm, leg
dich auf meinen Rücken und halte dich gut fest.“
Dann glitt sie von den Wolken runter und segelte mit ihm
durch die Nacht; über die Wiesen und Felder, Wälder und Flüsse.
„Wir fliegen auf meinen Nasenflügeln,“ rief sie ihm zu.
Mit großen Augen staunend sah er die Landschaft unter sich
hinweg gleiten. Über ihnen wanderten Wolken wie Wattebäusche
vor einem sonst klaren Sternenhimmel. Er fragte sich, warum er
alles so deutlich sehen konnte. Doch seine Aufmerksamkeit wurde
von der Landung abgelenkt.
Sie befanden sich auf einer Wiese nahe an einem Fluß und
Sieglinde setzte sich ins Gras. Sie zog ihn herunter und meinte, er
solle ihr bitte mal erklären, was Liebe ist. Er setzte sich ihr gegenüber und schaute sie an. Sie strahlte, nicht nur aus den Augen, ihr
ganzer Körper schien eine Lichtquelle zu sein. Jo war fasziniert
von diesem Anblick.
„Wenn ich mein Lachen in deinen Augen sehe, dann liebe ich
dich,“ sagte er. „Wenn ich das Rauschen des Windes höre und
spüre das ich lebe, dann liebe ich. Und wenn die Sonne mich
wärmt und die Sterne leuchten und alles so leicht ist, dann liebe
ich auch.“ Nach einer Weile des Schweigens fügte er hinzu: „Du
bist der Sonnenschein in der Nacht. Und was du Tags über so
machst - werden wir ja sehen.“
Und wieder fingen sie an rum zu albern. Nach einer Weile
fragte er: „Und was liebst du?“
„Ich weiß das gar nicht genau. Deshalb habe ich dich ja auch
gefragt. Anscheinend hat jeder seine eigene Ansicht darüber. Bisher habe ich meine Träume geliebt - glaube ich. Und meinen Bru237
der Alex - und mich auch. Mit dir zusammen zu sein ist genauso
schön. Also liebe ich das auch. Ich war noch nie mit einem Jungen
zusammen. Da ist was Neues, was ich nicht verstehe. Ich mag
meinen Körper nicht, weißt du - vielleicht ist es das, was mich so
durcheinander bringt.“
„Was ist daran auszusetzen? Hast du etwa Furunkel oder dicke
Beulen, die du mir verschwiegen hast, hä?“
Erneut überkam sie ein Lachanfall und wälzten sich dabei im
Gras. „Nein, mit Furunkeln kann ich dem Herrn leider nicht
dienen, aber zwei Beulen habe ich schon und ich finde sie überflüssig und häßlich,“ sagte sie, nachdem sie sich wieder gefangen
hatte.
„Also, meine gnädige Frau, da sind wir allerdings ganz unterschiedlicher Auffassung,“ meinte er in einem gespielt korrekten
Tonfall. „Diese Beurteilung überlassen sie doch bitte einem Experten.“
„Ach, du bist Experte, soso. Bei wie vielen Mädchen hast du
denn schon Brüste begutachtet, hä?“
„Rein aus Studienzwecken. Als Forscher muß man halt Opfer
bringen,“ behielt er sein begonnenes Spiel bei.
„Nein, im Ernst,“ meinte Sieglinde, „vielleicht bin ich ja total
verkorkst. Aber ich glaube, nur Jungens finden Busen schön.
Mädchen müssen sich damit rum schleppen und beim Laufen tun
sie sogar weh.“
Jetzt ging er auf ihre ernst gemeinte Frage ein. „Kann sein, daß
du recht hast. Ich mache mir keine Gedanken darüber. Mädchen
finden ja angeblich den Hintern von Männern schön, da hab ich
auch keine Beziehung zu. Ich seh ihn auch nicht so oft.“
Wieder lachten sie aus vollem Hals, was noch eine Steigerung
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erfuhr, als Jo versuchte einen Blick auf sein Hinterteil zu werfen.
„Wenn ich sage daß dein Busen schön ist, glaubst du mir das
dann?“, wollte er wissen.
„Kann sein, das ich dann anders darüber denke,“ vermutete sie.
„Na, dann zeig doch mal,“ entschied er sachlich.
Sie schürzte die Lippen: „Na gut, aber wenn du lachst, bringe
ich dich nicht mehr zurück.“ Sie zog das T-shirt hoch; einen BH
hatte sie noch nie getragen.
„Nein, so geht das nicht, du mußt das schon ganz ausziehen.
Stell' dich gerade hin und drehe dich langsam,“ meinte er fachmännisch, wobei er mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn
massierte.
Sie tat wie er es wollte, doch nach einer Weile der Betrachtung
fiel er plötzlich auf den Rücken. „Was ist? Was ist los?“, fragte
sie etwas irritiert und zog hastig das T-shirt wieder an.
Er richtete sich auf und sagte: „Bist du noch nie in Ohnmacht
gefallen, wenn du so etwas absolut schönes gesehen hast?“
„Ach, sei doch mal ernst, nur einen klitzekleinen Moment, ja?“
Sie legte sich auf ihn und stützte den Kopf in ihre Hände.
„Absolut ohne Makel. Das sind mit Abstand die schönsten
Brüste, die ich je gesehen habe. Ich schwöre.“
Immer noch nicht ganz überzeugt, ob er ihr vielleicht nur
schmeicheln wollte sagte sie: „Na gut, immerhin hast du es geschafft, daß ich mich das nächste Mal vorm Spiegel ausgiebig und
ohne Vorurteil betrachten werde, schließlich weiß ich auch was
ästhetisch ist und was nicht. Und du hast dir den Heimflug
verdient.“
Zum ersten Mal empfand sie das Bedürfnis einen Jungen zu
küssen. Zärtlich berührten sich die Lippen und ein Gefühl von
239
Wärme und Zuneigung durchströmte ihren Körper. Dann legte sie
ihren Kopf neben seinen und im Zustand wohliger Zufriedenheit
schlief sie in ihrem Traumkörper ein.
Im nächsten Moment waren sie wieder im Zimmer von Jo und
erwachten gleichzeitig in der Stellung, die sie auch auf der Wiese
gehabt hatten. „Guten morgen, mein tapferer Experte,“ lächelte
sie ihn an.
Jo war total verstört. Erst bekam er große Kulleraugen, dann
löste er sich vorsichtig aus der Lage und stand auf. „Was war das
denn?“, murmelte er und ging dabei hin und her, immer über die
Zeitschriften. Dann blieb er stehen und schaute auf sie herunter.
„Erst dachte ich, ich hätte geträumt - und jetzt? Ich weiß gar
nichts mehr.“
„Natürlich hast du geträumt. Komm her, krieg' dich wieder
ein.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn runter auf die Matratze,
wo er sich auf den Rand setzte. „Aber sicher hast du geträumt. Du
brauchst mir auch gar nicht erzählen, was du geträumt hast, denn
ich war ja dabei. Sag' mir nur, was du dabei gefühlt hast.“
„Das war so irre. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.
Ich weiß nur, daß ich noch nie so klar und deutlich geträumt habe.
Wie kamst du in meinen Traum? Erklärst du mir das bitte mal.“
„Eigentlich war es eher so, das du in meinem Traum warst. Ich
habe deinen Traumkörper geweckt - ihn also einfach abgeholt,
weil ich dir zeigen wollte, was ich Nachts so treibe.“
„Wie machst du das denn?“
„Keine Ahnung, weiß ich auch nicht. Ich mach's einfach.“ Sie
erzählte ihm ausführlich über ihre Erlebnisse und Experimente.
„Und du bist so mir nichts dir nichts von deinem Zimmer
hierher gekommen - durch träumen?“ Er konnte es nicht fassen.
240
„Ist ja kompletter Wahnsinn. Und du kannst mitnehmen was du
willst?“
„Ja, ich muß es nur direkt am Körper haben. Ich versetze mich
in meinem Traumkörper wohin ich will und laß ihn dort dann einschlafen. Dann träume ich mit meinem Traumkörper, daß ich dort
aufwache, mit all den Sachen, die ich bei mir habe.“
„Kann das jeder - könnte ich das auch lernen?“
„Keine Ahnung. Hast du beim Träumen schon mal darüber
nachgedacht, daß du träumst?“
„Nicht das ich wüßte.“
„Damit hat alles angefangen bei mir. Alles andere ist
Training.“
„Vielleicht können das ja nur Frauen. Du hast doch gesagt, daß
es nur geht, wenn du deine Tage hast.“
„Wirklich, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es tatsächlich so.“
Er legte sich lang hin und grübelte nach. „Das ist ja wie in
einem science-fiction Film,“ meinte er etwas später. Dann hatte er
plötzlich eine Idee. „Könntest du uns vielleicht was zu Essen
besorgen. Ich hab tierischen Hunger,“
„Was hätte der Herr denn gerne, na?“
„Ganz egal.“
„Ok. Aber dreh dich bitte um. Wenn du mich anschaust, kann
ich mich bestimmt nicht konzentrieren. Und rücke ein bißchen
von mir weg, sonst nehme ich dich vielleicht auch noch mit.“
„Ich muß sowieso mal raus.“
Sieglinde lag allein auf der Matratze. Den praktischen Nutzen
ihrer Begabung hatte sie bisher noch nicht in Erwägung gezogen.
Nur zweimal, bei der Verbesserung ihrer Mathenoten und zur
Auffrischung ihrer CD-Sammlung benutzte sie die Traumfähig241
keiten um materielle Vorteile zu erzielen. Ansonsten hatte sie sich
mit ihren Flugabenteuern und den Experimenten begnügt, wobei
die letzteren immer so gestaltet wurden, daß niemand etwas davon
mitbekam.
Sie fand die Anwendung der Fähigkeiten ganz vernünftig,
schließlich brachte es eine neue Qualität in ihre Traumerfahrungen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich ein Ziel ausgedacht
hatte. Bei ihr zu Hause war jetzt wohl noch niemand wach und so
entschloß sie sich, dort die Vorräte etwas zu verkleinern.
Kurze Zeit später erschien sie wieder in Jo's Zimmer mit einer
Tasche voller Eßsachen. Jo kam gerade wieder herein und staunte
nicht schlecht. „Oh, ich habe Getränke vergessen,“ meinte sie.
„Kein Problem,“ beruhigte er sie, „dafür sorge ich. Komm wir
gehen in die Küche.“
Jo hatte seinen Ausflug mit Sieglinde einigermaßen verdaut.
Das mit dem kleinen Mann im Ohr, von dem er immer erzählte,
war nur eine Umschreibung von Gedankenkombinationen, die ihm
durchs Kiffen so manche brauchbare Einsicht bescherte, doch so
spektakulär wie Sieglindes Vorstellung war es lange nicht. Er akzeptierte es und ordnete es ein, als eine der vielen Phänomene, die
das Leben nun mal bereit hielt.
Sie frühstückten ausgiebig und alberten herum wie kleine
Kinder. Draußen dämmerte der Morgen; in irgend einem Zimmer
klingelte ein Wecker. Kurz später kam Hopsi in die Küche, in Boxershorts und einem total zerknitterten Gesicht.
„Wie kann man um diese Zeit so quietsch lebendig sein?“, begrüßte er die beiden und gähnte ausgiebig. Sein mit Bartstoppeln
besetztes Gesicht sah aus, als wenn es die eine oder andere Stunde
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Schlaf vermißte. „Ej, du Penner. Hast du schon wieder meinen
Kaffee genommen?“, krächzte er plötzlich, als er seine Dose
neben der Kaffeemaschine fand.
„Ich mach' dir 'ne Schnitte Brot dafür,“ sprang Sieglinde für Jo
ein.
„Es sei euch verziehen,“ beruhigte sich Hopsi. Die Regeln in so
einer Wohngemeinschaft sind im Prinzip einfach. Es wird geteilt,
was zu teilen geht. Aber es gibt auch Grenzen, meist wenn es sich
um schwer erarbeitete Luxusdinge wie etwa Kaffee handelt. Hopsi
ging einer geregelten Arbeit nach und hatte somit Anspruch auf
eigene Sachen, die er sich leisten konnte. Um Küchendienst wurde
fast nie gestritten, der fiel immer aus und jeder machte sich das
sauber, was er gerade brauchte. Aber um diese Extras gab es mehr
als einmal die Woche Zoff.
Jo hatte selten Geld und schaffte es so gerade die Miete aufzubringen. Von seiner Sicht aus war das kein Problem, doch den
anderen ging er des öfteren wegen seiner Schnorrerei auf die Nerven. So konnte man es als durchaus normal bezeichnen, daß er
plötzlich den Einfall seines Lebens hatte, wie er glaubte.
„Komm,“ sagte er zu Sieglinde. Sie gingen zurück ins Zimmer
und er unterbreitete ihr seine Idee. Kannst du uns nicht ein wenig
Kohle besorgen? Ich lieg' den Anderen ganz schön auf der Tasche. Die sind eigentlich ganz okay und manchmal ärgere ich
mich selbst darüber immer zu betteln. Dann könnte ich ihnen ein
wenig zurück geben.“
Für Sieglinde war Geld nie das große Thema gewesen, denn
bisher hatte sie durch ihr Tachengeld alles begleichen können,
was sie so brauchte - mal abgesehen von den CD's. Da sie jetzt
nicht mehr nach Hause wollte und nicht auf Kosten von Anderen
243
ihren Unterhalt zu bestreiten gedachte, fand sie den Gedanken
nahe liegend. Warum sollte sie es anders machen, wenn doch die
Möglichkeit gegeben war.
„Keine schlechte Idee,“ grübelte sie, „du mußt mir nur sagen
wo. Ich brauche schon einen Zielort, denn rum suchen ist zu umständlich.“
Sie überlegten gemeinsam und entschieden sich, erst einmal
durch die Gegend zu gehen und verschiedene Möglichkeiten auszukundschaften. Doch dafür war es noch zu früh und so
beschlossen sie, noch eine Runde zu schlafen.
Als sie sich gerade die Jeans ausziehen wollte meinte sie: „Halt
mich bitte nicht für pingelig, aber dein Bettlaken ist fast schwarz
vor Dreck. Hast du denn kein anderes?“
„Oh, wie peinlich. Ich hasse schwarz. Warte, ich hole ein
frisches.“
Wem er es abgeluchst hatte, wollte Sieglinde gar nicht wissen,
als er ein sauberes Laken über die Matratze spannte. Dann legten
sie sich nebeneinander. Jo fragte, ob sie ihn wieder entführen
würde. Sie lachte nur und meinte: „Wer weiß?“
Beide lagen auf der Seite, Jo hinter ihr. Sie nahm seine Hand
und führte sie unter ihr T-shirt, damit er ihren Bauch streicheln
konnte. Als sie merkte, daß ihn das erregte und er mehr wollte,
flüsterte sie ihm zu: „Hab noch ein bißchen Geduld mit mir. Alles
zu seiner Zeit.“
Er küßte ihre Schultern und so dämmerten sie langsam ein.
Sieglinde war so müde, daß sie auch ohne Konzentration recht
schnell in einen tiefen Schlaf sank. Im Traumkörper angekommen
spürte sie seinen langsamen tiefen Atemzüge hinter sich. „Schlaf
schön, mein Freund,“ sagte sie und stand auf. Sie schaute herunter
244
auf die beiden friedlich schlafenden Gestalten, sie war mit ihrem
Leben rundherum zufrieden.
Dann versetzte sie sich auf die kleine Insel im Fluß und hockte
sich ans Wasser um die Wellen zu beobachten, wie sie es schon so
oft getan hatte. Erst gingen ihr noch alle möglichen Eindrücke des
letzten Tages durch den Kopf, dann aber ließ sie sich von den
Wellen treiben und hörte auf zu denken. Irgend etwas zog sie fort
und sie ließ sich mitziehen.
Plötzlich stand sie mitten in einem orientalisch aussehenden
Dorf. Hohe sandsteinfarbene Mauern umschlossen die Häuser, aus
denen kleine Fensteröffnungen lugten, hoch über dem trockenen
ungepflasterten Weg. Menschen gingen an ihr vorbei ohne sie zu
beachten. Die Frauen trugen lange Kleider und hatten meist Kopftücher um; auf den Köpfen der Männer saßen Strohhüte, um den
Gesichtern Schatten zu spenden.
Es mußte sehr heiß sein in dieser Gegend, denn als sie sich umschaute, erkannte sie nur einen Baum am Brunnen eines Platzes,
wo mehrere Wege zusammenliefen. Hinter ihr auf den Feldern
konnte sie kein Grün sehen.
Die Gesichter der Menschen waren anfangs nicht erkennbar,
weil der Kontrast zwischen dem grellen Sonnenlicht und den
Schatten durch die Kopfbedeckungen dies nicht zuließ. Sie ging
zum Brunnen, wo einige Frauen damit beschäftigt waren, Eimer
an Seilen in den Schacht herab zu lassen um Wasser zu schöpfen.
Aus der Nähe betrachtet sahen die Gesichter Wetter gegerbt
und rötlich braun aus. Das müssen wohl Indianer sein überlegte
sie und somit konnte sie sich auch nicht im Orient, sondern eher in
Mittelamerika befinden.
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Die Leute anzusprechen hatte wohl keinen Sinn, wahrscheinlich konnten sie ihren Traumkörper gar nicht erkennen, denn
keiner kümmerte sich um sie. Merkwürdiger Traum, dachte sie
und ging an dem Brunnen vorbei in den Ort. Dieser endete
allerdings schon nach wenigen Häusern und sie befand sich am
Fuß eines Hügels, von wo aus ein schmaler Pfad den Berg hinauf
führte.
Oben auf der Kuppe erkannte sie ein einzel stehendes Haus mit
einer überdachten Veranda. Das Gebäude besaß eine andere Bauform als die Häuser des Dorfes; es war flach mit vielen Fenstern.
Eine starke Anziehungskraft ließ sie den Hügel hinauf gehen
und ihr wurde klar, daß sie dieses Gefühl schon von Anfang an in
ihren Träumen verspürt hatte. Doch bisher glaubte sie, es wäre ein
Bestandteil ihrer Art zu träumen, ständig von etwas angezogen zu
sein, Ausflüge zu unternehmen - einfach etwas zu suchen. Ganz
offensichtlich ging dieses Gefühl von diesem Haus aus, denn je
näher sie kam, um so aufgewühlter und zwingender empfand sie
es. Merkwürdigerweise kam ihr nichts fremd vor, es beschlich sie
vielmehr der Gedanke, an einen alt bekannten Ort zurück zu kehren.
Unter dem überdachten Vorbau saß ein alter Mann mit grauen
Haaren und glühenden Augen, die sie direkt ansahen. „Sei gegrüßt
Sieglinde. Du bist spät dran,“ sagte er und lächelte. „Ich beobachte deinen Traumkörper schon seit einiger Zeit, wie er mal hierhin,
mal dahin springt ohne Ziel und Sinn. Willst du nicht endlich mal
zur Ruhe kommen?“
Wieso konnte er sie sehen und vor allem, was sollte das alles.
„Ich bin dein Traumwächter,“ fuhr er fort, „nenn mich einfach Pedro. Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der mit sei246
nem Traumkörper umgehen kann. Aber du weißt nicht, was du
mit dieser Gabe anfangen sollst. Dabei stehst du erst am Anfang.
Was wirklich dahinter steckt und welche Ausmaße deine Fähigkeiten erreichen können, mußt du erst noch lernen. Wir die
Traumwächter werden dir den richtigen Weg zeigen. Du brauchst
nur zu wollen. Die Gabe die du hast ist deine Bestimmung. Die
Bestimmung ist das Ziel und du hast bisher nur den ersten Schritt
getan auf deinem Weg dahin. Kommst du vom Weg ab, änderst du
deine Bestimmung.“
„Ich versteh kein Wort,“ sagte sie ein wenig verzweifelt, denn
auf der einen Seite ging eine unglaubliche Kraft von dem Mann
aus, andererseits hatte er etwas strenges, unnachgiebiges, das ihr
Angst machte.
Anscheinend bekam er alles mit was sie dachte. „Du brauchst
keine Angst zu haben, nichts geschieht ohne deinen Willen. Aber
wenn du die Gabe vergeudest, trittst du ein Geschenk mit den Füßen. Und noch eines: Laß keinen Mann näher an dich heran, als es
bis jetzt schon geschehen ist. Wenn du diesen Rat mißachtest,
riskierst du deine Fähigkeiten zu verlieren. Und nun geh wieder
und denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Wenn du mich
brauchst, komm einfach her, du weißt ja jetzt, wo du mich findest.
Nun geh schon in deine kleine Welt zurück. Sorge dafür, daß dich
niemand vermißt, dann kannst du für immer zu uns kommen.“
Er wendete seinen durchdringenden Blick ab und die Anziehungskraft hielt sie nicht mehr so gefangen, wie sie es bis dahin
empfunden hatte. Sie konzentrierte sich auf Jo's Zimmer und
wechselte augenblicklich dorthin zurück. Der Traum war vorbei,
sie lag neben Jo und hatte die Augen offen. Sieglinde suchte Erklärungen; Pedro's Worte gingen ihr immer wieder durch den
247
Kopf. Welche Bestimmung meinte er?
Nach einer Weile war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie
eine reale Welt gesehen hatte oder ein Trugbild ihrer Phantasie.
Sollte es tatsächlich noch mehr Menschen geben, die wie sie mit
ihren Träumen umgingen? Sie kam nicht weiter in ihren Überlegungen. Es kam ihr gerade recht, daß Jo jetzt aufwachte und sie
von den Gedanken ablenkte.
„Ich hatte vielleicht einen irren Traum,“ sagte er sich streckend, „mein Vater hatte einen Unfall auf der Firma. Ich habe ihn
im Krankenhaus besucht und der Arzt meinte, es gehe zu Ende
mit ihm. Dabei lag der Fettsack auf seinem Bett und aß ein Kotelett nach dem anderen in sich rein. Meine Mutter saß daneben
und heulte immerzu. ,Der macht es nicht mehr lang, der schaffst
nicht mehr!' Dann meinte sie auf einmal, ich wäre der Einzige,
den sie noch hätte und ich sollte sie nur nicht im Stich lassen. Das
war der reinste Horror, echt.“
„Du Ärmster, ist ganz schön blöd, wenn man noch Altlasten
mit sich rum schleppt.“
Sieglinde wußte nicht so recht, warum sie das gesagt hatte. Der
Gedanke hatte sich unvermittelt in den Vordergrund gedrängt und
sie sprach ihn einfach aus. Jetzt wunderte sie sich über sich selbst
- und Jo erst recht.
Um dem Thema aus dem Weg zu gehen, denn irgendwie hatte
sie das Gefühl, einen wunden Punkt angesprochen zu haben, redete sie lieber weiter. „Wollen wir los? Oder hast du es dir anders
überlegt?“
Jo beschäftigte sich noch immer mit dem Ausspruch von der
Altlast und etwas gedankenverloren antwortete er: „Ja, laß uns
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abhauen.“ Er stand auf und zog die Hose an.
Unterwegs berieten sie, wie ihr Plan sich am Besten in die Tat
umsetzen ließ. Allerdings mußten sie sich einige Straßenzüge weiter eingestehen, wie schwierig es ist Geld zu klauen, wo schließlich alle Welt bargeldlos verfährt und größere Summen niemals
unbewacht herum liegen. Letztlich entschieden sie sich für die
klassische Variante eine Bank auszukundschaften, die einen
eigenen Tresorraum besaß.
In der Innenstadt fanden sie eine und Sieglinde schaute sich im
Schalterraum um, damit sie sich die Örtlichkeit einprägen konnte.
Den Nachmittag hingen sie in der Fußgängerzone rum und
Sieglinde konnte feststellen, wie viele Leute Jo kannte.
Ein neues, bisher nie erlebtes Gefühl lernte sie kennen, als er
mit zwei jungen Mädchen herum alberte und sie sich dabei mehr
als einmal umarmten und auf die Wangen küßten. Es ärgerte sie
tatsächlich, daß Jo so unbeschwert in ihrer Anwesenheit mit
anderen Mädchen rummachte. ,Wieso tut er das?', fragte sie sich.
Doch nach einer Weile kam sie zu dem Schluß, daß er sich wahrscheinlich immer so verhält und nichts besonderes daran sei.
,Vielleicht bin ich nur eifersüchtig,' dachte sie, ,schließlich gehört
er mir doch gar nicht.' Sie verdrängte die Gedanken, doch ein
zwiespältiges Gefühl blieb dennoch.
Am Abend kamen sie zurück in Jo's Zimmer und Sieglinde bat
ihn sie allein zu lassen, damit sie sich konzentrieren konnte. In ihrem Traumkörper ging sie durch die geschlossene Bank und fand
den Tresorraum. Ohne Probleme versetzte sie sich in den Innenraum und legte sich dort nieder, um ihren realen Körper nachzuholen. Dann durchstöberte sie die Regale und fand mehrere
Bündel Banknoten. Es war nicht sehr viel für einen Bankräuber,
249
aber für sie reichte es allemal.
Ins Zimmer zurück gekehrt zählten sie etwas mehr als zehntausend Euro. „Du bist ein Genie,“ jubelte Jo, „jetzt können wir
Dope kaufen so viel wir wollen. Das ist der pure Wahnsinn.“
„Da war 'ne Kamera in dem Raum, bestimmt werden die mich
suchen,“ warf Sieglinde ein.
Jo hörte erst gar nicht hin, so begeistert war er von dieser
Wende in seinem Leben. Dann reagierte er doch auf ihren Einwand. „Ach, selbst wenn die dich finden, die können dich doch
nur höchstens für drei Wochen festhalten.“
Das fand sie überhaupt nicht witzig und meinte sehr ernsthaft:
„Das war doch keine so gute Idee, glaube ich. Ich gehe nie wieder
vor die Tür.“
„Brauchst du auch gar nicht.“
„Und wenn mein Foto in der Zeitung erscheint und meine
Eltern sehen das? Mist ist das.“ Jetzt war sie gehörig sauer auf
sich selbst, auf Jo und die ganze Aktion.
Er merkte das nicht so recht, weil er das Problem dabei von
seiner Sicht aus nicht erkennen konnte. Aber Sieglinde war überaus nervös geworden und ließ nicht locker. Nun mußte Jo doch
auf sie eingehen. „Ich check das morgen aus, okay? Falls die dich
wirklich suchen, hauen wir einfach ab in irgendeine andere Stadt.
Weißt du, wir leben dann wie Bonny und Clyde und sind immer
schon weg, wenn die Cops aufkreuzen. Ist doch alles kein Problem.“
Langsam beruhigte sich Sieglinde wieder. Vielleicht hatte er ja
recht, vielleicht sah sie das Problem viel zu eng. Und außerdem
waren ihr ihre Eltern sowieso total wurscht. Jo versteckte die
Bündel zwischen seinen Büchern und nahm sich nur ein paar
250
Scheine davon, die er in seine Tasche stopfte. „Komm Sonnenschein der Nacht, ich lade dich zum Essen ein.“
Sieglinde vergaß ihre Bedenken und sie machten sich einen
schönen Abend bei Pizza und Eis. Dann besorgte Jo sich bei
einem Bekannten ein dickes Piece zum Rauchen und sie
schlenderten beim Heimweg durch den Park. Er philosophierte
über die Zukunft, was für ein tolles Leben sie führen würden und
das ihm jetzt alle total egal sein könnten.
Am Ende des Parks, zwei Querstraßen vor Jo's Haus stand ein
Polizeiwagen. Sieglinde hielt ihn am Arm fest, denn er wäre
immer weiter auf das Auto zu gelaufen. „Mach dir doch nicht in
die Hosen, die können das Geld doch erst morgen vermissen.“
„Und wenn mich meine Eltern suchen lassen?“, fragte sie. „Ich
hab keine Lust mich von denen einkassieren zu lassen.“
„Na gut, machen wir einen Umweg.“
Sieglinde fand sein sorgloses Verhalten bedenklich. War er
wirklich so naiv - oder sie einfach nur paranoid? Jedenfalls wollte
sie kein Risiko eingehen. Sie gingen also ein Stück zurück, um an
einer anderen Stelle aus dem Park zu kommen. Dort war nichts zu
sehen und sie gelangten zurück in Jo's Zimmer.
Sieglinde hatte das lockere Gefühl des Tages verloren; die neue
Situation bereitete ihr Kopfzerbrechen und Jo konnte sie auch
nicht mehr aufmuntern. „Du machst dir zu viele Gedanken. Laß
uns lieber richtig einen durchziehen, dann geht es dir bestimmt
besser.“
Doch sie hatte keine Lust und so rauchte Jo drei bis vier Joints
ganz allein. Danach hing er schlaff auf der Matratze und Sieglinde
verstand seinen Eigensinn ganz und gar nicht.
Sie machten sich für die Nacht fertig und legten sich hin. Jo
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rückte näher an sie heran und begann sie zu streicheln. Das beruhigte sie anfangs schon, doch er wollte mehr und ging dabei sehr
zielstrebig vor. „Jo, hör bitte auf,“ meinte sie, als das angenehme
Gefühl durch seine Aufdringlichkeit verflog. Er brummelte etwas
vor sich hin und drehte sich dann mit dem Rücken zu ihr und
rückte dabei ganz an die eine Seite der Matratze.
Sie schlief ein und träumte sich ohne zu ihm umzuschauen auf
ihre kleine Insel im Fluß. ,Ich muß mit ihm darüber reden, wenn
er wieder nüchtern ist,' dachte sie. ,Sicher erwartet er mehr von
mir, aber einfach benutzen lasse ich mich auch nicht.' Hier auf der
Insel ging es ihr wieder gut; sie konnte auch gar nicht mehr böse
auf ihn sein. Schließlich war es ihre erste Beziehung mit einem
Jungen und sicherlich mußte er sich noch an sie gewöhnen.
Dann fiel ihr Pedro wieder ein und ihre Gedanken kreisten um
den alten Mann mit den glühenden Augen. ,Er geht davon aus,
daß ich ganz zu ihm komme,' überlegte sie, ,wie kommt er darauf?
Oder war es doch nur ein seltsamer Traum außerhalb der
Realität?'
„Du weißt doch am Besten wie es um die Realität steht.“ Ganz
unerwartet saß Pedro plötzlich neben ihr, als sie gedankenverloren
in die Wellen starrte. Natürlich war sie überrascht, aber keineswegs erschreckt. Mit einem Mal wurde ihr klar, daß er mit seinem
Traumkörper gekommen sein mußte und das er ihr zuvor an dem
Haus mit der Veranda ebenfalls so erschienen war. Aber warum
diese heiße Gegend, welche Bewandtnis hatte die Örtlichkeit, wo
die Szene sich abgespielt hatte?
„Na, ich wohne dort und am Liebsten hält sich mein Traumkörper bei mir zu Hause auf,“ erklärte er lachend. „Du wunderst dich
doch hoffentlich nicht über die Entfernung,“ fuhr er fort, „es spielt
252
nun wirklich keine Rolle, ob man zwei Meilen zur Bank springt
oder zehntausend von einem Kontinent zum anderen.“
„Du hast das mit dem Einbruch mitgekriegt?“
„Na sicher, ich habe dir doch gesagt, daß ich dich beobachte ich bin dein Traumwächter. Aber zu der Aktion kann ich dich
nicht beglückwünschen. Du solltest darauf achten, daß dich niemand vermißt. Du aber läßt dich sogar noch filmen. Und nur, weil
so ein Nichtsnutz deine Weiblichkeit angesprochen hat.“
„Darf man als Mädchen keinen Jungen als Freund haben?“,
fragte sie etwas schnippisch.
„Freund? Was stellst du dir denn unter Freund vor? Ein Freund
ist jemand, der alles mit einem teilt, gutes wie schlechtes. Er hat ja
schon Probleme beim Teilen der guten Sachen; bei den schlechten
macht er es wie immer in seinem Leben - er zieht den Schwanz
ein.“
Sieglinde fühlte sich gekränkt. „So schlimm ist er doch gar
nicht. Vielleicht gebe ich ihm auch nicht alles was er braucht.“
„Bestimmt zählt er nicht zu den schlechten Menschen. So wie
ich das sehe ist er allerdings noch nicht reif für eine ernsthafte Beziehung. Wenn es hart auf hart kommt läuft er einfach weg. Er
muß erst noch lernen sich den Herausforderungen des Lebens zu
stellen und nicht den Weg des geringsten Widerstands zu wählen.
Und du bist einfach noch nicht stabil genug, um ihn an die Hand
zu nehmen und den richtigen Weg zu zeigen. Das was du ihm
noch nicht gegeben hast ist deine Unschuld, sonst hat er doch
schon alles von dir. Du hast ihm dein größtes Geheimnis anvertraut und was macht er damit? Er will Profit daraus schlagen. Ist
es das, was du unter Freundschaft verstehst?“
Nachdem sie sich erst gekränkt gefühlt hatte, überkam sie jetzt
253
eine Traurigkeit. Pedro hatte nicht ganz unrecht mit dem was er
sagte, doch sie fand seine Beurteilung eindeutig zu hart.
„Der Unterschied zwischen uns beiden bei der Ansicht über
deinen Freund liegt darin, daß ich sehe wie es ist und du schaust
mit den Augen eines zum ersten Mal verliebten Mädchens. Wer
von uns beiden ist wohl der objektivere? Du kannst natürlich noch
einige Zeit mit ihm verbringen und darauf hoffen, daß er sich irgendwann ändert, doch wird für dich der Preis dafür zu hoch sein.
Auch wenn du meinen Rat vielleicht nicht gerne hörst, aber du
vergeudest deine Energie und du wirst auf diese Weise deine Unschuld verlieren. Das wäre das Ende deiner Begabung. Glaube
mir, du wärst nicht die Erste, die ihr Talent verschleudert.
Hast du es denn noch immer nicht gemerkt? Du bist zu weit
höherem geboren. Deine Bestimmung ist die Zauberei und nicht
das kleingeistige Geschlängel durch eine verdorbene Gesellschaft
mit ach so vielen kranken Menschen. So lange du dich dort aufhälst, mußt du so sein wie sie, damit sie dich akzeptieren und dann
gehörst du auch zu ihnen - selbst als Außenseiter. Wer mit den
Wölfen frißt - muß auch mit ihnen heulen. Doch was wird sein,
wenn sie erkennen, daß du gar kein Wolf sondern ein Schaf bist?
Dann wirst du gefressen mein Schäfchen - mit Haut und Haaren.“
Perdros Augen nahmen an Schärfe noch zu bei seinen letzten
Worten. Sieglinde bekam jetzt richtig Angst und sie bereitete sich
auf den Rückzug vor.
„Bevor du gehst noch ein letztes Wort,“ sagte Pedro, nun
wieder in einem warmen freundlichen Ton mit verschmitzter
Miene, „ich will dir nichts vormachen. Wenn du dich für den Weg
entscheidest, die Kunst des Träumens in seiner ganzen Konsequenz zu erlernen, steht dir viel Arbeit bevor und du mußt sehr
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stark sein, denn diese Herausforderung wird dir alles abverlangen.
Aber du wirst es für dich tun, nicht für mich oder sonst irgend jemand anderen. Das Ziel des Lernweges ist die Befreiung von allen
menschlichen Schwächen. Du hast die Wahl zwischen deinem bisherigen Leben, dessen Auswirkungen dir bekannt sein dürften und
einem in voller Hingabe für das Unbekannte, ein Abenteuer für
den Geist. Vergiß meine Worte nicht und denke immer daran,
wenn du deine Unschuld verlierst, verlierst du die Aussicht auf
das Leben für die Magie - wir würden uns dann nicht mehr
sehen.“
Sieglinde wollte nicht mehr bleiben und versetzte sich zurück
in Jo's Zimmer in ihren Körper auf der Matratze. Jo lag nicht mehr
neben ihr und Sieglinde hatte Gelegenheit, sich Pedros Worte
noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen.
Hier aus der Distanz verspürte sie keine Angst mehr vor
diesem mächtigen Mann. Seine Worte hatten keinen geringen Eindruck auf sie gemacht - was war, wenn er mit allem recht hatte?
Aber war sie wirklich bereit für so ein Leben, wie er es schilderte?
Sie wußte es nicht. Aber sie spürte, daß er ein Samenkorn in sie
gepflanzt hatte und ahnte, sie würde das Aufkeimen nicht
verhindern können.
Doch den Zeitpunkt wollte sie selbst bestimmen - Jo und das
Leben mit ihm, egal wie lange noch, sollte seine Chance bekommen. ,Wo ist er denn eigentlich?', dachte sie. Falls er auf die Toilette gegangen war, müßte er doch längst schon zurück sein.
Sie wollte nachschauen, da sie selbst den Gang dahin nicht
mehr aufschieben konnte. Das Badezimmer war frei. Als sie,
immer noch mit Pedros Worten beschäftigt auf der Brille saß,
hörte sie von nebenan aus Jeanas Zimmer ein Stöhnen; kurz da255
nach ein langgezogenes ,Ah' und dann ein ,Oh ja', eindeutig Jeana
zuzuordnen.
Ein schlimmer Verdacht beschlich sie und als sie zurück im
Zimmer auf Jo's Matratze lag, versetzte sie sich in ihren Traumkörper und glitt in Jeanas Zimmer. Jo und sie trieben es miteinander und schienen überhaupt keine Veranlassung zu verspüren,
ihre Geräusche zu unterdrücken. Schockiert zog sich Sieglinde zurück.
Wieder wach weinte sie still vor sich hin. Sie hatte keine Wut
auf Jo, schließlich hatte sie ihm das vorenthalten, was er anscheinend brauchte. Aber warum hatte er nicht warten können?
Oder war es seine Art zu leben, sich zu nehmen was er brauchte,
wenn sich eine Gelegenheit ergab? Vielleicht dachte er sich auch
gar nichts dabei und es gehörte zur Normalität eine Freundin zu
haben und mit einer anderen zu schlafen?
Konnte es nicht sogar so sein, daß sie ihn und seine Einstellung
zum Leben vollkommen falsch verstand, indem sie einen Besitzanspruch auf ihn verspürte und von der egoistischen Einstellung
ausging, er gehöre nur ihr allein? All diese Gedanken spukten
kreuz und quer in ihrem Kopf herum. Es stellten sich keine Antworten ein, nur der Schmerz blieb.
Egal ob man sie nun für konservativ oder sogar prüde hielt,
dieser Art wie Jo sein Leben lebte konnte sie nichts abgewinnen.
Bei allen schönen Erlebnissen, die sie durch ihn erfahren durfte,
hier war eine Grenze, die er - egal ob mit böser Absicht oder
einfach nur gedankenlos - überschritten hatte. Sie zog sich an,
schnappte aus dem Haufen Krempel eine Jacke, steckte sich die
Hälfte des Geldes aus dem Bücherregal in die Umhängetasche und
legte sich wieder hin, um mit ihrem Traumkörper in den Park zu
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gleiten und sich selbst nach zu holen.
Dort saß sie nun auf einer Bank und fühlte sich allein und ausgenutzt. Ihr war kalt und sie wußte auch nicht wie spät es war. Wo
sollte sie jetzt hin? Zu Pedro? Plötzlich fiel ihr wieder ein, was er
gesagt hatte. Sieh zu, daß dich niemand vermißt, waren seine
Worte gewesen. Sie hatte also noch etwas zu erledigen und neuer
Lebensmut trat anstelle der tiefen Traurigkeit. ,Jo wird mich bestimmt nicht vermissen. Vielleicht ist er zwei Tage traurig, dann
wird er mich vergessen,' überlegte sie.
Nur die Sache mit dem Einbruch und ihre Eltern verblieben als
letzte zu erledigende Aufgabe. Zwischen den Bäumen hindurch
am Rand der Straße neben dem Park sah sie schon wieder ein Polizeiauto. Sie vermutete, daß man nach ihr suchte. ,Dann eben auf
die harte Tour,' entschloß sie sich, stand auf und ging in Richtung
des Streifenwagens.
Jo hatte natürlich recht, wegen des Bankeinbruchs konnte man
noch gar nicht nach ihr fahnden. Sicherlich hatten ihre Eltern eine
Vermißtenanzeige aufgegeben. Der Fahrer des Wagens kurbelte
das Seitenfenster herunter. „Na junge Frau, wohin des Weges so
spät in der Nacht?“, fragte er.
Sein Kollege raunte ihm etwas zu und der Fahrer wollte
wissen, ob sie einen Ausweis dabei hätte. Sieglinde reichte ihm
ihre ID-Karte. „Sie werden vermißt, junge Dame,“ meinte er jetzt,
„aber wie es aussieht, wollen sie ihren Ausflug von selbst beenden. Ihre Eltern machen sich Sorgen. Steigen sie ein, wir
bringen sie nach Hause.“
Sieglinde sagte kein Wort und fuhr mit den Beamten aus der
Stadt raus in den Vorort, wo sie wohnte. In der Straße sah sie kein
Licht mehr in den Häusern, doch irgendeiner von den Nachbarn
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bekam es sicherlich mit, daß sie mit einem Polizeiwagen nach
Hause gebracht wurde und morgen würde es garantiert ein
Gesprächsthema unter den Leuten.
Die Beamten gingen mit ihr an die Tür und betätigten die
Schelle. Anscheinend hatten ihre Eltern noch nicht geschlafen,
denn das Licht im Flur ging keine fünf Sekunden später an. Ihr
Vater öffnete die Haustür. „Da bist du ja, na warte, komm erst mal
rein.“
Er blieb noch einen Moment bei den Polizisten stehen und bedankte sich für ihre Hilfe. Sieglinde hörte noch beim rein Gehen,
wie einer der Beamten ihrem Vater klar machte, daß sie von allein
zurück gekommen sei und er nicht so streng mit ihr sein sollte,
denn ein Mädchen in diesem Alter müßte auch mal ausbrechen
und solange nichts passiert sei, wäre doch alles nur halb so
schlimm.
Ihre Mutter kam ihr an der Küchentür entgegen. „Kind, wie
konntest du uns das antun? Was sollen die Nachbarn nur denken?“
Ihr Vater kam hinter ihr in die Küche. „Wo warst du denn?
Kannst du mir mal erzählen, was das soll?“
Sieglinde hörte sich die Vorwürfe noch eine Weile an, dann
sagte sie in kaltem Ton: „Ich bin euch doch total egal, nur was die
Nachbarn über mich denken interessiert euch wirklich. Wie es mir
geht fragt keiner.“
„Ach, unser Fräulein Tochter ist nicht zufrieden mit ihrem
Leben hier. Wir schuften Tag für Tag, damit sie es mal besser hat
und was ist der Dank dafür?“, erregte sich ihr Vater immer weiter.
„Das was ihr an Geld anschafft ist doch gar nicht für mich, das
steckt ihr doch alles ins Auto und in das Haus. Aber die Sachen
interessieren mich gar nicht. Für mich braucht ihr das nicht zu ma258
chen.“
Jetzt war ihr Vater kurz davor ihr eine runter zu hauen. Dann
setzte er sich doch lieber und war erst einmal still. „Du riechst
nach Zigaretten, seit wann rauchst du denn?“, wollte ihre Mutter
wissen.
„Ich war mit Freunden zusammen. Ich hab das nur mal probiert, aber es schmeckt nicht.“
„Ach, unsere Tochter treibt sich mit Freunden rum, wir sind ihr
nicht mehr gut genug. Wahrscheinlich irgendwelche Hascher oder
noch schlimmeres Gesindel. Dafür habe ich mein Leben lang
nicht geschuftet. Jetzt werden andere Seiten aufgezogen, Fräulein.“
„Wie soll es denn weiter gehen, wie stellst du dir denn deine
Zukunft vor?“, fragte ihre Mutter.
„Keine Ahnung, auf jeden Fall werde ich nicht hier bleiben,
schließlich bin ich alt genug um für mich selbst zu sorgen und ich
will euch auch nicht mehr auf der Tasche liegen. Nachher muß ich
euch auch noch dankbar sein.“
Wieder zuckte der Vater mit der Hand, konnte sich aber gerade
noch beherrschen. „Ach und wie willst du das ohne Ausbildung
anstellen? Vielleicht betteln gehen oder als Putzfrau? Außerdem
kannst du ohne unser Einverständnis nirgendwo hin, ist das klar?“
In diesem Moment kam Alex die Treppe runter. „Bei eurem
Krach kann kein Mensch schlafen. Wie wäre es denn, wenn alle
erst mal zu Bett gingen. Sie ist doch wieder da und morgen sieht
alles ganz anders aus.“
Sieglinde freute sich riesig Alex zu sehen und vor allem, wie
vernünftig er die Situation anging. Vater meinte nur noch: „Ja ja,
nimm deine Schwester ruhig in Schutz. Ich werde mir noch was
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passendes einfallen lassen.“ Damit verschwand er nach oben und
die Mutter ging kopfschüttelnd und sichtbar geknickt hinter ihm
her.
Alex lächelte Sieglinde an und nahm sie an die Hand. „Komm,
ich bring' dich nach oben.“
Auf ihrem Zimmer setzte er sich neben sie aufs Bett und sie erzählte ihm kurz von ihrem Erlebnis mit Jo. Vom Kiffen und dem
Einbruch sagte sie nichts, sie hätte sonst erklären müssen, wie sie
in die Bank gekommen war. „Liebe Linde, mach dir keine Gedanken, die beruhigen sich auch wieder. Schließlich sind sie froh,
daß du wieder da bist. Die haben dich wirklich lieb, sonst würden
sie sich doch keine Sorgen machen.“
„Ach Alex, du bist der Einzige der hier lieb ist und dich werde
ich vermissen.“
„Was redest du da? Bist du wirklich fest entschlossen für
immer abzuhauen?“
„Ja, bin ich.“
„Ich verstehe dich nicht. Du hast doch gar nichts in der Hand.
Wäre es nicht besser, du machtest tatsächlich eine Ausbildung?“
„Die will ich ja machen, aber anders als du dir das vorstellst.“
Und dann erzählte sie ihm zum ersten Mal von ihren Traumerfahrungen und erinnerte ihn an die Geschehnisse damals mit
dem Schrank vor ihrer Tür. „Verdammt, und ich habe mir den
Kopf darüber zerbrochen, wie du das gemacht hast.“
Sieglinde berichtete ihm auch von dem Bankeinbruch und zeigte ihm das Geld. „Oh,“ meinte er, „das ist ja dumm.“
„Das ist auch der Grund, warum ich überhaupt noch mal zurückgekommen bin. Ich weiß nicht, wie ich da wieder raus komme.“
260
„Wieviel hat Jo denn schon ausgegeben davon?“
„Ich weiß nicht genau, vielleicht zweihundert Euro.“
„Paß auf, du kannst das Geld heute Nacht noch zurückbringen.
Jo ist doch garantiert bei der Tussy eingeschlafen. Du holst den
Rest bei ihm - ich kann es immer noch nicht fassen, wie du das
machst -, ich gebe dir zweihundert Euro und du bringst alles zurück in die Bank. Dann schaust du, ob du den Überwachungsraum
findest und dort nimmst du einfach die Kassetten von der Videoaufzeichnung mit und das ganze Problem ist gelöst“
Sieglinde war begeistert von der Idee. Sie bat ihn zu gehen,
weil sie konzentriert sein müßte. Dann führte sie den Plan aus. In
Jo's Zimmer steckte sie sich noch ihre CD's in eine Plastiktüte,
denn auch wenn sie für sich die Musik nicht mehr brauchte, so
wollte sie ihm zumindest keine Erinnerungsstücke mehr überlassen.
Die Suche nach dem Überwachungsraum dauerte eine ganze
Weile, schließlich fand sie ihn doch. Fünf Kassetten nahm sie mit
und dann war sie wieder zu Hause. Sie ging leise in Alex Zimmer
und gab ihm die Bänder und auch seine zweihundert Euro. „Behalte dein Geld, daß bißchen Verlust wird die Bank nicht umbringen. Auf jeden Fall belastet es mich überhaupt nicht,“ kicherte
sie. „Mein Bruderherz. Dich werde ich nie vergessen und eventuell besuche ich dich mal. Bitte tu mir den Gefallen und vermisse
mich nicht, denn du weißt, was ich vorhabe und daß es mir gut
geht und ich meiner Bestimmung folge. Etwas anderes kommt für
mich nicht in Frage, verstehst du das? Und grüße den Hosenschisser von mir und sag ihm, ich hätte ihn lieb, ok?“
Sie drückten sich noch eine Weile und dann ging Sieglinde zurück in ihr Zimmer, mit Tränen in den Augen. Alex hatte ihr das
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Versprechen gegeben und hinzugefügt den Eltern zu sagen, er
wüßte von nichts. Jetzt war es soweit, innerlich hatte sie mit
diesem Leben hier abgeschlossen.
Sie wußte nicht, was sie erwartete, aber Gedanken machte sie
sich keine darüber - zu überzeugend war Pedros Erscheinung.
Kein Zweifel stieg in ihr auf, daß dies die richtige Entscheidung
war.
Sie zögerte den Abgang noch etwas hinaus, um sich von ihrem
Zimmer zu verabschieden. ,Hier hat alles begonnen und hier endet
es auch,' ging es ihr durch den Kopf. ,Mitnehmen brauchst du ja
nichts und erledigt hast du auch alles,' dachte sie.
Doch da irrte sie. Denn in diesem Moment hörte sie einen
Schrei. Er kam von ihrem Bruder Benjamin. Sieglinde ging in sein
Zimmer und fand ihn zusammen gekauert und Schweiß gebadet in
der hinteren Ecke seines Bettes. „Was ist passiert?“, fragte sie ihn.
Benjamin klapperte mit den Zähnen. „Der Mann, der Mann - es
war so schrecklich.“ Das kam ihr allerdings bekannt vor. „Komm
mein Kleiner. Zieh dir einen neuen Nachtanzug an und dann gehen wir zu mir. Deinen Alpträumen werden wir jetzt das fürchten
lehren.“
Benjamin befand sich in der Phase, wo die Angst vorm Einschlafen lange Zeit dem körperlichen Bedürfnis Widerstand zu
leisten vermochte. Deshalb zögerte er bei Sieglindes Aufforderung in ihr Bett zu steigen und zu versuchen den Schlaf erneut zu finden. „Du kannst mir vertrauen kleiner Bruder. Ich hab'
da einen Trick, wie man mit dem Mann fertig wird, der dich
immer verfolgt.“
„Ja, wirklich?“ Seine Angst wurde von einer unerwarteten
Hoffnung aufgeweicht.
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„Keine Angst, dem lassen wir einfach die Luft raus.“ Sie lachte
dabei, weil er ja die Geschichte nicht kannte und diese merkwürdige Umschreibung als Ausdruck ihrer Selbstsicherheit den
anfänglichen Funken des Vertrauens zu einem kleinen Licht
anwachsen ließ. So hatte er seine Schwester noch nie erlebt, ihre
Ausstrahlung nahm ihn gefangen und er sah eine völlig neue Person in ihr. Sie war so cool, so freundlich und vor allem so stark alle seine früheren abfälligen Gedanken über sie waren vergessen.
Es dauerte mehrere Minuten bis er soviel Ruhe verspürte um
sich wieder in den Schlaf zu versenken und ohne Sieglindes Fürsorge mit Streicheln und an ihn Drücken hätte es bestimmt noch
länger gedauert. Doch sie beobachtete ihn genau und glitt erst in
dem Moment in ihren Traumkörper, als sie sicher sein konnte, daß
er eingeschlafen war.
Sie weckte seinen Traumkörper und nahm ihren erstaunten
kleinen Bruder mit in ihre Welt. Natürlich war sie sich darüber im
Klaren, daß er sich jetzt in ihrem Traum befand und dabei dem
Mann nicht begegnen konnte, aber sie vertraute darauf ihm
mindestens die Angst vorm Träumen nehmen zu können und
vielleicht fiel ihr ja für Benjamins Probleme noch etwas ein.
Gemeinsam flogen sie durch die Lüfte und Benjamin erlebte
Glücksgefühle, die er beinahe schon vergessen hatte. Schließlich
landeten sie auf Sieglindes kleiner Insel und sie fragte ihn, ob er
denn den Mann nicht suchen wolle.
„Bist du verrückt?“, entrüstete er sich, „ich bin so froh, ihn im
Moment nicht zu sehen.“
Sieglinde erklärte ihm, wie sie vorgegangen war als sie ihre
Alpträume besiegte. „Es ist der Tod, dem du in deinen Träumen
begegnest. Du hast Angst vor ihm, weil du nicht verstehen kannst
263
was der Tod ist. Du begreifst nicht, daß der Tod genauso zum
Leben gehört wie die Geburt, also etwas ganz normales ist, was
man einfach nur akzeptieren muß. Kein Mensch kann ihm entgehen, aber er holt dich erst wenn deine Zeit gekommen ist. Weil du
es bisher nicht verstanden hast, macht es dir Angst und sie macht
die Alpträume - nicht der Tod. Also mußt du die Angst bekämpfen - den Tod kannst du nicht bekämpfen.“
„Wie soll das gehen, ich zittere ja schon beim Einschlafen.“
„Du brauchst nur dir selbst befehlen, keine Angst mehr zu
haben. In deinem Traum mußt du dich daran erinnern, daß du dir
diesen Befehl gegeben hast. Das schaffst du durch ernsthaftes
ständiges Üben. Ich habe das auch so gemacht und stundenlang
auf mich eingeredet. Die Angst vorm Einschlafen hat mir sogar
dabei geholfen mich zu konzentrieren. Sobald du dich in deinem
Traum daran erinnerst, wirst du nicht mehr weglaufen, sondern
dich deiner Angst stellen. Dann ist die Zeit der Alpträume sofort
vorbei. Bei mir war es so, daß ich durch das harte Training mir im
Traum darüber bewußt wurde zu träumen, ab dem Zeitpunkt
konnte ich in meinen Träumen machen, was ich wollte.“
„Aber was ist denn in diesem Moment? Ich träume doch und
warum kann ich nicht fliegen?“
„Das ist ein bißchen anders. Du bist mein Gast, ich habe dich
abgeholt und in meinen Traum gezogen. Die Dinge die ich dir erklärt habe, mußt du in deinen eigenen Träumen erledigen. Das bedeutet, daß du erst üben mußt, bevor du einschläfst. Dann mußt du
dich deiner Angst stellen und danach wird dich der Tod in Ruhe
lassen. Er kommt nur hinter dir her, wenn du wegläufst oder ihm
anders deine Angst zeigst.“
Benjamin hockte am Wasser, die Arme eng um die Knie ge264
schlungen. So richtig zuversichtlich sah er noch nicht aus.
„Kannst du mir denn nicht helfen? Ich weiß nicht, ob ich das
alleine schaffe.“
„Natürlich kann ich dir helfen, du brauchst mich nur zu holen.
Aber wie gesagt, es geht nur in deinem Traum; deshalb übe, übe,
und übe.“
Sieglinde überlegte, ob es wirklich reichen würde. Sie hatte
ihm alles gesagt, was sie wußte und was ihr zur Beendigung der
Alpträume geholfen hatte. Aber war es auch für ihn genug? Dann
hatte sie eine Idee. „Benjamin, ich werde dir jetzt einen Freund
vorstellen, der weiß noch mehr über Träume als ich.“
Sie konzentrierte sich auf Pedro und bat ihn zu kommen. Sekunden später saß der alte Mann neben ihnen zwischen den Büschen. „Das ist Pedro, mein Lehrer,“ erklärte sie ihrem erstaunten
Bruder. „Pedro, ich möchte dich um Hilfe bitten für meinen Bruder Benjamin. Kannst du mir sagen, ob ich mich in seine Träume
versetzen kann?“
Pedro hielt die ganze Zeit seinen Blick gesenkt, anscheinend
wollte er nicht, daß Benjamin seine Augen sah. „Das ist nicht
möglich,“ begann er, „jeder Mensch träumt seine eigenen Träume,
die von seinem Willen gesteuert werden, wie du sicherlich selbst
schon gemerkt hast. Ein anderer kann da nicht eingreifen, sondern
nur beobachten. Ich tue ja auch nichts anderes bei dir.“
„Aber diese Anziehungskraft, die ich gespürt hatte ging doch
von dir aus, oder nicht?“
„Das ist ein Trick, den wir Traumwächter beherrschen.
Vielleicht bringe ich dir das eines Tages mal bei. Aber letztlich
war es dein Wille, der dich zu mir geführt hat. Das ist wie eine
Leuchtboje im Meer. Du siehst sie, aber ob du sie ansteuerst liegt
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allein bei dir. Die Gesetzte des Träumens sind nicht zu umgehen.
Dein Bruder muß genau wie du diese Dinge aus eigener Kraft bewältigen. Du hast schon alle Hilfestellung gegeben, die möglich
ist. Das hätte ich nicht besser machen können. Außerdem muß ich
dir sagen, daß ich sehr stolz auf dich bin. Deine letzten Entscheidungen waren genau von der Art, die dich auf deinem Weg ein
großes Stück weiter gebracht haben. Und du hast sogar von ganz
alleine erkannt, daß noch lange nicht alles erledigt ist. Du wirst
überrascht sein, was noch kommt. Wenn ich dir gesagt habe, du
solltest darauf achten, daß dich niemand vermißt, so steckt in
dieser Anweisung noch ein anderer Sinn. Vor allem muß du zusehen, daß du nicht noch an etwas aus deinem alten Leben hängst,
was dich eventuell wieder zurück ziehen könnte. Schließe dein
Kapitel hier sorgfältig ab und dann komm - ich warte auf dich.
Und wenn du Hilfe brauchst - ich bin immer für dich da.“
Damit verschwand er wieder und ließ eine leicht verwirrte
junge Frau und einen immer noch verwundert schauenden Jungen
zurück. Sieglinde grübelte noch ein wenig nach über Pedros
Worte. Dann fragte sie Benjamin, ob er alles verstanden hätte.
„Ja,“ meinte der, „aber warum willst du denn weg von uns?
Gerade habe ich eine Schwester bekommen, die ich vorher nie
hatte und schon will sie gehen. Warum?“
Sieglinde wußte nicht was sie sagen sollte. Jetzt war ihre
Verwirrung vollständig. Sie spürte plötzlich, daß sie ihren kleinen
Bruder liebte und auch ihre Eltern waren ihr nicht egal. Anscheinend war ihre Absicht sofort zu gehen etwas zu voreilig gewesen. Da stand ihr noch einige Aufarbeitung bevor, eine Menge
Arbeit.
Das Lob von Pedro brachte ihr die nötige Kraft, diese Aufgabe
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anzugehen. ,Wir werden das Kind schon schaukeln,' lachte sie innerlich. Dann nahm sie Benjamin und glitt zurück in ihr Bett.
Er erwachte erst gar nicht, sondern, sondern wechselte übergangslos in seinen eigenen Traum. „Ruf mich,“ flüsterte sie ihm
zu, „ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“ Dann
schlief auch sie ein nach einem überaus ereignisreichen Tag.
Ihre aktive Traumphase war für weitere drei Wochen unterbrochen. In dieser Zeit begann sie mit ihren Eltern zu reden. Über
ihre Zukunft, ihre Einstellung zur Welt und zur Gesellschaft und
auch wie sie ihre Eltern bislang sah. Und sie lernte ihnen zuzuhören, untermalt mit Kritik, aber auch mit dem festen Willen zu verstehen, warum sie so sind wie sie sind und die Dinge mit ihren
Augen zu betrachten.
Ein halbes Jahr ging vorüber und die Familie fand zurück zu
einem harmonischen Nebeneinander. Benjamin überwand seine
Alptraumphase und seine Schwester wurde für ihn die Bezugsperson in der Familie. Allerdings wollte er nicht glauben, daß er nur
geträumt haben sollte, als sie zusammen auf der Insel gewesen
waren.
Alex lernte eine Frau kennen und wie es aussah, wollten sie ihr
Leben miteinander teilen. Ihre Mutter hörte auf zu arbeiten und
kümmerte sich um den Jüngsten in der Familie. Sieglinde begann
in einer Sprachenschule spanisch zu lernen und nach entsprechender Zeit besorgte sie sich eine au-pair Anstellung im Ausland.
Dann verließ sie das Elternhaus für ein neues Leben.
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M., 1996
5. Pyrenäen-Connection
Das erste Licht des neuen Tages schimmerte am nördlichen
Rand des Horizonts des noch klaren Himmels. Die dunklen Bergkämme ragten wie Inseln aus einem Meer von Wolken heraus. Die
allmählich zunehmende Helligkeit wanderte in den Osten, während die bislang ruhige und glatte Oberfläche der Wolkenbank in
Bewegung geriet. Langsam zogen die Nebelschwaden das enge
Tal hinauf, zerzausten sich an den Bäumen um sich weiter oben in
Wolken zu sammeln. Es sah aus, als wenn der Himmel in Zeitlupentempo die weißen Massen aus dem Tal aufsaugen würde.
Die Vögel hatten schon seit einer Weile ihr Morgenlied begonnen um den Tag herbei zu rufen. Zuerst konnte man nur eine
Stimme vernehmen, jetzt zwitscherten und trillerten sie um die
Wette. Sie nutzten die Zeit vor dem kommenden Regen; die den
Berg hochziehenden Wolkenfetzen begannen sie einzuhüllen. Zu
dieser Zeit waren die Wildschweine längst wieder von ihrem täglichen Weg zur Tränke an die Lagerplätze oben in den Dickichten
der Bergkämme zurückgekehrt.
Die feuchte Kälte kroch durch das leicht geöffnete Fenster. Patrik zog seine Decke über die Schultern. Er war schon einige Minuten wach und beobachtete das Wetterschauspiel durch die
gardinenlosen Scheiben. Hier an den Nordhängen des Gebirges
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konnte das Wetter aus allen Richtungen kommen. Selbst über die
auch im Sommer von einzelnen Schneefeldern verzierte Kette der
Pyrenäen im Süden fanden die Wolken ihren Weg. Doch diese
konnte man von der kleinen Hütte aus nicht sehen, sie lag hinter
dem Bergkamm der gegenüber liegenden Seite.
Jetzt Ende September war es morgens schon recht frisch und
Patrik überlegte, wo er heute hingehen wollte um Holz zu machen. ,Du wirst einen Vorrat anlegen müssen,' überlegte er. Der
Sommer war vorüber und Regentage kündigten sich an. Hier auf
der französischen Seite des in ost-west Richtung verlaufenden Gebirges gab es reichlich Niederschlag, doch entschädigten die warmen Temperaturen für die hohe Feuchtigkeit.
Patriks Hütte lag auf einer Höhe von etwa tausend Meter, wo
die Vegetation noch üppig war. Die Baumgrenze verlief ungefähr
zweihundert bis dreihundert Meter weiter oben; man konnte sie an
der gegenüber liegenden Hangseite erkennen. Das Tälchen endete
in süd-westlicher Richtung unterhalb der höchsten sichtbaren
Erhebung dieser Gegend. Patrik nannte ihn den Hausberg, denn
wenn er bei schönem Wetter Lust zum Wandern verspürte,
kletterte er dort in einem Tagesmarsch hinauf, um sich an dem
atemberaubenden Anblick des Gebirges im Süden zu erfreuen.
Hier auf dem Nordwesthang des Tals, wo die Sonne immer als
erstes hinschaute - wenn nicht gerade wie heute Regen angesagt
war - wuchs alles prächtig. Es war nicht ganz so ertragreich wie
auf gleicher Höhe der gegenüber liegenden Seite, an der die
Sonnenstrahlen noch bis spät abends hin schienen, aber es reichte
vollkommen aus, um einen Menschen ganzjährig mit Nahrung zu
versorgen. Getreide konnte man in diesen Regionen nicht mehr
anbauen, das reifte nur in einer Höhe bis etwa achthundert Meter.
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Es gehörte schon ein wenig Kenntnis über Gartenbau dazu, in
den wenigen fruchtbaren Monaten des Jahres soviel wie nötig an
Gemüse zu ernten. Erschwerend kam noch hinzu, daß die engen
Täler der Ariege sehr steil waren und man sich nur durch Terrassenbau die Krume erhalten konnte. Ohne die vielen kleinen
Mäuerchen hätte der ergiebige Regen die Gartenerde längst den
Berg runter gespült und nur Wiesen und Farnfelder blieben an den
waldfreien Bereichen übrig.
Am unteren Ende des Tals, wo die letzten noch nicht in die
Städte geflüchteten oder ins Heim abgeschobenen Alten wohnten
gab es Getreidefelder. Die Landwirtschaft in dieser Region war
sehr mühselig, vor allem wenn man beabsichtigte ein ertragreiches
Geschäft damit betreiben zu wollen. Der reine Selbstversorger,
wie zum Beispiel Patrik oder die anderen Aussteiger im Tal, die
sich zwischen Teerstraße und absoluter Einöde angesiedelt hatten,
brauchten sich keine Sorgen über die Ernährung zu machen. Man
benötigte einfach nur einen austrainierten Körper und viel Lust an
harter Arbeit um zurecht zu kommen.
Das Korn konnte durch den Überschuß an Gemüse eingetauscht werden und wer nicht auf Seife und Zahnpasta verzichten
wollte, brauchte eben noch etwas mehr zum Tauschen. Im
Moment machte sich Patrik keinerlei Gedanken über die Zukunft.
Als er vor zwei Jahren seine Zelte in Deutschland abbrach, verkaufte er alles, löste auch Lebensversicherung und Bausparverträge auf und zehrte jetzt diese Reserven auf, bis er in ein bis zwei
Jahren - wie er hoffte - soviel Überschuß an Gemüse herstellen
konnte, um sich ein vollkommen autarkes Leben zu ermöglichen.
Wenn er sich mal die Mühe machte zusammen zu rechnen, was
er so im Monat ausgab, kam er auf etwa einhundertundfünfzig
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Euro. In diesen Kosten war sogar die eine oder andere Flasche
Wein enthalten und selbst sein noch immer nicht ganz versiegter
Drang nach fleischlicher Nahrung wurde in ausreichendem Maße
befriedigt. Einen sehr großen Teil dieser Ausgaben verschlang
sein Begleiter Stromer, ein Mischlingshund der nicht ganz zufrieden zu stellen war mit den Resten, die Patrik ihm übrig ließ.
Patrik rechnete damit, daß die monatlichen Kosten im Laufe
der Zeit eher weniger würden und beim Überschlagen seiner finanziellen Reserven konnte er noch locker zehn bis zwölf Jahre
durchhalten. Die Einsparungen, die er anstrebte betrafen unter
anderem Öl, Seife und Zahnpasta. Öl wollte er ab dem nächsten
Jahr aus Sonnenblumenkernen gewinnen, dazu hatte er sich eine
alte Ölpressen besorgt, die er im Winter auf Vordermann zu
bringen gedachte. Für die Herstellung von Seife hatte er ein Rezept gefunden und mit dem ausreichenden Basisstoff Öl im nächsten Jahr wäre auch dieses Ziel realisierbar.
Zum Zähne putzen war Zahnpasta nicht zu ersetzen, aber nur,
weil Patrik den Frischeeffekt liebte und sich nur widerstrebend
mit dem Gedanken auseinander setzte darauf zu verzichten. Er
wußte schon, daß man seine Zähne auch ohne diesen Zusatz
gesund halten konnte. Das Thema Gesundheit spielte in seinen
Plänen keine so wichtige Rolle. Er verzichtete auf eine Krankenversicherung und vertraute darauf vorsichtig zu sein, um sich
nicht schlimmer zu verletzen. Die Ernährung, die im Gegensatz zu
seinem früheren Leben alles beinhaltete, was man zur Gesundhaltung des Körpers brauchte war der Grundbaustein seines Vertrauens, keine Versicherung zu brauchen.
Patrik hatte die dreißig überschritten und fühlte sich stark und
widerstandsfähig genug für dieses Leben hier. Wenn er irgend272
wann einmal Angst vorm krank werden bekommen sollte, wäre es
Zeit von hier zu verschwinden, weil er dann auch nicht mehr
hierher gehörte.
Inzwischen angezogen stieg er die Treppe zur Küche hinab.
Ein wenig Wärme und eine heiße Tasse Tee würde ihm gewiß
jetzt gut tun, weshalb er im Herd nachschaute, ob noch Glut vom
Vorabend vorhanden war. Das reichte nicht mehr aus, um ein Feuer zu entfachen. Er reinigte den Rost und brachte den Aschkasten
raus, um ihn auf dem Komposthaufen zu entleeren. Da kam auch
schon Stromer angesprungen, um ihn wie jeden morgen zu begrüßen.
Vor zwei Monaten hatte er ihm eine Regen geschützte Hütte
draußen gebaut, weil Stromer einfach nicht lernen wollte, daß
man nachts in der Küche nicht alles durchwühlen darf. Im Winter
würde er ihn wieder in die Küche lassen müssen mit einer Decke
vorm Herd - dafür mußte der Mülleimer dann raus. Die Lösung
jetzt mit der Hütte draußen war auch für Stromer angenehm. So
konnte er nachts die Füchse vom Hühnerstall fern halten, schließlich braucht ein Hund eine Aufgabe und er fühlte sich in der Rolle
als Nachtwächter recht wohl.
„Ja, du kriegst ja gleich was,“ begrüßte Patrik seinen Gefährten
und tätschelte im den Hinterlauf, woraufhin Stromer vor der Eingangstür Platz machte. Mit leerem Kasten zurück öffnete Patrik
die Tür und Stromer konnte es kaum erwarten an seinen Napf zu
kommen. Der wurde erst einmal gefüllt, dann war das Feuer dran.
Während der Kessel für das Teewasser langsam heiß wurde,
machte sich Patrik eine Schnitte vom selbst gebackenen Brot und
bestrich sie mit Honig. Butter oder Margarine zu kaufen hatte er
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sich ganz abgewöhnt, es schmeckte auch so. Den Honig stellte er
nicht selbst her; er kannte Leute unten in der kleinen Stadt, die
früher auch hier oben im Tal gewohnt hatten, jetzt aber wieder die
Nähe der Zivilisation suchten. Sie versorgten mit ihrer Imkerei
das ganze Tal mit hochwertigem Honig zu einem fairen Preis.
Einmal pro Woche ging Patrik die acht Kilometer runter zum
Markttag. Dort trafen sich die meisten der Aussteiger um Dinge
zu kaufen, die sie oben vermißten, aber vor allem um Neuigkeiten
auszutauschen und die Kontakte zu pflegen. Insofern war das
Leben im schönen Tal L'Amas keineswegs ein Einsiedlerdasein,
sondern eher ein der Zivilisation entrücktes Leben. Patrik zählte
nicht allein zu den Einzelgängern unter den Spät-Hippies, doch
die meisten lebten in Familien zusammen.
Das er bei den anderen besondere Anerkennung genoß, nahm
er nur so nebenbei zur Kenntnis. Denn je weiter oben jemand lebte, um so beschwerlicher gestaltete sich der Alltag und das Überleben. Doch brachte er diesen Umstand nicht mit einem Verdienst
seinerseits in Verbindung, sondern betrachtete es eher als Zufall,
weil er vor zwei Jahren keinen anderen Ort mit ähnlich guten Bedingungen gefunden hatte.
Die Familien die im Tal lebten, waren teilweise recht groß und
zwei Pärchen durften sich sogar schon Großeltern nennen lassen.
Die ganze Gruppe der Aussteiger, die sich aus mehreren Nationalitäten zusammen setzte, wurde von den Einheimischen sehr geschätzt. Denn zum Einen wußten die Hippies - wie sie genannt
wurden - pfleglich mit dem Boden umzugehen und anderseits
waren die älteren Ortsansässigen sehr zufrieden mit dem Umstand, daß ihr Kulturbereich belebt blieb. Gerade auch deshalb,
weil die meisten der eigenen Kinder längst die Flucht in die Groß274
städte angetreten hatte und anscheinend das einfache Leben nicht
zu schätzen wußten.
Störfaktoren dieser Idylle waren fast immer nur die Touristen.
Wobei es sich dabei nur um solche handelte, die vom Leben in
den Hochtälern der Ariege gehört hatten und selbst - in der Regel
meist kurzfristig - ausprobieren wollten, ob das Leben außerhalb
der Zivilisation tatsächlich auch in der Praxis so war, wie sie es
sich erträumt hatten.
Andere Touristen verließen die Hauptstraßen nur selten; die
meisten fuhren sogar einfach nur durch, weil es keine Attraktionen gab, die sie hätte zum Stehenbleiben verführen können.
Das Tal L'Amas konnte man nicht zu den touristisch
erschlossenen Tälern zählen. Selbst für Wintersportler gab es hier
kein Angebot, wie etwa in den Nachbartälern. Darüber waren
eigentlich alle sehr froh, denn die meisten unter den Einwohnern
verzichteten lieber auf die zusätzlichen Einnahmen, als ständig
dem Spektakel ausgesetzt zu sein, den Touristen dieser Art nun
mal mit sich bringen.
Patrik hatte im letzten Sommer einmal eine mountain-bikeGruppe in der Nähe seiner Hütte auf der anderen Seite des Berges
beobachtet, die sich offensichtlich verfahren hatte und wild gestikulierend eine Landkarte beschimpften. Das blieb seine einzige
Begegnung mit Fremden außerhalb des Marktes.
Die Häuser und Hütten im Tal hatten alle eigene Namen, wie
es in Frankreich so üblich ist. Doch waren sie nicht durchweg
ganzjährig bewohnt, was Patrik durchaus als Vorteil ansah. Nicht
etwa weil er mit Menschen nicht zurecht kam, sondern weil die
Absicht die Einsamkeit zu suchen schon ihre Ursache hatte. Früher - so formulierte er es selbst - hatte er Begegnungen konsu275
miert, was ihn eher in eine Oberflächlichkeit trieb, als das Bedürfnis nach Kommunikation zu befriedigen. Er glaubte sogar, daß
dies der Grund gewesen sein mußte, warum seine Ehe zerbrach,
womit er den eigenen Anteil, der zur Trennung geführt hatte, sehr
realistisch einschätzte.
Die häufigste Frage, die ihm von Besuchern oder in Briefen
von Freunden aus Deutschland gestellt wurde lautete, ob er denn
den Sex nicht vermissen würde. Im Moment befaßte er sich ganz
und gar nicht mit diesem Thema, denn auch hierbei glaubte er
alles schon erlebt und gesehen zu haben. Jedenfalls hatte ihm das
in den letzten zwei Jahren in seiner Cabanne, wie seine Hütte genannt wurde, keinerlei Probleme bereitet. Ganz im Gegenteil, die
Verpflichtungen und Kompromisse der Zweierbeziehung waren
ihm früher ganz gehörig auf die Nerven gegangen und der Zustand jetzt kam ihm wie eine Befreiung vor.
Das Teewasser kochte und Patrik nahm eine Hand voll getrocknete Pfefferminze aus einem Säckchen, das von dem Deckenbalken herab hing und warf sie in die Kanne. Er legte noch ein paar
Holzscheite nach und schaute nach draußen. Es hatte angefangen
zu regnen und von den Vögeln war nichts mehr zu hören. Aus
dem Tal schrie Filou, der Esel vom Haus Ramonat, der anscheinend nicht begeistert war, jetzt arbeiten zu müssen.
Patrik kontrollierte die Ladeanzeige der Batterie und schaltete
das Radio an. Ganz ohne Zivilisation wollte er hier oben nicht
auskommen, deshalb hatte er zwei Sonnenkollektoren auf das
Dach montiert, als er in die Hütte gezogen war. So bekam er im
Sommer ganztägig und im Winter mindestens für fünf Stunden
Strom, den er allerdings nie ganz benötigte. Er setzte sich wieder
und genoß jetzt die heiße Tasse Tee und so langsam wurde es Zeit
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das Tagwerk zu beginnen.
Noch nicht einmal hatte er den Schritt in dieses Leben bereut.
Hier war alles vorhanden, was man so brauchte. In der Küche gab
es fließendes Wasser aus einer Leitung, die er über Staufässer direkt an eine Quelle angeschlossen hatte. Wärme bekam er durch
Arbeiten oder den Herd, wobei er für das Holz machen selbst ungefähr zwei Stunden pro Tag aufwenden mußte.
Wenn er Bedarf auf Unterhaltung verspürte besuchte er Nachbarn; das nächste ständig besetzte Haus lag etwa zwei Kilometer
entfernt. Das wichtigste, was man zum Leben brauchte, gab es
hier sogar im Überfluß - den Frieden. Das Eingebundensein in die
Natur, die überaus gute Nahrung und die Ruhe taten ihr übriges,
um seine Zufriedenheit ständig hoch zu halten.
Selbst die langen Winter konnten seinem positiven Gefühl
keinen Abbruch tun, zumal sich die kalte Jahreszeit in dieser Region anders zeigte, als er es von Deutschland her gewohnt war.
Selten gab es lange Frostperioden, auch der Schnee blieb nur über
kurze Zeiträume liegen, selbst wenn es über Nacht mal einen
ganzen Meter geschneit hatte. Patrik konnte sich daran erinnern,
daß einmal die Ausgangstür vollkommen zuschneite und innerhalb eines Tages der Schnee von der Sonne wieder getaut
wurde.
Mit einer guten Vorratswirtschaft und genügend Phantasie die
Zeit auszufüllen, waren ihm die Monate zwischen November und
März noch nicht langweilig vorgekommen. Er lehnte es grundsätzlich ab, sich Sorgen über die Zukunft zu machen. Sollte sich
eines Tages Mißmut und Langeweile einstellen, müßte er dann
darauf reagieren - aber nicht heute.
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Er zog sich seine Bergstiefel an und streifte den Regenponcho
über. Vor der Hütte hing die Säge an ihrem Platz und Patrik zog
die Tür hinter sich zu - abschließen war hier oben nicht üblich.
Stromer voraus gingen sie den schmalen Fußweg vom Haus zum
oberhalb der Hütte verlaufenden Waldweg. Im Umkreis von
hundertfünfzig Metern hatte er den Buchenwald schon von den
Dürrständern befreit.
Buchenholz war hier oben das ideale Brennholz. Nicht nur weil
es besonders gut Hitze abgab und wenig Rauch im trockenen Zustand entwickelte, es gab es auch in rauhen Mengen und ließ sich
einfach besorgen. Man brauchte nur, wenn man aufmerksam das
Verhalten der Natur beobachtet, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Patrik verwendete ausschließlich Buche zum Heizen und für
die Feuerstelle draußen, wo er wenn das Wetter es zuließ, kochte
und Brot backte. Man mußte keine gesunden Bäume dafür fällen,
zumal die Trocknungszeit Jahre dauerte. In den Buchenwäldern
standen reichlich abgestorbene Stämme, die wenn sie gerade begannen die Rinde abzustoßen, ideal waren um den Holzbedarf zu
decken.
Dabei hielt sich Patrik auf Grund der steilen Hänge immer an
die Bereiche, die oberhalb des Waldweges lagen. Der Transport
der Stämme abwärts war um ein vielfaches einfacher, als sie Berg
hoch zu wuchten. Nach zehn Minuten Suchen und mehreren Ausrutschern auf feuchtem Laub fand er zwei passende Dürrständer
und sägte sie kurz über dem Boden ab. Dann zog er sie bis auf den
Waldweg hinunter, um sie dort in tragbare Stücke zu zerlegen.
Stromer kannte die Prozedur schon ausgiebig und ging seinen
Geschäften nach. Eine halbe Stunde später hatte Patrik die Stücke
am Sägeplatz neben der Hütte liegen und begann sofort damit sie
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in ofengerechte Länge zu zersägen. Den Poncho hatte er längste
schon wieder zum Trocknen in der Hütte aufgehängt und es störte
ihn keineswegs, daß er von außen und durch Schwitzen immer
nasser wurde.
Als letzten Arbeitsgang spaltete er die handlichen Stücke und
brachte sie dann in die Küche, um sie neben dem Herd aufzustapeln, damit die Feuchtigkeit, die durch den Transport hängen geblieben war verdunsten konnte. Nach drei Stunden war die Arbeit
getan und er ging vollkommen durchnäßt zurück in die Hütte.
Jetzt hatte auch Stromer genug vom Regen und legte sich zum
Trocknen neben den Ofen.
Patrik wechselte die Kleidung komplett und hängte zum ersten
Mal seit Monaten wieder ein Halstuch um, damit die nassen Haare
den Nacken nicht berührten. Dieser gesamte Arbeitsgang einschließlich des Kleidungswechsels verlief schon nach Routine,
das Wetter prägte halt den ganzen Ablauf des Lebens entscheidend.
Ein Außenstehender hätte vielleicht die Befürchtung geäußert,
daß man sich doch eine Erkältung holen müßte. Höchst wahrscheinlich hätte Patrik nur darüber gelacht, denn die übertriebenen
Sicherheitsbedenken der Städter konnte er schon eine Weile nicht
mehr nachvollziehen.
Das einzige was er wirklich hinderlich fand, waren die
Schwielen an den Händen. Denn einer seiner Lieblingsbeschäftigungen in der Freizeit war das Gitarre spielen. Das konnte er nach
der Holz-action, wie er es nannte komplett vergessen. Ein
einigermaßen brauchbares Greifen der Saiten ließ sich nach so
einer Arbeit nicht mehr erreichen, weshalb er das Spielen des Instruments nur noch auf den Sonntag legte.
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Am Sonntag arbeitete Patrik grundsätzlich nicht; das war für
ihn ein Ritual, das er liebte und auch befolgte. Dafür machte er
gerne samstags etwas länger Brennholz. Die Haare mußten jetzt
erst einmal trocknen, dafür holte er sich einen Schemel und ein
Buch und setzte sich nahe an den Herd, nachdem er das Radio
wieder angemacht hatte.
Kurz vor Mittag zog er sich die Gummistiefel und den Parka an
um ins Gewächshaus zu gehen. Das sechs mal vier Meter große
Häuschen lag vier Terrassen tiefer an der Seite des Grundstücks,
wo die Sonne am längsten hin schien. Die Holzkonstruktion
bestand aus Esche, da diese Baumsorte in Frankreich besonders
gerade wächst. Die Wände waren aus durchsichtiger Plastikfolie
und das Dach hatte er mit welligen, ebenfalls durchsichtigen
Elementen gedeckt. An sich konnte man die Art der Bauweise als
primitiv betrachten, doch sie erfüllte voll und ganz ihren Zweck.
Für Patrik hatte es jedenfalls einen unschätzbaren Wert, zumal der
Transport der wenigen zugekauften Teile von der Straße hier hoch
schon genug Schweiß gekostet hatte.
Das maison verte war sein ganzer Stolz, es stellte so etwas wie
das heimliche Zentrum des Gartens dar. Denn im Frühjahr, wenn
der Boden im Freien noch schlief, zog er dort die nötigen stark
zehrenden Pflanzen vor. Gleichzeitig konnten die auch später im
Gewächshaus verbleibenden Gemüsesorten, die kein Regenwasser
am Blatt vertrugen als Zwischenfrucht gesetzt werden. Später
wenn die Setzlinge für draußen umgepflanzt wurden, gehörte ihnen das Haus allein. Jetzt hatte er Mühe durch das Dickicht von
Tomaten- und Paprikastauden zu gelangen.
Der Trick für eine möglichst lange Versorgung durch frisches
Gemüse bestand darin, nicht alle Pflanzen gleichzeitig hoch zu
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ziehen, sondern in gewissen Abständen zwischen April und Juni.
Die letzte Tomate des Jahres konnte Patrik Ende Oktober ernten
und der reichliche Überschuß aus dem August wanderte in Gläser
zum Einkochen und kam im Winter auf den Tisch. Selbst nach
Oktober, wenn die Tomatenpflanzen längst entfernt waren, wuchs
noch Blattgemüse bis zum Neuaufbau der Gewächshauserde im
Februar.
Die Grundlage dieser ertragreichen Arbeitsweise entstand aus
der Art der Bodenbehandlung. Dazu gehörte Pferdemist, den Patrik mit Hilfe des Back-boards innerhalb einer Februarwoche aus
dem Tal holte, um ihn als unterste Schicht des neu aufzubauenden
Bodens einzubringen. Das gab monatelang Wärme von unten.
Darüber wurde eine dicke Lage der alten Erde gehäuft und oben
eine weitere als Mischung aus selbst angelegtem Kompost und
alter Erde.
Ein weiterer wichtiger Punkt der Bodenbehandlung war die
Abdeckung, denn zu keiner Zeit darf Gartenerde dem Licht ausgesetzt sein, auch nicht im Gewächshaus. Als Material verwendete
er getrockneten Wurmfarn, den es in der Umgebung im Überfluß
gab. Er nahm ihn natürlich auch für das Freiland, wo es zusätzlich
den Boden vor Auswaschung schützte.
Diese Farnsorte war ein ungemein wichtiger Rohstoff und
wurde von Patrik überaus geschätzt. Er stellte in den nahen Farnfeldern sogenannte Reiter auf. Das waren dünne Stangen aus
Holz, die er in bestimmten Abständen in den Boden trieb und
oben mit einem Seil verband. Wenn der Farn hoch genug gewachsen war, schnitt er ihn mit einer Sichel ab, legte die riesigen
Wedel über die Seile der Reiter und ließ sie über einen Monat in
der Sonne trocknen. Es störte nicht, wenn es zwischendurch
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regnete, Hauptsache sie lagen nicht am Boden, denn dort verdichteten die Blätter und schimmelten.
Nach einigen Sonnentagen in Folge befand sich keinerlei
Feuchtigkeit mehr in den Blättern; dann wurden sie eingesammelt
und in der Lagerhütte hinter der Cabanne verstaut. Einen Teil
brauchte er für die Hühner, damit sie immer trocken standen,
einen weiteren Teil benutze er für die Bodendeckung des Gartens.
Auch für sich selbst konnte er es gut gebrauchen. Zweimal im
Jahr heckselte er eine ausreichende Menge der Farnwedeln, entfernte die harten Stiele und stopfte das Zeug in seine Matratze,
wobei das verbrauchte Material auf den Kompost wanderte.
Farn hat die Eigenschaft über lange Zeit Sonnenenergie zu
speichern und somit war es gerade im Winter eine Wohltat auf
einer wärmenden Unterlage zu schlafen. Das man dabei in der
ersten Woche hier und dort gepikst wurde war nicht wirklich tragisch. Es dauerte halt eine Weile, bis der Körper sich die Unterlage zurechtgelegt hatte. Das mit den Reitern war Patriks ureigene Erfindung, auf die er sehr stolz war, auch wenn er es
eigentlich der Natur abgeschaut hatte - er hatte es lediglich rationalisiert.
Neben der Bodenabdeckung spielt die Kompostwirtschaft eine
entscheidende Rolle für der ertragreichen Gartenbau. Das gehörte
zwar zu den mühseligsten Arbeiten, vor allem wenn man neu beginnt, aber es lohnt sich auf jeden Fall. Am Anfang mußte Patrik
körbeweise Waldboden herbei schleppen, denn der gute Kompost
reift erst nach einem Jahr. Deshalb gehörte das Anlegen auch zu
den ersten Arbeiten, die Patrik kurz nach dem Einziehen erledigt
hatte. Jetzt war der Arbeitsaufwand gar nicht mehr so groß, denn
den Haufen fürs nächste Jahr hatte er bereits fertig gestellt und der
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fürs Übernächste wuchs schon mit Hilfe der Küchenabfälle heran.
Den galt es, wenn er die richtige Größe hatte noch einmal umzuschichten und abzudecken.
Manches Mal hatte Patrik daran gedacht wie froh er darüber
sein konnte, als Jugendlicher viel Zeit bei seinem Großvater zugebracht zu haben, der ihm all diese Kenntnisse über Gartenbau
beigebracht hatte. Was er sonst speziell auf diese Region bezogen
wissen mußte, lernte er durch Beobachten. Wie er beispielsweise
mit dem Schneckenbefall fertig werden konnte, hatte er schon bei
seinem Opa gelernt.
Hier waren es die Mäuse, die ihm Sorgen bereiteten, die sich
vor allem an dem Wurzelgemüse schadlos hielten. Da Miez seine
Katze nicht in den eingezäunten Bereich des Gartens hinein durfte, mußte er sich selber helfen. Er benutze dazu Eisenstangen, die
an verschiedenen Ecken der Beete im Boden steckten. Täglich ein
paar Schläge mit einem Hammer auf das obere Ende der Stangen
vertrieb die Plagegeister wenigstens soweit, daß sich der Schaden
in Grenzen hielt. Man brauchte sie nicht mittels Fallen zu töten,
denn die unterirdischen Schallwellen reichten aus - die mochten
sie überhaupt nicht.
Patrik verließ die feuchte Wärme des Gewächshauses mit zwei
Tomaten und einer Paprika in der Hand und ging zurück in die
Hütte. Er dachte dabei an die Kastanien, die in Wälder wo die Buche nicht dominierte für reichlich Nahrung sorgte. Es würde Zeit
sich mal umzuschauen, ob die grünen stacheligen Früchte schon
von den Bäumen fielen.
Er bereitete sich ein Mittagessen mit viel Zwiebeln und Knoblauch und ließ es sich schmecken. Das was er nicht schaffte fand
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in Stromer einen dankbaren Abnehmer. Die Katze hatte er heute
noch gar nicht gesehen - wahrscheinlich versteckte sie sich irgendwo vor dem Regen und kam erst zur Nacht wieder heraus.
„Hallo Haus,“ rief es von draußen, „ist jemand da?“ Stromer
rannte kläffend zur Tür, fing aber währenddessen mit dem
Schwanz zu wedeln an; er hatte den Besucher schon am Geruch
erkannt. Es war Indianer, der den Spitznamen seinem Aussahen zu
verdanken hatte. Eigentlich hieß er Waldemar mit Vornamen,
doch erstens wußte das kaum jemand im Tal und zweitens mochte
er den Namen überhaupt nicht.
Indianer öffnete die Tür um von Stromer freudig begrüßt zu
werden. An dessen Reaktion konnte man erkennen, daß er auch
froh über jeden Besucher war, was Abwechslung in den Alltag
brachte.
„Komm rein und häng' deine Klamotten zum Trocknen auf,“
sagte Patrik. Nach der Begrüßung tranken sie gemeinsam Tee.
„Weswegen ich vorbei komme,“ meinte Indianer, „es ist Zeit
Äpfel zu holen. Willst du mit?“
„Na klar,“ erwiderte Patrik, „ich war schon zweimal unten.
Wenn es jetzt länger Regen gibt, fangen sie an zu faulen.“
„Genau deshalb, deswegen.“
Indianer lebte mit seiner Freundin Uschi und zwei Kindern im
nächst bewohnten Haus auf selber Höhe. Er hatte mit den anderen
wenig zu schaffen und ließ seine Freundin grundsätzlich allein
zum Marktag gehen. Mit Patrik war er anscheinend gern zusammen und sie hatten einiges an gemeinsamen Arbeiten geschafft. Patrik interessierte es nicht, warum Indianer den Kontakt
mit den anderen nicht wollte. Er kam gut mit ihm zurecht und da
hier oben Nachbarschaftshilfe das Überleben sicherte, war gegen
284
freundschaftliche Beziehungen nichts einzuwenden. Man sah sich
halt einmal pro Woche und stellte keinerlei Ansprüche auf mehr.
Indianer und Uschi sprachen kein Wort französisch und
schienen auch kein Interesse daran zu haben es zu lernen. Das war
nicht sehr hilfreich bei Einkäufen, womit Indianer allerdings sowieso nichts zu tun hatte, denn das überließ er seiner Freundin.
Hier oben wurde nicht nach Beweggründen gefragt, es gehörte zu
den Gepflogenheiten Menschen so zu lassen, wie sie gerne sein
möchten. Wenn aber jemand das Bedürfnis auf Reden hatte, fand
er immer in jedem Haus ein offenes Ohr. Die Leute die keinen
Draht zueinander hatten gingen sich aus dem Weg, was in dieser
Gegend überhaupt nicht schwierig war.
Die Regensachen vom Indianer waren zwar noch nicht trocken,
aber sie brachen dennoch auf, denn man wird von der Feuchtigkeit
nicht sofort krank, solange man sich bewegt. Und Bewegung gab
es in Hülle und Fülle. Allein der Weg hinab zu den Obstgärten der
Bauern wäre für viele Hobbyspaziergänger in Deutschland schon
eine Herausforderung gewesen. Die beiden sehnigen und durchtrainierten Männer machten sich einen Spaß daraus, querfeldein
den kürzesten Weg bergab zu nehmen. Man konnte auch über verschlungene Fußwege ins Tal gelangen, doch das war nichts für die
beiden.
Wenn man den Waldweg oberhalb von Patriks Haus etwa zwei
Kilometer horizontal in Richtung Norden folgte, war ab da die
Entfernung zu den Obstbäumen nur noch ein Katzensprung. Und
so sprangen sie in gerader Linie in großen Sätzen, die Hacken der
Gummistiefel in den weichen Waldboden rammend den Steilhang
hinunter. Das Tempo bestimmte die Schwerkraft, man mußte nur
die Balance halten und darauf achten nicht auf einer Wurzel auf285
zukommen. Wenn dabei ab und zu das Hinterteil aushelfen mußte,
um nicht Kopfüber zu stürzen, erhöhte das nur den Spaß.
Es dauerte kaum fünf Minuten, da waren sie auch schon einen
Kilometer tiefer am unteren Waldrand. Sie stoppten den waghalsigen Sprint und legten jetzt ein gemächliches Tempo ein. Ihr
Blick fiel auf die saftigen Weiden und noch weiter unten konnten
sie das Dorf, wo die einheimischen Bauern lebten erkennen. Unterhalb der Bergwiese befand sich ein Fußweg, den sie in Richtung Dorf weiter gingen und der sie nach kurzer Zeit an die Obstbäume brachte. Hier waren die Weiden eingezäunt, denn sie
wurden für die wenigen noch verbliebenden Kühe benötigt.
An den Apfelbäumen angelangt ließen sie ihre Rucksäcke am
Zaunpfahl hängen. In mitgebrachten Stofftaschen begannen sie
die am Boden liegenden Äpfel einzusammeln. Das war ein Übereinkommen mit den Bauern. Weil sie selbst das herunter gefallene
Obst nicht verwendeten und es verrotten ließen, hatten sie nichts
dagegen, wenn die Hippies das Zeug wegholten. Für die Pflege
der Bäume fanden sie keine Zeit mehr, nur was noch an den
Stielen hing, pflückten sie sich nach Bedarf.
Patrik hatte es sich nicht nehmen lassen direkt im ersten Jahr
die Bäume zu behandeln. Im Herbst beschnitt er die Äste und verpaßte etwa zehn Bäumen eine Baumscheibe. Als Ferdinand, der
Besitzer ihn bei der nächsten Begegnung irgendwo beim Hüten
der Kühe darauf ansprach, was das bedeuten sollte, hatte ihm Patrik das erklärt. Baumscheiben anlegen bedeutet, den Boden um
den Baum im Umfang der Krone umzugraben, mit Kompost anzureichern und einer Bodendeckung zu versehen. Das kannte Ferdinand noch nicht, aber im nächsten Jahr bei der Apfelernte hatte er
wohl selbst gemerkt, wieviel mehr Obst an den Zweigen hing und
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wieviel aromatischer die Äpfel schmeckten. Sofort wurde er von
den Bauern des Dorfes akzeptiert, die die Geschichte untereinander weiter erzählt hatten. Jetzt kam Patrik nicht mehr durchs
Dorf ohne an zwei bis drei Ecken mit den Bewohnern zu plaudern. Wenn er sie draußen vor ihren Häusern sitzend antraf, wurde
auch schon mal eine Flasche Wein geleert und er kam nicht daran
vorbei sich zu beteiligen.
Patrik und Indianer hatten jetzt ihr Rucksäcke gefüllt und traten
sofort den Rückweg an. Die Äpfel durften nicht allzu lange so gequetscht verbleiben - das gab Druckstellen, die später raus geschnitten werden mußten. Patrik überlegte, ob er genug Flaschen
auf Vorrat hatte, denn alle Früchte konnte er nicht über Winter
lagern. Einen Teil wollte er pressen und Apfelsaft daraus machen.
Während sie für den Hinweg weniger als eine Stunde gebraucht
hatten, dauerte der Aufstieg mehr als das doppelte der Zeit. Es
war auch für sie kräftezehrend mit fünfzehn Kilo auf dem Rücken
fast drei Kilometer berg hoch zu steigen, bei einem Höhenunterschied von hundertfünfzig Meter. Natürlich benutzten sie dafür
den Fußweg und des öfteren wurde das Gewicht der Rucksäcke
für einen Moment auf einem günstig stehenden Felsen abgesetzt.
„Irgendwann kracht mir mal die Bandscheibe raus,“ meinte Indianer, nachdem sie bei Patriks Hütte angekommen waren.
„Du hast ja noch ein paar Meter,“ entgegnete Patrik. Sie verabschiedeten sich, denn die Äpfel mußten schnell gelagert werden.
Patrik ging erst noch zum Hühnerstall um nach dem Rechten zu
sehen. Er hatte bevor sie gegangen waren die Tür zum Stall zugemacht, weil die Hühner bei dem Wetter auch nicht besonders gerne nach draußen gingen. Tagsüber hielten sich die Füchse vom
Grundstück fern, darum hatte sich Patrik auch keine Sorgen ge287
macht. Jetzt bekamen das Federvieh ein paar Körner; frisch
gesenstes Gras wollte er ihnen gleich noch bringen, wenn er mit
den Äpfeln fertig war.
Als er einen Arm voll getrocknetes Farn für die Einlagerung
aufnehmen wollte fand er Miez, seine Katze; sie hatte wohl den
ganzen Tag verschlafen. Patrik streichelte sie erst einmal, was sie
dankbar schnurrend entgegen nahm, um sich dann aber wieder ins
Farn zu legen. Es war kein Tag für Katzen. Beinahe hätte er zwei
Eier übersehen, die etwas versteckt unter dem Farnhecksel hervor
lugten.
„Ihr wart aber fleißig,“ lobte er sein Federvieh und ging zurück
zur Hütte. Den Farn legte er unter den regengeschützten Vorbau
und holte aus dem Schuppen sechs Holzkisten für die Äpfel.
Stromer stand die ganze Zeit vor der Eingangstür mit dem eingeklemmten Schwanz zwischen den Hinterbeinen. Er hatte aber nun
wirklich keinen Bock mehr auf diesen Regen.
Nachdem sich Patrik zum zweiten Mal für diesen Tag umgezogen hatte, wurden die Äpfel verarbeitet. Das Obst darf sich beim
Lagern nicht berühren, weil es sonst matschig wird und sich die
braunen Stellen schnell auch auf die anderen Äpfel in der Kisten
übertragen. Deshalb kontrollierte er die schon vor ein paar Tagen
eingelagerten Kisten und sortierte die schadhaften Früchte aus.
Bald hatte er zwanzig Kisten fertig und stapelte sie im Raum
über der Küche aufeinander. Es waren noch genug Äpfel zum
Pressen übrig, aber diese Arbeit verschob er auf den nächsten Tag,
denn es war schon abend und sein Magen knurrte. Erst wurden die
Hühner noch versorgt, dann beschloß er Schluß zu machen für
heute. Irgendwann müßte auch mal Feierabend sein, dachte er bei
sich. Das Pressen mit Vorbereiten und Säubern würde sowieso
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einen halben Tag in Anspruch nehmen und das war eine gute
Arbeit für einen Regentag, den es sicherlich morgen geben würde.
Das Feuer im Herd wurde neu entfacht, während draußen der
eh schon dunkle Tag sein letztes Licht verlor. Nach einer kräftigen Portion Haferbrei mit frischen Apfelstücken und einem Eßlöffel voll Honig legte Patrik die Beine hoch und lauschte den
sanften Klängen der Blues-Musik, die er vorher in den CD-Spieler
eingelegt hatte. ,Wieder ein schöner Tag im herrlichen Tal L'Amas,' ging es ihm durch den Kopf und streichelte Stromer übers
Fell, der jetzt mit ihm auf der Bank lag. Da es unter der Tür etwas
herein zog - anscheinend sanken die Wolken wieder abwärts -,
nahm er sich eine Decke, damit die Füße warm blieben. Den
Bauch wärmte Stromer, der offensichtlich auch davon profitierte.
Patrik mußte wohl eingeschlafen sein, denn als er sich umschaute konnte er kein Licht mehr vom Herdfeuer erkennen, das
normal durch die Ritzen der Klappe schimmerte. Die Energiesparlampe brannte noch, aber die Musikanlage hatte sich ausgestellt
und es war kühl und feucht im Raum. Ein wichtiges Bedürfnis
trieb ihn von der Liege in seine Schlappen und dann nach
draußen. Stromer stöhnte einmal tief, er hatte gehofft die ganze
Nacht so verbringen zu können, kam aber dann nach mehrmaligem Schlackern hinterher. Er gähnte ein paar Mal und begann
dann seinen Rundgang, da er sowieso nicht mehr zurück ins Haus
durfte.
Patrik ging ein paar Schritte von der Hütte weg. Der Regen
hatte aufgehört und die Wolken verhüllen die ganze Gegend. Über
Nacht würden sie ganz ins Tal runter gewandert sein und einen
sternklaren Himmel zurück lassen. Die Wolken waren so dicht,
289
daß der matte Schein aus dem Küchenfenster schon nach wenigen
Metern verschluckt wurde. Patrik fröstelte etwas und nachdem er
mit seinem Geschäft fertig was, ließ er seinen Blick noch einmal
umherschweifen, um dann wieder schnell in die Hütte zu gehen.
Bei seinem Rundblick fiel ihm auf, daß die Wolken gar nicht
so dunkel waren, wie er es erwartet hatte. Anscheinend befand
sich eine Lichtquelle darüber. Denn jetzt, wo seine Augen sich an
die Dunkelheit gewöhnten, konnte er ein weißes Schimmern erkennen. Er überlegte kurz und kam zu dem Schluß, daß die
Wolken schon sehr tief sein mußten und nur der Viertelmond
Grund für diesen Lichteffekt sein konnte.
Doch er hatte sich getäuscht. Ein paar Sekunden später bildete
sich aus dem Schimmern ein Kranz einzelner Strahler, als wenn
sich ein riesiger Kronleuchter mit kreisrund angeordneten Lampen
langsam herab senkte. Patrik blieb auf seinem Weg zurück stehen.
Das war etwas merkwürdig, was er da sah und er wußte nicht, wie
er es einordnen sollte.
Die Leuchtkraft nahm noch weiter zu und Patrik überlegte
fieberhaft, was das wohl sein könnte. Er war zu perplex um eine
Gefahr darin zu vermuten. Eine Ahnung machte sich in ihm breit,
daß hier etwas ganz außergewöhnliches passierte. Er sah, wie die
Wolkenbank zwischen ihm und dem Licht in Bewegung geriet
und nach und nach ganz verdrängt wurde.
Jetzt erkannte er das Ding in der Luft deutlich. Es war ein
Fluggerät, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Einen Moment
glaubte er zu träumen, aber das Frösteln ließ ihn die Arme um den
Körper schlagen und die getroffenen Körperpartien signalisierten
ihm unmißverständlich, daß er wach und äußerst gespannt war.
Das jetzt in der Luft schräg über ihm stehende Objekt war
290
kreisrund mit einem Durchmesser von vielleicht hundert Meter.
Durch die Lichter am unteren Kranz konnte er Einzelheiten der
Unterseite nicht erkennen, sie blendeten zu stark. Oberhalb befand
sich ein kuppelförmiger Aufbau mit weiteren einzelnen Lichter,
die unregelmäßig angeordnet waren. Von den Wolken konnte man
rings um das Objekt nichts mehr sehen.
Das Fluggerät gab ein fast unauffälliges Summen von sich; es
erinnerte ihn an das Geräusch eines Fahrstuhls. Das änderte sich
auch nicht, als das Objekt in langsamer Bewegung auf ihn zu kam.
Nun stellte sich so etwas wie Panik in seinem Kopf ein, doch an
eine Reaktion war nicht zu denken, wo sollte er auch hin. Anscheinend hatte es das Flugobjekt auf ihn abgesehen und er hegte
starken Zweifel daran, daß es irdischen Ursprungs sein konnte.
Allmählich wandelte sich seine Vermutung in Gewißheit, vor
allem ab dem Moment, wo er einen Gedankenimpuls in sich vernahm, der keinesfalls als Einbildung zu erklären war und definitiv
nicht von ihm kam. Seine Gedanken rasten bei dem Versuch zu
verstehen, was da vor sich ging. Erst diese ungewöhnliche Erscheinung und jetzt auch noch die Gewißheit, daß man in seine
Gedanken eindringen konnte.
„Sei gegrüßt, Erdenbewohner. Wir sind keine Gefahr für dich,“
waren die Worte, die er vernahm. Das beruhigte ihn keineswegs.
„Wir werden dich jetzt zu uns holen, du brauchst dich nicht zu
fürchten.“ Dieser weitere nicht von ihm gedachte Gedanke saß unrückbar fest in seinem Gehirn.
Ein vom unteren Teil des Objekts ausgehender Lichtstrahl traf
ihn und hüllte seinen Körper in einem Lichtkegel ein. Im nächsten
Moment befand er sich in einem runden Raum mit weißen
Wänden. Er stand mit seinen Hausschlappen auf einer kreisrunden
291
Fläche von circa fünf Metern Durchmesser und über ihm an der
Decke erkannte er ein gleich aussehendes Gegenstück.
Es schimmerte genauso metallisch wie das unter seinen Füßen
und erinnerte ihn an Induktionsfelder moderner Küchenherde.
Eine Öffnung in der Wand tat sich auf, ohne daß ein Türflügel
oder Schiebeelement erkennbar war; das Material der Wand hatte
sich einfach an einer bestimmten Stelle aufgelöst.
Die Stimme in ihm sagte: „Du mußt erst desinfiziert werden.
Unser Organismus ist zu empfindlich für die Keime, die du an dir
trägst. Gehe bitte durch den Eingang.“
Der Gedanke sich einfach zu weigern zuckte durch seinen
Kopf. Doch wurde ihm die Sinnlosigkeit dieser Überlegung sofort
klar. Anscheinend hatte er es hier mit übermächtigen Geschöpfen
zu tun.
Er näherte sich dem Durchgang und sah, daß er sich bücken
mußte, um da hindurch zu kommen. „Oh, entschuldige,“ sagte die
Stimme jetzt, „du bist ja viel größer als wir.“
Das Loch in der Wand erweiterte sich und er konnte aufrecht
hindurch schreiten. Hinter ihm materialisierte die Lücke in der
Wand wieder und keine Öffnung, noch nicht einmal eine Ritze
war zu erkennen.
Nun befand er sich in einem Flur ähnlichen Raum, in der Form
eines großen Rohrs in knallgelbem Licht, daß für einen Moment
an Intensität stark zunahm, um dann wieder wie vorher zu leuchten.
„Fertig,“ meinte die Stimme jetzt, „sei uns willkommen, aber
erschrecke bitte nicht, wenn du uns siehst.“ Mit diesen Worten
öffnete sich am anderen Ende des Rohrs ein Loch in der Wand,
langsam ging er darauf zu und hindurch.
292
Er betrat einen großen Raum in abgedunkelten Licht, deren
durchsichtige gewölbte Decke die Sterne erkennen ließ. In dem
Raum befanden sich mehrere Konsolen; Bedienungselemente, wie
Patrik vermutete. An der runden Wand konnte man Bildschirme
und undefinierbare Schaltflächen erkennen. Hinten an der gegenüber liegenden Stelle des runden Raums schwebten kurz über dem
Boden zwei sesselartige Objekte frei im Raum. Für Patrik war es
nicht ersichtlich, ob die Figuren darauf Skulpturen oder Personen
sein sollten. Auf keinen Fall hatten sie menschliches Aussehen,
eher hielt er sie für Frösche ohne Arme und Beine.
„Siehst du,“ hörte er eine Stimme in sich sagen, „er findet uns
häßlich.“
Eine andere Stimme mit deutlich anderer Färbung, die er bis
jetzt noch nicht in sich vernommen hatte, meldete sich ebenfalls
in seinen Gedanken. „Er ist auch häßlich. Schau dir nur mal die
widerlichen Tentakel an. Oder diesen Ballon am Ende seiner Wirbelknochen; das sieht auch nicht gerade besonders schön aus.“
Jetzt war die Verwirrung in Patrik perfekt. Stocksteif stand er
da und konnte nicht reagieren, aber zumindest die Angst ließ sich
einigermaßen unter Kontrolle halten, denn offensichtlich gab es
hier andere Probleme.
„Oh, wie unhöflich,“ erkannte er die erste Stimme wieder,
„mein Name ist Not,“ und dabei machte die linke der beiden mopsigen Gestalten ein paar glucksende Geräusche, „und das ist
Elend,“ wobei sie sich der anderen zuwandte.
Die beiden Gestalten ruhten auf einer Unterlage, die keine
Füße hatte. Ihr Körper sah kugelförmig aus, von grau-grüner
Farbe, über und über mit Pickeln, Warzen oder ähnlichem übersät.
Am oberen Teil der Figuren befand sich anscheinend so etwas wie
293
ein Gesicht, das aber nur mit aller größter Phantasie mit einem
menschlichen vergleichbar war.
Mehrere kleine schwarze Punkte rings herum an der oberen
Kuppe der Wesen konnte man als Augen definieren. Ohren waren
nicht erkennbar, nur zwei lamellenartige Öffnungen jeweils an der
gegenüber liegenden Seite direkt unterhalb der Punktaugen. Die
ihm zugewandte Seite des Gesichtes hatte eine Öffnung ohne
Lippen, die Patrik als Mund auslegte, weil von dort die
glucksenden Geräusche herkamen.
Er ging ein paar Schritte in den Raum hinein, um sie in diesem
diffusen Licht besser betrachten zu können. „Wer hat euch denn
diese schönen Namen gegeben,“ fragte Patrik, der sich Mühe geben wollte zu zeigen, daß er die Situation nicht mehr so angespannt sah, wie noch am Anfang.
„Die haben wir uns selbst gegeben,“ bekam er zur Antwort.
„Unsere wirklichen Namen kannst du noch nicht mal in deinen
Gedanken formulieren, geschweige denn aussprechen. Da haben
wir uns gedacht, wir suchen uns welche mit Stil aus. Wir kannten
euren Planeten gar nicht als wir vorhin ankamen. An einem eurer
Kommunikationssatelliten haben wir ein paar Nachrichtenfetzen
abgehört wo es hieß: In ganz West-Sudan herrschen Not und
Elend. Und da dachten wir, ein Herrschername wäre für uns angebracht, schließlich sind wir euch doch weit überlegen. Ist es nicht
so?“
Patrik mußte unwillkürlich lachen. Instinktiv wußte er, daß er
seine Gedanken nicht vor ihnen verschließen konnte und sie den
Irrtum bei der Namengebung ganz sicher bemerkten. Deshalb erwiderte er: „Das sind keine Namen für wirkliche Herrscher, das
sind nur Zustandsbeschreibungen.“
294
„Das ist mir egal,“ warf die zweite Stimme ein, die Elend zuzuordnen war. „Mir gefällt der Name gut und ich will ihn behalten.“
Ganz offensichtlich besaß sie einen ausgeprägten kindlichen
Trotz, denn sie mußte die Assoziation der beiden Begriffe in Patriks Bewußtsein erkannt haben. Der Sinn von Not und Elend
konnte durch die Nachrichtenübermittlung am Satelliten natürlich
nicht begriffen werden, weil es kein menschliches Bewußtsein
war, der die beiden Begriffe geäußert hatte, sondern ein digitales
Übertragungsgerät.
„Mein Name ist Patrik,“ erwähnte dieser überflüssiger Weise.
Not war anscheinend sehr angetan von ihm, sie modellierte ihre
geistige Stimme in freundlicher Art und meinte: „Mir ist mein
Name auch recht. Patrik wird schließlich auch eine eigene Bedeutung haben, die man nicht bedenkt, wenn man den Namen immer
für eine bestimmte Person verwendet.“
Dem mußte er zustimmen. Die Situation hatte etwas richtig
komisches und um nicht in lautes Lachen auszubrechen, versuchte
er die Tragweite des Umstandes abzuschätzen, daß sie seine Gedanken problemlos abhören konnten und er ihre nicht.
„Das ist eben so bei primitiven Rassen,“ meinte Elend schnippisch, „es wird noch ein paar tausend Jahre dauern, bis ihr es gelernt habt eure Gedanken zu blockieren.“
„Du bist ungerecht,“ warf Not entrüstet ein, „er kann doch
nichts dazu.“
„Du hast ja recht, tut mir leid.“
„Was wollt ihr eigentlich von mir,“ wollte Patrik wissen, weiterhin seine Stimme benutzend. Immer noch kämpfte er mit dem
starken Reiz, plötzlich und unbeherrscht zu lachen.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Dann nach einer Weile
295
vernahm er Elend: „Wir sind Studenten und müssen einen Vortrag
über Zivilisationen dieser Galaxis ausarbeiten. In unseren Archiven ist zwar einiges gespeichert, aber wir wollten uns selbst überzeugen. Auf euch sind wir nur durch Zufall gestoßen; es gibt noch
mehr bewohnte Planeten in dieser Region der Galaxis.“
„Ja genau,“ meinte Not, „unsere Rasse erforscht schon lange
intelligente Lebewesen auf anderen Planeten, weil wir mehr über
uns selbst und unsere Entwicklungsgeschichte erfahren wollen.“
Merkwürdiger Weise hatte Patrik das Gefühl, das etwas an der
Aussage nicht stimmen konnte.
„So geht das nicht,“ war von Elend zu hören, „wir benutzen
jetzt den Konditionierer.“
„Aber nur wenn er auch einen bekommt,“ entgegnete Not.
„Einverstanden.“
Not schwebte mit ihrem Sitz an eine der freien Stellen an der
Wand, wo sich eine Öffnung auftat. Drei kleine Geräte, die wie
Handys aussahen kamen ihr entgegen geschwebt. Patrik vermutete, daß diese Außerirdischen über telekinetische Fähigkeiten
verfügten.
„Häng dir das um, dann können wir nur noch die Gedanken
von dir auffangen, die du uns auch geben willst,“ dachte sie, als
eines der Geräte in seine Hand gelangt war. Aus der Nähe betrachtet sah es überhaupt nicht mehr vertraut aus. Weder Tasten
noch Zeichen waren zu erkennen, nur ein metallisches Schimmern
in der oberen Hälfte des handgroßen flachen Gerätes. Ein Band
war daran befestigt, daß er sich um den Hals hängte.
„Wir benutzen die Dinger eigentlich nie,“ konnte er Not vernehmen, deren Stimme zwar die typische Prägung aufwies, aber
keine emotionale Regung mehr erkennen ließ. Patrik ahnte, daß
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die beiden Wesen diesen Schritt nicht zur Verbesserung der Unterhaltung vorgenommen hatten, sondern um sich selbst zu
schützen, damit er nicht wie gerade eben, bei der Begründung ihrer Anwesenheit geschehen, Ungereimtheiten ihrer Aussage entdecken konnte.
„Die funktionieren also auch bei primitiven Rassen?“, wollte er
wissen.
„Die Konditionierer schalten sich wie ein Filter in deine am
Bewußtseinsschaubild sichtbaren Gedanken ein. Sie lassen nur die
Gedanken durch, die du als Sätze in deiner Sprache formulierst.
So lange du mit deiner Stimme sprichst, hören wir nur diese
Worte als Gedankenimpuls. Unser Bewußtsein hat deine Sprache
jetzt ausreichend gespeichert und wir werden in deiner Sprache
denken, damit du uns verstehen kannst.
Patrik überlegte kurz und meinte: „Wenn ich euch recht
verstanden habe, ist die Namengebung durch die Nachrichten entstanden, die ihr am Satelliten aufgenommen hattet. Wie konntet
ihr denn da die Sprache verstehen, wo ihr doch zum ersten Mal
hier seid?“
„Du überrascht uns ein zweites Mal. Siehst du Elend, ich hab's
doch gesagt, ein pfiffiges Kerlchen. Die Antwort auf die Frage ist
einfach. Eigentlich wollten wir gar nicht mit einem von euch in
Kontakt treten - um ehrlich zu sein, es ist sogar verboten. Wie
schon gesagt haben wir euren Planeten durch Zufall entdeckt und
sind aus Neugier mal hierhin, mal dorthin um Gedankenmuster
eurer Spezies aufzunehmen. Erstens konnten wir dabei feststellen,
daß ihr in verschiedenen Sprachen sprecht, was das Lernen eurer
Sprache zusätzlich erschwerte - aber zu dem Zeitpunkt wollten
wir das noch gar nicht. Zweitens leben die meisten von euch in
297
großen Ansiedlungen eng aufeinander, was die Sache noch komplizierter machte. Dann haben wir einzelne Gedankenmuster entdeckt, die besser zu verstehen waren - das war dort wo du wohnst.
Deine Träume sind wohl recht bizarr und wir konnten nicht
anders, als dir eine Weile zuzuhören. Dann haben wir uns entschieden, dich kennen zu lernen ohne großes Aufsehen zu erregen,
denn eure Technik ist wenigstens schon so weit, Bewegungen im
Luftraum zu überwachen. Eine Annäherung durch die Wolken
ließ eine optische Wahrnehmung unseres Schiffes ausschließen.
Wir haben dann die Sprache an Hand deiner Gedanken in Kombination mit den vorher empfangenen schnell gelernt. Natürlich
konnten wir die Bedeutung verschiedener Begriffe nur soweit zuordnen, wie sie in deinen Gedankeninhalten vorkamen. Um uns
Namen zu geben hörten wir die automatisch aufgezeichneten
Nachrichten ab und wählten Begriffe aus, die dir imponieren sollten. Nun ja, das hat nicht ganz so funktioniert.“
„Warum ein zweites Mal überrascht?“
Jetzt antwortete Elend: „Wir haben uns gefragt, wieso ein
Mensch auf die Idee kommen kann, den technischen Fortschritt
seiner Rasse freiwillig abzulehnen und sich aus dem Bestreben gemeinsam daran weiter zu arbeiten verabschiedet. Das verwunderliche für uns daran ist nicht, das es Individuen innerhalb einer
Spezies gibt, die anders denken als die meisten, das gibt es auf
fast allen mit intelligenten Wesen bewohnten Welten. Aber
warum diese Ablehnung gegenüber dem technischen Fortschritt?
Haben denn nicht alle den Wunsch, den aus allen Nähten
platzenden Planeten zu verlassen, um sich auszubreiten, Kolonien
zu gründen, neue Rohstoffquellen zu erschließen und andere Bewohner der Galaxis kennen zu lernen?“
298
„Ich weiß ja nicht, wieviel ihr von der politischen Struktur unserer Rasse mitbekommen habt. Mir scheint der Grund dieses Bestrebens nach Fortschritt nicht der Fortschritt selbst zu sein, um
die Menschheit weiter zu bringen, sondern es geht vielmehr um
Machtanhäufung und Machtsicherung. Ich habe nicht das Gefühl,
daß unsere Rasse wirklich ernsthaft daran interessiert ist, den
technischen Fortschritt gerade in Bezug auf Raumfahrt voran zu
treiben. Mir kommt es eher so vor, als wenn sie sich absichtlich
behindern. Denn sie arbeiten auf diesem Gebiet nicht zusammen,
sondern jede Machtgruppe kocht sein eigenes Süppchen. Das
Konkurrenzprinzip hat nur am Anfang funktioniert, als es um
militärisch ausnutzbare Vorteile ging. Jetzt wo die großen Blöcke
sich neutralisieren, verläuft sich der Drang nach Erforschung des
Weltalls. Die Weltraumausflüge meiner Rasse unterliegen ausschließlich wirtschaftlichen Interessen, genau wie bei der Forschung auf anderen Gebieten auch.“
Not und Elend wechselten plötzlich die Sprache und Patrik
konnte nichts mehr verstehen. Dann war es wieder Not's Stimme,
die er vernahm: „Entschuldige, wir sind wirklich unhöflich. Aber
es war sehr interessant, was du gesagt hast. Du glaubst also, daß
eure Rasse über einige technische Errungenschaften verfügt, aber
mit dem Bewußtsein von Primaten damit umgeht. Richtig?“
„Ja, so könnte man es ausdrücken.“
„Du bist nur einer von denen, die so denken. Wie viele meinst
du denken genauso wie du?“
„Ich weiß nicht genau, vielleicht einer von tausend.“
„Also gibt es ja doch welche aus eurer Rasse, die den Intelligenzstatus der Primaten überschritten haben - und gerade die
leben wie sie in der Wildnis und lehnen die Bequemlichkeiten von
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Wohnungen ab. Ihr seid eine merkwürdige Rasse.“
„Das seid ihr,“ pflichtete ihr Elend bei.
Patrik spürte innerlich eine doch angenehme Beruhigung,
wobei auch der Lachreiz nachließ, der anscheinend nur durch die
Anspannung entstanden war; eine Gefahr konnte er jedenfalls
nicht erkennen. Jetzt waren seine Gedanken auch wieder klar und
er fragte: „Bin ich eigentlich euer Gefangener? Kann ich wieder
zurück wenn ich will?“
„Gefällt es dir nicht bei uns?“, wollte Not wissen.
„Natürlich bist du kein Gefangener,“ ergänzte Elend, „aber wir
sind wirklich über alle Maßen unhöflich. Willst du dich denn
nicht setzen?“
Bisher hatte Patrik die ganze Zeit gestanden und war sehr
dankbar über das Angebot. An einer Stelle aus dem Boden löste
sich eine flache Scheibe und schwebte hinter Patriks Rücken. Etwas unbeholfen versuchte er darauf Platz zu nehmen. Sobald sein
Hinterteil die Scheibe berührte, schmiegte sich diese seinen Konturen an und nach kurzer Gewöhnungszeit ließ er sein Gewicht in
den angebotenen Platz sinken. Es war als wenn er schweben
würde.
„Du kannst jederzeit wieder in deine Hütte, du brauchst es nur
zu sagen,“ meldete sich Not zu Wort. „Wir haben uns etwas von
deinem Planeten entfernt, damit wir nicht durch eure Überwachungsgeräte aufgespürt werden. Aber in zwei Minuten deiner
Zeit bringen wir dich wieder an den Ausgangspunkt. Wir könnten
uns allerdings noch ein wenig unterhalten, wenn du willst.“
Patrik war sich der Einzigartigkeit seiner Situation voll bewußt.
Er gehörte zu den Leuten, die die Existenz außerirdischer Lebens300
formen als Selbstverständlichkeit annahm. Warum sollten die
Menschen die Einzigen im Universum sein? Weil die Entfernungen zu groß waren, um sich begegnen zu können? Nein, das
war für ihn kein Grund daran zu zweifeln, eher zweifelte er an den
Wissenschaftlern, die stur und steif nur nach Beweisen suchten,
um Einsteins Relativitätstheorie immer wieder aufs neue zu bestätigen.
Patrik war allerdings auch Realist genug, um nicht jeden Bericht über Ufo's als bahre Münze zu nehmen. Die Sensationslust
der Menschen sorgte sicher öfters dafür, Lichterscheinungen, die
nicht sofort erklärbar waren, auf eine spektakuläre Ebene zu ziehen. Schließlich waren da auch wirtschaftliche Interessen mit im
Spiel, denn Berichte von fliegenden Untertassen erhöhten Auflagenzahlen von Zeitungen nicht unerheblich.
Doch jetzt saß Patrik selbst als Gast in so einem Ufo und wenn
diese Wesen nicht irgend etwas an ihm herum manipuliert hatten er spürte jedenfalls nichts -, so nahm er die Sache überaus gelassen.
„Schau mal, wie schön euer Planet ist,“ empfing er Nots Gedanken.
Er blickte durch die durchsichtige Kuppel des Kommandoraums und sah, wie sich die blaue, mit weißen Flächen
durchsetzte Erdkugel langsam ins Blickfeld drehte. Ein
imponierender Anblick und Patrik ging durch den Kopf, wie überaus klein die Erde doch im Vergleich zu den Dimensionen des
Kosmos ist und wie überheblich der Anspruch der Menschen zu
glauben, sie wären die Einzigen auf der Welt. „Wißt ihr eigentlich, ob außer euch noch andere die Erde besuchen?“, wollte er
wissen.
301
„Oh, ihr gehört wohl auch zu den Primitiven, die glauben allein
im Universum zu sein,“ vernahm er Elend. „Das ist typisch und
bestätigt, was du über die Intelligenz deiner Rasse gesagt hast.
Unsere Meßinstrumente können Aktivitäten von verschiedenen
Antriebssystemen noch Monate später nachweisen. Solche Untersuchungen machen wir standardmäßig, wenn wir einen unerforschten Planeten entdecken. Unser Rechner hat uns mitgeteilt,
daß in etwa fünfundzwanzig Schiffe pro Jahr euren Planeten besuchen von schätzungsweise zwei bis drei verschiedenen Rassen.“
Not fuhr fort: „Wir haben Kenntnis von mehr als einhundert
verschiedenen Spezies in dieser Galaxis, die den überlichtschnellen Flug beherrschen und weit über zehntausend werden als
intelligent eingestuft, wobei von uns noch lange nicht alles erforscht ist in der Spirale. Das ist übrigens unser Name für die Galaxis, die ihr Milchstraße nennt. Bevor wir die interstellare Raumfahrt hatten, hieß sie noch Sternenband; doch das war vor etwa
dreitausend Jahren.“
Patrik staunte nicht wenig, als er die Zahlen vernahm, das hatte
er nun doch nicht erwartet. Viele Fragen gingen ihm in Windeseile durch den Kopf und er wußte gar nicht, wo er anfangen sollte.
„Erzählt mit doch etwas mehr von euch,“ war der erste Gedanke,
der ihm vernünftig genug erschien, um formuliert zu werden.
„Paß mal auf,“ vernahm er Not. Von einer Konsole löste sich
eine Art Haube, die sich über ihren Kopf stülpte. Zwischen Patrik
und den beiden erschien eine holographische Darstellung einer
Galaxis.
Jetzt sprach Elend in seinem Kopf: „Not kann jetzt keine Gedanken in Sprache formulieren, weil sie den Navigationskonditionierer trägt. Unser Schiff läßt sich von einer Person komplett
302
steuern mit diesem Gerät - es verbindet die Gedanken mit der
Steuerung. Man kann also sagen, unsere Raumschiffe werden mit
unseren Gedanken gesteuert. Trotzdem ist es angenehmer zu zweit
zu fliegen, weil wir genau wie ihr auch schlafen müssen.
Du siehst da die Spirale - oder Milchstraße, wenn du willst.
Der rot pulsierende Punkt ist unser Standort in diesem Moment,
der gelbe Stern daneben eure Sonne. Suche auf der anderen Seite
den grell leuchtenden blauen Punkt, das ist unser Heimatplanet.
Hast du ihn?“
Patrik fand ihn nach einigen Sekunden; die Anzahl der Sterne
war riesig.
Elend fuhr fort: „Ja gut. Wir nennen ihn frei übersetzt ,Blaue
Kugel'. Er sieht so ähnlich aus wie die Erde, doch unsere Vorfahren haben ihm sehr viel Schaden zugefügt und erst unserer
Wetterkontrolle konnte den Urzustand wieder herstellen. Er ist etwas größer als euer Planet, dafür ist die Schwerkraft fast doppelt
so hoch. Die Atmosphäre hat im Vergleich zu eurer eine annähernd identische Luftzusammensetzung. Not zeigt dir jetzt unser
Sonnensystem.“
Das holographische Gebilde änderte seine Struktur und es erschien die Darstellung mehrerer Planeten, die um eine gelbe und
eine wesentlich kleinere rote Sonne kreisten. Der fünfte Planet,
von der Sonne aus gezählt, mußte wohl der Heimatplanet der
beiden sein, denn er war als einziger blau gekennzeichnet.
Elend erklärte weiter: „Du siehst, wir haben zwei Sonnen und
zwei Monde. Den größeren von den Monden nennen wir Gottvater und den kleineren Gottmutter. Das stammt aus unserer Überlieferung und hat sich bis heute nicht verändert.
Dort auf der äußersten Bahn, der Riese mit dem Gürtel ist un303
ser wichtigster Rohstoffplanet. Da gewinnen wir das Material für
unsere Schiffe. Nenne es intelligente Materie, wenn du willst. Es
ist zwar nicht unzerstörbar, aber es paßt sich perfekt unseren Gedankenbefehlen an und in unbehandelter Form kann man damit
allerlei Spielereien machen. Früher als Kinder durften wir damit
unsere Lektionen lernen. Dabei ging es darum heraus zu finden,
wie man seine Gedanken kontrolliert und die Materie damit beeinflußt.“
Das Hologramm verschwand und die Haube von Not's Kopf
schwebte zurück zur Konsole. „Wir sind eine aussterbende
Rasse,“ empfing er plötzlich von Not, „es gibt von uns noch etwa
eine halbe Millionen Einzelwesen. Auf ,Blaue Kugel' leben circa
zweihunderttausend, der Rest verteilt sich auf drei Kolonien.“
„Warum aussterbend?“, fragte Patrik.
Not antwortete: „Wir können uns nicht mehr fortpflanzen. Unsere Wissenschaftler sind der Meinung, unsere Faulheit wäre daran Schuld. Noch bevor wir mit Raumschiffen unseren Planeten
verlassen konnten, wurde der Antigravitationsgenerator erfunden,
der es unserer Rasse leichter machte, sich auf der Oberfläche zu
bewegen. Bei uns ist keine Kreatur größer als ein Meter und wir
hatten früher vier Beine und zwei Arme. Seit wir uns nur noch auf
den Scheiben aufhalten, hat sich alles zurückgebildet. Und als vor
zweitausendfünfhundert Jahren der Gedankenkonditionierer erfunden wurde, brauchten wir auch keine Arme mehr. Unser Körper besteht aus einem Drittel Gehirnmasse, einem Drittel Verdauungsorgane und der Rest verteilt sich auf die anderen Organe. Ein
Knochengerüst wie ihr haben wir schon lange nicht mehr und alle
Versuche der Wissenschaftler etwas zurückbilden zu lassen,
scheiterten an der Behäbigkeit unserer Artgenossen. Vor ein304
tausend Jahren begannen dann auch noch die Fortpflanzungsorgane einzuschrumpfen und heute muß man lange suchen, um
die Reste davon zu entdecken. Es gab auch mal eine Phase wo
entartete Forscher mit Genen rummanipulierten. Das hätte beinahe
das Ende unserer Rasse bedeutet, denn die künstlichen Wesen begannen sich zu verselbstständigen und versuchten uns zu verdrängen. Das war eine schlimme Zeit.
Wir sind übrigens Zwitterwesen.
Daß einzige, was wir von unserer Reproduktionsgabe übrig behalten haben, ist die periodisch einsetzende Fortpflanzungsbereitschaft in unseren Gehirnen. Anscheinend kann sich die Hormonproduktion bei uns nicht den körperlichen Veränderungen anpassen. Du kannst dir vorstellen, daß diese Widersprüchlichkeit in
unserem Wesen zu einigen Konflikten führt. Elend und ich haben
zur gleichen Zeit unseren Zyklus.
Dieses Mal wollten wir einfach mal in die Galaxis raus, um
nicht andauernd über unsere Degeneration nachdenken zu müssen.
Wir sind auch keine Studenten, wie du selbst gemerkt hast. Wir
stammen beide von ein und dem selben Elternwesen ab und gehören der zuletzt geborenen Generation an. Ich bin nach Erdenjahren
eintausendzweihundertundachtzehn und Elend eintausendfünfhundertundacht Jahre alt. Du siehst also, wir sind die jüngsten unseres Volkes. Übrigens dauert bei uns ein Tag achtundsechzig
Stunden, also die Zeit, die der blaue Planet braucht, um sich einmal um sich selbst zu drehen.“
Patrik kam aus dem Staunen nicht mehr heraus - das war alles
so gewaltig, so unbeschreiblich.
Elend meldete sich: „Bei uns gab es nie Kriege. Unsere Forscher haben heraus gefunden, durch Vergleiche mit anderen Spe305
zies, daß unser Zwitterdasein dafür ausschlaggebend ist. Auf allen
Welten, wo das männliche und weibliche Prinzip herrscht, gibt es
durchgängig Konflikte mit für viele Individuen tödlichen Folgen.
Bei uns haben nur die Tiere Zweigeschlechtlichkeit.“
„Ist es eigentlich normal, daß ihr so alt seid?“, fragte Patrik.
„Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, daß wir eingepflanzte
Zellimpulsgeber haben. Wir können nur durch Unfälle, Anschläge
oder Krankheiten sterben. Die Natur ist immer auf Ausgleich bestrebt; wir haben uns damit abgefunden, als Gegenleistung für unsere Unsterblichkeit, auch kein neues Leben mehr schaffen zu
können.“
Wäre der Konditionierer nicht gewesen, hätte Patrik die tiefe
Traurigkeit in dieser Aussage heraus gehört. Aber seine Schlußfolgerung zu den Äußerungen brachten ihn zum selben Ergebnis.
„Es ist schade, wenn man realisiert, daß so eine fortschrittliche
edle Rasse wie ihr zum Untergang verdammt ist,“ meinte er.
Patrik konnte nicht abschätzen was seine Aussage in den Gedanken der beiden auslöste. Eigentlich hatte er auch keine Absicht
damit verbunden und nur das gesagt, was er empfand. Doch die
Meinung der beiden über ihn stand jetzt fest und sie fiel recht positiv aus, in Anbetracht ihres mentalen Vorsprungs.
„Findest du uns eigentlich häßlich?“, wollte Elend wissen und
fügte hinzu: „Aber sei ehrlich.“
„Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin um das zu beurteilen,
weil ich noch nie Außerirdische gesehen habe und natürlich
keinen Vergleich zu anderen Rassen herstellen kann. Deshalb
habe ich zu dieser Frage auch keine Meinung, denn zu allererst ist
euer Aussehen überaus fremd für mich. Doch wenn ich es mir
recht überlege, habe ich mir Aliens immer wesentlich häßlicher
306
vorgestellt.“
Sein Pluspunktekonto stieg rapide in die Höhe, auch wenn seine letzte Bemerkung doch ein wenig schmeicheln sollte, was die
beiden allerdings nicht bemerkten.
„Warum lebst du eigentlich ohne weibliches Wesen,“ fragte
Elend, „bist du krank oder aus einem anderen Grund nicht fortpflanzungsfähig? Ist es nicht üblich bei euch gemeinsam zu
leben? Oder findest du keine Frau, die so ein Leben wie du es
führst mit dir teilen möchte? In deinen Träumen war jedenfalls
eine Frau an deiner Seite. Aber da waren auch Schuldgefühle, hast
du jemanden weh getan?“
Auch wenn es Patrik eigentlich vermuten konnte, das sie
wenigstens bis zum Anfang des Gedanken-Gespräches alles bis in
sein Innerstes hatten mitbekommen können, so schockierte es ihn
doch ein wenig. Es war so ein Gefühl von Nacktheit und er überlegte, ob es irgend einen Grund geben könnte, worüber er sich
schämen müßte.
„Von Natur aus sind wir Menschen eigentlich zum Zusammenleben geschaffen,“ erwiderte er, „aber es gibt öfters - wie du
schon sagtest - Konflikte. Vielleicht habe ich in den Träumen
diese Auseinandersetzungen versucht zu verarbeiten. Und wenn
etwas nicht so läuft, wie es von der Natur aus vorgesehen ist, fühlen wir uns immer schuldig oder zumindest mitschuldig. Jedenfalls ist es kein Einzelfall, wenn Menschen in dieser Zeit solo
sind; es ist einiges durcheinander geraten in den Beziehungen
zwischen den Geschlechtern. Die Population auf unserem Planeten wächst ständig, aber in den Macht ausübenden Staaten ist die
Geburtenrate rückläufig. Vielleicht ist das der Anfang von dem,
was ihr auch mitgemacht habt. Ich weiß nicht genau.“
307
In diesem Moment blinkte eine Fläche an der Wand rot auf und
Not drehte sich um. Eine Weile lang unterhielten sie sich wieder
in ihrer eigenen Sprache. „Unser Elternwesen hat uns entdeckt,“
meinte Elend, um ihm die Situation zu erklären, „wir sollen sofort
zurück kommen.“
„Oh, schade,“ entfuhr es Patrik.
„Ja,“ sagte Not, „aber vielleicht besuchen wir dich noch mal,
obwohl wir recht selten in diese Gegend kommen.“
Elend meinte: „Um ehrlich zu sein, wir haben dieses Schiff der
Forschungsklasse von unserem Elternwesen einfach genommen,
obwohl wir es eigentlich nicht durften. Aber während des Zyklus
gerät unser Denken ganz schön durcheinander; wir mußten
einfach mal ausbrechen. Das verstehst du doch?“
„Selbstverständlich! Bei uns wird immer gesagt, wir sind auch
nur Menschen. Kennt ihr auch solche Sprüche?“
Plötzlich blinkte eine zweite rote Fläche neben der jetzt erloschenen ersten auf. Wieder war es Not, die sich darum kümmerte.
Nach einer Weile drehte sie sich zurück und gab zu verstehen:
„Das sind keine guten Nachrichten, was uns da ein Überwachungssatellit mitteilt. Der Feind hat unsere Position geortet und
seine Roboterarmeen los geschickt.“
„Was meinst du damit?“, fragte Patrik etwas aufgeregt.
„Das müssen wir dir etwas ausführlicher erklären. Aber zuerst
muß ich mit unserem Elternwesen sprechen.“
Sie drehte sich der Wand zu, worauf jetzt eine grüne Fläche
gleichmäßig zu leuchten begann. Als sie fertig war ging das Licht
wieder aus und sie wandte sich Patrik zu. „Das ist ganz schlecht,
ganz schlecht,“ gab sie zu verstehen. „Aber der Reihe nach. Wir
308
sind kein kriegsführendes Volk, wie ich schon sagte. Aber viele
intelligente Lebensformen in der Galaxis bekämpfen sich untereinander oder auch gegeneinander. Wir halten uns da raus, denn
es geht uns nichts an, solange wir nicht selbst angegriffen werden.
Unter all den kriegslüsternen Spezies ist der Feind der Schlimmste. Er hat uns auch schon angegriffen und unser mentales Schutzschild konnte seine Roboter nicht aufhalten. Deshalb mußten wir
uns Waffen zur Verteidigung besorgen, die wir von befreundeten
Zivilisationen erhielten. So konnten wir ihn stoppen und zurückschlagen.
Aber er gibt keine Ruhe, immer wieder versucht er uns
Schaden zuzufügen. Das geht schon fast achtzig Jahre so. Unsere
Wissenschaftler haben die Verteidigungstechniken wesentlich verbessert, so daß er uns direkt nicht mehr angreift. Aber alle Zivilisationen, die er erreichen kann und nicht so gut geschützt sind,
werden von ihm attackiert und am liebsten unsere Verbündeten.
Und wenn irgendwo neue bewohnte Planeten entdeckt werden,
schickt er seine Armeen dahin. Er ist auf Technologie und auf
Rohstoffe aus. Der Feind ist ein Despot, der sein Volk unterdrückt. Deshalb ist ihr technischen Fortschritt auch stehen geblieben, weshalb er noch größere Anstrengungen unternimmt, um
an Geräte zu kommen, die seine Macht in der Galaxis ausdehnen
helfen.
Bei einem seiner Eroberungszüge - vor etwa fünf Jahren - ist
ihm ein Kommunikationsgerät von uns in die Hände gefallen, daß
wir einer aufstrebenden Rasse für den Notfall überlassen hatten.
Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, er weiß damit nichts anzufangen, weil er unsere Sprache nicht übersetzen kann und die Codierung, die wir mit dem Volk vereinbarten ebenfalls nicht. Doch
309
scheint er einen Weg gefunden zu haben, die Nachrichten jetzt zu
verstehen. Jedenfalls dauerte es keine Minute, bis er uns hier geortet und eine seiner Flotten in Bewegung gesetzt hat. Nur gut,
daß wir alle seine Aktivitäten beobachten, was gar nicht so
einfach ist, denn er hat immer verschiedene Einheiten in der Nähe
seines Sonnensystems in Bereitschaft stehen.
Die Planeten mit Lebewesen in seinem Einzugsbereich, die
sich selbst nicht helfen können werden von uns beschützt und zur
Zeit sind alle unsere Schiffe bei Einsätzen. Den Angriff wird eure
Zivilisation nicht überstehen. Wenn er bei euch keine brauchbare
Technologie findet, wird er zumindest nützliche Rohstoffe mitnehmen. Von eurer Rasse werden nicht viele übrig bleiben und die
die überleben, werden seine Sklaven. Lieber Freund, es tut uns
sehr leid, aber es ist unsere Schuld, daß er euch gefunden hat und
wir können im Moment nichts tun, um seinen Angriff zu
verhindern.“
Patriks Schlußfolgerung war logisch, noch hielt sich seine Anspannung in Grenzen. „Gibt es denn niemand unter euren Verbündeten, die uns beistehen können?“, fragte er deshalb.
„Unser Elternwesen versucht das jetzt heraus zu finden. Aber
wir können dir keine große Hoffnung machen. Für die meisten Zivilisationen in der Galaxis gilt die Nichteinmischung als oberste
Regel. Darüber hinaus sind sie mit sich selbst beschäftigt und
nicht zuletzt sind die Bündnisse, die wir schließen eher als locker
anzusehen und nicht verpflichtend.“ Not's Kommentar zu seiner
Frage war ernüchternd.
Elend fügte hinzu: „Im Moment kennen wir keine Rasse, die
auf Eroberung aus ist außerhalb ihrer regionalen Konflikte, außer
dem einen, den wir den Feind nennen. Die Rassen, die euch regel310
mäßig besuchen, beobachten euch nur; höchst wahrscheinlich um
eure Entwicklungschritte mit zu bekommen. Wenn der Feind
kommt, werden sie sich mit Sicherheit zurückziehen.
Aber wir sollten die Hoffnung nicht einfach so aufgeben. Wir
kennen die Startposition der Roboterarmee und wir wissen, daß
die unzureichende Technologie seiner Schiffe keine große Geschwindigkeit zuläßt. Unser Rechner ermittelt eine Ankunftszeit
von vier Jahren und zwei Monaten. Bis dahin wird sich sicherlich
eine Lösung finden.
Um eine Flotte des Feindes zu stoppen sind mindestens acht
Schiffe der Verteidigungsklasse nötig. Da liegt das Problem. Bislang haben wir bei der Abwehr seiner Armeen nur notdürftig so
viele Schiffe zusammen bekommen, um seinen Eroberungsdrang
einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Er produziert jedes Jahr
neue Einheiten und unsere Verteidigung zeigt Verschleißerscheinungen. Wir können ungemein viele neue Schiffe erbauen, aber
die Piloten gehen uns aus.“
„Nach unseren Gesetzen dürfen wir keiner anderen Rasse unsere Technik zur Verfügung stellen,“ fuhr Not jetzt fort, „weil wir
Gefahr laufen, dann von dieser überrollt zu werden. Die Lage ist
wirklich schwierig.“
„Seit ihr eigentlich nie auf die Idee gekommen euch mit euren
Verbündeten zusammen zu tun und ihn gemeinsam anzugreifen
und auszulöschen? Die Technik dafür habt ihr doch sicherlich. Je
länger ihr damit wartet, um so mächtiger wird er, nehme ich an.“
Not wollte ihm gerade erklären, daß Angriff in ihrem Gedankengut keinen Platz hätte, da unterbrach ein weiterer Anruf
das Gespräch. Not teilte mit, daß eine Sitzung des Rates einbe311
rufen würde um die Lage zu besprechen. „Unser Elternwesen
meinte, daß man eine Taktik des Zermürbungskrieges hinter den
Aktivitäten des Feindes vermutet, damit müssen seine Absichten
neu bewertet werden. Er hat sicher unsere Notlage erkannt und
will uns an vielen Stellen binden. Vielleicht hofft er, daß dadurch
unsere Verteidigung des eigenen Planeten aufgeweicht wird. Hat
er uns erst einmal erobert, ist er die uneingeschränkte Nummer
eins im bekannten Weltall. Aus diesem Grund wird gewiß ein Antrag gestellt, die Beschränkung zur Rekrutierung fremder Piloten
aufzulockern.“
Patrik hatte plötzlich eine Idee und drückte sie auch sofort aus.
„Könnten wir - ich meine, trotz unseres zurück gebliebenen
Verstandes - so was nicht auch lernen oder sind Voraussetzungen
dafür nötig, die wir nicht haben?“ Er dachte dabei eigentlich an
sich selbst, denn die ganze Situation bewirkte eine enorme Aufbruchsstimmung in ihm.
Elend meinte dazu: „Also, beim Überfliegen deines Planeten
haben wir mindestens dreißig Unruheherde mit kriegerischen Auseinandersetzungen gezählt. Eure Rasse scheint mir nun ganz und
gar nicht dazu geeignet, unsere Kampfschiffe überlassen zu bekommen. An den Voraussetzungen liegt es nicht, denn dafür
sorgen wir schon.“
„Ich verstehe nicht.“
„Nun, so ein Pilotenkandidat würde eine mentale Intensivschulung bekommen, das den nötigen Wissensstand in zwei Stunden
übermittelt und in seinem Gedächtnis hinterlegt. Wir haben so
eine Lernhaube sogar hier auf dem Schiff, schließlich gehört es
der Forschungsklasse an.“
„Für die Menschen kann ich natürlich nicht ohne weiteres die
312
Hand ins Feuer legen, da muß ich dir leider recht geben. Und
verläßliche Personen zu finden - denn bestimmt sind nicht alle
Menschen schlecht - wird wahrscheinlich etwas länger dauern.
Wie lange braucht ihr eigentlich für den Flug von eurem Heimatplaneten bis hierher?“
„Oh,“ sagte Not, „eigentlich ist es kein Flug, vielmehr besteht
die Reise aus einigen wenigen Sprünge. Alles in allem schaffen
wir die Strecke in zwei Erdentagen. Und außerdem werden wir
uns wahrscheinlich nie wieder sehen, denn unser Elternwesen hat
angedeutet, daß wir unserem Volk großen Schaden zugefügt
haben und uns dafür vor dem Rat verantworten müssen. Sicherlich
wird man uns die Flugerlaubnis entziehen. Oder hast du vielleicht
daran gedacht mitzukommen?“
Patrik war jetzt Feuer und Flamme für die Idee, selbst an der
Verteidigung der Erde mit zu helfen. „Wenn ihr schon kein Vertrauen zu den Menschen habt, was ich gut verstehen kann, so wäre
ich schon bereit mich zur Verfügung zu stellen, falls euer Rat die
Beschränkung lockert. Mir könnt ihr auf jeden Fall vertrauen.
Oder?“
Not schien sich mit ihren Gedanken zurück gezogen zu haben.
Deshalb antwortete Elend: „Ich glaube schon, daß man dir vertrauen kann. Aber wir müssen erst abwarten und dafür haben wir
eigentlich keine Zeit, denn wir sollten nicht mehr allzu lange hier
bleiben, sonst wird der Rat die Strafe, die uns bevorsteht erweitern.“
Nun meldete sich Not wieder: „Nicht so hastig, ich habe einen
Plan. Wenn wir die Sache schon vermasselt haben, so wäre es
doch nur richtig, sie wieder gut zu machen. Dabei kommt es auf
die eine oder andere zusätzliche Verfehlung auch nicht mehr an.“
313
„Sprich dich aus, Bruder-Schwester,“ ließ Elend verlauten und
trotz der Konditionierer war die Spannung spürbar.
Not erklärte ihren Plan: „Paßt auf. Wir haben doch zwei Reparaturroboter an Bord. Die gehören zur Standardausrüstung. Sie
haben die Baupläne des Schiffes einschließlich die der Verteidigungsklasse gespeichert. Das ist übrigens Vorschrift,“ meinte sie
zu Patrik gewandt, „damit wir uns, falls das Schiff in eine Notlage
gerät oder bei einem Unfall zu stark beschädigt würde, sofort ein
neues bauen können. Das ist mit dem intelligenten Material kein
Problem. Aber auch die Bauanleitungen für die Reparaturroboter
sind in den Gehirnen der Maschinen vorhanden. Also, mein Plan
sieht folgendermaßen aus: Wir bauen zwei neue Roboter aus dem
Reservematerial, das in der Lagerhalle ist. - Nein, anders.“
Anscheinend war ihr Plan noch nicht ganz ausgereift, dennoch
fuhr sie fort: „Ja, jetzt habe ich es. Laut unserer Sternenkarte ist
hier ganz in der Nähe ein Sonnensystem mit einem Fixstern, wo
der gleiche Rohstoff zu finden ist, den wir für die Aufbereitung
des intelligenten Materials benötigen. Die Distanz zwischen den
Systemen ist mit einem Sprung zu schaffen, der gesamte Flug
dauert acht Stunden. In der Zeit wird Patrik an die Lernhaube
angeschlossen. Mit dem Rohstoff fliegen wir dann einen Planeten
mit atembarer Atmosphäre an. Ich glaube, da ist sogar einer im
selben Sonnensystem.
Unser Materiewandler veredelt dort die Rohstoffe und unsere
Roboter bauen außer zwei weiteren Robotern auch ein kleines
Raumschiff nach dem Vorbild der Verteidigungsklasse. Wir brauchen nur die Parameter verändern, das wird schon gehen. Derweil
fliegt einer von uns nach Kugel 10012 um Kristalle zu holen. Das
dauert sechs Tage und wenn er zurück kommt, ist das kleine
314
Raumschiff flugfähig. Patrik fliegt damit zurück zur Erde, um sich
unter seinen Aussteigerfreunden welche auszusuchen, die ihm bei
der Verteidigung helfen.
Wir beide fliegen nach Hause und lassen uns kräftig den Kopf
waschen; können aber dem Rat mitteilen, daß die Erde sich selbst
verteidigen kann. Wenn wir auch ein paar Gesetze gebrochen
haben, so ist das Ergebnis bestimmt geeignet, das Urteil des Rates
milder ausfallen zu lassen. Was haltet ihr davon?“
Elend brauchte eine Weile, trotz ihres überragenden Gehirns,
um alles zu durchdenken. „Das könnte funktionieren. Wir müssen
Patrik eine Haube anfertigen lassen, Konditionierer haben wir
genug in Reserve. Aber die Konstruktion der Lernhaube ist nicht
in den Rechnern der Roboter gespeichert. Das schafft einer von
uns in der Zeit, wo der andere nach Kugel 10012 fliegt. Dort sehe
ich den Schwachpunkt deines Plans. Der Abbau der Kristalle ist
Unionssache und wir haben keine Legitimation.“
Patrik verstand nur Bahnhof, doch in groben Zügen konnte er
dennoch den Plan durchschauen und erwartete ohne Bedenken
auch jetzt eine Lösung für das neuerliche Problem.
Not konnte sich gut in ihn hinein versetzen und erklärte: „Du
wirst alles verstehen, wenn du unter der Lernhaube warst. Doch
jetzt nur soviel: Kugel 10012 ist einer der vielen Kugelsternhaufen außerhalb der Galaxis. Nur dort gibt es die Kristalle in
ausreichender Menge, die wir für den Antrieb und die Schutzschilde benötigen. Das sind die einzigen Sachen, die wir nicht aus
der intelligenten Materie herstellen können.
Die Union ist ein Bündnis verschiedener Rassen, die sich über
die Gewinnung der Kristalle geeinigt haben - wir gehören auch
dazu. Die Minen gehören allen Mitgliedsplaneten der Union und
315
der Abbau wird streng überwacht, weil es so was wie Piraten gibt,
die sich auch nicht scheuen würden, Kristalle an den Feind zu verkaufen, selbst wenn der nicht über die Technologie verfügt sie zu
benutzen.“
„Noch nicht,“ warf Elend ein.
„Richtig,“ meinte Not weiter, „aber mir fällt da was ein. Wir
haben sowieso nicht die Geräte, um die Kristalle aufzuarbeiten.
Das wird auf einer der Stationen gemacht, die die Union in einem
Sonnensystem des Kugelsternhaufens betreibt. Einmal pro Woche
fliegt ein Transportschiff der Union die Station an. Die fertigen
Kristalle werden dann an die einzelnen Besteller geliefert. Was
wäre, wenn wir so ein Transportschiff ...“ Not zögerte einen
Moment, anscheinend kam ihr der Gedanke selbst unheimlich vor.
„... überfallen.“
„Du meinst, wir als Piraten?“ Der Gedanke schien Elend in
helle Aufregung zu versetzen, denn obwohl Patrik keine Emotionen verspüren konnte, erkannte er dennoch an ihrem hektischen
Gebaren, wie sehr sie diese Idee mitnahm. Erst dachte sie in
eigener Sprache, dann stotterte sie sogar beim Denken und letztlich brachte sie gar keinen Gedanken mehr hervor.
Jetzt redeten beide wieder in ihrer eigenen Sprache, sehr viel
schneller als gewohnt und Patrik war gespannt, wie sie sich
einigen würden.
„Das muß klappen,“ sagte Not, „zumal Patrik dann schon den
gleichen Bewußtseinsstand hat wie wir. Er wird einen Gedankenkonditionierer bekommen und zu zweit wird es leichter sein, die
Begleitmannschaft des Transporters in Schach zu halten.
Außerdem erwartet man garantiert keinen Angriff von unserer
Seite aus und wir sind die Einzigen, die mentale Beeinflussung 316
wenn auch bisher nur zur Verteidigung benutzen.“
„Du hast recht, so könnte es gehen,“ resümierte Elend.
Einmal entschlossen gingen sie sofort daran, den Plan in die
Tat umzusetzen. Den Sprachkonditionierer sollte Patrik wieder
abgeben, denn mit dem Gerät um den Hals wäre die Lernhaube
nicht einsatzbereit, erklärte Elend, während Not bereits die Steuerung übernommen hatte, um den Flug durchzuführen.
Patrik und Elend verließen den Raum, wobei er seine Füße
benutzte, was sie zu der Bemerkung veranlaßte, daß sie doch
immer neidisch auf die Lebewesen wäre, die auf eigenen Füßen
gehen könnten. Die beiden Außerirdischen hatten ebenfalls den
Konditionierer abgelegt und Patrik war jetzt in der Lage ihre
Emotionen wenigstens wahr zu nehmen, wenn ihm auch die
Folgerungen daraus überhaupt nicht verläßlich erschienen.
Er hatte tausend Fragen, doch Elend vertröstete ihn mit dem
Hinweis, in zwei Stunden keine mehr zu haben. „Ich muß erst
dein Gehirn untersuchen, ob du überhaupt auf die Lernhaube ansprichst und wie groß das Speichervolumen sein darf, das wir dir
zumuten können. Wir benutzen die Haube ab und zu für Tests an
Rassen, die neu entdeckt werden um heraus zu finden, ob ihr Gehirn die Entwicklung zur intelligenten Lebensform, vielleicht sogar zur intergalaktischen Rasse vollziehen kann.
Soviel übrigens zum Thema Nichteinmischung - da steckt mehr
als nur eine Doppelmoral dahinter, auch wenn keiner unserer Forscher das wahr haben will. Ich bin sicher, daß die eine oder andere
Zivilisation in dieser Galaxis erst dadurch entstanden ist, weil wir
ein bis zwei ihrer Spezies unter der Haube hatten und die dann mit
ihrem Wissen die Entwicklung ihrer Rasse erst in Gang gebracht
317
haben.
Natürlich machen wir nie eine Vollausbildung mit ihnen. Wir
haben je nach Evolutionsstand angepaßte Programme, damit die
Artgenossen nicht überfordert werden und die behandelten Individuen nicht gottähnlichen Status erlangen. Übrigens ist die Schulung nicht mehr rückgängig zu machen, denn Wissen kann man
nicht löschen. Oder besser gesagt, löschen kann man schon - dann
aber nur alles. Weil sich das neue Wissen mit dem alten verbindet,
würden beim Löschen auch alte Informationen verschwinden und
das wäre nicht akzeptabel.“
Sie waren in einem kleinen Raum angelangt, wo an einer Wand
eine Haube hing, ähnlich wie die, die Not zur Navigation benutzte.
„Setze dich,“ forderte Elend ihn auf und ließ eine Scheibe aus
dem Boden aufsteigen. „Du kannst dich schon mal von deinem alten Leben verabschieden. Du wirst nichts von dem Vorgang merken, sondern sogar schlafen dabei. Dein Ego und die Charaktereigenschaften bleiben vollständig erhalten. Willst du noch etwas sagen?“
Patrik beschlich jetzt doch ein etwas mulmiges Gefühl in der
Magengegend, aber er verweigerte sich einfach den zweifelnden
Fragen und vertraute den Erfahrungen dieser fremden Rasse. Er
nahm Platz und Elend bewegte sich an die Wand.
„Ich scanne jetzt dein Gehirn, entspanne dich.“
An der Decke des Raumes befand sich direkt über Patrik's
Kopf eine dunkle Fläche, von der in schnellen Intervallen Lichtblitze ausgingen. Er mußte die Augen schließen. Nach etwa dreißig Sekunden hörte das auf und Elend gab zu verstehen, daß es
keine Bedenken für den Einsatz der Lernhaube gebe.
318
„Hat euch das denn noch nie gestört, soviel freie Kapazität des
Gehirns unbenutzt zu lassen?“, fragte sie verwundert. Patrik wußte darauf nichts zu sagen, aber die Gedanken über die Unfähigkeit
der Menschen, die restlichen neunzig Prozent des Gehirns zu aktivieren empfing Elend natürlich, was Beantwortung genug war.
„Es geht los,“ war das letzte, was Patrik noch verstand, bevor
er in einen tiefen Schlaf sank, als sich die Haube seiner Kopfform
angepaßt hatte.
Im ersten Moment spürte er keinen Unterschied - es war wie
immer beim Aufwachen, bei dem er nach den Inhalten seiner
Träume suchte. Die Haube bewegte sich zurück an die Wand und
er öffnete die Augen. Vor ihm saß Elend auf dem Kontursitz und
blickte ihn neugierig an. Er wußte, daß der Moment des Aufwachens die kritische Phase des Lernprozesses war und durchaus
zum Schock führen konnte. Die einzige Möglichkeit dieser Gefahr
zu begegnen war der sofortige Einstieg in die Normalität; so zu
tun, als wenn alles ganz normal wäre.
Das friedliche Volk der Gluzugs hatte ihm ihr ganzes Wissen
überlassen, er konnte jetzt auch in ihrer Sprache denken. Aber die
speziellen mentalen Fähigkeiten, wie etwa die Telekinese wurde
durch die Haube nicht vermittelt. Nur leichte telephatische Eigenschaften erkannte Patrik in sich, denn Elends Gedankenmuster
drängte sich in sein Denken, ohne daß er konkret Einzelheiten
selektieren konnte.
Nach dem Aufstehen aus dem Kontursitz meinte er zu Elend:
„Für den Auftrag im Kugelsternhaufen brauche ich einen Gedankenkonditionierer.“
„Immer wieder erstaunlich,“ sagte sie, ging aber auch sofort
319
zur Tagesordnung über. Sie hatte während Patrik's Haubenschulung das Lager inspiziert um einen Überblick zu gewinnen, welche verwertbaren Materialien zur Verfügung standen.
Die beiden kehrten zurück in die Kommandozentrale, wo Patrik das gewünschte Gerät erhielt. Es sah so ähnlich aus wie das
für die Sprache, wirkte aber wesentlich umfangreicher. Er wußte,
das die beiden Gluzugs selbst keine brauchten, denn sie hatten
dieses Gerät als Implantat schon als Kinder eingepflanzt bekommen. Dennoch führten sie in ihrer Ausrüstung externe Ersatzgeräte mit, falls ihr eigenes durch Defekt ausfallen sollte. Ihre an sich
schon vorhandenen latenten parapsychischen Fähigkeiten wurden
enorm verstärkt. Für Patrik war die Wirkung des Gedankenkonditionierers vollkommen ausreichend, denn wie er feststellen
konnte, besitzen auch Menschen die Begabung für die besonderen
geistigen Kräfte.
Das Gerät verstärkt die Suggestivkräfte der Gedanken bis hin
zu hypnotischen Befehlen, sogar auf Gruppen von denkenden
Wesen anwendbar. Des weiteren bleibt kein Gedanke einer Person
innerhalb des Wirkungsraums dem Benutzer verschlossen. Für die
Gluzugs untereinander - selbstverständlich auch für Patrik, der
sich dazu gehörig fühlte - war dies natürlich absolutes Tabu und
niemand wäre auf die Idee gekommen, diesen Kodex zu verletzen.
Er fragte Elend, ob sie genug Material und Ersatzteile gefunden
hätte, denn Schiffe der Verteidigungsklasse benötigen zur Steuerung sogar zwei Hauben und mußten auch entsprechend von zwei
Personen bedient werden. Einer muß sich mit der Steuerung
beschäftigen, ein weiterer war für die Bedienung der Waffensysteme zuständig, sowie des aktiven Abwehrmodus.
Das Schiff der drei hatte schon während Patrik's Schulungspha320
se den Sprung zu dem betreffenden Sonnensystem beendet und
flog jetzt mit zweifacher Lichtgeschwindigkeit an der äußeren
Bahn des am weitesten vom Zentralstern entfernten Fixsterns
entlang. Sie wollten so nahe wie möglich an den Giganten in der
zweitäußersten Bahn herankommen, wo der gewünschte Rohstoff
zu finden war. Innerhalb eines Sonnensystem ist laut Richtlinien
der Bündnispartner keine höhere Geschwindigkeit als die des
Lichts erlaubt. Patrik dachte an die Erde, wo innerhalb von Ortschaften im Straßenverkehr ebenfalls ein Tempolimit besteht und
mußte bei dem Vergleich lachen.
„Ich mache schon mal den Traktorstrahler bereit,“ dachte er an
Elend gerichtet. Wie selbstverständlich fügte er sich in den
Arbeitsablauf ein und wollte gar nicht ins Grübeln bezüglich seiner Veränderung geraten. Die Arbeit drängte zwar noch nicht,
denn das Anflugmanöver vom äußeren Gürtel bis zum Gasgiganten würde ein paar Stunden dauern, doch die Zeit des
Wartens wollte er nicht mit Nachdenken verbringen.
Deshalb ging er nach Erledigung der ersten Aufgabe auch noch
daran, die Werkzeuge, wie den Materiewandler zu überprüfen,
was Elend eigentlich schon erledigt hatte.
An dem riesigen Planeten angekommen isolierten sie eine
angemessene Menge des Rohstoffs und hängten sie an den Traktorstrahl. Dann schlossen sie es in ein Bedingungsfeld ein, denn
der Rohstoff durfte bis zur Weiterverarbeitung am Konverter
keinen physikalischen Einflüssen ausgesetzt sein, die Veränderungen bewirken könnten.
Jetzt flogen sie den angesprochenen Planeten an und landeten
in der Senke eines ausgedehnten Graslandes. Die Luft stellte sich
als durchaus atembar heraus, wenn auch der Stickstoffanteil etwas
321
zu hoch war.
Patrik, dessen Organismus weniger anfällig war, betrat als
erster die Oberfläche des Planeten, der viele unbekannte Lebewesen beheimatete, aber keine intelligente Lebensform aufwies.
Ein Vergleich mit dem urzeitlichen Zustand der Erde konnte
durchaus hergestellt werden.
Not und Elend hüllten sich in ein Schutzschild ein, denn ihre
Ängste in Bezug auf Ansteckungsgefahr waren recht groß. Der
Konverter schwebte in das Bedingungsfeld des Rohstoffes und begann mit der Umwandlung der Materie. Bei der Menge, die sie
isoliert hatten, würde der Vorgang mindestens einen Erdentag
dauern. Nach Berechnung des Zentralgehirns auf dem Schiff
reichte das zu erwartende Material für mehr als fünfzig kleine
Schiffe der Verteidigungsklasse aus. Ein weiterer Tag brauchte
die Aufbereitungsanlage für die Unterteilung der einzelnen Materiearten, vor allem die Antriebssysteme und der Rechner benötigten spezielle Abwandlungen des Rohstoffes.
Letztlich benötigten die Reparaturroboter mindestens einen
halben Tag um zwei weitere ihres Typs herzustellen, was natürlich anschließend die Produktionszeit um das Zweifache
beschleunigen würde.
Sie errichteten eine sterile Notunterkunft und schafften die Geräte heran, die für die Herstellung der Hauben gebraucht wurden.
Zuletzt wurde ein mentaler Abwehrschirm installiert, der im Umkreis von einem Kilometer Durchmesser kein Lebewesen hindurch ließ.
Zwischenzeitlich hatten sie über den Plan diskutiert und sich
entschlossen auch später nur die kleine Variante von den Robotern
bauen zu lassen. Für Patrik's Flug allein zurück zur Erde konnte er
322
sowieso kein größeres Schiff gebrauchen, weil er es ja auch bedienen können mußte. Die Waffensysteme konnte er ganz außer
acht lassen, denn es war nicht davon auszugehen, daß er auf dem
Flug zur Erde angegriffen würde. Für die normale Größe der
Verteidigungsklasse wurden zwölf Personen benötigt. Das erschien Patrik zu unpraktisch, weil zum Einen diese großen Schiffe auf
der Erde nicht unentdeckt bleiben würden und zum Anderen die
Anzahl der Leute, die er für die Abwehr des Angriffs vorgesehen
hatte letztlich begrenzt war. Not ließ den Rechner einen Angriff
simulieren und es stellte sich heraus, daß von den kleinen Schiffen
wenigstens zwanzig benötigt würden, um der Roboterarmee des
Feindes Stand halten zu können.
Damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen und sie machten sich sofort an die nächste Aufgabe. Elend bestand darauf hier
auf dem Planeten zu bleiben, weil sie befürchtete, nicht abgebrüht
genug zu sein für den Überfall auf das Transportschiff. Sie war
jetzt sehr müde und schlief in der Notunterkunft sofort ein.
Patrik übernahm die Navigationshaube, während Not sich
ebenfalls in Schlaf versetzte. Bevor sie den Planeten verließen
füllte Patrik noch die Trinkwassertanks auf, wobei das Wasser erst
einmal gebrauchsfähig aufgearbeitet werden mußte. Das gleiche
galt für die Früchte, die Patrik in der Nähe eines Flusses entdeckt
hatte und ebenfalls mitnahm. Sein Bedürfnis nach bißfestem
Essen konnte von den flüssigen Nahrungspräparaten der Bordküche nicht befriedigt werden, zumal sie auf den Organismus der
Gluzugs ausgelegt waren und einiges vermissen ließen, was Patrik's Körper benötigte. Außerdem schmeckte es grauenhaft und
Patrik mußte sich überwinden die Nahrung herunter zu bekommen.
323
Außerhalb des Sonnensystems bereitete er den ersten Sprung
vor. Der Sprung selbst dauerte nur Millisekunden und das über
eine Distanz von mehreren Lichtjahren. Aber die Berechnung der
Zielkoordinaten, das Voraussenden des Rematerialisationsknotens
und die Reinigung der Kristalle nahm einige Stunden in Anspruch.
Nach drei Sprüngen verließen sie die Galaxis und nach zwei
weiteren standen sie vor dem Kugelsternhaufen 10012. Sie lösten
sich mehrmals zwischendurch ab, damit jeder seinen Schlaf bekam. Als sie sich dem Sonnensystem näherten, wo sich die Station
der Union befand, waren beide wach.
Patrik hörte die Kommunikationsspuren ab und Not unterhielt
sich mit ihrem Elternwesen, das natürlich erschüttert war über die
Eigenmächtigkeit der Kinder. Doch schwang auch so etwas wie
Stolz in seinen Worten mit, berichtete Not anschließend. „Der Rat
kann sich nicht einigen, aus welcher Rasse sie Piloten rekrutieren
wollen. Als die Nachricht von der beabsichtigten Aufhebung der
Beschränkung in der Galaxis aufgefangen wurde, meldeten sich
direkt alle um ihre Dienste anzubieten, erzählte Vater-Mutter. Die
sind so scharf auf unsere Technik. Selbst der Feind soll versucht
haben Agenten als Piloten anzubieten, doch ist unsere Abwehr
sehr aufmerksam und hatte so etwas schon erwartet.
Von dir habe ich nur soviel gesagt wie unbedingt nötig und die
Schulung habe ich gar nicht erwähnt, nur das du uns helfen willst.
Jedenfalls erwartet man von uns keine weiteren Fehler, denn das
Schicksal der ganzen Galaxis steht auf dem Spiel - na, die werden
sich wundern.
Ich habe ihm natürlich nichts von dem beabsichtigten Überfall
auf das Transportschiff der Union erzählt, denn wenn sie gewarnt
324
wären, würde es schwierig den Plan umzusetzen. Selbstverständlich weiß er-sie wo wir sind und deshalb auch warum wir hier
sind; jedenfalls bin ich sicher, daß er-sie sich das denken kann.
Aber Vater-Mutter hat so getan, als wenn er-sie von nichts wüßte.“
„Gut,“ meinte Patrik, „das macht die Sache einfacher für uns. Bis jetzt habe ich nur Bestellungen mitbekommen, aber ein
Transportschiff scheint an der Station zu sein und wird wohl in
Kürze aufbrechen. Wir müssen Geduld haben.“ Daß der Feind
jetzt ihre Nachrichten abhören würde und dadurch eine Gefahr
durch die Ortung ihrer Position entstehen könnte, vernachlässigten
sie. Er konnte sich seine eigenen Gedanken machen, warum sie
aus dieser Region sendeten. Keinesfalls war davon auszugehen,
daß er hierher kommen würde, denn die Union besaß hier in
diesem Bereich mehrere schlagkräftige Einheiten.
„Ich bin so aufgeregt,“ vernahm Patrik von Not und mußte unwillkürlich grinsen.
„Findest du es nicht äußerst interessant mal etwas Verbotenes
zu tun, den Rahmen des Gewohnten und Vertrauten zu
sprengen?“, fragte er.
„Es hält sich in Grenzen, ehrlich. Ich wünschte, wir wären bereits auf dem Rückweg.“
Sie hatten sich dem Sonnensystem mit fünffacher Lichtgeschwindigkeit genähert, jetzt verlangsamten sie den Flug. Der
konventionelle Protonenantrieb war dabei zu siebzig Prozent belastet worden, nun konnte er wieder abkühlen. Viel schneller flog
das Schiff nicht, außer eben durch das Sprungverfahren, wobei die
Materie umgewandelt wird in Paraenergie, um am voraus gesandten Knoten wieder zu rematerialisieren. Sprünge sind allerdings
325
leicht zu orten und die beiden wollten nicht riskieren, vom
Transportschiff zu früh erkannt zu werden.
Zwei weitere Tage vergingen beim Anflug. Doch nun stoppte
Not das Schiff im Energieschatten eines größeren Fixsterns. Patrik
schlief in diesem Moment gerade. Der Grund für die Unterbrechung lag darin, daß Not den Start des Transportschiffes geortet
hatte. Sie wartete ab, bis sie die Route des Unionsschiffes
analysieren konnte. Dazu brauchte sie nur auf den ersten Sprung
des Transporters zu achten.
Schon das Vorausschicken des Rematerialisationsknotens hinterließ eine Spur, die vom Rechner ihres Schiffes identifiziert
werden konnte. Damit wußte sie, wo das Zielobjekt aus dem Zwischenraum auftauchen würde. Sie berechnete den eigenen Sprung
und wartete mit dem Losschicken des Knotens bis zu dem
Moment, wo sich das Unionsschiff auflöste. Sie hatte die Koordinaten für den Zielpunkt des Wiedereintritts etwas weiter in Richtung der Route des Transporters verlegt. Wenn dieses rematerialisierte würde es sehr schnell die Spur entdecken und wahrscheinlich stutzig werden, denn als Zufall wäre das nicht einzuordnen. Aber bevor der Konvoi bereit für den nächsten Sprung
war, hätte ihn Not und Patrik schon erreicht.
Natürlich sind die Begleitmannschaften vorsichtig genug und
auch darauf vorbereitet, um einem möglichen Angriff von Piraten
begegnen zu können. Trotzdem wäre der Überraschungseffekt auf
Seiten der Beiden, denn von einem Gluzugsschiff, daß beim
Wiedereintritt sofort als solches erkennbar wurde, erwarteten die
Bewacher keine Feindseligkeiten.
Patrik erwachte kurz vor dem Sprung. „Halte dich fest,“ meinte
Not, „es geht los.“
326
Ihre Aufregung war gewichen, die Abenteuerlust, die immer zu
Zeiten des Fortpflanzungszyklus groß war, hatte sie voll in Besitz
genommen. Außerdem war jetzt handeln angesagt und es blieb
keine Zeit über moralische Vorbehalte nachzudenken.
Wie schon vorher merkte Patrik auch dieses mal nichts vom
Auflösen und Rematerialisieren. Selbst eine Unterbrechung des
Gedankenflusses konnte kaum wahrgenommen werden.
Sofort beim Wiedereintritt leuchtete die Warnfläche für die
Ortung eines Flugobjekts. Not steuerte das Schiff auf Angleichkurs und Patrik empfing den Anruf des leitenden Offiziers der Begleitmannschaft. Er gehörte zur Rasse der Bontaten, die zwar
keine gute Kinderstube in Bezug auf Benehmen aufweisen konnten, aber sonst als sehr verläßlich und loyal gegenüber der Union
galten.
„Verflucht, was macht ihr denn hier. Beinahe hätten wir euch
abgeknallt. Identifiziert euch gefälligst und nennt uns den Grund
eures Erscheinens, sonst hole ich das schnell nach.“ Er hatte eine
wirklich unangenehme Stimme und sprach in der Unionssprache,
wenn auch nicht ganz akzentfrei.
Patrik hatte spontan den richtigen Einfall: „Ich bin Patrik, Sonderbeauftragter des Rates der Gluzugs in geheimer Mission. Mir
ist berichtet worden, daß sich ein Agent des Feindes in eure
Mannschaft eingeschlichen hat und fordere euch auf, den
Transport sofort zu stoppen. Wir werden an Bord kommen und die
Mannschaft untersuchen.“
Der Offizier schien verwirrt und überlegte, wie das möglich
sein konnte. Erst jetzt setzte Patrik seine Suggestivkräfte ein, weil
die Schiffe sich mittlerweile so weit angenähert hatten, daß hyp327
notische Befehle möglich wurden. „Eine Überprüfung meiner
Angaben ist nicht erforderlich. Ihr wißt sicher, daß der Feind die
intergalaktischen Kommunikationsspuren abhört und verstehen
kann. Also Hände weg vom Sender.“
Wahrscheinlich hätte der Offizier auch ohne Nachhilfe so reagiert, schließlich gingen die Gerüchte auf schnellstem Wege durch
die Galaxis und auch bei den Unionsmannschaften hatte man vernommen, daß eine neue Qualität der Auseinandersetzung zwischen dem Feind und dem Rest des Universums eingesetzt hatte.
Der ganze Konvoi der Union stoppte und Not flog längsseits
des torpedoförmigen Kommandoschiffes. Die Eskorte für das
eigentliche Transportschiff umfaßte zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Abfangjäger und das Kommandoschiff. Die Besatzung
der Jäger bestand aus je zwei Personen und die des Führungsschiffes aus zweihundert Elitesoldaten.
Not konnte ihre Haube jetzt ablegen und Patrik übermittelte ihr
den Stand der Dinge. Jetzt wußte sie auch, was er vor hatte und
übernahm sofort die Rolle, die er ihr zugedacht hatte. Einen kurzen Gedanken der Anerkennung wegen seines genialen Planes ließ
sie ihm noch zukommen, dann ging sie an die Ausführung. Sie
manipulierte die Gedankeninhalte der zwei Piloten des am hinteren Ende des Konvois wartenden Jägers. „Wir müssen fliehen,
man hat uns entdeckt,“ dachten diese unvermittelt nach der Behandlung durch Not und sie taten es auch sofort.
Der Offizier bekam augenblicklich die Meldung und schrie sie
durch das Übertragungsgerät an. Doch sie hatten nur noch ein
Ziel, so schnell wie möglich zu entkommen.
Jetzt war Patrik an der Reihe. Mit suggestiver Verstärkung
befahl er dem Offizier die neunzehn anderen Jäger den Flüchtigen
328
hinterher zu schicken. In wenigen Augenblicken setzte die Verfolgung ein und Not und Patrik interessierte es im Augenblick nicht,
wie lange die Hatz andauern würde, schließlich waren die Jäger
gleich schnell und hatten sicherlich auch die gleiche Reichweite.
Not teilte dem Offizier mit, daß man jetzt an Bord kommen
würde, um den Vorfall zu untersuchen. Fünf Minuten später
befanden sie sich in der Zentrale des Kommandoschiffs. Die
anwesenden Soldaten des Leitstandes wunderten sich nicht wenig
über Patrik, denn so einen hatten sie noch nie gesehen und vor
allem paßte sein äußeres Erscheinungsbild überhaupt nicht zu der
Vorstellung, die sie sich von einem Sonderbeauftragten gemacht
hatten.
Aber der Offizier ließ sich von solchen Nebensächlichkeiten
nicht täuschen. Er vermutete eine nicht zu unterschätzende geheime Macht hinter dieser Fassade des Unscheinbaren und Unbekannten.
Die Bontaten waren der menschlichen Rasse gar nicht unähnlich, sie standen auf zwei klobigen Beinen in der Form eines
Dreiecks, ihre Arme ragten kurz aber muskulös vom oberen Ende
das Rumpfes ab. Auf ihrem Kopf befanden sich keine Haare; er
schien in seiner Eiform viel zu groß für den Körper zu sein. Alle
steckten in grauen Uniformen mit dem Emblem der Union auf der
Brust.
„Wie konnte diese Schlamperei passieren?“, fragte Not in
Unionssprache, während Patrik sich um die Bewußtseinsinhalte
der anderen Anwesenden kümmerte. Dabei schaute er alle reihum
an und setzte einen betont durchdringenden Blick auf. Das paßte
gut zu dem Image eines undurchsichtigen Sonderbeauftragten.
Ohne Verstärkung veranlaßte Not den Offizier dazu, die ganze
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Besatzung antreten zu lassen, denn man wolle eine Inspektion
durchführen, um eventuell weitere Spione aufzuspüren. Die zweihundert Soldaten stellten sich im Hangar des Leitschiffes in ihrer
gewohnten Formation auf. Gruppenweise suggerierte Patrik ihnen
die Notwendigkeit, eine interne Untersuchung durchzuführen, die
erst beendet sein sollte, wenn die Schuldigen dieser Schlamperei
ausfindig gemacht wären.
Not übernahm den Offizier und seine Unteroffiziere und erreichte das gleiche Ergebnis. „Ihr könnt erst hier weg, wenn alles
geklärt ist und ihr werdet mir einen detaillierten Bericht abgeben,
wenn wir wieder kommen. Wenn ihr das nicht schafft, werden wir
unsere mentalen Verhörmethoden anwenden und ich versichere
euch, das wird weitaus weniger angenehm als wenn ihr selbst den
Schuldigen sucht. Also erspart euch diese Folter. Den Transporter
bringen wir vorerst in Sicherheit, denn in eurer Obhut können wir
die wertvolle Fracht wahrlich nicht lassen.“
Damit verließen sie das Leitschiff und kehrten auf ihr eigenes
zurück. Das unbemannte Transportschiff wurde angekoppelt und
im Tandemflug verließen sie den Ort, der noch einige Tage heiße
Debatten und Untersuchungen erleben sollte. Erst eine Rückfrage
der Unionszentrale, wo denn die Lieferung bliebe ließ die Besatzung nüchtern erkennen, daß sie geleimt worden waren.
Die einsetzende Suchaktion über den Verbleib des Transporters
kam einige Tage zu spät, denn der Sprung mit den entsprechenden
Zielkoordinaten konnte natürlich nicht mehr rekonstruiert werden,
auch wenn die Spur des Protonenantriebs bis zum Absprungpunkt
durchaus zu lesen war. Das verschwundene Transportschiff der
Union befand sich bereits im Energieschatten des Gasriesen, nachdem ihn die drei Hobbypiraten entladen hatten.
330
Die offizielle Beschwerde der Union, die nach ergebnisloser
Suche an den Rat der Gluzugs ging wurde zurückgewiesen, weil
man nichts von einem Sonderbeauftragten wußte. Das identifizierte Schiff der Gluzugs war zwischenzeitlich als gestohlen gemeldet worden und so vermutete die Union einen verabscheuungswürdigen Anschlag des Feindes. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die vier Reparaturroboter hatten inzwischen ihre Aufgabe
erfüllt, als Not und Patrik zurück in die Notunterkunft kamen. Sie
hatten sogar schon mit dem zweiten Schiff begonnen. Patrik und
Not bauten die Kristalle in das bereits fertige ein, dann brauchten
sie nur noch kalibriert werden und Patriks eigenes Raumschiff
stand startbereit in der Grassenke.
Jetzt kam die Zeit des Abschieds und die beiden Gluzugs konnten nicht verhehlen, daß ihnen die ganze Aktion einen Riesenspaß
gemacht hatte. „Also das Beste war deine Idee mit dem gestohlenen Schiff. Nein wirklich Patrik, deine Eingebungen könnten
unserem Volk so manches Aha-Erlebnis bereiten. Ich hoffe, wir
sehen uns wieder, wenn alles vorüber ist.“
„Ihr habt euch aber auch wacker geschlagen; wir sind ein
Klasse Team und sicherlich werde ich solche prächtigen Wesen
wie euch nicht vergessen,“ erwiderte Patrik auf Not's begeisterte
Aussage. „Vergeßt nicht die Daten über die Zeit in diesem
Sonnensystem aus dem Speicher des Schiffes zu löschen und auch
die zwei Reparaturroboter die ihr wieder mitnehmt, dürfen keinen
Hinweis auf ihre Aktivitäten hier behalten. Ich werde diesen
Planeten einige Zeit als Versteck benutzen und später vielleicht
als Kolonie erschließen. Ich muß erst einmal abwarten, wie sich
331
die Dinge auf der Erde entwickeln - einen konkreten Plan habe ich
noch nicht. Wenn alles vorbei ist, gebe ich der Union natürlich ihr
Transportschiff zurück, ich könnte ja sagen, ich hätte es durch Zufall entdeckt.
Ach ja, noch eines, wenn ihr vorm Rat Erklärungen abgeben
müßt sagt einfach, ihr könnt euch an nichts mehr erinnern. Ihr seid
im Schiff eingeschlafen und dort wieder aufgewacht. Wenn man
nachprüft, was in der Zwischenzeit passiert ist, wird die Lücke im
Datenspeicher entdeckt. Dann werdet ihr euch vehement gegen
die Rekrutierung von Fremdpiloten einsetzen, weil das Beispiel
eures Erlebnisses abschreckend genug ist. Nur sollte Not dem
Offizier der Begleitmannschaft aus dem Weg gehen, nicht das er
dich wieder erkennt.“
„Das glaube ich nicht,“ meinte die Angesprochene, „Bontaten
können Gluzugs nicht voneinander unterscheiden und das Wesen,
was er auf seinem Schiff gesehen hat, muß wohl ein Spion des
Feindes gewesen sein.“
„Bleibt es bei deinem Plan, den Feind anzugreifen, wenn du
eine genügend starke Truppe zusammen hast?“ Elend konnte sich
immer noch nicht vorstellen, wie man auf solche Ideen kommen
kann.
„Solange er die Nachrichten im Universum abhören kann, ist
kein Planet sicher vor ihm und wie ich schon sagte, je länger damit gewartet wird ihm Schaden zuzufügen, um so mächtiger wird
er. Außerdem möchte ich euch irgendwann einmal auf eurem
Planeten besuchen kommen und kann mich schließlich bei eurem
Rat nur dann blicken lassen, wenn ich Ergebnisse aufweisen kann.
Wie sollten wir sonst rechtfertigen, daß ich über Gluzugstechnologie verfüge. Aber dann liebe Freunde, werdet ihr von mir als
332
Helden gepriesen und ich bin gespannt, wie euer Volk das aufnehmen wird.“
Elend und Not waren jetzt überaus weit davon entfernt irgendeine Handlung, die sie in den letzten Tagen begangen hatten zu
bereuen. Doch nun sehnten sie sich nach Hause, auch wenn ihnen
noch ein paar anstrengende Anhörungen bevorstanden.
Es war alles geklärt und besprochen. „Schade, daß wir keine
Verbindung halten dürfen,“ sagte Elend etwas traurig, „aber auch
bin sicher, daß wir uns wiedersehen.“
„Laßt euch überraschen, wir Menschen sind in unserem Tatendrang unberechenbar - wenigstens die, die ich meine Freunde
nenne.“ Patrik wußte noch gar nicht genau, wie er die gestellte
Aufgabe bewältigen konnte, aber noch blieb ihm genug Zeit einen
brauchbaren Plan zu entwickeln.
Er verabschiedete sich von seinen neuen Freunden und wollte
sich gerade in sein Raumschiff begeben, da sagte Not in feierlichem Ton: „Warte, ich habe noch ein Abschiedsgeschenk für
dich.“ Patrik erkannte sofort, was da auf ihn zu schwebte, es war
ein externer Zellimpulsgeber; eins der Ersatzgeräte, die immer an
Bord mit geführt wurden.
Patrik konnte vor Überraschung erst nichts sagen und bevor er
etwas heraus brachte meinte Not: „Das bleibt ein Geheimnis zwischen uns, dem Klasse Team.“
Kurze Zeit später entschwebte das Schiff mit den beiden alten
und doch kindlichen Wesen in die Tiefe der Nacht und Patrik war
allein mit den zwei neu gebauten Reparaturrobotern und dem
Raumschiff.
Er ließ das Programm der Maschinen weiter laufen, denn in
333
seiner Abwesenheit sollten noch weitere Schiffe fertig gestellt
werden. Den größten Teil der Kristalle verstaute er im Lager seines Schiffes, denn er wollte nicht das Risiko eingehen, sie durch
zufällige Entdeckung des Planeten zu verlieren.
Nun bestieg er sein Raumschiff, öffnete den mentalen Schutzschirm, um ihn nach seinem hinaus gleiten wieder zu
verschließen. Nur ein Gluzug oder Roboter wäre in der Lage, dort
hinein zu kommen, doch davon war nicht auszugehen. Dann berechnete er den Kurs raus aus dem Sonnensystem und schaltete
den Antrieb auf Automatik. Er legte sich in seinen Kontursitz, um
erst einmal den dringend nötigen Schlaf nachzuholen.
Außerhalb seines zukünftigen Operationsgebietes wachte er auf
und bereitete den Sprung zum heimatlichen Sonnensystem vor.
Wenige Stunden später erreichte er den Rand und flog in normaler
Geschwindigkeit in Richtung Erde.
Wieder schlief er einige Zeit und wachte erst auf, als er den
blauen Planeten voraus erkennen konnte. Seine Ankunft in den
Pyrenäen errechnete er für die Mittagszeit, weshalb er erst einmal
die Rückseite des Mondes ansteuerte, denn er beabsichtige während der Nacht an der Hütte zu erscheinen.
Er stoppte das Schiff im Mondschatten und hatte jetzt zum
ersten Mal Gelegenheit, in Ruhe über die Geschehnisse der letzten
Tage nachzudenken. Not's Plan war voll aufgegangen und seine
Einfälle hatten der ganzen Sache den Feinschliff gegeben. Und
jetzt? Über sein weiteres Vorgehen war er sich überhaupt noch
nicht im Klaren. Die vorrangigste Aufgabe bestand darin, vierzig
Leute aus seinem Bekanntenkreis von der Notwendigkeit ihrer
Mithilfe zu überzeugen. Keinesfalls wollte er mentale Verstärkung benutzen; das mußten schon alles Freiwillige sein.
334
Doch er dachte weiter, denn mit diesem Vorgehen würde er
einen Elitekreis schaffen, der sich vom Rest der Menschheit absondern mußte und ausschließlich im Geheimen operieren konnte.
Gleichzeitig wäre eine Wiedereingliederung in die Aussteigergemeinschaft des Tales unmöglich; er konnte nicht davon ausgehen,
daß eine Gruppe von Menschen mit dem Wissen der Gluzugs nach
Erledigung des Auftrags wieder zur Normalität des Lebens zurückkehren wollten.
Das konnte er ihnen nicht antun. Und was war mit ihm selbst?
Mit dem Zellimpulsgeber um den Hals konnte er Jahrhunderte in
der Hütte leben, aber war das mit dem aufbereiteten Bewußtsein
noch möglich? Er liebte das Tal und es mußte ein Kompromiß gefunden werden.
Dann hatte er den richtigen Einfall. Er erinnerte sich an einen
science-fiction Roman, den er vor einigen Jahren mal gelesen
hatte. Dabei hatte ein Astronaut ebenfalls eine Begegnung mit
einer fortgeschrittenen außerirdischen Rasse. Die Geschichte verlief zwar etwas anders als seine, aber letztlich fand der Astronaut
die richtige Lösung, die auch Patrik anwendbar fand. Sie hatte
einen Namen: Die dritte Macht. Ziel dieser Übung war es, der
Menschheit eine Bedrohung aus dem Weltall vorzuführen, um sie
zu einer Macht zu vereinen. Dieses Vorgehen würde einige Zeit in
Anspruch nehmen und bedeutete darüber hinaus großen persönlichen Einsatz mit vielen Kontakten und Gesprächen. Wie im
Roman war davon auszugehen, daß er in der ersten Zeit Ziel von
Angriffen sein würde, um seiner Technologie habhaft zu werden.
Solange die Menschen untereinander konkurrieren, versucht jeder Vorteile für sich zu erlangen. Erst die Bedrohung durch einen
außerirdischen übermächtigen Feind birgt die Chance, daß die
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Menschen sich zusammen tun, um gemeinsam zu kämpfen. Dabei
müßte eine Änderung der Einstellung erfolgen, die über Jahre
gesehen zu einem kosmischen Denken führen soll.
Ein gewaltiger Plan breitete sich vor ihm aus und ganz sicher
konnte er ihn nicht allein bewältigen. Also brauchte er Hilfe und
Unterstützung von Verbündeten. Mit einem Mal erschien im die
Zeit bis der Feind eintraf gar nicht mehr so ausreichend. Es war
vielmehr Eile geboten, denn die Sturheit der Menschen und ihre
Anstrengungen in den Besitz seiner Technologie zu kommen,
würde viel Zeit verschlingen.
Die größten Schwierigkeiten erwartete Patrik von den im Hintergrund wirkenden Mächten der Erde. Keineswegs würden diese
eine Machtübernahme durch einen langhaarigen Aussteiger
einfach so hinnehmen. Ganze Scharen von Geheimdienstagenten
würden ihn jagen, um in den Besitz des Raumschiffs zu gelangen.
Selbst wenn die Weltöffentlichkeit längst mit ihrer Meinung ihm
beipflichten sollte, konnte er immer noch nicht sicher vor hinterhältigen Attacken sein.
Patrik brauchte unbedingt eine Operationsbasis, wenn er genug
Freiwillige geschult hatte. Er erinnerte sich wieder an den Roman,
worin die Wüste Gobi als solche erwähnt wurde, einschließlich
des Wochen andauernden Belagerungskrieges. Patrik war im
Gegensatz zur Romanfigur wenig davon angetan, daß etliche
Menschen zu Schaden kommen würden, wenn er genauso vorgehen sollte. ,Es muß doch möglich sein, die ganze Sache ohne
Opfer durchzuführen,' dachte er.
,Also müssen noch einige Gedankenkonditionier gebaut
werden,' entschloß er sich, ,besser einige Menschen werden beeinflußt, als das noch Blut fließt.' Und einen großen Generator für
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ein Materieschutzschild von mindestens fünf Kilometer Durchmesser wollte er konstruieren, damit die Operationsbasis unangreifbar wird. Ein Mentalschutzschild hielt er ebenfalls für
angebracht und da der im Schiff fest installierte dort auch bleiben
sollte, mußte ein externes Gerät gebaut werden. Dieses Abwehrsystem verhinderte im Gegensatz zum Materieschutzschild
allerdings nicht einen Beschuß von Projektilgeschossen, die von
außerhalb des Schirms abgefeuert wurden, doch etwas größer als
das Materieschutzschild ausgelegt, verhinderte er Verletzungen
von Personen, die unbedacht die Schutzzone betreten wollten.
Eine Berührung mit dem Materieschutzschild ging tödlich für den
Betroffenen aus.
Patrik durchforschte den Rechner nach Bauplänen für diese
Geräte. Wo er die Operationsbasis aufbauen wollte wußte er noch
nicht. Jedenfalls sollte sie weit weg vom Tal sein. ,Als erstes
werde ich vor der UNO sprechen,' grinste er in sich hinein und
dachte dabei an den weltweiten Aufruhr der entstehen wird, wenn
die Menschheit aufgefordert wird, den Schritt von der weltlichen
Kleinkrämerei hin zum kosmischen Denken zu vollziehen. Als
Anreiz wollte er in Aussicht stellen, ihnen die Technik der Gluzugs zur Verfügung zu stellen. Aber erst, wenn sich die Menschen
friedlich geeinigt hätten und die bisherige konkurrierende Machtstruktur aufgibt.
Noch eine ganze Weile überdachte Patrik die Konsequenzen
seines Planes und war sich sicher, daß er nicht an alles denken
konnte was passieren wird, wenn der Anfang erst gemacht ist. ,Als
erstes brauche ich ein paar Leute die mitmachen,' schloß Patrik
seine Gedanken ab und startete sein Schiff in Richtung Erde.
Er programmierte die Steuerung so, daß sie ihn vor der Hütte
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mit dem Personentransmitter absetzen sollte, zurück in den Mondschatten flog, um ihn in achtundvierzig Stunden wieder abzuholen. Er brauchte das Schiff dabei nicht näher als zehn Kilometer
an die Hütte zu bringen, denn die Reichweite des Transmitters
war groß genug und die Gefahr von irdischen Geräten entdeckt zu
werde wurde minimiert. Und wenn doch, so verlief die Aktion so
schnell, daß er längst wieder aus dem Aktionsraum von Militärmaschinen raus war, bevor diese überhaupt starten konnten.
Nach zwei Stunden Flug tauchte das Schiff in die Erdatmosphäre ein. Mit dem eingeschalteten Materieschutzschild und dem
automatischen Gravitationsausgleich konnte er ohne die Geschwindigkeit zu verringern direkt über den Pyrenäen die berechnete Position einnehmen. Er nahm nur den Gedankenkonditionierer mit, der neben seinem Zellimpulsgeber um den Hals
baumelte.
Dann versteckte er die beiden Geräte doch lieber unter dem
Pullover, die unvermeidlichen Fragen wollte er erst später beantworten. Andere Waffen für den externen Gebrauch waren gar
nicht vorhanden; Gluzugs brauchten so etwas nicht. Nur die Schiffe der Verteidigungsklasse verfügten über fest installierte Strahler
und andere Geräte, die eine Verteidigung ermöglichten und auch
zum Angriff geeignet waren.
Patrik materialisierte vor der Hütte und die Automatik des
Schiffes brachte dieses zurück in den Mondschatten. Nach kurzer
Orientierung und dem unvermeidlichen Griff an die Brust, ob die
Geräte noch da waren - denn es hätte sich ja alles als Traum herausstellen können - betrat er die Hütte. Es war unangenehm kalt
und er zog erst einmal warme Klamotten an. Danach machte er
Feuer und ein beträchtliches Hungergefühl meldete sich.
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Irgend jemand hatte den Strom abgeschaltet, denn er erinnerte
sich daran, daß vor seinem Verschwinden das Licht noch gebrannt
hatte. Auch Stromer war nicht da und er vermißte ihn jetzt. Wahrscheinlich hatte Indianer ihn geholt, als man gemerkt hatte, daß er
nicht nur für kurze Zeit weg war. ,Hoffentlich geht es den
Hühnern gut,' überlegte er.
Nach einer ausgiebigen Mahlzeit dämmerte der Morgen herauf.
Wieder zogen die Wolken das Tal hoch und es deutete sich ein
neuer Regentag an. Er überlegte, welcher Tag es heute wohl sei
und wie lange er fort gewesen war. Dann schlüpfte er in den Poncho und machte sich auf den Weg zu Indianer und seiner Freundin. Dabei genoß er die frische Morgenluft beim Gang durch die
wolkenverhangenen Wälder seiner Heimat.
Hierher würde er immer wieder zurückkehren um Kraft zu tanken, egal welche Ausflüge im Weltall zu unternehmen waren, wie
viele Konflikt es galt auszufechten oder welche zähen Verhandlungen auch immer auf ihn zu kamen.
Dann näherte er sich der Hütte von Indianer. Stromer kam ihm
schon entgegen und die Begrüßung fiel ausgesprochen herzlich
aus. Der Hund wollte sich gar nicht mehr beruhigen, immer und
immer wieder sprang er an ihm hoch, um danach wie ein Berserker um ihn herum zu toben.
Indianer hatte das gehört und kam vor die Hütte. Natürlich
wollte er wissen, wo Patrik denn gewesen war. Doch der
vertröstete ihn: „Laß uns ins Tal runtergehen, wir müssen alle
Leute zusammen trommeln. Ich habe euch eine phantastische Geschichte zu erzählen.“
339
340
D., 1979
6. Die Kinder der Blauen
In der riesigen Halle, tief unter dem Gebirgsmassiv der Anden,
die nie ein menschliches Auge zu Gesicht bekam, war kein Laut
zu hören. Hinter Balustraden versteckte Leuchten hüllten die
Wände in ein diffuses Licht. Es reichte nicht aus die Decken des
Gewölbes erkennen zu lassen, doch bis auf den Boden, glatt und
mit Ornamenten verziert, gelangte ausreichend Helligkeit.
Durch die atemberaubenden Dimensionen der Halle erschienen
die in Kutten gekleideten Gestalten wie Zwerge. Keine Bewegung
ging von ihnen aus; es erweckte den Eindruck, als wenn sie
Bestandteil des Inventars wären. In der Mitte des Raums ragte ein
Steinsockel aus dem Boden, auf dessen gerader Oberfläche ein
kopfgroßer Kristall stand. Von ihm ging ein warmes bläuliches
Licht aus.
An zwei gegenüberliegenden Seiten des behauenen Sockels
befanden sich Vertiefungen, die wie steinerne Throne den
Benutzern erlaubten sich anzuschauen, mit dem Kristall im Blickfeld. Jeweils drei der schwarzen Kuttenträger standen sich gegenüber, dem Steinsockel in ihrer Mitte zugewandt. Einem möglichen
Beobachter dieser Szene wäre es nicht gelungen herauszufinden,
ob diese Gestalten den Kristall ansahen, denn die Kapuzen waren
so tief ins Gesicht gezogen, daß davon nichts zu erkennen war.
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Eine Musik setzte ein, bestehend aus tiefen Baßtönen, begleitet
von Flöten in dezenter Lautstärke. Gleichzeitig mit dem Einsetzen
der Musik betraten zwei weitere Gestalten die Halle. Es handelte
sich offensichtlich um eine Frau und einen Mann, beide ganz in
helles Blau gekleidet ohne jeglichen Kopfschmuck. Sie setzten
sich in die Vertiefungen des Steinsockels und verharrten dann bewegungslos, bis die Klänge verstummten. Wer ihr Gesicht sehen
konnte, erkannte die blaß-blaue Färbung ihrer Haut, aber auch
ihre überaus majestätische Ausstrahlung, trotz ihres jugendlichen
Aussehens.
Als die Musik sich in den Weiten der Halle verloren hatte, begann der Mann zu sprechen. „Ich grüße dich Sagomaya, Tochter
der Blauen. Wie immer überstrahlt deine Schönheit alles um dich
herum.“
„Auch ich grüße dich Santikas, Sprecher der letzten Überlebenden unseres Volkes und meine liebe Ergänzung.“
„Schlechte Nachrichten fordern eine Reaktion von uns.
Deshalb habe ich auch die Geistwesen gebeten uns zu beraten und
freue mich über ihre Anwesenheit. Wir sind die Ersten und wir
werden die Letzten sein.“
Ein mehrstimmiges Gemurmel entstand, wobei die Kuttengestalten leicht hin und her wankten. Eine Stimme setzte sich letztlich durch: „Wir sind immer bereit zu helfen. Ich bin beauftragt
für die anderen zu sprechen.“
„Viele von uns sind der Ansicht, die Zeit ist reif wieder auf die
Oberfläche dieses Planeten zu gehen. Die Epoche der dort zur Zeit
lebenden Kreaturen geht dem Ende entgegen. Wie wir in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten, geben sie sich reichlich
Mühe dies zu beschleunigen. Aber auch andere interessieren sich
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für den Werdegang dieses Planeten und warten darauf, daß wir
unser Versteck hier verlassen. Es sind unsere alten Feinde, die unseren Heimatplaneten vernichteten und uns zur Flucht auf diesen
hier zwangen.
Euch sind die Prophezeiungen bekannt. Wir haben nur eine
Chance auf der Oberfläche zu altem Glanz zu kommen, wenn wir
die Herrschaft über die Überlebenden der kommenden Katastrophe an uns nehmen und mit ihnen gemeinsam den Ansturm
unserer Feinde begegnen. Unsere Gelehrten haben schon vor
einiger Zeit einen Plan ausgearbeitet, wie wir am Sinnvollsten
vorgehen müssen; sie berechneten hundert Erdumdrehungen um
die Sonne, bis wir das Volk dort oben gelehrt haben mit unserer
Technologie umzugehen und unserer Ordnung anzupassen. Doch
wie es aussieht, läßt sich der Plan nicht verwirklichen, weil uns
soviel Zeit nicht bleibt.
Unsere Feinde wissen nicht genau wo wir uns befinden, aber
sie vermuten uns in abgelegenen Regionen und verstärken ihre
Anstrengungen, die in Frage kommenden Regionen zu beobachten. Doch sobald wir uns zu erkennen geben oder sie einen von
uns entdecken werden sie angreifen. Unsere Beobachter haben
herausgefunden, wie aufmerksam sie die Oberfläche kontrollieren.
Ständig kreisen ihre Raumschiffe im Orbit und suchen nach
Lebenszeichen von uns. Das ist die neue Situation. Alt ehrwürdige
Geister unserer Vorfahren, was ratet ihr uns?“
Es folgte ein mehrminütiges Gemurmel der wiederum schwankenden Kuttengestalten. Dann sprach die eine Stimme. „Das
Schicksal der letzten Verbliebenen unseres Volkes ist uns ein heiliges Anliegen. Wir sind in unserer rein geistigen Existenzform
nicht untätig und haben die Vorbereitungen für den ent343
scheidenden Moment getroffen. Allerdings können wir - wie ihr
wißt - nicht in euer Raum-Zeit-Kontinuum eingreifen. Ich kann
euch aber versichern, viele von uns würden es gerne. Nur in der
Anwesenheit des ewig leuchtenden Kristalls ist ein Kontakt
möglich und wir werden euch unseren Rat mitteilen.
Der Haß auf unsere Feinde, die unsere Heimat zerstörten ist gewichen. Übrig geblieben ist kühles Kalkulieren, wie seine Absichten zu durchkreuzen sind. Einige hundert Generationen haben ihr
weltliches Leben ausgehaucht und dennoch drängt es den Feind
immer noch danach, den Brüdern und Schwestern unseres Volkes
habhaft zu werden. Weiterhin unfähig unsere mentalen Fähigkeiten zu verstehen, geschweige denn nachzuahmen, interessieren sie
sich nur für eines: Sie hoffen über uns an das ewige Leben zu
kommen. Nach wie vor wissen sie nicht, daß sie ihren Wunsch
nicht durch unsere Gefangennahme verwirklichen können - aber
sie glauben es und deshalb verfolgen sie uns noch immer. Ihr Bewußtseinsinhalte sind trotz der langen Zwischenzeit voll mit Gedanken uns lieber tot zu sehen, als damit weiter zu leben von unseren Fähigkeiten zu wissen, aber sie nicht zu bekommen.
Die Situation ist noch schwieriger geworden, verehrter Santikas, als unsere Beobachter das einzuschätzen wissen. Denn sie
haben Mutanten in ihren Reihen, die sie von fernen eroberten
Planeten mitbrachten und sich zu nutze machten. Unser Feind interessiert sich nicht für die Bewohner dieses Planeten, denn sie
sind nur in einer Hinsicht brauchbar für seine Pläne - der Planet
selbst bietet nichts, was sie benötigen könnten. Dennoch begannen
sie vor einiger Zeit Individuen der Spezies Mensch zu entführen,
um an Informationen über uns heran zu kommen. Wir konnten mit
anhören, wie der Feind seine versklavten Mutanten für die Verhö344
re an Menschen einsetzte. Aber nicht nur dafür wurden die
fremden Wesen mißbraucht. Immer wenn sie bei einem Menschen
latente parapsychische Fähigkeiten entdeckten, unterzogen sie sie
speziellen Behandlungen. Sie wurden darauf vorbereitet für den
Feind zu spionieren, bevor man sie auf die Erde zurück schickte.
Es besteht zur Zeit keine unmittelbare Gefahr, aber das Überwachungsnetz ist dadurch noch enger geworden. Es zeigt einmal
mehr, wie rücksichtslos unser Feind zu Werke geht, denn für ihn
sind die Menschen nur Marionetten, Handlanger für seine Ziele und sie wissen es noch nicht einmal.
Wir sehen nur noch eine Möglichkeit seine Ziele zu durchkreuzen: Wir müssen das Siegel des Buches brechen.“
Sagomayas Stöhnen unterbrach die Stimme. „Ich habe befürchtet, daß es darauf hinaus läuft,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Das Geistwesen sprach weiter: „Wir sollten nicht mehr länger
warten, denn wie ihr wißt, erfordert die Nutzung des Buches eine
nicht geringe Lehrzeit. Von dem Risiko wollen wir gar nicht sprechen, denn letztlich haben wir keine andere Wahl.
Das Buch kann nur von einer Person benutzt werden, da sonst
ein Chaos ausbrechen würde und damit die von der Prophezeiung
vorausgesagte letzte Herausforderung mehr als gefährdet. Die
Aufgabe fällt dem obersten Priester der nicht mehr tätigen Zunft
der Magier zu; dies muß jemand übernehmen, der genug persönliche Kraft besitzt und in der Lage ist, den Verführungen der Macht
zu widerstehen.
Wir sind uns einig darüber, daß dafür nur eine Person in Frage
kommt und das bist du Sagomaya. Du bist die gewählte Anführerin unseres Volkes, weil du die Stärkste bist. Für die Erfüllung der
Offenbarung müssen Opfer gebracht werden. Deines wird es sein,
345
deine Ergänzung ruhen zu lassen, bis die Aufgabe erfüllt ist.
Wenn du dich danach nicht mehr lösen kannst von der Macht des
Buches, werden wir vielleicht den Feind besiegt haben, aber eine
gefährliche Herrscherin dulden müssen, die hoffentlich ihren
Verstand behält. Dieses Risiko gilt es einzugehen - einen anderen
Rat können wir euch nicht geben.
Das Buch muß also hierher gebracht werden. Das kann nur
heimlich erfolgen und bedarf einer sorgfältigen Planung. Für
diesen Auftrag solltet ihr zwei eurer Kinder auswählen, denn sie
fallen nicht auf unter den Menschen, was auf euch ältere nicht zutrifft. Wer für die Reise nach Argartha am Besten geeignet ist, bestimmt ihr lieber selbst, denn wir kümmern uns nur wenig um die
Jugend. Es wäre ratsam eine gute Strategie für den Auftrag auszuarbeiten und die Kinder entsprechend auszustatten; unsere
Wissenschaftler sollten dabei helfen.
Wir werden die Reisenden begleiten und euch laufend unterrichten, wie der Stand der Dinge ist. Darüber hinaus kümmern wir
uns um die Mutanten. Wenn wir schon nicht in der körperlichen
Welt mithelfen können, so wird es uns ein Vergnügen sein, die
mentalen Kräfte der Diener des Feindes zu stören, damit die
Reisenden nicht enttarnt werden. Habt ihr noch Fragen?“
„Wir sind die Ersten und werden die Letzten sein.“
Die gemeinsam gesprochenen Grußformel beendete die Zusammenkunft. Nach einem letzten Schwanken fielen die Kutten
einfach in sich zusammen, als wenn sie irgend jemand dort hingeworfen hätte. Santikas schaute seine Ergänzung an und sie erwiderte den Blick. „Ich hab' Angst,“ sagte sie.
Colmo ließ den ausgestreckten Arm mit dem erhobenen Dau346
men wieder sinken. Auch dieser Lastwagen hatte nicht gehalten,
um die beiden Rucksacktouristen mitzunehmen. Herbles, seine
Begleiterin saß etwas abseits auf einem Felsbrocken und döste vor
sich hin.
Sie befanden sich am Anfang der steilen Straße hoch nach
Huancayo, einem alten Gebirgsort im Hochland der Anden. Blickten sie zurück auf den Weg, den sie zu Fuß vom Fluß bis hierher
an die Weggabelung gegangen waren, so wurden ihre Augen vom
grün des Tropenwaldes übersättigt. In Richtung der Straße, die sie
sich anschickten mit einem Fahrzeug zu erklimmen, sah man nur
steile Felshänge und schroffe Geröllhalden. Das Gebirge selbst
war nicht zu erkennen hier unten am Fuß der Gebirgsstraße. Sie
wußten, daß sie sich hier an der Grenze zweier Klimazonen aufhielten und freuten sich insgeheim darauf, die Schwüle der tropischen Region zu verlassen. Den ersten Teil ihres Weges hatten
sie in einem Kanu zurückgelegt, welches jetzt versteckt im Wald
des engen Tals einige Zeit auf ihre Rückkehr warten mußte.
Es wäre für Colmo mit seinen Möglichkeiten ein leichtes gewesen einen Trucker zu beeinflussen, doch der schöne Jüngling
der Mayakas war zu stolz. Herbles stand auf und streckte sich.
Von den männlichen Studenten der Universität wurde sie ,die Unnahbare' genannt, aber nur wenn sie unter sich waren. Sie nahm
ihr backboard auf und stellte sich neben ihren Weggefährten.
„So wird das nichts,“ meinte sie, „ich wollte gern noch vor der
Nacht in einem Truck sitzen, da kann man wenigstens vernünftig
schlafen.“
„Ich mach' das schon Herbles,“ entgegnete er. Nicht schon
wieder wollte er sich auf eine Diskussion über die Fähigkeiten
von Männern einlassen, das hatte er in den Stunden im Kanu
347
schon zur Genüge über sich ergehen lassen müssen. Seine
Freunde hatten ihn beneidet, als er für den Auftrag ausgewählt
wurde. Aber als durchsickerte, wer seine Begleiterin sein sollte,
bedauerte man ihn. Herbles konnte durchaus als attraktiv bezeichnet werden, doch ihr Verhalten zu Männern zeigte fast schon
sprichwörtliche Abneigung. ,Eher werde ich Priesterin im Orden
der Magier, als daß ich einer Ergänzung zustimme,' soll sie mal
gesagt haben. Ganz offensichtlich zog sie die Hölle einem Zusammenleben mit einem Mann vor.
Und jetzt für diesen Auftrag hatten sie ein Ehepaar zu spielen.
Colmo seufzte bei diesem Gedanken. Die zu erledigende Aufgabe
hatte gewiß ihren Reiz, aber während der ganzen Reise diese ...
diese Amazone ertragen, das könnte sich anstrengender als die
ganze Mission gestalten.
„Hast du beim Lernen deiner Rolle nicht aufgepaßt?“, fragte
sie in wirklich provozierend überheblicher Manier, „mein Name
ist Jane, Jane Stood und du bist mein Mann, Harry Stood, schon
vergessen?“
„Ja ja, ist ja gut. Der Verkehr ist hier ist aber auch wirklich
nicht besonders dicht. PKW's scheint es gar keine zu geben.“
Herbles schüttelte mit dem Kopf, stellte sich dann in Position,
um ebenfalls den Daumen zu zeigen als Zeichen, mitgenommen
werden zu wollen. Tatsächlich hielt schon der nächste Wagen an
und sie konnte sich die Andeutung eines triumphierenden Lächelns nicht verkneifen. Sie durften auf der Ladefläche eines pickups zwischen etlichen Kartoffelsäcken Platz nehmen und sie richteten sich so gut es ging bequem ein.
Der Aufstieg über die holprige ungesicherte Bergstraße begann. Das Klima wechselte sehr schnell. Unten am Fluß hatten sie
348
dünne Sachen getragen und dennoch geschwitzt, auch wenn dort
die Höhe schon mehr als fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel betrug. Mit jeder Stunde ihrer Fahrt wurde es kälter und
trockener. Zuerst brauchten sie nur ein Nicki überstreifen, doch
als es dunkel wurde, mußten sie in die Thermojacken schlüpfen.
Der Fahrer des pick-ups sang während der ganzen Fahrt aus
vollem Hals; sie hörten seine krächzende Stimme trotz des ohrenbetäubenden Lärms des Dieselmotors und den Schlägen der
Reifen in den Schlaglöchern. Vom Schlafen konnte keine Rede
sein, dafür war die Straße viel zu uneben und die Säcke nicht
weich genug - sie wurden mächtig durchgeschüttelt.
Aber das Auto fuhr die Strecke von fast zweihundert Kilometer
in einem Stück durch, nur unterbrochen durch kleine Pausen für
die Notdurft. Die beiden Reisenden sehnten sich nach einem baldigen Ende der Tortour, denn es gab keinerlei Abwechslung,
außer einem wunderschönen Sternenhimmel. Vielleicht wäre die
Fahrt interessanter gewesen, wenn sie die steilen Abhänge neben
der Straße hätten sehen können, doch da sie die Strecke kannten,
waren sie eigentlich recht froh darüber.
In der Morgendämmerung erreichten sie Huancayo. Der Fahrer
gab ihnen zu verstehen, er werde jetzt den Markt aufsuchen, wo er
seine Kartoffeln verkaufen wollte. Colmo und Herbles stiegen in
der Nähe des Zentrums ab. Zuerst brauchten sie eine Weile, um
ihre Gelenke wieder gängig zu bekommen. Die Stadt war nicht
sehr groß, hier wohnten etwa fünftausend Menschen. Es ging eine
atemberaubende Schönheit von diesem Ort aus, auch wenn sich
der Dreck in den Straßen häufte und einen Gestank von Fäkalien
und Unrat verbreitete.
Die Einheimischen zeigten sich schon zu dieser frühen Tages349
stunde auffallend fröhlich und lebendig in ihrer bunten Kleidung
aus der hier üblichen Wolle. In den Straßen herrschte bereits eine
Menge Betrieb; anscheinend gehörte der Markt zu einer der
beliebten Attraktionen dieses Ortes, denn alles strebte dort hin.
Die Stadt sah wie in den Berg gemeißelt aus. Wo man hinschaute
spürte man die Kultur der alten Inkas, als wenn die Zivilisation an
Huancayo vorüber gegangen wäre ohne anzuhalten.
Colmo war nicht zum ersten Mal hier und hatte bereits bei früheren Besuchen die Art der Menschen und die Ausstrahlung der
Stadt lieb gewonnen. Er zeigte auf ein Hotel. Sie nahmen ihre Sachen auf und gingen über die Straße zur bunt bemalten Eingangstür. Der Steinhändler, den sie in diesem Ort aufsuchen wollten, öffnete seinen Laden erst gegen zehn Uhr. Es war also Zeit
genug um noch etwas zu schlafen.
Wie lange sie in der Stadt bleiben mußten konnten sie noch
nicht überschauen; es hing davon ab, wie schnell ihr Vorhaben
umzusetzen ging. Sie brauchten Geld für die Weiterfahrt mit dem
Bus über die Paßstraße nach Chincha Alta. Dazu hatten sie einige
ungeschliffene Topase mitgenommen, die in den Höhlen ihrer
Heimstatt haufenweise zu finden waren. In dieser Gegend wurde
hauptsächlich mit Gold gehandelt, aber auch Edelsteine ließen
sich gut verkaufen.
An der Rezeption des Hotels, welche aus einem Tisch und
einem Stuhl bestand, checkten sie ein. Ihre gut gefälschten amerikanischen Pässe erregten keine besondere Aufmerksamkeit, aber
Colmo schien dem Portier nicht unbekannt zu sein. „Senor, sie
waren doch schon einmal bei uns. Wie schön sie wiederzusehen.
Ich vergesse nie ein Gesicht.“
Colmo erinnerte sich daran, vor zwei Jahren das letzte Mal hier
350
übernachtet zu haben. ,Wie angenehm, daß der Mann Namen
nicht so gut behalten kann wie Gesichter,' dachte er. Das Hotel
hatte zehn Zimmer und beherbergte zur Zeit nur drei Gäste. Diese
Gegend lag etwas außerhalb der üblichen Touristenrouten, was
vielleicht der Hauptgrund dafür war, daß die Atmosphäre der
Stadt nicht gelitten hatte. Sie machten es sich auf dem herunter
gekommenen Bett so gut es ging bequem und schliefen vier
Stunden. Danach suchten sie den Steinhändler auf.
„Ah ja, sehr schön, sehr schön,“ meinte der unrasierte
Steinhändler fachmännisch, die beiden Touristen mit dem freien
Auge begutachtend, um es dann wieder zusammen zu kneifen, damit das andere die prächtige Ware unter der eingeklemmten Lupe
betrachten konnte. „Aber sie sind nichts wert, bedaure. Wieviel
sagten sie, haben sie dem miner dafür bezahlt? Fünftausend
Dollar? Caramba, das ist viel zu viel Geld. Ich befürchte, sie
haben sich über den Tisch ziehen lassen. Aber sie sind so sympathische junge Leute - ich gebe ihnen tausend dafür, ok?“
Colmo hatte es satt, diesen feisten Halsabschneider noch länger
zuvorkommend zu behandeln. Er hatte auch keine Lust mehr zu
feilschen und willigte sofort ein. Der Steinhändler steckte sein
Augenglas weg und noch mit dem Gedanken daran, wie dumm
doch die Amerikaner in Wirklichkeit sind, schrieb er einen Check
über zehntausend Dollar aus. Colmo hatte ihn ohne Anflug eines
schlechten Gewissens leicht mental beeinflußt, so daß der dicke
Mann keinen Fehler in seinem Handeln entdecken konnte.
„Ich habe natürlich nicht soviel Geld im Haus,“ log er,
„deshalb gebe ich ihnen einen Check, der ist so gut wie Bargeld.“
„Gehen sie ihn einlösen, wir warten hier,“ meinte Herbles, die
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die Machenschaften dieses Berufszweiges ebenfalls kannte.
„Aber Senora, trauen sie mir etwa nicht? Ich kann sie doch
nicht allein lassen in meinem Geschäft. Was ist wenn Räuber
kommen?“
„Dann gehen wir eben zusammen zur Bank,“ bestimmte Colmo, „sie können ihren Laden ja solange schließen. Die Steine gibt's erst bei Bezahlung. Klar?“
Der Steinhändler schlug die Hände über dem Kopf zusammen,
gestikulierte und fluchte über das Mißtrauen in der Welt. Doch
letztlich gab er nach, denn die Steine waren überaus verführerisch
und brachten mehr als das Zwanzigfache ein; ausgehend von den
tausend, die er nach seinem Wissen dafür bezahlen sollte.
Die Bank war so gut wie menschenleer, nur ein Indio, der nicht
aus dieser Gegend zu kommen schien, beschäftigte sich an einem
Stehpult nahe des Fensters mit einem Formular. Der Steinhändler
hatte sich wieder beruhigt und zeigte sich von seiner freundlichen
Seite. Das Geschäft war abgewickelt und er drängte sie, bei ihm
zu Mittag zu essen. Die beiden gaben zu verstehen, daß sie so
schnell wie möglich den Bus nach Chincha Alta kriegen wollten.
„Oh, kein Problem. Der fährt sowieso erst morgen früh. Holen
sie sich die Tickets und dann kommen sie zu mir nach Hause.
Meine Frau wird sich freuen amerikanische Gäste begrüßen zu
können. Einverstanden?“
Herbles gab Colmo mittels Gedankenimpuls zu verstehen, daß
nichts gegen die Einladung einzuwenden sei. Colmo willigte also
ein und bedankte sich für das Angebot. Mit den Steinen in einem
Säckchen und dem sicheren Gefühl, das Geschäft des Jahres gemacht zu haben, sprang der Steinhändler vergnügt auf die Straße
und hinüber in seinen Laden. Das die Bank zehnmal so viel ausge352
zahlt hatte, als er glaubte auf dem Check ausgefüllt zu haben,
merkte er erst am Ende des Monats beim Überprüfen seiner Bücher.
Herbles signalisierte Colmo, daß sie noch einen Moment in der
Bank bleiben sollten, denn sie hatte bei ihrer üblichen Überprüfung der Bewußtseinsinhalte der Anwesenden etwas sonderbares
bemerkt. Das nur der Indio dafür in Frage kam, erkannte Colmo,
als sich Herbles dem Indio langsam von hinten näherte. Auf
spanisch sprach sie ihn an und fragte: „Kann ich ihnen helfen?“
Der untersetzte Mann von nicht leicht zu definierendem Alter
drehte sich um und schaute sie mit großen Augen an. Dann sah er
Colmo und trat erschreckt einen Schritt zurück, wobei das Fenster
seine Bewegung stoppte. „Kuncha nova ai mayakas,“ murmelte er
in der Sprache eines Indiovolkes vom oberen Lauf des Amazonas
in der Nähe von Iquitos. Herbles kannte diese Sprache und auch
die Bedeutung seiner Worte die besagten: ,Die Götter sind auf die
Erde gekommen'.
Er war der Medizinmann seines Stammes und befand sich auf
dem Weg nach Lima, um eine Beschwerde seines Volkes gegen
eine Holzfällerfirma vorzubringen, die in das von der peruanischen Regierung geschützte Gebiet der Indios eingedrungen
war. Bei der Überprüfung seiner Gedanken hatte Herbles vorhin
schon diese Informationen erhalten, hellhörig wurde sie erst, als
sie die enorme mentale Stärke des Mannes erkannte.
„Su merina kunchara - Wir kommen in Frieden,“ erwiderte sie
und bat den Indio mit vor die Tür zu kommen. Colmo übernahm
jetzt die mentale Überwachung und ging drei Schritte hinter ihnen. Ausländische Touristen, die aus einer Bank kommen, sollten
auf der ganzen Welt vorsichtig sein. Auch wenn in dieser Stadt
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vorwiegend zufriedene Menschen lebten, gab es wie überall auch
hier Gesindel.
Herbles unterhielt sich mit dem Indio. Erst wollte er gar nicht
neben ihr gehen, weil es ihm nicht zustünde, auf gleicher Höhe
mit einem Gott die Straße lang zu gehen. Doch Herbles machte
ihm klar, daß ihre Reise ein ähnliches Ziel hätte wie seins. Sie
müßten unerkannt bleiben und sein Verhalten würde nur unerwünschte Blicke auf sie lenken.
Sie bat ihn auf spanisch mit ihnen zu sprechen, falls er dieser
Sprache mächtig war und sollte auf die bisherige Anrede verzichten. „Mein Name ist Jane und mein Mann heißt Harry. Wie sollen
wir dich denn nennen?“
„Ich hoffe mein spanisch ist gut genug für die Götter ... äh, ich
meine für euch. Würdet ihr mich zur Busstation begleiten? Die
Menschen hier im Ort sind sehr freundlich, aber die Busstation
wird von Städtern betrieben und die sind nicht erfreut über Indios.
Ich heiße Lokosinya, nennt mich einfach Loko.“
Auf dem Weg zur Station erzählte er ihnen, wie skrupellos und
brutal die Holzfäller vorgingen. Die Zustände schienen dramatisch
zu sein, zumal sich die Indios nicht zur Wehr setzen durften, was
möglicherweise einen Militäreinsatz der Regierung zur Folge gehabt hätte. Herbles versuchte ihn zu beruhigen und Mut zuzusprechen. „Wenn unser Auftrag Erfolg hat, wird Schluß sein mit den
Machenschaften der Verbrecher,“ sagte sie, „sobald wir zurück
sind, kümmere ich mich persönlich um eure Angelegenheit.“
Beinahe wäre der Indio auf die Knie gefallen um ihr zu
danken; sie konnte ihn gerade noch davon abhalten. Herbles erklärte ihm, daß ihre Mission sehr gefährlich wäre und durchaus
von Feinden beobachtet werden könnte. Als sie ihm versicherte
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kein Gott zu sein, sondern lediglich einer alten, durchaus verletzbaren Rasse abstamme, glaubte er ihr natürlich kein Wort, sondern
verstand es als Ausdruck der Bescheidenheit.
An der Busstation angekommen, die sich unterhalb der Stadt
neben dem Marktplatz befand erwähnte der Indio, er beabsichtige
mit Goldstücken zu bezahlen. In der Bank hätte er vergebens versucht, Geld vom stammeigenen Konto abzuheben. Herbles riet
ihm davon ab, weil sie es für viel zu gefährlich hielt. Als er beteuerte sonst keine Möglichkeit zu wissen, weil die Goldeinkäufer
der Stadt ihn als Indio auszunehmen versuchten, kaufte Herbles
kurzerhand drei Tickets nach Chincha Alta.
Dann fragte sie ihn, ob er Hunger habe und Colmo grinste bei
dem Gedanken, daß Herbles dem Steinhändler noch einen weiteren Gast bescheren wollte. Mehrere zwielichtige Gestalten hatte
er am Rande des jetzt nur noch spärlich besuchten Marktplatzes
ausgemacht. Allerdings gehörten sie zu den üblichen Taschendieben und Schmarotzern, nicht zu vergleichen mit den allseits geachteten Bettlern, die wirklich aus Armut um Almosen baten.
Willenlose Helfer des Feindes konnte er jedenfalls nicht entdecken. Wenn die ehrwürdigen Vorfahren die Mutanten jetzt ablenkten, war die Gefahr entdeckt zu werden sowieso gering. Aber
warum sollten sie ein unnötiges Risiko eingehen; Colmo sah keine
Veranlassung, in der Aufmerksamkeit nachzulassen.
Auf dem Weg zum Steinhändler bot Herbles dem Indio an, ihm
zu helfen, wenn er seine Goldstücke in Geld tauschen wollte.
„Wenn wir dabei sind, werden sie dich nicht so leicht übertölpeln
können.“
„Oh, ich bin nicht zum ersten Mal auf dem Weg in die Hauptstadt,“ meinte Loko. „Beim letzten Mal versuchte ich es bei einem
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Goldaufkäufer weiter oben im Ort. Der drohte mich des Diebstahls zu bezichtigen, wenn ich nicht auf sein Angebot eingegangen wäre und ich konnte froh sein, noch weitere nuggets in der
Tasche zu haben, sonst wäre ich nicht zurück gekommen. Am
besten ist es in Chincha Alta oder Lima, die Goldhändler dort geben einem zwar auch nicht das, was die Klumpen wert sind, aber
wenigstens sind es keine Halsabschneider.“
Der Steinhändler schaute etwas verdutzt, als Colmo und
Herbles mit dem Indio an der Tür klopften und er sie herein ließ.
„Selbstverständlich ist ihr Freund auch unser Gast und herzlich
willkommen,“ log er. Die Mahlzeit zeigte wenig von der Eßkultur
der Einheimischen, eher konnte man es als typisch Südamerikanisch bezeichnen, fett und scharf, was darauf zurück zu führen
war, daß der Händler selbst nicht von hier stammte. Die Gäste
ließen sich nichts anmerken, denn schließlich hatten sie nichts
anderes erwartet. Loko langte kräftig zu und lobte die Senora
überschwenglich.
Die Zeit verstrich im small-talk und war damit besser genutzt,
als sich auf der Straße neugierigen Blicken auszusetzen oder im
Hotelzimmer an die Decke zu starren. Herbles erzählte dem
Steinhändler vom Leben in Philadelphia, so wie sie es im Rollenstudium gelernt hatte. Ihr Gesprächspartner revanchierte sich mit
Geschichten über Straßenräuber und faule Eingeborene, mit denen
absolut kein Geschäft zu machen seien.
Dann verabschiedeten sie sich und gingen in ihr Hotel zurück.
Sie entschlossen sich, die Goldklumpen des Indios in Lima zu
Geld zu machen, weil sie nicht ein zweites Mal zur Bank wollten.
Loko war in einer üblen Kaschemme neben rüden Bauarbeitern
untergebracht, die in der Nähe der Stadt an Straßenausbesse356
rungen arbeiteten. Herbles überredete ihn mit ins Hotel zu kommen, denn dort wäre er besser und sicher aufgehoben. Der Portier
meckerte erst einmal, doch nach einem kräftigen Trinkgeld ließ er
den Indio mit aufs Zimmer gehen und dachte sich seinen Teil
dabei.
Nun konnten sie sich endlich ungestört unterhalten. Herbles erklärte ihm, ihr Auftrag sei nicht dazu geeignet, ihn ausführlicher
zu erzählen, denn es wäre für Loko unter Umständen gefährlich,
wenn er zuviel wüßte. Noch einmal unternahm sie den Versuch
Loko davon zu überzeugen, Mayakas seien keine Götter. „Wir
sind auch nicht bei den Menschen einzuordnen, eher schon sind
sie mit uns verwandt, weniger wir mit ihnen.“
„Aber ihr wart schon am Anfang aller Zeiten da. Unsere
Legende erzählt ihr seit vom Himmel gekommen.“
„Auch das ist nicht ganz richtig. Wir kommen von da oben,
aber dort ist nicht der Himmel. Wenn deine Vorfahren glaubten
dort oben wäre der Himmel, so irrten sie, weil sie es nicht besser
wußten. Wir sind geflohen vor langer, langer Zeit, weil unsere
Heimat nicht mehr bewohnbar war.“ Sie verschwieg die Ursache,
die sie dem Feind zuschrieben - das brauchte Loko nicht zu
wissen.
„Aber warum spüre ich diese Macht, die von euch ausgeht?“
„Weil dein Auge noch nicht getrübt ist von Maschinen und
Dreck, deine Ohren noch hören können, wo andere nichts mehr
hören und weil du selbst noch genug persönliche Kraft hast, die in
der zivilisierten Welt längst vergessen ist.“
Loko überlegte und sagte schließlich: „Aber ihr seit viel
mächtiger als ich.“
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„Das liegt daran, weil wir über Jahrtausende nichts anderes tun
als diese Kraft zu trainieren; diese Zeit stand dir nicht zur Verfügung. Allerdings bist du uns viel ähnlicher als alle anderen Menschen auf dieser Welt und du unterscheidest dich von den Bewohnern dieses Planeten im selben Maß wie wir es tun.“
Der Indio erkannte die Tragweite ihrer Worte. „Wenn ich ehrlich bin, graust es mich immer, wenn ich unser Dorf verlassen
muß, um irgend etwas bei den Menschen außerhalb zu erledigen.
Das ist meine vierte Reise in die große Stadt; immer wenn ich
nach Hause komme bin ich froh es hinter mir zu haben.“
„Wir reisen zusammen nach Lima, einverstanden?“
Lokos Glück ließ sich deutlich an seinem Gesicht ablesen und
innerlich fühlte er sich ein wenig stolz. So ganz hatte er seine Ansicht über die Mayakas noch nicht geändert, doch nachdem er
jetzt schon ein paar Stunden mit ihnen verbracht hatte und sie sich
immer noch nicht in die Lüfte erhoben, stellte sich ein Gefühl der
Gewöhnung ein. Vor allem genoß er die Behaglichkeit in ihrer
Nähe.
Sie schliefen abwechselnd; während einer der beiden Kinder
der Blauen Wache hielt, legte sich der andere zu Loko aufs Bett.
Der Indio schlief die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen
erwachte er beim ersten Anzeichen des Lichtes. Er kniete sich
vors Fenster und betete eine Litanei, wie er es jeden Morgen tat.
„Merkwürdig,“ sagte er danach, „mir fällt gerade auf, daß wir nie
zu den Mayakas gebetet haben, obwohl sie bisher immer unsere
Götter waren. Wir beten zum Geist des Morgens, des Tages, der
Nacht und auch zu dem der Jagd. Aber nie zu den Mayakas, merkwürdig. Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht.“
„Und heute,“ fragte Colmo, „was denkst du jetzt?“
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„Ich glaube, unser Volk hat sich vor etwas unverständlichem
gefürchtet. Einmal im Jahr feiern wir ein Fest zu ihren Ehren, aber
sonst haben die Mayakas keine Bedeutung in unserem Tagesablauf; nur in der Überlieferung ist ihnen ein Platz eingeräumt
worden. Jetzt weiß ich warum.“
Herbles kam von der wenig sauberen Toilette zurück und
meinte: „Jetzt noch ein gutes Frühstück und dann kann es losgehen.“
Aus dem Frühstück wurde nichts, denn der Bus fuhr los, bevor
die ersten Stände des Marktes aufgebaut waren. Die drei
Reisenden hatten sich im hinteren Teil des Busses schon frühzeitig einen Platz gesichert, damit sie die anderen Fahrgäste beobachten konnten. Von Huancayo führte die Straße über einige steile
Abfahrten wieder hoch über zwei Pässe von bis zu dreitausendfünfhundert Meter, um dann zum Pazifik hin ständig steil abzufallen. Immerhin zeigte sich die Straße in recht passablem Zustand, doch von gesicherter Trasse konnte keine Rede sein. Offiziell hieß es, dauerte die Fahrt vierzehn Stunden, doch auch wenn
keine Panne für eine längere Unterbrechung sorgte, konnte man
getrost von achtzehn Stunden ausgehen.
Eine imposante Landschaft bot sich demjenigen, der am Fenster saß und Muße hatte raus zu schauen. Aber davon machten die
wenigsten Gebrauch, denn entweder wurde der Blick von steilen
Felswänden versperrt oder ein Furcht erregenden Abgrund tat sich
auf, der nicht für jeden Busreisenden ein Anlaß für genußvolle
Betrachtung ergab.
Colmo und Herbles hatten flüchtig die Insassen überprüft.
Meist handelte es sich um Bauern oder Bäuerinnen, die nur einen
Teil des Weges mitfuhren. Vier europäische Touristen die weiter
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vorne saßen, zwei Ordensschwestern und ein amerikanischer
Agent gehörten ebenfalls zu den Fahrgästen. Letzteren nahm Colmo etwas genauer unter die Lupe. Tatsächlich ließen sich leichte
mentale Aktivitäten ausmachen, er schien sogar über einen Schutz
zu verfügen, denn wie er merkte, daß er von irgendwoher aus dem
Bus gedanklich untersucht wurde, versperrte er diese. Colmo
nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten.
Der Busfahrer schien nicht besonders konzentriert zu sein,
stellte Herbles fest und außerdem gab es Probleme mit den Bremsen, wie sie aus seinen Gedanken herauslesen konnte, was sie sofort Colmo mitteilte. Am ersten Halt nach fünfundzwanzig Kilometer stiegen ein paar Bauern aus. Plötzlich sprangen zwei
Männer in den Bus. Einer stellte sich direkt neben den Fahrer und
hielt ihm eine Pistole unter die Nase. Der andere zog ebenfalls
eine Handfeuerwaffe und schrie gegen die jetzt aufgebrachten
Leute an. „Ruhe, setzt euch alle hin. Keinem wird etwas geschehen. Wir sind nur an dem stinkenden Indio da hinten interessiert.“
Er stieg über Taschen und Säcken bis in die Mitte des Busses.
„Ja, du da, dich meine ich,“ und fuchtelte wild mit der Waffe in
der Luft. Dabei deutete er immer wieder auf Loko, den die
anderen Fahrgäste ängstlich anstarrten. Herbles kümmerte sich um
den Räuber vorne beim Fahrer und war bereit gleich einzugreifen,
falls die Situation eskalierte. Colmo übernahm den anderen. Dabei
erfuhr er, daß die Räuber mit einem Auto gekommen waren, welches sie hinter einer Biegung versteckt hatten.
Er verständigte sich mit Herbles, die sofort in seinen Plan einwilligte. Sie wollten umsteigen, da die Busfahrt ein viel größeres
Risiko darstellte, als sich von zwei Halunken mit einem bequemen
360
PKW chauffieren zu lassen. Sie gab Loko kurz und knapp die
Anweisung seine Sachen zu packen und der Aufforderung des
Räubers nachzugeben. Loko vertraute ihr voll und ganz.
Die Räuber fragten sich gar nicht erst, warum die beiden amerikanischen Touristen mit ausstiegen und niemand wunderte sich,
als der zweite Räuber genau die richtigen Rucksäcke vom Dach
des Busses holte. Alle waren froh als der Bus endlich weiterfuhr
und die Nonnen konnten ihr Gebet beenden. Der Agent enttarnte
sich selbst, denn er begann wild Gedankenimpulse abzusenden.
,Verdächtige gesichtet,' dachte er wieder und wieder und wunderte
sich nur, daß er keine Antwort erhielt.
Colmo und Herbles kontrollierten die Straßenräuber jetzt vollständig. Das Auto wurde herbeigeholt; der Tankinhalt reichte bis
zur nächsten Station und schon nahmen sie auf den weichen
Polstern Platz um in Richtung Lima loszufahren. Den zweiten
Räuber hatten sie einfach stehen gelassen. Sie verpaßten ihm
einen suggestiven Befehl, sich dort so lange aufzuhalten, bis sein
Kollege ihn abholte. Mit dem anderen Räuber als Fahrer blieb
nunmehr eine Person zu kontrollieren, was die ganze Sache
vereinfachte.
Das Auto entpuppte sich als schwerfällige alte amerikanische
Limousine, tat aber ihre Dienste vortrefflich. Der Fahrer erzählte
ausführlich - nach Colmos mentaler Aufforderung hatte er gar
keine andere Wahl -, daß sie den kleinen Indio mit seinen Goldklumpen im Beutel seit zwei Tagen im Auge hatten. Schon in der
ersten Nacht in der Kaschemme nahmen sie sich vor ihn zu überfallen, aber irgendwie hatte der Schlaf sie übermannt und da der
Indio die Schlafstelle am Morgen bereits verlassen hatte, verschoben sie die Sache auf die nächste Nacht.
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Colmo schaute Loko an, der breit grinsend der Erzählung
lauschte; offensichtlich hatte er erheblichen Anteil am ungewollten Schlaf der beiden Räuber gehabt. Der Fahrer berichtete weiter,
wie sie den kleinen Medizinmann überall in der Stadt suchten und
als sie ihn fanden, hatte er sich den beiden Amerikanern angeschlossen. Sie sahen ihn, wie er an der Busstation Tickets erhielt
und nahmen sich vor dem Bus aufzulauern. Eigentlich würden sie
so etwas nicht machen, da sie auf miner spezialisiert sind, meinte
der Räuber, die erkennt man schon bevor sie die Stadt erreichen,
um ihre Goldklumpen in Geld umzutauschen. „Mein Schlafzauber
hat bisher noch nie versagt,“ meinte Loko beiläufig, immer noch
grinsend.
An der nächsten Haltestelle, an der sich auch eine Tanksäule
befand, hatten sie den Bus eingeholt. Sie blockierten den Straßenräuber, damit er still auf sie wartete. Dann nahmen sie sich den
Agenten vor. Mit gemeinsamer Anstrengung durchbrachen sie seinen Abwehrschirm und veranlaßten ihn dann aus dem Bus auszusteigen. Er hatte sich nicht die Beine vertreten wollen wie die
anderen Fahrgäste, sondern versuchte immer noch Kontakt mit
den Mutanten aufzunehmen. Sie führten ihn etwas abseits von den
anderen, löschten seine Erinnerung an die Verdächtigen und
schickten ihn zurück in den Bus, gerade noch rechtzeitig, bevor
dieser losfuhr.
Dann gingen sie erst einmal essen, denn ihr Magen knurrte
schon heftig, wobei sie den Straßenräuber im Wagen sitzen ließen.
Loko hatte von der Aktion mit dem Agenten nur soviel mitbekommen, daß die beiden Mayakas aus irgendeinem Grund diesen
Menschen mit ihren mentalen Kräften bearbeiteten. Warum wollte
er gar nicht wissen, denn für ihn stand fest, die beiden wußten was
362
sie taten. Und der Amerikaner, der ihm schon beim Einsteigen unsympathisch vorkam, mußte wohl mit der Gefahr in Verbindung
stehen, worüber ihn die beiden unterrichtet hatten.
Dies blieb der einzige Zwischenfall des ersten Reiseabschnitts.
Sie genossen die Fahrt in der geräumigen Limousine und hatten
jetzt auch Gelegenheit die eindrucksvolle Landschaft zu bewundern. Noch zwei weitere Tankstopps mußten eingelegt
werden, da das Auto Unmengen von Treibstoff verschlang und
nur Dank eines großen Tanks die weiten Abstände zwischen den
Tankstellen schaffte.
Das Stück abwärts zum Pazifik fuhren sie sehr zum Bedauern
in der Nacht, weil ihnen der herrliche Ausblick entging. Wieder
schliefen sie abwechselnd; nur Loko konnte, da er keine Wache
zu halten brauchte durchschlafen.
Chincha Alta erreichten sie im Morgengrauen und hielten für
vier Stunden eine Rast, damit der Fahrer wenigstens annähernd
seinen nötigen Schlaf bekam. Sie hatten ihm natürlich auch etwas
zu essen gegeben, schließlich mußte er für die letzten zweihundertachtzig Kilometer bei Kräften bleiben.
Der Verkehr auf der Küstenstraße nach Norden war wesentlich
dichter; die Fahrt wurde beschwerlicher, denn je älter der Tag
wurde, um so mehr machte ihnen die Hitze zu schaffen. Die Limousine, die sonst nur in den frischeren Bergregionen eingesetzt
wurde, bekam Probleme mit der Kühlung. Sechsmal mußten sie
anhalten um Wasser nach zu schütten.
Endlich erreichten sie die Hauptstadt. Der Straßenräuber hatte
nur wenig Geld dabei und so gaben sie ihm, was er für die Rückfahrt brauchte. Sie löschten die Erinnerung an die zwei ame363
rikanischen Rucksacktouristen aus seinem Gedächtnis. In seinen
Gedanken verblieb lediglich die Begegnung mit einem mächtigen
indianischen Zauberer, der ihn gezwungen hatte nach Lima zu
fahren. Dann schickten sie ihn zurück, um seinen Kollegen abzuholen.
Nun kümmerten sie sich um Lokos Problem. Ein Taxi brachte
sie zum Amt für indianische Angelegenheiten. Loko erklärte ihnen, daß es wahrscheinlich Tage dauern würde, bis man seine Petition entgegen nahm. Schließlich hatte er diese Prozedur schon
zweimal hinter sich gebracht. Colmo und Herbles wollten ihren
neuen Freund nicht allein den Mühlen der Verwaltung aussetzen
und bewirkten mit ein wenig Nachhilfe schon nach zehn Minuten
mit dem Medizinmann ins Büro des Sekretärs gebeten zu werden.
Sie betraten das Zimmer, in dem sich außer dem Regierungsbeamten noch ein Offizier des Militärs befand. Schon beim Betreten
des Raumes hatten sich die beiden Mayakas angeschaut, weil sie
die Gedankenstruktur des Soldaten erkannten. Auch er gehörte zu
den Spitzels, die der Feind anscheinend besonders zahlreich in
dieser Region bereit hielt. Der dunkelhaarige Offizier mit dem
fein geschnittenen Oberlippenbart merkte sofort, daß er durchschaut war. Noch bevor er einen Ansatz zur Gegenwehr einleiten
konnte, hatten sie auf mentaler Ebene von ihm Besitz ergriffen.
Währenddessen versuchte Loko dem anfangs sichtlich gelangweilten Sekretär seine Klage vorzutragen. Dieser bekam von den
anderen Aktivitäten im Raum nichts mit. Loko allerdings schon;
weil er um die Rückenfreiheit wußte, die er genoß, breitete er auf
dem Teppich den Inhalt seines Zauberbeutels aus und beschwor
die Geister, um dem Beamten von der Dringlichkeit seines
Anliegens zu überzeugen. Damit erreichte er zumindest die unge364
teilte Aufmerksamkeit seines Gegenüber.
Die Szene wäre einem Außenstehenden vollkommen unverständlich erschienen, man hätte sich gefragt, welch merkwürdiges
Possenspiel hier wohl ablaufen würde. Ein Indio hockte vor einer
Sammlung undefinierbarer Gegenstände und sang monotone Litaneien; ein Regierungsbeamter klammerte sich sonst regungslos,
aber mit offenem Mund staunend am Sessel fest; ein Offizier
stand total apathisch neben dem Schreibtisch und schien
vergessen zu haben, daß man mit seinem Körper auch Bewegungen vollführen kann und letztlich waren auch noch zwei junge
Amerikaner zu erkennen, die wie aus Stein gemeißelte Statuen
den Soldaten fixierten.
Diese Szene dauerte fast eine halbe Stunde und wurde abrupt
mit einem durchdringenden Klingeln des Telefons unterbrochen.
Loko beendete seine Beschwörung und der Sekretär konnte endlich vom Bann befreit zum Hörer greifen. Loko packte seine
Kraftobjekte wieder ein und legte die schriftliche Klage auf den
Schreibtisch, so daß sie der Beamte sofort im Blickfeld hatte,
wenn er mit dem Telefonat fertig war.
Colmo und Herbles verfuhren mit dem Offizier ähnlich wie
dem Agenten im Bus, nur hinterlegten sie in seinem Gedächtnis
die Erinnerung an zwei unauffällige amerikanische Touristen, die
einen Indio mit einer ernst zu nehmenden Botschaft begleitet
hatten. Noch bevor der Beamte sein Gespräch beendet hatte,
waren die drei schon wieder im Flur des Gebäudes und gingen gemeinsam nach draußen.
„Meinst du das genügt, um eure Probleme zu beheben?“, fragte
Herbles auf der Treppe vor dem Haus.
„Wir kennen die Verfahrenswege der Regierung genau. Der
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Sekretär wird sein Möglichstes tun, um die Mißstände an die zuständigen Behörden weiter zu geben. Aber dort wird es sehr wahrscheinlich irgendwo im Sande verlaufen, weil garantiert einer in
der Kette der Entscheidungsträger dabei ist, der von den Geschäften der Holzfäller profitiert. Dann wird unser Anliegen im Papierkorb enden und die Reise war wieder einmal umsonst. Aber wir
müssen es versucht haben, denn falls sich unser Volk zu Gegenmaßnahmen entschließt, können wir Notwehr geltend machen, da
die geforderte Hilfe der Regierung ausblieb. Und wir werden etwas unternehmen, wir können nicht andauernd unsere Wohn- und
Jagdgebiete verlegen. Den offenen Kampf dürfen wir natürlich
nicht wählen, denn es sind zu viele Gegner und ihre Waffen sind
gnadenlos. Auch meine Magie hilft immer nur kurzfristig; viel zu
viele drängen nach und ich kann nicht überall sein.“
Herbles tauschte mit Colmo ihre Gedanken aus. Nach kurzer
Beratung verharrten sie für einige Sekunden auf dem Bürgersteig
vor dem Gebäude. Sie sandten eine Nachricht an die Geistwesen,
die wiederum dem Wächter am Kristall die Botschaft weitergaben.
„Die Mayakas werden sich um euer Problem kümmern. Wir
wollen auch nicht, daß diese Plage noch weiter zu unserer Heimstätte vordringt,“ sagte anschließend Herbles zu Loko.
„Wenn deine Rückreise nicht mehr so dringend ist, kannst du
uns doch eigentlich begleiten,“ meinte Colmo, „wir würden uns
geehrt fühlen, so einem mächtigen Begleiter bei uns zu haben.
Allerdings muß ich dich warnen, einfach wird das sicherlich
nicht.“
Loko mit seinem sensiblen Gefühl für Vorbestimmung und
Schicksal erkannte sofort, daß eine besondere Bewandtnis damit
366
verbunden war, den beiden Mayakas begegnet zu sein und willigte
ohne zögern und bedenken ein. Er ging mit Sicherheit davon aus,
sein Volk brauchte ihn im Moment nicht so nötig, denn der Konflikt mit den Holzfällern konnte als abgehakt angesehen werden.
Und Angst vor Schwierigkeiten oder körperlicher Anstrengung
kannte er nicht.
Sie suchten sich ein Hotel um erst einmal auszuschlafen. Am
nächsten Tag galt es viele Dinge zu erledigen. Zuerst veräußerten
sie ein paar fein geschliffene Diamanten bei einem Juwelier. Für
den Handel benutzten sie ihre geistigen Fähigkeiten nicht, aber
wesentlich seriöser als der Steinhändler in Huancayo kam ihnen
dieser Mensch auch nicht vor. Jetzt hatten sie genug Geld für die
Flugreise nach Los Angeles und den weiteren Weg.
Anschließend rüsteten sie Loko aus, denn für den späteren
Verlauf ihrer Fahrt reichte seine Kleidung keinesfalls. In einem
Schuhgeschäft dauerte es etwas länger, weil Loko so schwere
Stiefel, die er anpassen sollte noch nie an seinen Füßen gehabt
hatte; bisher war er mit seinen Sandalen gut gefahren und verstand
nicht so recht, wozu das gut sein soll. Als er endlich passende
Bergstiefel gefunden hatte, lief er circa fünf Minuten auf und ab.
„Glaubt ihr wirklich daß es nötig ist, solche Gewichte mit sich
rum zu schleppen?“, fragte er ein wenig zerknirscht.
„Du wirst noch froh sein, diese Stiefel zu besitzen. Der letzte
Teil der Reise fordert gesunde Füße und mit gefrorenen Zehen ist
schlecht laufen,“ erwiderte Colmo. Gemeinsam schauten sie dem
kleinen Mann amüsiert zu, der wie ein kleiner Gockel bei jedem
Schritt seine Hacksen schüttelte, um einen hinderlichen Ballast los
zu werden.
Völlig unerwartet meinte Herbles in recht beiläufigen Ton:
367
„Für einen Mann hast du deine Sache bisher sehr gut gemacht. Ich
bin erstaunt über unsere harmonische Zusammenarbeit.“ Colmo
fiel der Unterkiefer runter, das hatte ihn beinahe umgehauen. Es
war so überraschend, daß er kein Wort heraus brachte; aber
Herbles hatte auch gar nichts erwartet - was gab es da noch zu
sagen.
Sie brachten die Einkaufstüten ins Hotel und zeigten Loko, wie
man einen Rucksack packt. Nicht zuletzt an der Art der Ausrüstung erkannte er, daß die Reise noch einige anstrengenden Passagen bereit hielt. Am Nachmittag fuhren sie zum Flughafen und
besorgten sich die Tickets. Anschließend suchten sie die amerikanische Botschaft auf, um für Loko ein Touristenvisum zu bekommen. Alles lief reibungslos und ohne Schwierigkeiten ab. Die
Maschine für die sie gebucht hatten, ging erst in vier Tagen, so
nutzten sie die Zeit, um die Stadt zu besichtigen.
Um nicht durch Zufall entdeckt zu werden, schirmten sie ihre
mentalen Kräfte ab und überließen Loko die Überwachung. Während der vielen Spaziergänge, die sie in dieser Zeit durch die Straßen von Lima unternahmen, entdeckte der Indio zwei Personen
mit starker Ausstrahlung. Sie machten jeweils einen weiten Bogen, denn je weniger auffällig sie sich verhielten, um so unbeschwerter konnten sie die Zeit nutzen.
Der Tag des Abflugs kam und Loko schien immer nachdenklicher zu werden. Am Flughafen selbst spürten die beiden Mayakas,
daß der Indio gewaltigen Respekt vor den riesigen Maschinen
hatte. Herbles beruhigte ihn, denn sie konnte sich gut in den
kleinen Mann hinein versetzen vor seinem ersten Flug. „Diese
Transportmittel sind sicherer als ein Bus in den Anden,“ gab sie
ihm zu verstehen. Dadurch wurde sein Gesicht auch nicht glückli368
cher, zumal er schon durchschaut hatte, daß Herbles sich auf Statistik berief.
Trotz seiner Bedenken verlief der vierstündige Flug ohne Zwischenfälle. Als sie in der Millionenstadt an der Westküste der
USA gelandet waren, fand Loko das Fliegen gar nicht mehr so
schlimm. Colmo wollte ihn deshalb auch nicht daran erinnern, daß
er während des ganzen Fluges seine Fingernägel in seinem Oberschenkel vergraben hatte.
Noch in der Ankunftshalle kauften sie Tickets bei einer indischen Fluggesellschaft für die Weiterreise nach Delhi. Auch für
die nächste Maschine mußten sie ein paar Tage Wartezeit in Kauf
nehmen. Keiner der drei Reisenden war jemals in einer so großen
Stadt gewesen; staunend verbrachten sie die ersten zwei Tage ihres Aufenthaltes mit Erkundungsspaziergängen. Dann fühlten sie
sich allerdings ermüdet vom hektischen Treiben der vielen Menschen und zogen sich lieber auf ihr Hotelzimmer zurück.
„Kann man sich an so ein Chaos gewöhnen?“, fragte Loko
mehr sich selbst als seine Begleiter. „Da ist nichts was den Geist
erhellt und die Seele beruhigt. Und das Tag für Tag, Nacht für
Nacht.“
Erschüttert malte er sich aus, daß es in den anderen Riesenstädten dieser Welt genauso zugeht. ,Wie halten diese Menschen das
nur aus,' dachte er, für ihn mußten die Menschen krank sein, vor
allem weil sie das erstickende Leben hier der freien Wildbahn
vorzogen. Colmo und Herbles hatten sich die Wirkung des
Schmelztiegels Großstadt auf das Gemüt einer friedvollen naturverbundenen Kreatur nicht so dramatisch vorgestellt und fragten
sich, ob es richtig gewesen war, den Indio zum Mitkommen über369
redet zu haben. Für sie beide drückte die Stadt lediglich eine Form
der Dekadenz einer untergehenden Rasse aus; sie empfanden weder Mitleid für die Massen noch störte es sie. Schließlich war
diese entartete Form des Lebens in ihren Augen nur eine vorübergehende Erscheinung - das Ende des Freigeistes, eingepfercht in
Millionen Tonnen von Beton.
„Erklärt mir doch bitte noch mal euer Verwandtschaftsverhältnis zu diesen ... diesen Kranken,“ forderte Loko sie auf, um sich
im Gespräch von den Eindrücken der Stadt abzulenken.
Herbles gab dem Indio einen Einblick in die Geschichte der
Mayakas und ihre Beziehung zu den Menschen. Colmo zog sich
derweil zurück, übernahm die Aufgabe das Umfeld zu sondieren
und machte sich Gedanken über Herbles Aussage bezüglich ihrer
guten Zusammenarbeit. ,Vielleicht ist die Frau ja gar nicht so
schlecht, wie alle meinen,' dachte er, ,vielleicht gibt es sogar
plausible Gründe für ihre nach außen dargestellte Ablehnung
gegenüber den Männern.'
Loko hörte Herbles gespannt zu; das war für seine Ohren genau
das Richtige, er liebte Geschichten über die Vergangenheit. „Der
Ursprung unseres Volkes ist auf der Erde,“ begann sie, „aber das
haben wir erst herausgefunden, als wir hierher zurück fanden. Vor
etwa fünfzehntausend Jahren gab es einen Kontinent zwischen
diesem und dem nächsten im Osten. Das Große Meer welches
heute zwischen diesen beiden Erdteilen liegt und Atlantik heißt,
war früher lediglich ein Binnengewässer. Südamerika und Afrika
lagen ohne von Wasser getrennt zu sein direkt nebeneinander; im
Norden befand sich der Binnensee und mitten drin eine riesige Insel mit dem Namen Atlantis. Die Menschen auf diese Insel nannten sich Atlantiden.
370
Damals waren die Erdmassen noch anders auf der Erdkugel
verteilt als heute. Weitere zwanzigtausend Jahre früher hatte es
auf der entgegengesetzten Seite des Erdballs einen Riesenkontinent mit dem namen Gäa gegeben. Als dieser sich später absenkte und neun Zehntel seiner Oberfläche im Meer verschwand
wurde ein Vorgang eingeleitet, der achttausend Jahre später zur
Zeit der Blüte von Atlantis eine Katastrophe auslöste. Die Bewegungen der Landmassen gehen zwar langsam vor sich - pro Jahr
etwa um eine Armlänge -, aber um so sicherer sind die Resultate.
Man kann durchaus davon sprechen, daß die Natur immer nach
Ausgleich strebt und so ist auch der Kontinentaldrift zu verstehen,
bei dem die Landmassen auf ihren Sockeln, den sogenannten
Kontinentalplatten ständig in Bewegung sind - immer in die Richtung wo etwas fehlt.
Durch das Wandern der Kontinente Südamerika Richtung Westen und Afrika in Richtung Osten - um die Lücke zu schließen, die
Gäa hinterlassen hatte - trennten sich die Platten der benachbarten
Kontinente und anscheinend verlor dadurch die Kontinentalplatte
von Atlantis mit dem Binnensee und der Insel seine Stabilität und
sackte mehrere hundert Meter in die Tiefe. Innerhalb von nur
fünfzig Jahren versank eine ganze Insel im Meer. Ausgefüllt
wurde die Lücke durch Wasser - eben dem Atlantischen Ozean.
Atlantis bewohnten vor dem Untergang drei Millionen Menschen, die sich auf einer Fläche von etwa der doppelten Größe
deines Landes verteilten. Die Atlantiden beherrschten diese Welt
in friedlicher Weise und in Einklang mit den Vorgaben der Natur.
Außerhalb Atlantis lebten nur wenige primitive Völker; teilweise
sogar noch in Höhlen.
Aber die Atlantiden, deren Technik weit fortgeschritten war,
371
wußten von den Bewegungen der Kontinentalplatten und errechneten genau, wann die Kontinente Afrika und Südamerika, Europa
und Nordamerika auseinander reißen würden. Sie kannten also
den Zeitpunkt, wann ihre Heimat in den Fluten des Atlantik versinken würde. Sie beschlossen den Planeten vorher zu verlassen,
um einen stabileren zu suchen, der eine längere friedvolle Periode
für ihr Volk garantierte.
Nur die Alten blieben zurück und verwalteten die verlassenen
und zum Untergang geweihten Gebiete. Ihre Kinder hatten Fluggeräte gebaut, die sie ausschließlich mit der Kraft des Geistes
steuerten. Ihre Fähigkeiten diesbezüglich waren so phantastisch,
das sogar wir Mayakas nur staunen können. Sie trennten sich in
zwei Gruppen und versprachen sich zu benachrichtigen, falls einer
der beiden einen geeigneten Planeten gefunden hatte. Als Treffpunkt wählten sie einen bestimmten Punkt auf der Erde, den sie zu
genau vereinbarten Zeitpunkten aufsuchen wollten.
Ein Teil von ihnen landete auf dem Planeten, den die Menschen heute Venus nennen. Dieser Himmelskörper besaß damals
noch eine atembare Atmosphäre. Sie ruhten sich dort erst einmal
aus und gründeten mehrere Siedlungen. In ihren Geschichtsbüchern verschwiegen sie ihre Herkunft und ihre Kinder lehrten sie,
daß der Planet Erde unbewohnbar sei wegen anhaltender vulkanischer Tätigkeiten und grausamen Naturkatastrophen. Sie
wollten nicht, daß ihre Nachfahren diesen ungastlichen Planeten
als mögliches Ziel für eine erneute Besiedlung ansahen.
Aber die Verhältnisse änderten sich zu schnell. Bevor sie es
schafften die Lebensbedingungen ihrer neuen Heimat abschließend zu erforschen, mußten sie feststellen, daß es immer unwirtlicher wurde. Der Sauerstoffanteil in der Luft nahm rapide ab,
372
so daß sie gezwungen waren auf die höheren Berge auszuweichen.
In diesem neuen Lebensraum veränderte sich auch ihre Hautfarbe
- sie wurden blau. Ihre geistigen Fähigkeiten gingen nach und
nach verloren, denn sie fühlten sich von Gott verlassen und verzagten. Deshalb wußten sie bald nicht mehr wie ihre Raumschiffe
zu benutzen waren und mußten sie umbauen, damit sie sich
wenigstens innerhalb des Sonnensystems bewegen konnten.
Das Volk nannte sich nicht mehr Atlantiden, sondern Mayakas,
was in unserer Sprache ,Die Verfolgten' bedeutet. Weil sie sich
mit ihrem schweren Schicksal auseinandersetzen mußten und um
nicht gänzlich zu verzweifeln, begannen die jüngeren Generationen zu forschen. Einige geistige Fähigkeiten waren in ihrem
Erbgut noch vorhanden und sie versuchten mit dem was ihnen
verblieben war umzugehen. Das miteinander Sprechen ohne den
Mund zu gebrauchen haben wir immer schon gekonnt. Aber andere Neuerungen kamen hinzu, die auch den Atlantiden, unseren
Vorfahren nicht bekannt waren. Wir - oder besser die Urgroßeltern meiner Eltern - lernten, wie man die Beendigung der Zellteilung verhindert, indem sie das entsprechende Hormon dafür
Kraft ihres Geistes kontrollierten. Mit anderen Worten, wir
können Dank unserer Fähigkeiten die Alterung verhindern.“
Loko hatte schon vorher an verschiedenen Punkten Mühe bestimmte Dinge zu verstehen, doch jetzt mußte er sie unterbrechen,
damit sie das Letzte noch mal erklärte - es war doch zu fremd,
was sie da sagte.
„Entschuldige, Geschichte war immer mein Lieblingsfach in
der Schule und wenn ich mich so richtig in die Materie versenke,
vergesse ich alles um mich herum. - Ich meine damit, wir werden
nicht mehr älter. Wir können nur durch Gewalteinwirkung oder
373
Krankheit sterben, aber nicht durch Altern.
Die technische Entwicklung unserer Vorfahren hatte sich in
ganz anderen Ebenen abgespielt, als bei den Atlantiden - den Urvätern unserer Vorfahren. Diese benutzten vermehrt mentale Kräfte, ja sogar die Wachstumskräfte der Pflanzen wußten sie für bestimmte Vorgänge einzusetzen. Dagegen verwendeten sie weniger
Maschinenkraft oder Elektronik. So kam es auch, daß die alten
Einrichtungen, wie zum Beispiel die Sendeanlage von den Mayakas nicht mehr bedient werden konnte, weil sie vergaßen wie
man sie benutzt. Sie versuchten es mit selbst konstruierten Geräten, in der Hoffnung Hilfe herbeizuholen. Aber die anderen von
der Erde geflohenen meldeten sich nicht.
Es kam ein anderes, fremdes Volk, die gierig auf unsere
technischen Errungenschaften schauten. Als unser Volk ihre Absichten durchschaute, war es fast schon zu spät. Sie griffen mit ihren Waffen, die den unseren ebenbürtig waren an und töteten die
Hälfte meines Volkes. Der Rest floh und der begrenzte Aktionsradius unserer Schiffe ermöglichte ihnen nur die Flucht auf die
Erde.
Das geschah vor etwa elftausend Jahren.
Atlantis war längst verschwunden und natürlich lebte auch
keiner von den Alten mehr, obwohl wir später erfuhren, daß sie
sich fortgepflanzt hatten und Nachkommen auf kleinen Inseln
überlebten. Die Erde hatte sich einigermaßen beruhigt, obwohl die
Bewegung der Kontinente weiterhin anhielt. Zu der Zeit lag die
nördliche Halbkugel unter einer dicken Eisschicht, die gerade erst
begann sich zurück zu ziehen.
Die restlich verbliebenen unseres Volkes versteckten sich in
dem Gebirge, das die Menschen heute Anden nennen. Sie
374
schnitten große Höhlen tief in den Berg und legten ein mentales
Schutzschild um sich herum, damit unsere Feinde sie nicht finden
konnten. Diese suchten zwei Menschengenerationen nach uns und
gaben dann die Suche auf. Wir befürchteten, sie könnten um unser
Ende zu besiegeln, den ganzen Planeten vernichten. Aber entweder hatten sie nicht die Mittel dafür oder sie entschlossen sich,
später wieder zu kommen.
Colmo und ich sind dort in den Wohnstätten im Gebirge geboren. Mittlerweile ist die Zahl der Erdgeborenen auf zweitausend
angewachsen und alle haben sie weiße Hautfarbe, weil die Sauerstoffverhältnisse wieder normal sind. Damals waren die Berge
noch lange nicht so hoch wie heute; die haben sich durch die Bewegung der Kontinentalplatten erst nach und nach aufgefaltet.“
Das war wieder so etwas, was Loko nicht begreifen konnte; er
gab ihr aber zu verstehen weiter zu erzählen.
„Das Eis zog sich immer weiter nach Norden zurück und langsam breitete sich der Mensch auf der Oberfläche aus. Zuerst
waren es Wilde, die von der Jagd lebten und in Höhlen wohnten.
Bald schon sammelten sie sich zu Gemeinschaften zusammen und
gründeten Siedlungen und später Städte und Staaten. Wir beobachteten das Geschehen, denn unsere Zeit der Flucht sollte vorüber sein.
Einige der Mayakas waren voller Ungeduld und konnten es
kaum erwarten, daß die Entwicklung der Menschen rasch voran
schritt. Sie beabsichtigten sich mit ihnen zu vermischen um ein
neues goldenes Zeitalter hervorzubringen. An verschiedenen
Orten haben sie sich sogar eingemischt, damit die Entwicklung
schneller ging. Doch dann fanden unsere Forscher die versunkene
Hauptstadt von Atlantis, mitten im Meer. Sie förderten Aufzeich375
nungen zu Tage, die uns Aufschluß über unsere Herkunft gab.
Unter anderem fanden sie bio-elektrische Speichereinheiten, in
denen Geschichte und Zukunftsprognosen, aber auch Mythologien
und Visionen festgehalten waren. Eine dieser Mythen beschrieb
die Stufen der Erdbewohner. Danach soll es drei verschiedene
Epochen geben, zuerst das goldene Zeitalter, dann das silberne
und zum Schluß das steinerne. Sie selbst ordneten sich beim
silbernen Zeitalter ein, was bedeutete, daß vor ihnen noch weit
fortgeschrittenere Menschen die Erde bewohnten.
Die Menschen der heutigen Erde zählen sie zum steinernen,
welches das letzte der Erdgeschichte unter menschlicher Führung
sein soll. Aber zum Schluß dieser Epoche - sozusagen als letztes
Aufbäumen - sollen die einstigen Herrscher wieder hervortreten
und gemeinsam mit den verbliebenen der Rasse Mensch eine abschließende Epoche einleiten und zum Frieden und Wohl des
ganzen Planeten beitragen.
Unsere Wissenschaftler bezogen diese Vision auf die Mayakas
und es wurde eine neue Lehre unter unserem Volk verbreitet. Danach sollen wir warten, bis die Rasse Mensch untergeht und dann
erst zum Vorschein kommen. Deshalb lautet unsere Grußformel
auch ,Die ersten werden die letzten sein'. Nicht alle von uns haben
sich dieser neuen Lehre gebeugt - aber das ist eine andere Geschichte.
Noch eines solltest du wissen: Ein Teil der Mayakas, die durch
Unfälle im Laufe unseres Daseins auf diesem Planeten ums Leben
kamen verweigerten den Einzug in den Himmel. Sie blieben im
Zwischenraum, was sie durch ihre besonders starke mentale Kraft
erreichten. Sie erschienen uns in unseren Träumen und gaben uns
Hinweise, über die Aktivitäten auf der Erde, aber auch welche
376
fremden Rassen die Erde besuchten.
Später fanden wir ein Instrument, die sogenannten Kristalle,
die es uns ermöglichten direkt, auch im Wachzustand mit ihnen zu
sprechen. Sie fanden heraus und teilten uns das auch mit, daß der
Feind die Verfolgung nicht aufgeben würde, sondern immer noch
danach trachtete, an das Geheimnis des ewigen Lebens zu kommen. Weiterhin kamen die ehrwürdigen Geistwesen zum Schluß,
daß wir den Feind erst dann abschütteln können, wenn wir uns mit
den Menschen verbündet haben. Mit ihnen gemeinsam soll es uns
erst möglich werden, den Verfolgern offen entgegen zu treten und
sie nachhaltig zu vertreiben.
Durch das Wissen der Geistwesen und den gefundenen Aufzeichnungen der Atlantiden schloß sich ein Kreis und unser Volk
schöpfte neue Hoffnung. So wurden wir zur Geduld erzogen, was
für viele zur unüberwindliche Aufgabe erwuchs. Du kannst dir ja
vielleicht vorstellen, wie es einigen von uns ging. Tausende von
Jahren waren wir die Gejagten, die sich ständig zu verstecken
hatten. Dann diese hoffnungsvollen Informationen und trotzdem
sollten wir weiter im Versteck bleiben. Einige gaben sich sehr ungehalten, die Ältesten unseres Volkes mußten sich etwas einfallen
lassen, um die Ungeduldigen zu beschwichtigen.
Der Bereich der Wissenschaften wurde enorm ausgebaut; unter
anderem errechneten sie genau den Zeitpunkt, wann die nächste
Eiszeit kommen würde, deren Erscheinen als Ende der menschlichen Zivilisation anzunehmen war. Wir gründeten eine zweite
Universität im Hochland von Tibet mit dem Namen Argartha, wo
weitere Forschungen betrieben wurden. Unser ganzes Wissen wird
dort aufbewahrt, praktisch als Reserve für unsere Heimstatt in den
Anden.
377
Aber das reichte den Dränglern nicht und so mischten sie sich
unter die Menschen und versuchten Einfluß auf die Entwicklung
zu nehmen. Die Christen haben das sogar in ihrer heiligen Schrift
der Bibel vermerkt, doch richtig einordnen konnten sie es nicht.“
Dieses Buch hatte der Indio schon mal in der Hand gehabt, als
ein von sich selbst überzeugter Missionar sein Dorf besuchte.
Aber die Magie des Buches fand Loko nicht gut; zu viele Morde
und andere Untaten - selbst im Namen ihres Gottes - hatten ihn
das Buch wieder beiseite legen lassen. An das was Herbles über
die Mischung des Erbgutes erwähnte, konnte er sich nicht erinnern gelesen zu haben.
Sie fuhr fort: „Unser Volk hat sich in verschiedene Kulturepochen eingeschaltet und Wissen verbreitet, doch alle sind ihrer Dekadenz erlegen, so wie die derzeitige Epoche auch zu Ende gehen
wird. Nach der Weissagung unserer Geistwesen werden sie erst
dann wieder zum Einklang mit der Natur zurück finden, wenn ihre
Metropolen im Eis versinken und nur noch der nackte Überlebenskampf ihren Alltag bestimmt.“
Der Indio lauschte weiter, auch als Herbles nicht mehr sprach,
als wenn er in der Stille noch andere Stimmen hören konnte. Dann
meinte er plötzlich: „Die Entstehungsgeschichte der Menschen, so
wie wir sie an unsere Kinder weitergeben, unterscheidet sich nicht
wesentlich von dem, was du erzählt hast. Nur mit dem Begriff
Gott müssen wir uns noch mal ausgiebig befassen.“
Herbles verstand was er meinte und dachte daran, daß die Menschen allgemein große Probleme mit der Definition haben. Vor
allem was ihre Entstehungsgeschichte betrifft mit den vielen Berichten über höhere Wesen, die als Gott angeredet wurden, aber
ganz und gar nichts mit dem wahren Gott gemein hatten.
378
Sie beendeten den Tag mit einem gemeinsamen Essen im Hotelrestaurant und gingen dann zu Bett. Loko meinte, er würde
diese Nacht die erste Wache übernehmen; seine mentalen Kräfte
reichten für diese Aufgabe aus. Er wollte nach Mitternacht abgelöst werden, denn im Moment beschäftigte ihn das was Herbles
erzählt hatte noch zu sehr, als das an Schlafen zu denken war.
Zum ersten Mal auf dieser Reise lagen Herbles und Colmo gemeinsam auf einem Bett und ganz verwirrt nahm Colmo zur
Kenntnis, wie Herbles sich an ihn schmiegte und dann einschlief.
Sein Körper reagierte zuerst mit aufgewühlter Wachsamkeit, aber
nach einer Weile beruhigte er sich, genoß die Wärme ihres Körpers und sank dann selbst in den Schlaf.
Loko ließ sich die Geschichte mehrmals durch den Kopf gehen,
die Zeit bis Mitternacht wurde im keineswegs langweilig. Am
nächsten Tag, dem letzten vor ihrer Abreise, studierten sie Landkarten, die sie sich vom geographischen Institut besorgt hatten.
Für den letzten Teil der Reise war ihnen frei gestellt worden, wie
sie zur Universitätsstadt im Hochland von Tibet gelangen wollten.
Sie kannten die Lage von Argartha, aber von welcher Seite man
am Besten wenigstens in die Nähe der unterirdischen Stadt kommen konnten, galt es heraus zu finden.
Den Weg von China aus hatten sie schon von Anfang an für zu
umständlich gehalten. Zu viele Menschen hätten sie begleitet, egal
welche Tarnung sie benutzten. Drei Möglichkeiten verblieben:
Über Nepal den Paß bei Darjeeling nehmen, ins Kaschmirtal
fliegen und mit Reittieren weiterreisen oder direkt von Indien aus.
Der Weg über den östlich von Nepal gelegenen Paß erschien ihnen zu weit entfernt vom Zielort. In Kaschmir mußten sie mit viel
379
Militärpräsents rechnen, was mit Problemen und unnötigen Aufenthalten gleich zu setzen war.
Also entschieden sie sich für den kürzesten Weg. „Wenn ich
das recht verstanden habe, müssen wir ein gutes Stück zu Fuß zurücklegen,“ warf Loko in die Debatte über die Anreise ein.
„Ja, und das nicht zu knapp. Ich hoffe, du wirst den Entschluß
mitzukommen nicht bereuen,“ erklärte Colmo, „denn es wird sehr
heftig. Wir rechnen sogar mit Klettertouren über Eis und Felsen.
Natürlich brauchst du die beschwerliche Tour nicht mitmachen.
Wir wären schon froh, wenn du uns bis Delhi begleitest. Deine
Anwesenheit hat unsere Fahrt bereichert und wir wollen dir nichts
zumuten, was du hinterher bedauerst.“
Etwas verständnislos schauend meinte Loko: „Glaubt ihr denn,
wenn es etwas unangenehm wird, würde ich zurück bleiben? Da
kennt ihr mich aber schlecht. Ihr habt mir soviel gegeben und
auch meinem Volk, da ist die Teilnahme doch wirklich nur ein
geringer Teil von dem, was wir euch schulden.“
Als Colmo gerade etwas einwenden wollte unterbrach Loko
ihn: „Ich weiß was du sagen willst. Ich brauche mich nicht verpflichtet fühlen - aber wenn ich das will, könnt ihr gar nichts
dagegen machen.“ Lokos teils naive, teils herzliche und offene
Art ließ keinen weiteren Einwand der beiden mehr zu, weshalb sie
schmunzelnd nickten. Nach einer Weile fuhr er fort: „Jetzt wird
mir langsam klar, wozu die Bergstiefel gut sein sollen. Hoffen wir
daß ihr findet, was ihr sucht.“
Herbles schaute Colmo an und der nickte auf ihren Wunsch
antwortend. „Setz' dich Loko. Wir sind der Meinung, du solltest
alles erfahren. Denn du bist ein treuer Freund und zuverlässiger
Begleiter.“ Sie setzten sich alle. Es sah so aus, als wenn Herbles
380
nach den richtigen Worten suchte, für das was sie zu sagen beabsichtigte. „Gestern habe ich dir von der Geschichte unseres
Volkes erzählt und davon, wie wir uns in die Kulturepochen verschiedener Zentren der Menschen eingeschaltet haben. Da gab es
einen dunklen Fleck, an den wir uns nur ungern erinnern.
Es ereignete sich vor etwa sechstausend Jahren, als einige unseres Volkes sich um die Ägypter kümmerten. Die Menschen am
Nil nahmen unsere Hilfe dankend an und verehrten die dort tätigen Mayakas als Götter. Bei den von uns eingesetzten Pharaonen
handelte es sich vorwiegend um Nachkommen aus Verbindungen
zwischen einem Mayaka und einer gesunden Eingeborenen. Es
gedieh alles prächtig und ihr Wissen mehrte sich in kürzester Zeit.
Das Volk war sehr gelehrsam und zeigte besonderes Interesse für
Astrologie und Magie.
Ganze Schulen wurden für die Aufgabe abgestellt Forschungen
durchzuführen und Experimente zu wagen. Unsere Brüder und
Schwestern dort konnten ihre Kenntnisse selbst noch um einiges
verbessern, denn sie zeigten eine große Leidenschaft für diese
Wissensgebiete und ließen mit der Zeit andere Forschungen ruhen, nur um sich noch intensiver damit zu beschäftigen. So blieb
es nicht aus, daß sie überaus tief in die Materie eindrangen und
Dinge entdeckten, mit denen sie besser nicht in Berührung gekommen wären.
Man beschloß das gesamte Wissen über die Magie in einem
Buch festzuhalten, damit spätere Generationen nur nachlesen
brauchten, wenn sie etwas benötigten. Aber sie hatten sich zu weit
vorgewagt. Was genau geschah läßt sich im nachhinein nicht
mehr genau zurück verfolgen. Jedenfalls wurden unter vielem
anderen auch Beschwörungen der Macht und Formeln zur Krieg381
führung entdeckt, die sie ebenfalls mit ins Buch aufnahmen. Das
muß einigen wenigen unseres Volkes zu Kopf gestiegen sein,
denn sie verloren das Maß für ihre Handlungen. Sie ließen sich als
uneingeschränkte Götter huldigen und bei kleinsten Vergehen und
Zuwiderhandlungen gegen ihre Befehle bestraften sie das Volk
mit Naturkatastrophen, Heuschreckenplagen, Krankheiten und
vieles mehr. Sie töteten Menschen wie es ihnen beliebte, allein
durch die Kraft der Magie.
Das Buch der Magie wurde zum Zentrum ihres Handelns, alles
drehte sich nur noch darum. Sie gaben das Forschen auf, denn
durch die Handhabung des Buches waren sie zu Sklaven ihrer
Machtgier geworden. Sie legten sogar einen Zauber darüber, daß
derjenige, der stark genug ist das Buch zu benutzen zum
Alleinherrscher über die Welt wird und alle Kräfte in sich vereint,
die von Seiten der Magie zur Verfügung stehen.
Ein Teil derjenigen, die sich nicht an dem Irrsinn beteiligten
flohen und baten die Mayakas in den Anden um Hilfe. Andere
wiederum sammelten tausende von braven und verängstigten
Menschen um sich und führten sie weg vom Nil in den Osten, wo
sie zwar ein karges, aber freies Land fanden, welches sie besiedelten - frei von der Terrorherrschaft der Pharaonen und deren
über alles herrschende Götter. Man ließ sie weitestgehend in Ruhe
ziehen, zumal sie von Mayakas geführt wurden, denn trotz aller
sonst vollbrachten Missetaten wollten die selbstherrlichen Götter
nicht Angehörige ihres eigenen Volkes morden. Übrigens ist auch
diese Geschichte im Buch der Christen niedergeschrieben worden.
Doch das gotteslästerliche Volk, das sich später aus den Flüchtlingen bildete, verfälschte die Geschichte zu ihrem eigenen Vorteil und bis heute glauben sie und die anderen Christen in der Welt
382
diesen Betrügereien.
Die letzten der unverdorbenen Mayakas die nicht das Land verließen, gingen zum Schein Bündnisse mit den Herrschern der Magie ein. In Wirklichkeit bereiteten sie das Eingreifen der Mayakas
aus den Anden vor. Sie bauten riesige Pyramiden und gaben vor,
diese als Grabstätten für die menschlichen Pharaonen zur Verfügung zu stellen, damit nach deren Ableben ihre Seele mit allen
Privilegien ausgestattet in den Himmel kommt. Die Pyramiden
wurden mit Goldplatten belegt, wobei der Zweck dieses Vorgehen
ausschließlich dem Schutz vor den Zauberkräften der Herrscher
diente. Denn die magischen Handlungen wurden von der Form
der Pyramiden und der Goldabdeckung abgeschirmt. Somit hatten
sie einen Zufluchtsort, falls die Bosheit der Herrscher sich gegen
sie und den zu erwartenden Mayakas aus den Anden richten
würde.“
Loko bat um eine Pause. All diese Dinge verwirrten ihn sehr.
Er mußte erst einmal Ordnung in seinem Kopf schaffen. „Ich habe
noch nie von diesen Ägyptern gehört - wir Indios beschäftigen uns
gern mit Geschichte, aber nur unsere eigene, denn andere Völker
sind uns nur bekannt durch das was wir aus den Städten erfahren.
Doch ich denke es ist nichts falsches daran, sich für andere Dinge
zu öffnen. Was soll man sich unter Pyramiden vorstellen? Sind sie
so wie die, die man auch im Urwald bei uns findet? Übrigens sagt
unsere Überlieferung, daß auch diese von Göttern gebaut
wurden.“
„Tatsächlich wurden sie von uns gebaut, aus dem selben
Grund, um eine Zufluchtsstätte zu haben vor der Macht der Magie. Die Pyramiden in Ägypten waren allerdings weitaus größer,
damit viele Menschen darin Schutz fanden, nicht nur Mayakas.
383
Übrigens glauben die Menschen auf diesem Planeten immer noch
daran, daß die Bauwerke von Menschen errichtet wurden und versuchen sich durch haarsträubende Versuche zu bestätigen, wie es
hätte funktionieren können. Das ist allein schon deshalb lächerlich, weil die Bereitstellung der Bausteine, die jeweils so schwer
sind wie zwanzig Menschen deiner Größe, mehrere hundert Jahre
gedauert hätte.
Denn die Werkzeuge der Eingeborenen bestanden aus Hammer
und Meißel, wie hätte das gehen können? Nur unsere Plasmaschneider konnten so viele Steine in so kurzer Zeit aus dem
Felsen brennen und nur unsere Gongs - das sind goldene
Transportschiffe, die den Steinen das Gewicht nehmen - konnten
diese Menge an Material zu den Baustellen befördern. Und selbst
mit unserer Technik dauerte der Bau einer Pyramide mehr als fünf
Jahre.
Aber zurück zur Geschichte und ich mache es jetzt kurz. Die
Mayakas kamen und nahmen den Herrschern das Buch weg. Sie
legten ein mentales Schutzschild darüber, damit kein Mayaka
mehr in Versuchung kommen sollte, das Buch zu benutzen. Man
brachte es nach Argartha, wo es verschlossen in einem Schrein
aufbewahrt wird. Unsere Geistwesen rieten uns, es nicht zu vernichten, denn vielleicht würde es eines Tages noch mal gebraucht.
Und genau das ist eingetreten. Du erinnerst dich an die Feinde
von denen ich dir erzählt habe, die uns zur Flucht vom Planeten
Venus zwangen? Sie sind wieder da und lassen die Erde beobachten. Wir können nicht aus unserem Versteck kommen ohne von
ihnen attackiert zu werden. Die Mayakas sind stark und verfügen
über einige Verteidigungsmöglichkeiten. Aber der Feind ist stärker, weil er uns zahlenmäßig überlegen ist. Und unsere mentalen
384
Fähigkeiten nutzen nichts gegen Gewehrkugeln oder noch
schlimmere Geschütze. Jeder einzelne von uns kann sich mit
einem Individuum beschäftigen und ihn zur Handlungsunfähigkeit
zwingen. Aber unser Volk zählt nur noch wenige Seelen, dem
gegenüber steht der Feind mit Maschinen und weit mehr
Kämpfern, als wir sie aufbieten können. Damit ist unsere Kraft
wirkungslos.
Wir hatten gehofft mit diesen Menschen gemeinsam den Feind
bekämpfen zu können, aber er wußte von unserer Taktik und lauert jetzt darauf, daß wir uns zeigen. Darüber hinaus dienen ihm
mehrere Mutanten - das sind Wesen mit besonderen magischen
Fähigkeiten -, die uns ausfindig machen sollen. Wir konnten sie
vorübergehend blockieren, aber eine dauerhafte Lösung ist das
auch nicht.
Also beschlossen unsere Anführer auf den Rat der Geistwesen
zu hören und das Buch der Magie einzusetzen. Wir wissen nicht,
ob dieser Plan unter Umständen dazu führt, daß einer von uns versucht die Macht an sich zu reißen - dieses Risiko müssen wir eingehen. Hauptsache wir vertreiben den Feind und können in Ruhe
unser Werk hier auf der Erde vollenden.
Unser Auftrag lautet: Holt das Buch und bringt es in die Heimstätte der Anden.“
Die drei schwiegen eine ganze Zeit lang. Colmo observierte die
Umgebung und war deshalb nicht zu sehr mit den Geschehnissen
im Raum beschäftigt. Aber Herbles empfand durch ihre eigene zusammenhängende Schilderung ausgelöst - einfach Angst. Weniger
wegen ihres Auftrags, sondern vielmehr darüber, was später sein
wird, wenn das Buch zu ihrem Volk gelangt.
Loko hatte ihre Gefühlsänderung mitbekommen. „Ich habe
385
auch Angst. Die Angelegenheit ist von viel größerer Bedeutung,
als ich es anfangs angenommen hatte. Ich danke euch für euer
Vertrauen mich einzuweihen und werde alles dafür geben, daß es
gelingt.“
Seine offene Art und die Bestimmtheit, mit der er es zum Ausdruck brachte, holte Herbles aus ihren Zweifeln zurück. Sie umarmte den Indio und meinte: „Die unverhofften Freunde sind die
besten Freunde.“
Am Abend verdrängten sie die Gedanken an ihren Auftrag und
die möglichen Folgen und bemühten sich Frohsinn zu verbreiten.
Loko erzählte Episoden aus seinem Dorf und entfaltete dabei ein
enormes Geschick die Begebenheiten humorvoll und lustig zu
beschreiben; er selbst lachte am Meisten über seine Berichte. Unbeschwert fanden sie ihren Schlaf und fühlten sich am am nächsten Morgen gut ausgeruht.
Die Sicherheitskontrollen und endlosen Warteschlangen am
Flughafen brachten sie wieder in die Realität des zivilisierten
Lebens zurück. Auch der Flug selbst gestaltete sich als recht unangenehm. Viele Turbulenzen schüttelten den Flieger und seine
Passagiere kräftig durch, was erst nach der Zwischenlandung in
Tokio besser wurde.
Nach Delhi dauerte es noch mal sechs Stunden; sie waren froh
endlich aussteigen zu können. Loko fühlte sich in dem schwülheißen Klima wie zu Hause. Aber als sie mit dem Taxi durch AltDelhi zum North-Gate-Terminal fuhren, sank seine Stimmung beträchtlich. Die Luft ließ sich kaum atmen, dazu stank es bestialisch. Das Chaos in den Straßen nahm ihnen jegliche Illusion,
sich als Touristen in einem interessanten Land zu fühlen. Dies
386
hatte mehr mit anstrengender Arbeit als mit Vergnügen zu tun.
Loko konnte das alles gar nicht fassen. Allein das Sitzen im
Taxi strengte an, zumal die alten englischen Fabrikate von aircondition nie etwas gehört hatten und das Öffnen der Fenster noch
schlimmere Bedingungen im Wageninneren verursachten. Aber
auch das was sich dem Auge darbot, forderte nur eine Reaktion
bei ihm heraus, die er kleinlaut formulierte: „Müssen wir lange
hier bleiben?“
Massen von Menschen wälzten sich durch die Straßen, teils zu
Fuß, teils mit Rikschas oder Fahrrädern, Taxen oder als Taxi umgebauten Motorräder, mittendrin röhrende Lastwagen oder behäbige Ochsenkarren. Der Lautstärkepegel belastete im selben Maße
wie der ätzende Abgasgestank, gemischt mit menschlichen Ausdünstungen, Unrat und Gewürzen, der selbst durch die geschlossenen Fenster zu dringen schien.
Am Busbahnhof für die nördlichen Routen kauften sie Tickets
nach Simla im Himachal Pradesh und erfuhren, daß der Bus erst
am nächsten Morgen startete. Neben dem Terminal entdeckten sie
einen Campingplatz und beschlossen dort die Nacht zu verbringen. Es gab einfache Liegen die man mieten konnte, was ihnen eine Übernachtung unter freiem Himmel ermöglichte.
Am Abend wurde die Luft etwas besser und die Eindrücke des
Tages verdauend saßen sie auf ihren Bettgestellen und schauten
sich um. Loko freute sich über einen kleinen Mungo, der ständig
entlang der Hecke am Rande des Platzes patrouillierte und damit
die Gäste vor Schlangen beschützte.
Bei der routinemäßigen Überprüfung der Menschen in der näheren Umgebung entdeckte Colmo einen jungen Inder mit stark
ausgeprägter telepathischer Begabung. Colmo ging sehr vorsichtig
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vor und berührte nur sanft die äußere Gedankenstruktur des
Jungen, denn die Möglichkeit von ihm entdeckt zu werden, war
sehr wahrscheinlich. Tatsächlich hatte der Inder etwas bemerkt,
denn er suchte nach dem Urheber dieser Berührung. Colmo zog
sich zurück und gab seinem Gedankenmuster ein unverfängliches
Aussehen. Mittels Sprache unterrichtete er die beiden anderen. Er
deutete an, daß es sich bei dem Mann nicht unbedingt um einen
Späher des Feindes handeln müsse.
Loko konnte seine mentale Ausstrahlung nicht so abschirmen
wie die beiden Mayakas und so war es unvermeidlich, daß der Inder auf ihn aufmerksam wurde. Er stand an der anderen Seite des
Liegeplatzes an einer Imbißbude und schaute zu ihnen herüber.
Etwas zögernd setzte er sich dann in Bewegung und kam auf die
drei Reisenden zu. Für ihn waren die Mayakas gewöhnliche westliche Rucksacktouristen, doch der Indio schien ihm fremd zu sein
- seine Neugierde überflügelte seine Unsicherheit.
In englisch mit dem typischen indischen Akzent sprach er
Loko an, denn das mächtige Charisma des untersetzten, fremd
aussehenden Menschen interessierte ihn doch zu sehr. Wahrscheinlich war es ihm gar nicht möglich, einzelne Gedanken in
Lokos Bewußtsein heraus zu hören, dazu benötigte selbst Herbles
und Colmo ihre vollste Konzentration, wie sie bei ihrer ersten Begegnung feststellen konnten. Später nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten, versuchte keiner mehr seine Gedanken abzutasten; das war auch untereinander bei den Mayakas nicht üblich,
man betrachtete es sogar als Verletzung der Ehre.
Loko verstand die Worte des Inders nicht, aber er erkannte die
ehrliche, wenn auch naive Art seines Gegenüber und hegte
keinerlei Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Er spürte nichts von
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feindlicher Gesinnung und auch kein Bemühen etwas zu verbergen. Deshalb formulierte Loko einen freundlichen Begrüßungsgedanken und ließ den Jungen dies erkennen. Herbles und
Colmo hatten Lokos Vorgehen verstanden und lösten ihr Schutzschild in soweit, daß der Inder zwar ihre Gedanken nicht lesen,
aber zumindest ihre mentale Kraft spüren konnte.
Erschreckt wich der Junge zurück, als er plötzlich auch von
den Begleitern des Fremden mit einer mächtigen Ausstrahlung
konfrontiert wurde. Herbles beschwichtigte ihn: „Keine Angst
junger Freund, wir sind friedliche Wesen.“ Diese Worte bestätigten das, was der Inder vermutete, aber nicht zu glauben gewagt
hatte. Als die beiden ihre Tarnung öffneten, erkannte er zwei vollkommen fremde Wesen - das waren tatsächlich keine Menschen.
In seinem bisherigen Leben hatte der junge Mann seine telephatische Begabung immer für sich behalten. Das er ein Sonderling war, hatte er wohl schon früh akzeptieren müssen, genauso
wie den Begleitumstand isoliert zu sein. Denn wenn man die Gedanken seiner Mitmenschen kennt, wird man zwangsläufig zum
Einzelgänger. Es hatte ihn jahrelang traurig gemacht, daß seine
Freunde und auch Eltern anders dachten als sie sprachen. Später
nutzte er seine Begabung zum Ausspionieren von Touristen, die
auf dem Campingplatz häufig anzutreffen waren. Das brachte ihm
nicht nur jede Menge Spaß, er lernte sogar dabei und ab und zu
verschaffte er sich einen kleinen Vorteil, indem er sich als Führer
anbot und die Wünsche der Touristen bis ins Detail erfüllen konnte. Nie hatte er in Erwägung gezogen seine Gedanken abzuschirmen; er ging davon aus, allein zu sein mit dieser Gabe.
Was Herbles und Colmo nicht ahnten war, daß die Bereitwilligkeit des jungen Mannes seine Gedanken offen zugänglich zu
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machen dazu geführt hatte, von den Mutanten als Instrument
benutzt zu werden, ohne das er etwas davon merkte. Die geistigen
Berührungen der Diener des Feindes konnte er schon spüren, doch
verstand er es als Normalität, weil er ständig irgendwelche mentalen Impulse empfing, deren Zuordnung für ihn uninteressant,
weil nicht verfolgbar war. Weil die Mutanten keinen Druck zur
Preisgabe der Informationen benötigten, konnten Herbles und
Colmo keine Verbindung erkennen und somit ordneten sie den Inder als ungefährlich, aber äußerst interessant ein.
Der junge Mann hatte ganz offensichtlich Probleme mit dieser
für ihn vollkommen neuen Situation fertig zu werden. Seine Gedanken purzelten wild durcheinander, wie rollende Steine auf
einem steilen Geröllhang. „Laß uns lieber die Sprache benutzen,“
sagte Herbles jetzt, „vielleicht beruhigt dich das etwas.“ Beinahe
wäre der Inder einfach weggelaufen, doch auch in diesem
Moment siegte die Neugier über die Furcht vor etwas unbekanntem.
„Wer seid ihr?“, stammelte er nach einer Weile des Sammelns.
„Wir sind Reisende aus einem fernen Land. Das sollte dir als
Antwort genügen. Wir sind überrascht einen so talentierten Menschen zu treffen. Willst du nicht mehr aus deiner Begabung machen?“
„Wie meinst du das?“
„Hast du nie daran gedacht deine Fähigkeiten auszubauen?“
„Nein, ich wüßte gar nicht wie.“
„Zeig' mir in Gedanken wo du wohnst. Wenn wir wieder kommen besuchen wir dich. Dann zeigen wir dir, was noch alles
möglich ist.“
Colmo gab ein Zeichen, daß er eine weitere mental aktive Per390
son entdeckt hatte. Herbles verabschiedete den jungen Inder mit
einem freundlichen Gruß und mahnte ihn auf sich aufzupassen.
Dann ging der Junge nach Hause und dachte noch lange über die
Begegnung nach.
Colmo zeigte Herbles einen Polizeiwagen vor der Campingplatzeinfahrt, dort hatte er das Signal aufgefangen. Sie baten Loko
zu warten und gingen an das Tor, um sich um den Polizisten zu
kümmern, der gerade versuchte Gedankenimpulse an die Mutanten zu senden. Sie spürten daß er keine Rückmeldung bekam
und als er die beiden auf sich zukommen sah, ergriff ihn Panik
und versuchte zu fliehen.
Aber die Mayakas hatten ihn schon in ihrer Gewalt, löschten
seine Eindrücke von dem was er beobachtet hatte und schickten
ihn mit dem Gedankenbefehl sich zwei Tage ins Bett zu legen
nach Hause. Auf dem Rückweg zur Liege meinte Herbles: „Ich
habe dem Jungen sein Gedächtnis unberührt gelassen, hoffentlich
entpuppt sich das nicht als Fehler.“
„Ich glaube nicht. Erstens war keine Verbindung zu erkennen
und sollten sie durch Zufall auf ihn stoßen, falls die Geistwesen
ihre Kontrolle unterbrechen müssen, kann er ihnen nicht viel berichten.“
Sie schliefen abwechselnd und am nächsten Morgen begaben
sie sich zum Terminal. Der Bus war überaus voll und sie vermuteten eine anstrengende Fahrt. Etwa sechshundert Kilometer standen
ihnen bevor und der größte Teil davon würde heiß und stickig
werden. Im Bus fanden sie keine verdächtige Person. Deshalb
ließen sie sich ohne Bedenken von den Mitreisenden ausfragen,
ohne etwas konkretes zu sagen. Inder sind im Allgemeinen sehr
mitteilungsbedürftig, vor allem Schüler, die darüber hinaus gerne
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Bestätigungen erhalten, wie gut sie sich in englisch zu unterhalten
verstehen.
Wenigstens wurde die Fahrt nicht langweilig. Nach Ambala
war der Bus nicht mehr ganz so überfüllt, sie bekamen nun auch
die Gelegenheit, die Landschaft zu betrachten. Bislang hatte der
rasche Blick durchs Fenster nichts besonderes hergegeben, denn
fast vierhundert Kilometer erstreckt sich die Gegend flach und die
Bilder der vorbei huschenden Felder und Ortschaften wiederholen
sich ständig. Nun wurde es allerdings immer bergiger und Indien
zeigte sich von der angenehmeren Seite.
Nach weiteren hundert Kilometer öffnete sich plötzlich die
Sicht auf die Gebirgskette des Himalaja. Das Hochland davor liegt
etwa fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel und reicht bis an
die schroff aufsteigende erste Kette des Gebirges heran. Dann
steigt der Weg bis auf über zweitausend Meter an und man kann
oben die dahinter liegende zweite Kette der Fünftausender erkennen.
Ein faszinierender Anblick für jeden Touristen, der dies zum
ersten Mal sieht. Für die Drei war es nichts neues, sie waren solche Ausblicke schon von den Anden gewohnt. Dennoch genossen
sie den Anstieg nach Simla, denn nicht nur das Auge wird für jeden Liebhaber des Gebirges verwöhnt, sondern auch das Klima
veränderte sich rasch und selbst Loko erfreute sich der besseren
Luft und meinte sogar, er könne sich an die Berge gewöhnen.
Im Gegensatz zu den Landstraßen, wo es meist nur eine geteerte Fahrspur mit Feldwegen als Ausweichspuren links und
rechts der Trasse gibt, überraschte der Weg hoch nach Simla
durch überaus breite Straßenführung und schlaglochfreiem Belag.
392
Dem kleinen Städtchen am Steilhang kurz vor der Kuppe eines
Berges gelegen mußte es wirtschaftlich besser gehen als den Städten des Flachlandes.
Der große Platz mit der Haltestelle auf der untersten Ebene des
Ortes bestätigte diesen Eindruck. Fahrwege direkt hoch ins
Zentrum gab es keine, augenscheinlich mußte man weit um den
Berg herum fahren, um mit einem Fahrzeug bis nach oben zu gelangen. Allerdings konnte man jede Menge Treppen erkennen, die
über endlose Stufen nach oben führten. Die Attraktion des Ortes
bestand aus einem fast achtzig Meter hohen Fahrstuhl, der von
dem großen Platz bis in die mittlere Ebene von Silma reichte und
dort über eine schmalen Rampe betreten werden konnte.
Die drei hatten soviel modernes Ambiente gar nicht erwartet,
zogen es aber dennoch vor, eine der Treppen zu benutzen, um in
die Stadt zu gelangen. Sie suchten sich ein Hotel, das wie viele
anderen Häuser auch sich der Hanglage anpaßte. Dabei hatte man
mit dem untersten Stockwerk beginnend, nach und nach - wie es
der Berg ermöglichte - Etage für Etage drauf gebaut, bis man an
der nächsten horizontalen Straße parallel zur unteren nicht mehr
weiter kam. So waren etliche Terrassenanlagen entstanden, die
das Stadtbild von Simla bestimmen.
Hätten die drei Reisenden dies vorher gewußt, wären ihnen
eine Menge Stufen erspart geblieben, denn das Zimmer, was sie
mieteten lag fast ganz unten. Sie nahmen es mit Humor und Loko
meinte, es hätte durchaus noch schlimmer kommen können; das
nächste Mal würde er sicher den Lift benutzen. Der sehr diensteifrige Hotelmanager, ein hagerer junger Inder, verstand den Indio
nicht und fragte deshalb nach, ob alles in Ordnung wäre. Herbles
erklärte ihm auf englisch was ihr Begleiter gesagt hatte, worauf
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der junge Mann abwinkte. „Oh nein, der Aufzug geht schon lange
nicht mehr, trotzdem ist es ein schönes Bauwerk und wir sind sehr
stolz darauf.“
Nachdem sie ihre Sachen abgestellt hatten, wollten sie sofort
die Stadt erkunden. Simla entpuppte sich als reiner Touristenort,
der allerdings mehr vom indischen Mittelstand als von Ausländern
besucht wird. Letztere zogen die weiter nordwestlich gelegenen
Orte wie Mandi, Dharam Sala und Srinagar vor, wo die Exiltibetaner das Geschäftsleben bestimmen. Hier traf man nur selten auf
die bunt gekleideten Menschen, die ihre Heimat im heute von
China verwalteten Tibet verlassen mußten.
Die Stadt war voll mit Menschen - anscheinend hatten mehrere
Bezirke Indiens Schulferien. Simla galt lange Zeit als Geheimtip
für erholungssuchende Inder, wie sie vom Hotelmanager erfahren
hatten - den drei kam es nun wirklich nicht mehr geheim vor, denn
sie mußten sich regelrecht durch die Menschenmassen hindurch
zwängen.
Außerhalb des Marktbereiches konnte man etwas freier atmen
und die drei nutzten die Gelegenheit, sich einige schöne Plätze
und Bauwerke anzuschauen. Auf dem Weg zurück zum Hotel
mußten sie wieder durch die Massen von Menschen. Die vielen
Stufen die sie dabei gegangen waren konnten sie gar nicht mehr
zählen. Selbst dort auf den Treppen drängte sich Stand an Stand
und überall tobten Affen umher, um sich hier und da was zu essen
zu stibitzen.
Bevor sie das Hotel erreichten, wollten sie noch bei einer Autovermietung vorbei schauen. Die befanden sich alle auf der untersten Ebene der Stadt, was sich wegen der Verkehrsführung von
selbst ergab. Herbles betrat den nächst besten Laden und
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verhandelte mit dem Manager. Sie charterte ein geländegängiges
Fahrzeug einschließlich Fahrer für den nächsten Morgen und gab
dem Mann zu verstehen, daß sie einen Tagesausflug planten.
Anschließend gingen sie ins Hotel und aßen ein wenig Obst
und Brot, welches sie vom Markt mitgenommen hatten. Loko ging
danach sofort schlafen, während Herbles und Colmo noch mal die
Landkarten studierten. Die chinesische Grenze lag nur achtzig Kilometer entfernt und es führte eine gut ausgebaute Straße dorthin.
Wie es weiter gehen sollte, wußten sie noch nicht. Auf jeden Fall
würde ihnen etwas einfallen. Mit diesen Gedanken legten sie sich
ebenfalls hin und verzichteten in dieser Nacht sogar auf die sonst
übliche Wache.
Der Fahrer holte sie am nächsten Morgen ab und fragte, wo es
denn hingehen sollte. „Wir fahren Richtung chinesische Grenze,“
teilte ihm Herbles mit.
„Da werden wir nicht weit kommen,“ gab der Inder zu bedenken, „die Chinesen halten Fahrzeuge schon sehr früh an und nur
die ihnen bekannten Bauern dürfen passieren, um zu ihren Höfen
zu kommen oder ihre hoch gelegenen Felder zu bearbeiten.“
„Macht nichts, wir fahren so weit wir können.“ Dem Inder war
es egal, schließlich wurde er für seinen Job bezahlt. Tatsächlich
erreichten sie bereits nach zwanzig Kilometer die erste Straßensperre, errichtet durch chinesische Militärfahrzeuge. Schon bei der
Annäherung bearbeiteten Colmo und Herbles die sechsköpfige
Truppe. Zur Verwunderung ihres Fahrers ließ man sie einfach
passieren.
Ihr Ziel hieß Lhazlong im Tibetanischen Hochland. Von der
Grenze aus führte ein brauchbarer Weg bis dort hin, obwohl er nur
in den drei Sommermonaten für normale Straßenfahrzeuge zu
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befahren war. Den Rest des Jahres lag er unter Schnee und Eis
und nur Kettenfahrzeuge kamen durch. Insgesamt hatten sie noch
eine Strecke von fünfhundert Kilometer vor sich auf einer Höhe
zwischen dreitausend bis viertausend Metern.
Mit dem Jeep der Autovermietung gelangten sie bis an die
eigentliche Grenzstation, nachdem sie drei weitere Kontrollen auf
ihre Art davon überzeugten, sie weiterfahren zu lassen. Die Grenze selbst lag auf einer Paßhöhe; in den letzten zwanzig Kilometer
stieg die Straße auf über viertausend Meter an. Der Jeep bekam
Probleme, denn in dieser Höhenluft kann man nur mit speziell eingestellten Fahrzeugen weiter kommen.
Sie hatten dem Fahrer schon vor einer Weile eine entsprechende mentale Behandlung zukommen lassen, denn der gute
Mann wollte schon bei der zweiten Kontrolle von sich aus nicht
mehr weiter fahren. Wenn er zurückkehrte, würde er nichts mehr
von dem Ausflug an die Grenze wissen und auch nicht wo er die
Rucksacktouristen abgeladen hatte. Den jeweiligen Soldaten an
den einzelnen Kontrollstellen hatten Colmo und Herbles eingepflanzt, den Fahrer auf seinem Rückweg ohne Fragen durch zu
lassen und natürlich strichen sie auch die Erinnerung an die drei
Fahrgäste.
Sie hatten richtig kalkuliert, denn der Übergang auf
chinesisches Gebiet stellte sich als weniger problematisch heraus,
als zu befürchten war. Eine ganze Einheit lagerte oben auf der
Paßhöhe, doch die meisten beschäftigten sich damit die Zeit tot zu
schlagen, denn ihre Aufgabe an dem Stützpunkt bestand eigentlich
nur aus ihrer Anwesenheit und wurde lediglich durch regelmäßige
Übungen unterbrochen.
Etwa fünf Kilometer vor der Paßhöhe hatten sie den nur noch
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stotternden Wagen verlassen und gingen den Rest des Weges zu
Fuß. Ein Kilometer vor der eigentlichen Grenze befand sich ein
Schlagbaum, der von einem höheren Offizier und acht Soldaten
besetzt war. Neben dem Wachhäuschen stand ein LKW, den sie
zum Transport der Soldaten benötigten. Die beiden Mayakas instruierten den Offizier ihnen den Wagen mit einem Fahrer zur
Verfügung zu stellen. In seinem Gedächtnis blieb haften, drei
chinesischen Geheimagenten bei ihrer Weiterfahrt geholfen zu
haben. Diese Version teilte er dem wachhabenden Offizier oben
am eigentlichen Grenzübergang per Telefon mit. Genauso gingen
sie bei dem Fahrer vor, der als sie die Grenzmarkierung überfuhren, gar nicht mal anhielt, da Colmo und Herbles auch dafür
gesorgt hatten, daß der Schlagbaum geöffnet wurde und der Offizier salutierte.
Dann begann die schier endlose Fahrt durch eine Landschaft,
die als Lebensraum bestimmt nicht geeignet war, aber den Betrachter dennoch in seinen Bann schlug. Nachdem die Aufgabe
die Grenze mit möglichst wenig Aufsehen zu passieren hinter ihnen lag, hatten sie Gelegenheit das atemberaubende Panorama zu
betrachten. Im Südosten thronte jetzt die Kette der Achttausender
majestätisch über den nun klein erscheinenden Bergen ringsrum.
Die drei gewöhnten sich schnell an die dünne Luft; Herbles
und Colmo waren darauf trainiert und Loko verfügte über eine
körperliche Kondition, die mit solchen Belastungen spielend fertig
wurde. Der Lastwagen bewegte sich nur sehr langsam durch die
von Geröll, Eis und Felsen durchzogene Landschaft. Mit der Zeit
hatten sich ihre Augen satt gesehen an den bizarren Formen in ihrer Umgebung; die monotonen Geräusche des Fahrzeuges und
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sich dauernd wiederholenden Bilder von Felsen und Eisformationen langweilten bald und konnten den Reisenden kein Interesse
mehr entlocken. Der Tag verging; die einzigen Abwechslungen
bestanden in zu umkurvenden Felsbrocken oder Geröll auf der
Fahrbahn, was dem Fahrer einiges Geschick abverlangte.
Sie fuhren noch die halbe Nacht durch bis sie endlich ihren
Zielort erreichten. Fünf Kilometer von Lhazlong entfernt ließen
sie sich absetzen. Mit den entsprechenden Befehlen ausgestattet
entließen sie den Fahrer, der in den Ort weiter fuhr, denn für die
Rückfahrt brauchte er eine neue Füllung Diesel. Die drei hatten
ihre Ausrüstung angelegt und stiegen den Hang nördlich der Straße hinauf.
Nun begann der körperlich anstrengendere Teil ihrer Reise in
vollkommen menschenleerer Natur. Hier wuchs keine Pflanze
mehr und auch Tiere konnten die Kletterer nicht ausmachen.
Angepaßt an die Bedingungen schritten sie gemächlich voran;
beim ersten Abschnitt des Fußmarsches galt es lediglich zügig
voran zu kommen, weshalb sie auf Pausen verzichteten.
Die ersten drei Stunden behalfen sie sich mit Lampen, um die
vor ihnen liegenden Hindernisse erkennen zu können. An
Fernsicht war noch nicht zu denken, das würde der Morgen schon
von alleine bringen. Die Oberfläche zeigte sich einigermaßen
glatt, sie vermieden lediglich Eisfelder, denn in der Dunkelheit
schien ihnen das zu unsicher.
Der eine von zwei Eingängen zur unterirdischen Stadt befand
sich etwa zweihundert Kilometer nördlich von Lhazlong. Sie
hatten die Karten ausgiebig studiert - zunächst galt es, ein Tal zu
erreichen, das etliche Wegstunden entfernt von der Straße lag und
in nordwestlicher Richtung verlief. Diesem Tal mußten sie folgen,
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weil sie dadurch unnötige Kletterpartien vermeiden konnten.
Herbles und Colmo erfreuten sich auf Grund jahrelangen
Trainings einer überaus stabilen körperlichen Verfassung, was
einer der Hauptgründe dafür war, das sie für diesen Auftrag ausgewählt worden waren. Aber auch Loko machte eine gute Figur,
obwohl er die Kälte der Nacht als sehr unangenehm empfand. Als
dann der Tag kam und die Sonne gnadenlos auf die drei einsamen
Wanderer knallte, wußte er die sorgsam ausgewählte Ausrüstung
zu schätzen.
Stetig kamen sie voran, Stunde um Stunde kämpften sie sich
vorwärts. Der Tag ging und sie bereiteten sich ein Nachtlager. Ein
Feuer wurde nicht entzündet, denn sie wollten keine unerwünschten Beobachter auf sich aufmerksam machen, schließlich konnte
davon ausgegangen werden, daß der Feind über optische Mittel
verfügte, sogar vom Weltraum aus ungewöhnliche Aktivitäten
besonders in sonst unbewohnten Gebieten wahr zu nehmen.
Am vierten Tag standen sie an einer Bergkante und blickten in
das Tal, das ihr Wegweiser für die nächste Woche sein würde.
Bisher hatte es noch keine Passagen gegeben, die ihre Qualitäten
als Bergsteiger gefordert hätte. Auch der Abstieg schräg über ein
Eisfeld verlief problemlos, obwohl sie dies in der Nacht nicht gewagt hätten. Sie betraten die Senke nicht ganz, sondern blieben
immer einige Meter oberhalb, denn die dicken Felsbrocken hatten
sich alle in der Mitte des Tals gesammelt und behinderten die
Sicht und auch ein zügiges Vorankommen.
Nur für ihre Nachtlager suchten sie sich eng stehende Steine
aus, damit sie wenigstens während der Nachtruhe von dem
schneidenden Wind verschont blieben. Der frischte in den nächsten Tagen noch weiter auf und obwohl die Sonne kräftig schien,
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was nur mit Sonnenbrillen auszuhalten war, spürten sie ihn unangenehm auf die Haut. Loko lobte die beiden Mayakas einmal
mehr, da sie auf diese Hindernisse anscheinend gut vorbereitet
waren. Sie trugen eine dicke Schicht Wollfett auf ihr Gesicht auf,
so ließ sich der Wind besser ertragen. Dabei zogen sie ihre Kapuzen weit über die Stirn, denn die Sonnenstrahlen sollten das
Fett nicht erreichen.
Nach einer Woche erreichten sie den Paß am Ende des Tals.
Sie befanden sich jetzt auf fünftausend Meter Höhe und blickten
auf ein Plateau, das sich endlos in die drei vor ihnen liegenden
Himmelsrichtungen auszudehnen schien. Das Wetter schlug um;
es gab Schnee und die Temperaturen sanken unter zwanzig Grad
Minus. Sie hatten sich ein windgeschütztes Fleckchen gesucht, an
dem sie zwei Tage verweilten, da in dieser Jahreszeit nicht allzu
lange auf einen Umschwung gewartet werden brauchte.
Allerdings wurden die Nahrungsmittel knapp, was ihnen
allerdings keine großen Sorgen bereitete, denn es konnte nicht
mehr weit sein. Sie streckten die Rationen, da in der Zwangspause
nicht soviel Energie gebraucht wurde. Nachdem sich das Wetter
wieder beruhigt hatte, schritten sie in Richtung Norden weiter.
Tag für Tag änderte sich an dem Landschaftsbild wenig. Das Plateau vor ihnen gab für das nach Abwechslung suchende Auge
nichts her und zum Zurückblicken fehlte ihnen nach so vielen gelaufenen Kilometern einfach die Motivation. Sie kamen an einen
Punkt, wo es nur noch die Gedanken an Durchhalten und Weitermachen gab.
Die dritte Woche verstrich und nun ging es darum, den Eingang möglichst direkt anzusteuern. Dafür benutzten die Mayakas
ein spezielles Gerät, das ein Signal empfing, was vom Tor der
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Stadt ausgesendet wurde. Selbst der Feind konnte diese Impulse
nicht erkennen, denn sie benutzten mentale Energie dafür, dessen
Technik ihm unbekannt war.
Die Erschöpfung der drei machte sich immer deutlicher bemerkbar, doch mit eisernem Willen schafften sie auch den letzten
Teil ihres Fußmarsches. „Wir sind da,“ murmelte Colmo mit aufgesprungenen Lippen und nach Atem ringend an einem Nachmittag am Anfang der fünften Woche.
Loko schnallte den Rucksack ab und stützte sich auf seine
Knie. Seine Füße schmerzten und seine Augen konnten in dem
gleißenden Licht nichts erkennen, als er die Schutzbrille abnahm.
Überall Eis und Felsen um ihn herum; wo war die Stadt, wo der
Eingang?
Keine hundert Meter vor ihnen türmte sich eine Felswand auf.
„Dort,“ keuchte Herbles und deutete auf das Felsmassiv. Zum
letzten Mal schulterte Loko sein Gepäck und die restlichen Meter
wankten sie mehr als das sie gingen. Auch direkt davor konnte
Loko keine Tür sehen, doch empfing er mentale Ausstrahlung, die
von hinter dem Felsen herzukommen schien.
Dann öffnete sich plötzlich wie von Zauberhand ein Spalt in
dem Felsen und ein blauhäutiger junger Mann kam zum Vorschein, der sie aufforderte einzutreten. Die Felsspalte schloß sich
hinter ihnen und ein warmes Licht ließ sie eine Treppe erkennen,
die über zahllose Stufen in die Tiefe führten. Loko seufzte, eigentlich wollte er eine Bemerkung darüber machen, daß ihn das an
Simla erinnere, doch er bekam keinen Ton über die Lippen. In der
Gewißheit das Ziel endlich erreicht zu haben, mobilisierte er die
letzten Kräfte und folgte den anderen abwärts.
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Fast in Trance bekam er mit, wie sie sich in einen Aufzugsschacht begaben und frei von irgendwelchen Hilfsmitteln nach unten schwebten, begleitet von einem glockenähnlichen Ton. An der
Basis des Schachtes angekommen wurden sie von zwei weiteren
blauen Personen in Empfang genommen und zu Quartieren geführt. Dort schliefen sie fast einen ganzen Tag lang; keiner der
drei konnte sich später an einen Traum erinnern, zu tief saßen die
Eindrücke der letzten Tag und zu sehr verlangte ihr Körper nach
Erholung.
Loko traf seine Freunde nach einem erholsamen Schlaf bei
einer ausgiebigen Mahlzeit in einem der Nebenräume wieder.
Jetzt erst merkte er, wie leer sein Magen war. Herbles und Colmo
begrüßten in überschwenglich und erklärten den anderen Mayakas, daß er ein großer Medizinmann in seinem Volk ist. Das
Gespräch wurde in spanisch geführt, was Loko als Ausdruck
besonders gepflegter Gastfreundschaft verstand.
Für die in der Stadt ansässigen Mayakas bedeute es eine willkommene Abwechslung, wenn ihre Angehörigen aus den fernen
Anden zu Besuch kamen. Das passierte vielleicht einmal in
hundert Jahren, um so aufgeregter gaben sie sich. Doch der kleine
Indio stellte natürlich eine besondere Attraktion dar, zumal die
Geistwesen ihn nicht erwähnt hatten. Die Blauhäutigen, die nicht
gerade mit einer wichtigen Aufgabe zu tun hatten, drängten sich
um den Essensraum, um den unerwarteten Gast anzuschauen.
Loko kümmerte die Aufmerksamkeit, die er im Moment erregte keineswegs. Er fragte sich vielmehr, wo sie dieses vorzügliche
Essen wohl herstellten und ob es Gartenanlagen unter dem Berg
gab.
Der Anlaß des Besuches war selbstverständlich allen bekannt;
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Mayakas kennen keine Geheimnistuerei untereinander und schon
gar nicht, wenn sich sich um solche schicksalsweisenden Angelegenheiten handelte. Als Herbles und Colmo sich gerade gesättigt
zurücklehnten, wurden sie schon mit Fragen bestürmt, wie es
wohl weiter gehen solle und ob sie sich der Gefahr des Buches
auch wirklich bewußt sind. Dieses Gespräch wurde in ihrer
eigenen Sprache geführt, was Loko allerdings überhaupt nicht
störte, denn er war noch lange nicht satt.
Der gewählte Anführer der Universitätsstadt gab seinen Bedenken Ausdruck: „Wir werden uns dem Beschluß nicht widersetzen
und euch das Buch aushändigen. Ich brauche euch nicht extra auf
die Gefahr hinzuweisen, sie ist bekannt. Was ist aber, wenn wir
den Feind abgewehrt haben und ein neuer aus den eigenen Reihen
hervortritt?“
Die beiden nickten gleichzeitig und Herbles erwiderte: „Der
Rat ist sich voll darüber bewußt. Der Vorschlag kam von den
Geistwesen und nach Abwägen aller Vor- und Nachteile sahen unsere Anführer keine andere Möglichkeit als das Buch zu benutzen.
Wir haben praktisch nur die Wahl zwischen dem Tod und der
Gefahr durch das Buch.“
Noch einige Zeit währte der Disput und als Loko fertig war
und dem Gespräch lauschte, von dem er kein Wort verstand, konzentrierte er sich auf die Ausstrahlungen der Anwesenden. Das
reichte ihm völlig um total gebannt auf seinem Stuhl zu sitzen und
die um ihn herum Stehenden mit offenem Mund anzustaunen. Er
kam sich vor wie ein kleiner Junge unter lauter Erwachsenen.
Als das Gespräch ins Stocken geriet bemerkte der Anführer Lokos Isolation und meinte auf spanisch: „Entschuldige, ehrwürdiger
Zauberer, wir haben selten Gäste und müssen an unseren
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Manieren bestimmt noch arbeiten. Würde es dich entschädigen,
wenn unsere Schwester Kinyana dich ein wenig herum führt? Sie
spricht ebenfalls spanisch und wird sich bestimmt für all deine
Fragen zur Verfügung stellen.“
Lokos Staunen nahm kein Ende, ein wenig beschlich in der Gedanke im Himmel zu sein. Er fragte sich erst gar nicht wieso das
alles hier möglich war, zweifellos waren diese Wesen Göttern
ähnlicher, als jeder Mensch den er zuvor getroffen hatte. Und das
lag bestimmt nicht an der Hautfarbe.
Kinyana führte ihn durch die verschiedenen Hallen, alle von
atemberaubender Größe. Zwischen den Gewölben befanden sich
Tunnel mit Seitengängen und kleinen Räumen zum Lesen. Er sah
die Bibliothek mit unüberschaubar vielen Regalen. „Das sind nur
die gesammelten Werke der Menschen,“ erklärte sie, „der größere
Teil ist in Kristallen archiviert.“
In allen Räumen und Gängen spürte Loko eine angenehme
Wärme und überall schien dieses warme Licht. Er ging wortlos
und staunend hinter ihr her. Dann kamen sie in den Bereich, wo
das Gemüse gezogen wurde. Der Indio war überwältigt, nie hätte
er geglaubt, daß Pflanzen auch ohne Sonnenlicht wachsen können.
„Wir benutzen ein spezielles Licht für unsere Pflanzen, aber wir
können auch die Sonne herein lassen, wenn die Oberfläche des
Planeten in diesem Bereich nicht gerade von den Satelliten des
Menschen oder des Feindes abgetastet wird.“
Loko schaute sie fragend an. Sie verstand ihn und erklärte:
„Dort oben in der Kuppel des Gewölbes ist eine verschiebbare
Öffnung. Jetzt ist es Nacht und wir müssen die Kälte aussperren.
Doch tagsüber öffnen wir sie, wie gesagt, wenn unser Wächter es
für ungefährlich halten. In der Kuppel befindet sich ein Fernrohr,
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welches wir zur Beobachtung der Sterne und anderen Bewegungen im All nutzen. Allerdings nur zum Zeitvertreib, denn wir
haben andere Geräte, den den Himmel nach dem Feind absuchen.“
„Dies ist doch eine Universität, gibt es denn auch Studenten
hier?“, wollte Loko wissen.
„Wir alle sind zum Lernen hier, sonst würden wir im Laufe der
Jahrhunderte verrückt. Wir geben uns gegenseitig Forschungsaufträge und mehren dadurch unser Wissen. Vor allem die Menschen
- ihre Vergangenheit und ihre Zukunft interessiert uns. Zur Zeit
sind nur etwa zweihundert Mayakas hier - früher gab es mehr zu
tun, als noch tausende in den Quartieren wohnten. Damals waren
auch schon mal Menschen bei uns, die wir unterrichtet haben, um
sie mit einem bestimmten Wissen zurück auf die Erde zu schicken. Bhudda zum Beispiel war einer unserer prominentesten
Gäste. Aber heute in der Endzeit der Menschen spielt es keine
Rolle mehr, wie die Entwicklung bei ihnen weitergeht; sie werden
den Teufelskreis der Dekadenz nicht mehr verlassen.“
Loko kannte diesen Bhudda zwar nicht, aber er war fest davon
überzeugt, daß einige entscheidende Ideen für die Menschheit von
hier ausgegangen waren. „Habt ihr auch Kinder?“, fragte er.
„Nur noch ganz wenige. Bis vor zweihundert Jahren wurden
die Mayakas ständig ausgetauscht mit Angehörigen der Heimstatt,
doch jetzt wo der Feind wieder nach uns sucht, verlassen wir die
Stadt nur selten, vor allem nicht für so weite Reisen. In den Anden
gibt es einige hundert Kinder. Herbles und Colmo zählen übrigens
auch dazu.“
Sie gingen auf einem anderen Weg zurück und Loko hatte kein
Ende der Anlage gesehen. Das mußte eine riesige Stadt unter dem
Felsen sein. Sie setzten sich zu den anderen, die immer noch am
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Debattieren waren. Loko fragte sich gerade, warum ihm seine
Füße eigentlich nicht weh taten, als der Anführer sagte: „Laßt uns
auf spanisch weiter reden, denn unser Freund hier begleitet Colmo
und Herbles auf ihrem Rückweg und er sollte darüber informiert
sein, welchen Plan sie einzuschlagen gedenken.“
Erfreut nahm Loko zur Kenntnis, daß sie zurück nicht so einen
Gewaltmarsch planten, wie auf dem Hinweg. Dann unterrichtete
der Anführer die Reisenden über die Handhabung des Buches.
„Das Siegel des Schreins ist jetzt aufgebrochen; jeder der die
Formel kennt und mit der richtigen Betonung ausspricht, kann das
Buch öffnen. Dann geht die Kraft der Magie sofort auf die Person
über, die es in den Händen hält. Also ist größte Vorsicht geboten.
Sagomaya als oberste Priesterin der Zunft der Magier weiß natürlich was sie zu tun hat, aber ihr als Überbringer unterliegt einer
wesentlich größeren Gefahr. Das Buch lag seit ein paar tausend
Jahren unter Verschluß, wir wissen nicht welche Konsequenzen
sich daraus ergeben, doch bin ich sicher, daß solange ihr die
Formel für euch behaltet, wird das Buch nichts bewirken können.
Somit scheidet auch die Gefahr aus, daß wenn eure Mission scheitert und das Buch vielleicht sogar in die Hände des Feindes fällt,
er selbst das Buch für sich verwendet. Denn es wird ihm nichts
nützen, da er die Formel nicht kennt. - Wir werden es in ein
Wachstuch einschlagen, damit es vor der Nässe geschützt ist.
Nun laßt uns unsere mentalen Kräfte vereinen, damit wir euch
die Öffnungsformel ins Gedächtnis hinterlegen können. Solltet ihr
gefangen oder vielleicht sogar gefoltert werden, um dem Feind
den Sinn des Buches zu verraten, wißt ihr was zu tun ist. Auch du
Loko weißt was ich meine, denn ich kenne nicht nur deine Sprache, sondern auch deine Fähigkeiten.“
406
Loko wußte was er meinte. Die Todesstarre ist eine mental herbei geführte Meditation, die den Körper bis auf ein Minimum einschließlich Atmung und Herzschlag ausschaltet. Natürlich ist man
in diesem Stadium hilflos ausgeliefert, was bei einer Gefangennahme sowieso der Fall ist. Aber sie birgt den Vorteil keinen
Schmerz mehr zu empfinden und kein Mutant vermag in das Bewußtsein einzudringen um Informationen zu entlocken. Der Geist
des Erstarrten überwacht die Situation von außen und wenn er erkennt, daß der Körper keine Chance mehr hat zu überleben, gibt
er ihn frei zum Sterben.
Dieses Verfahren hatte Loko einmal das Leben gerettet, als er
im Dschungel von einem Panther überrascht wurde und sich mit
Hilfe der Starre tot stellte, wobei er innerlich tatsächlich mit dem
Leben abgeschlossen hatte. Anscheinend war der Panther satt oder
er brauchte die Jagd um hungrig zu werden, jedenfalls
schnupperte er nur an dem bewegungslosen Körper und zog dann
seiner Wege.
Der Anführer sprach jetzt weiter: „Sagt bitte Sagomaya, daß
ich sie nicht um ihre Aufgabe beneide, doch hätten die altehrwürdigen Geister die richtige Wahl getroffen. Wenn es einer
schaffen kann, der Verführung der Macht zu widerstehen, so ist
sie es. Wenn ihr keine Fragen mehr habt, so laßt uns jetzt unsere
Kräfte vereinen.“
Die drei Reisenden, der Anführer und zwei weitere Blaue faßten sich an die Hände und bildeten einen Kreis. Augenblicklich
wurde Loko von einer Welle des Lichts erfaßt und sein Geist entschwebte seinem Körper. Kein anderer Gedanke als die Empfindung der Glückseligkeit hatte Platz in seinem Bewußtsein. Er
lauschte einer sanften Melodie und hätte ewig so weiter machen
407
können, doch plötzlich spürte er den Händedruck von Herbles auf
der einen und von Colmo auf der anderen Seite.
Er befand sich wieder in seinem Körper und wußte im ersten
Moment nicht was passiert war. „Möge unser Plan gelingen und
der Feind vertrieben werden; alles andere werden wir ertragen,“
sagte der Anführer.
Sie gingen zurück in ihre Quartiere und packten die Rucksäcke.
Auf einen Teil ihrer Ausrüstung konnten sie verzichten, wodurch
genug Platz für das Buch geschaffen wurde, das wie Loko meinte,
größer war als sein Oberkörper. Colmo übernahm die Aufgabe das
Buch zu tragen. Dann verabschiedeten sie sich und der Anführer
sagte zu Loko: „Ich hoffe, wir sehen uns in besseren Zeiten mal
wieder, denn ich würde gern etwas von deiner Magie lernen.“ Der
Indio fühlte sich geschmeichelt und ordnete die Bitte des Blauen
als Ausdruck von Höflichkeit ein, denn was sollte ein gottähnliches Wesen schon von ihm lernen können.
Sie stiegen die steilen Stufen hinauf, aber gingen nicht zu dem
Eingang, den sie bei ihrer Ankunft benutzt hatten. Zweihundert
Meter weiter, durch einen Seitengang hindurch erreichbar, öffnete
sich eine große Halle. Loko erblickte merkwürdige Gegenstände,
anscheinend komplett aus Gold, als er hinter den anderen als Letzter den Hangar betrat. Sie sahen aus wie große Kanus, mit an
beiden Enden hoch aufragenden flachen Ohren.
„Wir benutzen einen Gong,“ erklärte ihm Herbles, als sie sein
staunendes Gesicht sah. Ein junger Blauer - Loko fiel jetzt erst
auf, daß er überhaupt keine alten Mayakas gesehen hatte - wies sie
an, es sich bequem zu machen. Loko stieg über eine kleine Leiter
in den Bauch des Schiffes und blickte auf einige Geräte, Decken
und Kissen. Nachdem sie Platz genommen hatten, öffnete sich an
408
einer Seite der Halle der Felsen - sofort wurde es unangenehm kalt
und Loko erkannte über den Rand des Schiffes die sternenklare
Nacht.
Der Blaue, der ihnen als Führer zugeteilt war, nahm einen
großen Schlegel und schlug damit sacht gegen das hintere Ohr des
Schiffes. Loko spürte, wie es sich vom Boden abhob und ruhig in
der Luft stand. Wieder schlug der Mayaka gegen das Ohr und das
Schiff bewegte sich langsam aus der Öffnung nach draußen. Dann
erfolgte ein Intervall von vier kurzen Schlägen und der Gong
beschleunigte seinen Flug.
Loko war vollkommen fasziniert von dieser Art zu reisen. Unter der Decke ließ sich die Kälte ertragen und er brauchte nicht zu
laufen. Überhaupt - diese Mayakas hatten schon einige Wunder
auf Lager.
Das Fluggerät bewegte sich nicht besonders schnell, aber es
flog stetig gerade aus. Nach einigen hundert Meter konnte man erkennen, daß es an Höhe verlor. Noch bevor es den Boden berührte, schlug der Lenker des Schiffes wieder mit seinem
Schlegel, worauf der Gong erneut beschleunigte.
Ziel ihres jetzigen Abschnittes war die Straße östlich von Lhazlong. Dort wollten sie abgesetzt werden und das nächst beste
Fahrzeug in Richtung Osten anhalten. Somit würden sie über den
Paß von Darjeeling östlich von Nepal nach Indien gelangen, um
dann in Kalkutta ein Flugzeug zu nehmen. Sie hatten sich für die
längere Variante entschieden, weil sie befürchteten, irgendeine für
den Feind erkennbare Spur auf dem Hinweg hinterlassen zu
haben. Das Risiko dadurch entdeckt zu werden erschien ihnen zu
groß.
409
Aber sie hatten nicht mit der Hartnäckigkeit des Feindes gerechnet. Direkt nachdem die Mutanten blockiert wurden wußten
sie, daß die Blauen in Aktion treten wollten. Doch weil sie keine
Ahnung hatten, wo sich die Mayakas aufhielten, hatte es keinen
Zweck weiter zu suchen. Zuerst glaubten sie, die Mutanten
würden ihren Dienst verweigern und als Motivation für die
anderen töteten sie sogar zwei. Einer der Fähigeren unter den
Sklaven klärte seine Herren über den Block auf, der von irgendeiner unbekannten Macht über sie verhängt war.
Darauf hin beschlossen die Generäle des Feindes neue Mutanten anzufordern, was mehr als vier Wochen in Anspruch nahm.
Dann setzten sie die neuen Sklaven auf mentale Aktivitäten auf
der Erde an. Die Geistwesen der Mayakas konnten nicht so
schnell reagieren und alle Neuankömmlinge sofort unter ihre Kontrolle bringen. So dauerte es eine Weile, bis sie den Block komplett erneuert hatten.
Diese Lücke nutzten die hörigen Mutanten, um ihre Informanten unter den Menschen abzufragen. Sie fanden nur einen
brauchbaren Hinweis. Der unbedarfte Inder in der Nähe des Campingplatzes im Norden von Delhi hatte drei Wesen beobachtet,
wovon zwei angeblich keine Menschen waren. Als die Geistwesen
den Block wieder errichtet hatten, waren die Späher schon unterwegs, um den Himalaja abzusuchen. Sie wußten, ein günstiges
Versteck für die Unsterblichen konnte sich nur in der Einöde befinden und sie konzentrierten ihre Observierung mit den Geräten,
die sie zur Verfügung hatten auf den Himalaja und das Hochland
von Tibet.
Dann sahen sie eines Tages den Gong, der in einer sternenklaren Nacht in südöstlicher Richtung schwebte. Ein Beiboot
410
wurde los geschickt um den Gong mit einem Traktorstrahl einzufangen und an Bord zu nehmen. In der Kommandozentrale des
feindlichen Schiffes befand man sich in heller Aufregung und
Vorfreude. Zum ersten Mal seit tausenden von Jahren, in denen
Generation um Generation diesen verfluchten Planeten absuchten,
bestand endlich die Chance, sie in die Hände zu bekommen.
Die Reise im Gong, die Loko wie Sprünge über lange
Distanzen vorkam, währte schon zwei Stunden. Noch zwei weitere und sie hätten die Straße erreicht. Sie machten sich keine
Sorgen über den Rest der Rückreise, denn die Beobachter in
Argartha hatten keine Aktivitäten des Feindes ausmachen können.
Das gerade in diesem Moment die Geistwesen am Kristall in der
Stadt Alarm schlugen, konnten sie nicht wissen.
Doch Loko hatte plötzlich seine Freude an der Reise verloren.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus,
was er den anderen sofort mitteilte. Als erfahrener Medizinmann
wußte er, daß Unheil auf sie zukam. Sie nahmen die Warnung des
Zauberers ernst und baten den Gongführer das Schiff in ein Versteck zu steuern. Diese Fluggeräte sind allerdings sehr träge, was
ihre Manövrierfähigkeit betrifft. Den gerade ausgeführten Sprung
kann man nicht abbrechen; man muß erst warten, bis sich das
Schiff wieder zur Erde senkt.
Gerade als sie sich im Abwärtsflug befanden sahen sie das Beiboot des Feindes auf sich zukommen. Der Gongführer hatte eine
Plazerhandwaffe an Bord und zielte damit auf das feindliche
Schiff. Er traf nur den Schutzschild und die Antwort kostete ihn
das Leben. Ein gleisender Strahl trennte seinen linken Arm und
einen Teil seines Körpers ab und traf zudem das hintere Ohr des
411
Gongs.
Das Schiff fing an zu trudeln und stürzte die verbliebenen
zwanzig Meter auf einen schrägen Hang. Dadurch verminderte
sich die Aufprallwucht, doch für die Insassen gab es kein Halten
mehr. Herbles wurde genau wie Colmo aus dem Bauch des Schiffes geschleudert. Sie flog auf einen Geröllhang, schlug beim
Abwärtsrutschen mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor das
Bewußtsein. Colmo erging es nicht besser, er landete etwas weiter
seitlich auf einem Eisfeld und rutschte fast hundert Meter abwärts,
bis er in einem immer enger werdenden Spalt gestoppt wurde. Er
klemmte so fest, daß er aus eigener Kraft nicht mehr frei kam.
Loko hatte sich an den Rucksäcken festgeklammert und als der
Gong schräg auf den Hang aufschlug, federte die Unterlage seinen
Aufprall ab. Das Schiff kippte um und begrub Loko unter sich. Es
rutsche noch einige Meter den Hang runter, wobei es einen
Haufen kleinerer Steine zusammen schob. Auch innerhalb des
Schiffsbauches häuften sich die Gesteinsbrocken bei dieser letzten
Bewegung des Gongs an, so daß Loko vollständig verschüttet
wurde.
Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte überlegte er, was
zu tun sei. ,Als erstes muß ich mich um die beiden kümmern,'
dachte er. Doch in diesem Moment hörte er Stimmen und
höhnisches Gelächter. Er verstand nicht, was sie sagten, doch ihre
Bewußtseinsinhalte waren überaus böse. Loko rührte sich nicht
und hielt sich an den drei Rucksäcken fest, um ja kein Geräusch
zu machen.
Minuten vergingen in knisternder Spannung; es war nur gut,
daß er genug Luft unter den Steinen bekam, was ihm die Gewißheit gab, nicht allzu tief darunter zu liegen. So fanden sie den In412
dio nicht, sie gaben sich mit den beiden weißhäutigen Mayakas
zufrieden; den Blauen ließen sie einfach liegen, denn tot nützte er
ihnen nichts.
Weitere fünf Minuten verstrichen, von den Feinden war nichts
mehr zu hören. Loko versuchte seine Arme zu bewegen, doch das
Gewicht der Steine verhinderte es. Hilflos stellte er fest, daß überhaupt keine Bewegung möglich war. Hinzu kam jetzt auch noch
die bittere Kälte. Der Indio dachte fieberhaft nach, wie er sich aus
dieser Lage befreien konnte.
Er versuchte abzuschätzen, welche weiteren Aktionen vom
Feind zu erwarten waren, denn aus Colmo und Herbles würden sie
nichts heraus bekommen. Vielleicht würden sie sogar auf die Idee
kommen, den Flug des Gongs, der annähernd schnurgerade
verlaufen war zurück zu verfolgen. Auch wenn sie nicht wissen
konnten, wo sich der Ausgangspunkt der Reise befand, geriet
Argartha trotzdem in Gefahr. ,Bestimmt finden sie, wenn sie mit
ihren Geräten nur genau genug untersuchen, die Hohlräume im
Berg,' dachte er, ,dann es es um die Götter geschehen. Vielleicht
verhören sie aber auch erst die beiden Freunde aus den Anden, sicher glauben sie mit ihren Mutanten etwas entlocken zu können.
Also bleibt mir noch ein wenig Zeit.'
,Und wenn sie beides tun?', grübelte er weiter, ,dann würde
niemand mehr herausfinden, daß in dieser trostlosen Gegend ein
kleiner, aber sehr toter Indio liegt, mit der Waffe unterm Bauch,
die den Feind hätte aufhalten können. - Das Buch, genau, das ist
die Lösung.'
Ohne weiter nachzudenken versenkte er sich in Meditation und
sucht nach der Formel zur Aktivierung des Buches. Er fand die
Melodie, die von den Mayakas in seinem Unterbewußtsein hin413
terlegt war und begann sie in Gedanken zu singen. Es geschah
nichts. Dann summte er sie leise vor sich hin und auf einmal spürte er eine nie dagewesene Kraft in sich wachsen. Er hatte die mentale Sperre des Buches überwunden.
Sein Verstand arbeitete absolut präzise und die Kraft die er
spürte, zog ihn auf eine Ebene grenzenloser Macht. Er wußte daß
er alles vermochte, was ihm in den Sinn kam. Auf einmal wurde
ihm klar, warum die Mayakas im alten Ägypten dem Buch
erlegen waren. Doch es lag nicht an dem Buch, sondern vielmehr
an ihrer eigenen Schwäche der Verführung der Macht nicht widerstehen zu können.
Loko vermochte dieser Verführung spielend Stand zu halten,
denn seinem Charakter waren Gedanken und Träume über andere
zu herrschen fremd. Seine gesamte Erziehung basierte auf dem
unumstößlichen Wissen, daß nur ein Einklang mit der Natur
einem Menschen Befriedigung bringt; alle Verschiebungen hin
zum Ungleichgewicht, wie etwa das Herrschen über Menschen,
kam in seinem Denken nicht vor. Ohne Gefühl von Selbstgerechtigkeit oder Triumph stellte er fest, daß die Art wie die Indios
leben, wesentlich besser geeignet ist zum Seelenfrieden zu gelangen und daß alles was er bisher getan hatte richtig war.
Plötzlich vernahm er eine Stimme in sich: „Lokosinya, das
Schicksal hat dich zum Retter der Mayakas bestimmt. Wir werden
dir als Ohren dienen, falls du unsere Hilfe überhaupt noch benötigst.“
Loko grüßte die Geistwesen und dankte für ihr Angebot. „Das
kann auf keinen Fall schaden, schließlich gehöre ich genauso
wenig zu den Göttern wie die Mayakas.“
Jetzt verspürte der Indio seine Wut auf die Feinde, die sich sei414
ner Freunde bemächtigt hatten und in grausamster Weise verhören
würden. Nein, das sollte nicht geschehen.
Er brauchte nicht darüber nachzudenken, wie er vorzugehen
hätte - er dachte einfach daran und schon geschah es. Augenblicklich stand er mit Colmos Rucksack vor dem Bauch neben dem
Steinhaufen. Den Gong hatte der Feind mitgenommen und das
Beiboot war nirgendwo zu sehen. „Zeigt mir wo sie sind,“
forderte er die Geistwesen auf.
Nachdem er das Bild der Zelle im Beiboot sah, welches sich
auf dem Rückweg zum Mutterschiff befand, versetzte er sich in
Gedankenschnelle dort hin. Er rematerialisierte direkt hinter Colmo, der auf dem Boden saß und die Wunde an Herbles Kopf versorgte. Sofort wurde dem jungen Mayaka die Anwesenheit des
jetzt noch mächtigeren Zauberers gewahr. In Gedanken sprach der
Indio zu ihm: ,Mach dir keine Sorgen Colmo, es wird alles gut.'
Dann offenbarte er ihm seinen Plan und Colmo fühlte sich
erleichtert. Er lehnte sich zurück und Loko erkannte, daß sein
Freund ebenfalls einige, wenn auch leichtere Verletzungen davon
getragen hatte. Der Indio legte seine Hand auf den Kopf von
Herbles und sofort wachte sie auf. „Du kannst ihr den Verband
wieder abnehmen.“
Jetzt kümmerte er sich um Colmo, um seine Verstauchungen
und Schürfwunden zu behandeln. Herbles stellte keine Fragen, sie
wußte augenblicklich was passiert war und daß Loko Colmos
Rucksack nicht ohne Grund vor seinem Bauch hielt. Ihr fiel in
diesem Moment die Bank in Huancayo wieder ein und empfand
tiefe Dankbarkeit, daß das Schicksal diesen prächtigen Indio ihnen über den Weg hatte laufen lassen. ,Man muß halt die Zeichen
zu lesen verstehen und die Gelegenheit beim Schopf packen,'
415
dachte sie.
Derweil hatte Colmo den Verband gelöst und starrte
verwundert auf ihre unbeschädigte Stirn, die vorhin noch stark
blutete. Herbles schaute ihn an und auf einmal schien die
Anwesenheit des Zauberers mit seiner mächtigen Ausstrahlung
nur noch Nebensache zu sein. Denn ihr Gefühl für den Mayaka
hatte sich in innige Zuneigung verwandelt; pure Liebe lag in ihrem Blick und Colmo empfand genauso. Eine Ewigkeit hätten sie
sich so weiter anschauen können und nichts - weder der Ort noch
das Buch konnte sie ablenken.
Loko als stiller Beobachter der Szene mußte grinsen. ,Liebe ist
der mächtigste Zauber dieser Welt,' dachte er. Als Herbles sich
aufrichtete, immer noch auf Colmos Augen fixiert sagte sie: „Ich
möchte immer an deiner Seite sein, Colmo.“
Sie umarmten sich und er flüsterte ihr ins Ohr: „Wir gehören
zusammen, wir gehen niemals mehr auseinander.“
Loko fand es etwas peinlich, weiterhin Zeuge ihrer Liebesbezeugungen zu sein und zog sich in die Ecke der Zelle zurück. Somit hatte er Gelegenheit sich auf das Beiboot zu konzentrieren,
die Gedankeninhalte der Besatzung zu überprüfen und abzuwägen, in welcher Reihenfolge sein mit Colmo abgesprochener Plan
umzusetzen sei.
Dabei machte er ein paar unerwartete Entdeckungen, die sie
vorher nicht voraus sehen konnten. Der Feind kannte keine
eigenen mentalen Kräfte; sein Bewußtsein war so abgestumpft
durch Befehlsausübung und Unterwürfigkeit gegenüber Oberen,
daß kein Platz mehr für eigene Gedanken verblieb. Das was die
Herren sagten war Gesetz. Und sie glaubten, daß andere Rassen in
der selben Art miteinander umgehen würden. Mutanten waren für
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sie Abartige, mit denen man umspringen konnte, wie man wollte,
man zählte sie nicht zu den achtenswerten Kreaturen. Den Maykas
die sie verfolgten, trauten sie demnach auch keine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu und ihre Unsterblichkeit oder auch die gedankliche Blockade der Sklaven konnte nur durch Geräte hervorgerufen sein.
Sie glaubten tatsächlich die drei von dem Inder beschriebenden
Reisenden erwischt zu haben und freuten sich schon auf das Lob
ihrer Herren. Sie machten sich auch keinerlei Gedanken darüber,
warum die zwei Überlebenden aus dem merkwürdigen Flugobjekt
weiße Hautfarbe hatten und der Tote hingegen blau aussah. Das
würden ihre Herren schon aufklären, vielleicht handelte es sich
dabei um eine Tarnung.
Loko ging die unterwürfige Haltung der Beibootbesatzung auf
die Nerven, sie schienen nur dafür zu leben nach oben zu kuschen
und nach unten zu treten. ,Was für ein Volk,' dachte er. Doch auf
einmal spürte er sogar Mitleid für die verletzten Seelen. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß die Menschen auf der Erde auch
nicht viel anders einzuschätzen sind. Der Unterschied bestand lediglich in der Tatsache, daß die Menschen nichts von dem
hieraischen System merken, sondern von sich aus alles mitmachen, was ihnen nahegelegt wird.
Das Beiboot dockte am Mutterschiff an und Loko spürte die
Anwesenheit der Mutanten. Es waren alles verängstigte Wesen,
die mit irgendwelchen Druckmitteln für die Zwecke dieser Rasse
gefügig gemacht wurden. Anscheinend waren sie sich ihrer Macht
gar nicht bewußt und glaubten nicht daran, sich mit Hilfe ihrer Fähigkeiten aus den Klauen des Feindes befreien zu können.
Loko nahm sich jeden Einzelnen vor und gab ihnen den Befehl
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sich nichts anmerken zu lassen. Sie spürten die Gegenwart der
übermächtigen Kraft an Bord des Schiffes und waren ohne
Widerstand bereit, den Befehlen des Indios zu folgen. Sie erkannten überdies die ehrliche Gesinnung und glaubten sofort daran,
daß ihnen ihre Freiheit zurückgegeben wird.
Die Gefangenen wurden abgeholt um sie den triumphierenden
Anführern zu präsentieren. Loko hatte sich in den Zwischenraum
begeben und war somit unsichtbar für die Außerirdischen. Als
Herbles und Colmo eng umschlungen vor die versammelten
Generäle traten, fielen die Mutanten flach auf den Boden und
riefen in tiefer Demut: „Die Götter sind zurückgekehrt, die Götter
sind unter uns.“
Loko hatte sie um dieses Verhalten gebeten, was enorme Unsicherheit bei den Oberen des Feindes auslöste. „Was soll das?“,
schrie der oberste Befehlshaber.
„Auf die Knie, du Wurm,“ donnerte Colmo, der sich von Loko
führen ließ. Der Indio hatte die Stimme so modelliert, daß sie sich
wie ein Donnergrollen anhörte. Es war allerdings ein hypnotischer
Impuls darin hinterlegt und der Alien hatte keine Chance dem zu
widerstehen. „Ihr auch,“ herrschte Colmo die anderen an. Sie taten ihrem Anführer gleich. Dann erlebten sie in den nächsten Minuten das wahre Fegefeuer der Hölle in ihren Gedanken. Noch nie
hatten sie so eine Pein empfunden, noch nie solche Angst verspürt.
„Ihr werdet jetzt nach Hause fliegen und eueren Oberen berichten, was sie erwartet, wenn sich einer von euch noch mal hier blicken läßt. Aber zuvor bringt ihr diese armen Wesen zurück auf
ihre Heimatplaneten und ihr werdet sie großzügig für ihre Dienste
entschädigen. Sollten sie nicht zufrieden sein, werden sie uns das
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mitteilen und dann gibt es keine Gnade für euch. Dann wird alles
wahr werden, was ihr jetzt nur in Gedanken sehen konntet. Sollte
jemals irgend jemand von eurer Rasse diesen Planeten hier besuchen, so erwartet ihn der sichere und qualvolle Tod.“
Und wieder ließ sie Loko die grausamen Bilder von Schmerz
und Tod auf ihren Bewußtseinsschaubildern sehen. Dann hinterlegte er eine Erkenntnis in ihren Gedächtnisspeicher, daß sie
übermächtige Götter angetroffen hatten, die zu bezwingen absolut
unmöglich ist. Die Aliens wimmerten und flehten um Gnade, sie
würden unter keinen Umständen je wieder auf diesen Planeten zurück kehren. Was ihre Vorgesetzten auf ihrem fernen Heimatplaneten daraus schließen werden, konnte Loko nicht voraus
schauen.
Er näherte sich dem Liebespaar und forderte sie auf, sich vor
und hinter seiner unsichtbaren Gestalt aufzustellen und ihn zu umarmen. Dann löste sich ihre Materie auf und die Besatzung des
feindlichen Schiffes war erleichtert, als die beiden Götter endlich
verschwanden. Sofort starteten sie den Rückflug und brachten die
Mutanten in ihre Heimat.
Die drei Reisenden mit nur noch einem Rucksack zwischen
sich rematerialisierten an der Flußbiegung, wo das Kanu der
beiden Mayakas versteckt lag. Loko hatte diesen Ort gewählt,
weil er ihn in der Erinnerung der beiden ausmachen konnte. Ohne
zu zögern legte er den Rucksack mit dem Buch auf den Boden am
Rande des Flusses und sprach die Zauberformel zum Versiegeln.
Es hatte jetzt wieder die gleiche mentale Abschirmung wie vorher.
„Hier nehmt es schnell an euch, bevor ich es mir anders überlege,“ sagte Loko und gab Colmo den Rucksack. „Sagt Sagomaya
es soll verschlossen bleiben, es sei denn der Feind kommt zurück.
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Es ist wirklich genauso gefährlich, wie ihr vermutet hattet.“
Herbles hatte sichtlich Probleme die letzten Minuten zu ordnen. Noch vor zwei Stunden saßen sie im Gong, dann der Angriff
des Feindes und ihre Bewußtlosigkeit und plötzlich standen sie
hier und die Reise war vorbei. „Mein Freund, wie sollen wir dir
danken? Aber um ehrlich zu sein, ich weiß noch gar nicht genau,
was eigentlich passiert ist - es ging alles so schnell. Du hast das
Buch benutzt und mir kam es so vor, als wenn es für dich genauso
einfach wäre wie ... wie Nase putzen.“
„Was ist Nase putzen?“, wollte Loko wissen. Alle mußten lachen. „Wie ihr mir danken sollt? Oh, da hätte ich schon ein paar
Einfälle. Fangt doch zum Beispiel damit an viele kleine Mayakas
zu zeugen. Und vor allem besucht mich in unserem Dorf. Aber
vergeßt bitte nicht, meine Zeit läuft schneller ab als eure.“
Nun war der Augenblick des Abschieds gekommen. Sie trennten sich in der Gewißheit sich bald wieder zu sehen. Herbles und
Colmo befreiten ihr Kanu aus dem Dickicht und paddelten Strom
aufwärts nach Süden, ihrer Heimstatt entgegen.
Loko ging zurück an die Straße und wartete sechs Stunden geduldig auf einen Bus, der ihn nach Iquitos brachte. Zwei Tage
später ließ er sich von einem Flußdampfer in die Region mitnehmen, wo er zu Hause war und weitere drei Tage Fußmarsch
brachten ihn in sein Dorf.
Mit großem Hallo und Freudestänzen wurde er begrüßt. „Weißt
du Loko,“ sagte der Häuptling des Stammes, „vor einigen Wochen
sind die Götter zurückgekehrt und haben die Holzfäller vertrieben.
Die haben sogar eine Entschädigung für die bereits geschlagenen
Bäume gezahlt. Es war wie ein Wunder. Doch das merkwürdigste
daran war, daß sie behaupteten, du hättest sie geschickt. Das
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haben wir natürlich nicht geglaubt, aber komisch war es schon.“
„Ach,“ meinte der Medizinmann, „das ist wirklich eigenartig,
das müßt ihr mir genauer erzählen. Meine Reise war eher langweilig und ich bin ganz gespannt auf eine interessante Geschichte.“
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G., 2004
7. Die lustigen Leute von Rosbach
„Dies ist eine Insel, mein Junge,“ sagte der alte Mann zu dem
Knaben. Seine linke Hand legte sich auf die Schultern des Kindes,
die rechte stützte sich auf den Krückstock. Sie schauten in Richtung Dorf und empfanden beide ein heimisches vertrautes Gefühl
bei diesem Anblick.
„Wir haben so lange ich zurück denken kann genau wie meine
Eltern und deren Eltern dafür gekämpft, daß uns diese Insel erhalten bleibt. Unsere Hoffnung ruht auf den Jungen. Bewahre diese
Ruhe jetzt in dir, mein Kleiner und gebe Gott dir die Kraft zu erkennen, welchen Wert diese Insel hat, - für dich und alle anderen
im Dorf.“
Der Junge seufzte und der alte Mann tat es ihm nach. Sein
Blick strich über die Landschaft und streichelte die grünen bewaldeten Hügel, er schärfte sich beim Betrachten der Felder und
anderer bebauter Flächen und entspannte sich wieder, als er beim
baufälligen Kirchturm des Ortes Rosbach stehen blieb.
Die beiden ungleich alten Männer gingen weiter und genossen
die Eindrücke eines schönen Sonnentages im Sommer. Langsam
schritten sie auf dem ausgetrockneten Feldweg dem im Tal
liegenden Dorf entgegen. Überall um sie herum summte es und
die Vögel zwitscherten dazu. Ab und zu hörte man eine Kuh, kein
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anderes Geräusch störte ihren Gang, auch nicht das Geschrei ausgelassener Kinder, das sie beim Näherkommen immer deutlicher
vernehmen konnten.
Frank Wolff, so hieß der Junge, zog es zum Teich, wo die
anderen spielten; und Großvater wollte noch auf ein Gläschen
beim Pfarrer vorbeischauen. „Bis heute abend, Opa Hubert,“ rief
der zehnjährige, als er schon an den ersten Häusern des Dorfes
vorbei rannte. ,Bald sind die Sommerferien vorbei,' dachte der alte
Mann bei sich, ,dann hat das Spielen wieder ein Ende.'
Bei Oma Leni, die im Vorgarten ihres Hauses beim Strümpfe
stricken saß blieb er stehen, um ein bißchen zu quatschen. „Ja ja,“
sagte sie, „die Kinder sollen's ruhig genießen; nicht jeden Sommer
ist das Wetter so schön.“
„Du hast recht, Leni,“ erwiderte Opa Hubert, „ein Ausnahmesommer ist das. Viele werden wir nicht mehr erleben. Hab' ich
schon meinen Kindern gesagt.“
„Ja ja, nicht mehr viele. Zum genießen hat uns der Herr den
Sommer geschickt.“
„Du sagst es,“ meinte der Großvater und verabschiedete sich,
um weiter in Richtung Kirche zu gehen.
Die Stimmung im Gotteshaus war weniger sommerlich; düstere
Wolken schienen über den Anwesenden zu hängen. Noch ehe Opa
Hubert dort eintraf unterhielten sich Pfarrer Konrad, der Schulmeister Lehmann und der Ortsvorsteher Zöller über den geplanten
Besuch des Landrats. Zöller meinte gerade: „Ach, das ist doch
immer dasselbe. Wir sollen uns endlich der Zivilisation anschließen. Auf den Grundstücken die sie von uns haben wollen,
soll die neue Umgehungsstraße der Verbandsgemeinde gebaut
werden. Dann werden wir angebunden, was dazu führt, daß Inves424
toren angelockt werden, die am Dorfrand irgendwas an Geschäften, Supermärkten oder was weiß ich alles bauen können.“
Opa Hubert betrat die Kirche und setzte sich zu den anderen in
die vordere Bank. Zöller nahm nicht wirklich Notiz von dem alten
Mann und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wie lange wir uns in der heutigen Zeit noch dagegen wehren können. Habt ihr eigentlich eine
Ahnung davon, was da draußen los ist in der Welt?“
„Wer will das wissen?“, warf Pfarrer Konrad ein. „Es reicht
doch aus, was unsere Leute so in Erfahrung bringen können, wenn
sie mal in die Stadt müssen. Und die Jüngeren, die notgedrungen
die ganze Woche außerhalb sein müssen sind froh, wenn sie
wieder hier sind - da ist nichts zu berichten, was für uns interessant wäre. Außerdem ist der Landrat sowieso nur auf Stimmenfang aus; den interessiert es doch überhaupt nicht, was aus dem
Dorf wird - und das was wir wollen schon überhaupt nicht.“
„Genau,“ meldete sich nun auch Schulmeister Lehmann, „wo
war er denn, als wir für die Schulkinder die Anbindung des Schulbusses brauchten. Das haben wir selbst durchgesetzt und kein
Landrat hat uns geholfen. Weil nämlich keine Wahlen waren zu
der Zeit.“
„Ja ja,“ meinte Opa Hubert lakonisch, „ wer die Wahl hat, hat
die Qual.“
Zöller schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Ach
Hubert, wir sind hier in einer ernsthaften Debatte. Flotte Sprüche
helfen uns auch nicht weiter.“
„Ich weiß gar nicht, warum ihr euch so aufregt,“ entgegnete
darauf der alte Mann, jetzt etwas sachlicher, „wir machen das wie
immer. Wenn der nach Hause geht, wird er noch nicht einmal daran denken, daß es hier irgend etwas für ihn zu holen gibt. Und
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meine Stimme kriegt er sowieso.“
„Ich will ja nur sagen, daß es da draußen nicht mehr so wie früher ist. Ich bin ja öfters in der Stadt als ihr und weiß wovon ich rede. Wir sind denen ein Dorn im Auge und sie werden vielleicht zu
Mitteln greifen, denen wir nicht gewachsen sind.“
„Was für Mittel?“, wollte der Schulmeister wissen.
„Ich hab' da so was läuten hören, daß hörte sich ganz so wie
Enteignung an - natürlich in etliche Paragraphen gekleidet.“
Plötzlich lachte Opa Hubert laut auf. „Wißt ihr noch, als vor
vier Jahren die Sheriffs aus der Stadt kamen um uns mitzuteilen,
daß der Brunnen geschlossen ist und wir kein Wasser mehr daraus
holen dürfen?“
Der Pfarrer und der Schulmeister stimmten in sein Gelächter
ein. „Ja genau,“ ergötzte sich Konrad an dem Bild, daß er anscheinend noch lebhaft vor den Augen hatte, „den einen haben wir
sogar aus dem Teich fischen müssen, weil er von Leni's Obstwein
so besoffen war, daß er glaubte in einem Stausee baden zu gehen.“
„Und vor allem die Geschichte, als sie am nächsten Tag ihren
Streifenwagen abholten,“ ergänzte Lehmann die Episode, „die
Gesichter werde ich nie vergessen.“
„Lieber Franz Zöller,“ sagte Opa Hubert, nachdem er sich
wieder etwas unter Kontrolle hatte, „die Stadt hat einen schlechten
Einfluß auf dich. Vielleicht solltest du den Job einem anderen
übergeben, um dich hier im Dorf auf dich selbst zu besinnen“
Ortsvorsteher Zöller schien etwas in sich gekehrt zu sein und
meinte: „Ich wollte euch ja nur warnen. Im Übrigen sind die Zuschüsse für die Grundschulsanierung gestrichen; die Stadt hat kein
Geld mehr und das Land schon gar nicht. Man überlegt eine Überprüfung, ob die betreffenden Kinder nicht in die Stadt gebracht
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werden können, wenn die Grundschule nicht mehr den baulichen
Bestimmungen entspricht.“
„Dann reparieren wir die Schule eben selbst und zum Prüfen
kann kommen wer will. Den wissen wir schon richtig zu nehmen,“
ereiferte sich Lehmann. „Die sollen doch zufrieden sein, daß wir
die älteren Schüler in die Stadt schicken,“ fügte er hinzu.
„Ich hoffe, daß nicht noch etwas unvorhergesehenes passiert.
Bleibt es beim Treffen heute abend beim Bauern Jung?“, wollte
Zöller wissen.
„Alle wissen Bescheid, warum also nicht?“, gab Pfarrer Konrad zu verstehen.
„Dann bis nachher. Ich hab' noch was in der Stadt zu erledigen.“ Dann verabschiedete sich der Ortsvorsteher und stieg in
sein Auto, daß vor der Kirche geparkt war.
„Vielleicht hast du recht Hubert,“ grübelte Konrad, als Zöller
gegangen war, „er ist in letzter Zeit gar nicht mehr richtig froh.“
Der Wagen von Zöller bog um die Kurve beim Feuerwehrhaus
und holperte den Feldweg runter, entlang der Wiesen von Bauer
Jung, bis es den geteerten Teil erreichte, wo sich die Bushaltestelle für die Schulkinder befand. Dort konnte er beschleunigen
und verschwand in Richtung Stadt.
Zöller's Auto war eines von den drei angemeldeten Straßenfahrzeugen, die es in Rosbach gab. Ein weiteres gehörte dem Doktor des Ortes, der eigentlich Quast hieß, den sie aber liebevoll
Quak nannten in Anlehnung des Begriffes Quaksalber. Doch als
solchen kannten sie ihn ganz und gar nicht. Er genoß dieselbe
Achtung wie alle anderen auch im Dorf, die ihre Berufen nach
bestem Wissen ausübten. Er brauchte den Wagen nur, um Medikamente aus der Stadt zu holen, falls er mal welche benötigte. Das
427
geschah allerdings höchst selten, denn in Rosbach wurde fast nie
jemand krank.
Das dritte Auto war ein alter Kleinbus, den sich die Dorfbewohner vor Jahren einmal gemeinsam angeschafft hatten. Früher
benutzten Sie ihn für gemeinsame Ausflüge, doch stand er jetzt
verlassen auf dem Hof von Bauer Jung und rostete vor sich hin.
Nur ab und zu, wenn es sich nicht vermeiden ließ, fuhren sie damit in die Stadt. Doch den eigentlichen Sinn erfüllte das Fahrzeug
nicht, denn niemand aus Rosbach zeigte Interesse an Ausflügen.
Die knapp zwanzig arbeitsfähigen Männer des Dorfes gingen
alle ihrem erlernten Handwerk nach. Aber keiner, außer dem Ortsvorsteher und den sich derzeit in Ausbildung befindenden jungen
Leute, arbeitete außerhalb von Rosbach. Vor allem, keiner zahlte
irgendwelche Steuern, denn niemand von ihnen erhielt Lohn für
seine Arbeit. Sie waren als Freiberufliche gemeldet und brauchten
auch gar kein Geld, da es für alle genug zu essen gab und die
anderen Dinge des Lebens auch nichts kosteten.
Die Dorfbewohner halfen sich gegenseitig, ob es sich dabei
nun um Arbeit in dem einzigen landwirtschaftlichen Betrieb von
Bauer Jung handelte, um Ausbesserungsarbeiten an den Häusern
oder einfach nur um Holz machen. Selbst der Ertrag des Bauernhofs wurde nicht nach außerhalb verkauft, die Einwohner teilten sich alles.
Weil sie keine Steuern entrichteten wunderte es auch nicht, daß
zum Beispiel die Dorfstraße nie ausgebessert worden war. Der geteerte Teil der Landstraße begann an der Ecke von Bauer Jung's
Kartoffelacker, dort wo die Kinder in den Schulbus stiegen - und
das lag fast einen Kilometer entfernt vom Dorf. Allerdings störte
sich niemand aus Rosbach an dem Zustand der Straße.
428
Auch Straßenlampen brannten nicht in Rosbach, man ging halt
mit der Laterne, wenn das Licht nicht mehr ausreichte. Selbst das
Stromleitungsnetz der städtischen Versorgungsbetriebe wurde
kaum genutzt. Der einzige Stromzähler der sich drehte gehörte
dem Ortsvorsteher. Der besaß sogar ein Fernsehgerät, einen
Computer und Telefon. Sonst brauchte niemand aus dem Dorf
diese Errungenschaften der Zivilisation. Und selbst Zöller benutzte diese Dinge nicht zu seinem Vergnügen, sondern es war ein
Teil seiner Aufgabe im Dorf.
Zöller verkörperte die Ausnahme in Rosbach. Er ging als
Verwaltungsangestellter einem bezahlten Beruf nach. Seine Aufgabe bestand aber eigentlich mehr darin, Informationen von außen
zu besorgen, damit das Dorf beabsichtigte Veränderungen früh
genug erfuhr.
Andere Vorzüge der Wohlstandsgesellschaft, die allgemein geschätzt werden und meist gar nicht mehr weg zu denken sind, wie
etwa eine Kanalisation, hatten das Dorf nie erreicht. Natürlich gab
es mal Phasen, vor allem wenn in den zuständigen Behörden neue
Beamte für Ordnung sorgen wollten, wo solche von ihnen als
Mißstände empfundenen Dinge vehement angemahnt wurden.
Ganze Scharen von diensteifrigen Verwaltungsangestellten mit
etlichen Sachverständigen und unvermeidlichen Politikern im
Schlepptau hatten das Dorf besucht, um die mittelalterlichen Zustände zu bereinigen. Doch merkwürdiger Weise wurden ihre
Anliegen grundsätzlich zu den Akten gelegt und bis zum nächsten
Ansturm eines die Mißstände anprangernden neuen Trupps
vergessen.
Besonders eifrig verhielten sich die Finanzbehörden, die einmal jährlich mit einigen Leuten vorbeischauten um Maßnahmen
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anzudrohen, wenn nicht endlich Grundsteuern bezahlt würden.
Auch diese Vorstöße verliefen im Sande, sobald sie das Dorf verließen. Ging eine Vorgang mal so weit, daß Zwangsvollstreckungen unausweichlich wurden, sorgte der Ortsvorsteher stets
dafür, das Dorf und den Betroffenen frühzeitig darüber in Kenntnis zu setzen. Dann wurde die geforderte Summe auch tatsächlich
gezahlt und niemand fragte mehr danach, woher das Geld kam.
Selbst die Presse hatte versucht die Eigentümlichkeit von Rosbach mittels eines vor Ort recherchierten Berichtes der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Es blieb bei dem Versuch; nicht eine Zeile verkündete, was man im Dorf vorgefunden hatte.
Die hartnäckigsten Vertreter, die den Sonderstatus der abgelegenen Dorfgemeinschaft abzuschaffen versuchten, kamen von
den Krankenkassen. Denn alle Handwerker aus Rosbach waren als
selbständig gemeldet, doch keiner zahlte Beiträge. Die ständig
wechselnden Sachbearbeiter kamen regelmäßig zu dem Schluß,
wenn sie ihre Unterlagen durch sahen, daß ein Versicherungsschutz nicht gerechtfertigt sei. Sie schrieben Briefe um Briefe und
gaben sich auch nicht damit zufrieden, daß gar keiner aus Rosbach irgendeine Zahlung beanspruchte. Letztlich blieb es bei
dieser Art des Verwaltungsvorgangs und die Post, die der Ortsvorsteher vom Postamt aus der Stadt mitbrachte, wanderte sowieso in
die Körbe für Anmachpapier fürs Feuer.
Genauso einfach hatte sich der Konflikt geklärt, den die Krankenkassen mit Quak dem Dorfarzt herbeiführen wollten. Tatsächlich hatte Quast ein Studium für Medizin abgeschlossen und
hätte als praktischer Arzt eine Praxis betreiben dürfen. Doch weil
er keine Abrechnungen ablieferte und keine Bezahlung
einforderte, verweigerte man ihm die Zulassung und untersagte
430
ihm Rezepte ausstellen zu dürfen. Darauf hin hatte er sich als
Käser angemeldet und schrieb keine Rezepte mehr.
Die Sachen die er aus der Apotheke der Stadt einkaufte, bezahlte er aus Mitteln, von denen keiner außerhalb des Dorfes wußte woher sie stammten. Es fragte auch keiner danach und so übte
er seinen Beruf aus, ohne das eine Krankenkasse davon wußte.
Und dabei hatte er in Wirklichkeit sehr wenig zu tun, was die
Ausübung seiner Tätigkeit als Arzt anging; als Käser war er
allerdings ausgelastet. Die Aufgabe des Arztes bestand lediglich
in der Versorgung von Wunden, wenn sich jemand mal verletzte,
was ebenfalls nur selten vorkam.
Rosbach gehörte politisch zum Bundesland Hessen und lag
ganz am östlichen Rand des Landes; früher kurz vor der ehemaligen Zonengrenze in den Ausläufern des Thüringer Waldes. Nach
der Wende hatte sich nicht viel geändert, nur Militärfahrzeuge und
Soldaten bei Übungen fand man keine mehr in dieser Gegend.
Auch die Nachbarortschaften um Rosbach herum waren nicht
gerade verwöhnt, was den wirtschaftlichen Aufschwung betraf. Es
war eben ein ländliches Gebiet und nicht sehr dicht besiedelt, also
wenig Ertrag versprechend für die Ansiedlung neuer Betriebe. Es
ging demnach nur schleppend voran bei der Bereitstellung neuer
Arbeitsplätze - nach wie vor überwog die Landwirtschaft.
Viele Anstrengungen wurden unternommen seitens der Politiker bessere Bedingungen zu schaffen, damit die Abwanderung
der jungen Menschen in Grenzen gehalten werden konnte und
einige Bürger forderten noch mehr. Nicht so in Rosbach, an
diesem Ort gingen jegliche Strukturreformen, Flurbereinigungsmaßnahmen und alle Bemühungen um eine Verbesserung der Infrastruktur vorüber.
431
Der Ort selbst bestand aus etwas mehr als dreißig Gebäuden, in
denen knapp neunzig Menschen lebten. Die Häuser standen recht
dicht beieinander, wobei die Grundflächen jeweils Platz für einen
großen Garten hergaben. Die Gesamtfläche des Grundbesitzes, die
laut Kadasteramt als Eigentum der Einwohner von Rosbach eingetragen war, umfaßte ein wesentlich größeres Gebiet, was auf den
ersten Blick niemand vermutet hätte. Warum das Dorf seine Sonderstellung über so lange Jahre hin bewahren konnte, wußte
außerhalb keiner; es war ein streng gehütetes Geheimnis.
Dabei verhielten sich die Bewohner gar nicht so abgeschlossen
oder vielleicht sogar abweisend gegenüber Fremden. Besucher
kamen eigentlich eher selten, denn es gab keine Attraktion, die
das Interesse hätte wecken können, jedenfalls keine, mit der die
Rosbacher Werbung betreiben wollten. Noch nicht einmal eine
Gaststätte ließ zufällig vorbeikommende Wanderer auf die Idee
kommen, das Dorf zu betreten. Nur aus der Ferne wurde schon
mal ein Photo geschossen, welches dann als Beispiel für ländliche
Idylle ohne einen Bezug zu den Bürgern von Rosbach in einem
Bilderalbum verschwand.
Niemand in Rosbach bedauerte diesen Zustand, auch wenn sie
wie gesagt Fremden gegenüber durchaus aufgeschlossen waren.
Verlief sich tatsächlich mal ein Spaziergänger oder es passierte
schon mal, daß sich eine Autofahrer verfuhr, im Ort wendete und
nach dem Weg fragte, dann waren direkt viele Dorfbewohner
zugegen und luden die Verirrten ein zum Essen und Trinken. Alle
diese Besucher vergaßen ihren Aufenthalt in Rosbach und konnten somit nie einem anderem erzählen, was sie dort erlebt hatten.
Somit blieben die Dorfbewohner unter sich und kein Mensch
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von außen zog in Erwägung, sich um Wohnungen oder sogar Bauplätze in Rosbach zu bemühen. Aber auch in diesem Punkt gab es
Ausnahmen, denn jedesmal wenn einer der Alten das Zeitliche
segnete, wurde kurze Zeit später eine Hochzeit gefeiert. Die Rosbacher heirateten niemals untereinander. Zu diesen Anlässen verließ einer der heiratswilligen Bewohner für einige Tage die Gemeinschaft, um sich auswärts einen Lebenspartner zu suchen, der
dann in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wurde.
So blieb die Einwohnerzahl von Rosbach immer annähernd
gleich. Die neuen Einwohner hatten nach kurzer Zeit genauso
wenig Interesse das Dorf zu verlassen, wie alle anderen Bewohner
auch. Selbst der Kontakt zu Verwandten oder Freunden außerhalb
des Dorfes riß schnell ab. Zum Einen weil die Rosbacher niemand
besuchten und zum Anderen, weil die von auswärts zu Besuch
kommenden Menschen immer nur einmal ins Dorf kamen und genau wie die anderen Fremden den Besuch und einiges mehr vergaßen.
Die Begegnungen mit anderen Auswärtigen, wie sie von den
Rosbachern genannt wurden, die aus irgendwelchen Gründen etwas im Dorf zu tun hatten, verliefen regelmäßig sehr zur Belustigung der Einwohner ab. Meist waren mehrere Dorfbewohner
zugegen, wenn jemand von auswärts sich blicken ließ.
Letzte Woche zum Beispiel erschien ein Verkäufer von Zeitschriftenabonnements bei Irmgard Kruse am Gartentor, die direkt
neben Oma Leni und ihren Kindern wohnt. Sie arbeitete gerade
draußen in ihrem Kräutergarten und betrachtete den Besucher mit
einem verschmitztem Blick. Dann lud sie ihn ein doch näher zu
kommen und sich auf die Bank neben der Eibenhecke zu setzen.
Der Empfang war so herzlich, daß der Verkäufer gar nicht wider433
stehen konnte, zumal er ihre Art als gute Basis für seine Absichten
etwas zu verkaufen auslegte.
Sie bot ihm eine Holunderbrause und ein Stück Kuchen an und
obwohl er nicht wußte, was da auf ihn zukam lehnte er nicht ab,
schließlich wollte er ihre Höflichkeit erwidern. Er nippte nur an
dem Glas; weil er den Geschmack nicht kannte und überhaupt etwas skeptisch war gegenüber allem nicht gewohnten fragte er, ob
er nicht eine Cola bekommen könnte.
„Eine was?“, wollte Irmchen, wie sie im Dorf genannt wurde
wissen.
„Wenn sie keine haben ist nicht schlimm. Es könnte auch etwas kaltes aus dem Kühlschrank sein.“
„Aus welchem Kühlschrank? Nein, so was haben wir nicht und
außerdem ist es gar nicht gut bei der Hitze etwas Kaltes in den
Magen zu kriegen.“
Oma Leni stand neugierig am Gartenzaun und pflichtete ihr
bei: „Nein, das ist wirklich nicht gut.“
Ein paar Kinder fanden sich jetzt auf der Straße ein, die ihr
Spiel unterbrochen hatten, um die Szene zu beobachten, die eine
willkommene Abwechslung darstellte, weil es immer wieder was
zu lachen gab, wenn Fremde kamen.
Nun gesellte sich auch Anna Schwarzenau vom gegenüber
liegenden Haus hinzu und fragte: „Mag der junge Mann deine Holunderbrause nicht? Ich hab' dir doch gesagt, du mußt mehr vom
Rübenkraut hinein tun, sonst ist es zu herb.“
„Für die Hitze ist es genau das Richtige, Anni, das löscht so am
Besten den Durst.“
Der Verkäufer hatte derweil sein Stück Kuchen gegessen, aber
er fand die Situation gar nicht mehr so verkaufsförderlich und
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dachte, es wäre besser, die Initiative zu ergreifen und gleich auf
den Punkt zu kommen. „Also diese Fernsehzeitschrift hier ist im
Abo-Preis besonders günstig. Und für eine gut aussehende Frau
wie sie, ist dieses Wochenblatt bestimmt von Vorteil. Da steht
alles wissenswerte drin und wird von ganz vielen Frauen gelesen.“
Mittlerweile hatte sich Ruprecht eingefunden, der gerade auf
dem Weg zur Mühle war mit einem Sack Getreide auf der Schubkarre. „Haben sie denn auch was für Männer?“, wollte er wissen.
Der junge Abo-Verkäufer legte die Frage natürlich so aus, wie es
jeder andere an seiner Stelle auch getan hätte - er witterte ein Geschäft.
„Aber natürlich,“ meinte er eifrig, „Sportzeitschriften, Autojournale, egal für was sie sich interessieren.“
„Jooh, für was interessiere ich mich eigentlich?“ Dabei strich
sich Ruprecht nachdenklich über sein stoppeliges Kinn. „Glockenfrösche, ja genau, für Glockenfrösche interessiere ich mich bangig.“
Einen Moment glaubte der Verkäufer, daß er auf den Arm genommen werden sollte. Aber als er in das einfältige Gesicht von
Ruprecht schaute, meinte er dann doch eher jemand vor sich zu
haben, der nicht ganz die geistige Frische besitzt, um zu wissen
was er sagt.
Deshalb wendete er sich wieder Irmchen zu. „Ich lasse ihnen
diese Zeitschrift hier als Bonus da; die können sie auch behalten,
wenn sie sich nicht sofort für ein Abo entscheiden. Ich kann ja
nächste Woche wiederkommen, wenn sie sich die Sache überlegt
haben.“
Nun fühlte er sich ein wenig bedrängt, denn auch Pfarrer Konrad hatte sich dazu gesellt. „Kann ich auch so ein Bonusanmach435
papier haben?“, fragte er den irritiert dreinblickenden Verkäufer.
Jetzt übernahm Irmchen wieder das Wort. „Also wiederkommen brauchen sie sicher nicht, denn ich habe mich schon entschieden.“
„Ja, wirklich?“, entfuhr es dem jungen Mann, der gar nicht
mehr daran geglaubt hatte hier ein gutes Geschäft abschließen zu
können.
„Ja, aber sicher doch. Wie viele Zeitschriften wollen sie denn
verkaufen?“
„Sie können sechs verschiedene bei mir bestellen.“ Seine
Augen glänzten.
„Nun, dann holen sie schon mal die Verträge heraus.“
Fein säuberlich wurden alle sechs Zeitschriften auf den Namen
Irmgard Kruse ins Formular eingetragen. Zum Schluß fragte der
junge Mann nach der Kontonummer.
„Wie, Kontonummer? Ich hab' doch keine. Haben sie vielleicht
eine?“
„Natürlich habe ich eine Kontonummer; jeder Mensch hat doch
eine.“
„Na, dann tragen sie ihre doch ein, dann ist die Sache perfekt.“
Der Verkäufer blickte überaus verdutzt in die Runde und sah,
daß alle ihn mit einem durchdringenden Blick direkt in die Augen
starrten.
Dann trug er ohne weitere Fragen seine Bankverbindung in die
Verträge ein. Kein Wort kam über seine Lippen als er aufstand,
die Verträge mit den nötigen Unterschriften in die Aktentasche
steckte und zu seinem Wagen ging.
Irmchen nahm die Schale mit der Holunderbrause und trank sie
aus. „Hast recht, Anni, da muß wirklich noch was Sirup bei.“
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Danach gingen alle wieder ihren Beschäftigungen nach und erzählten abends den anderen, die nicht zugegen gewesen waren,
wie höflich der junge Mann mit den Zeitungen doch war. Drei
Monate lang erhielt Irmchen die Zeitschriften, die wie die Post
auch in die Körbe für Anmachpapier wanderten.
So oder so ähnlich lief es immer mit Besuchern ab. Sie vergaßen einfach den Grund, warum sie Unterschriften auf Verträge gemacht oder Angelegenheiten in die Wege geleitet hatten, die das
Dorf Rosbach und seine Bewohner betraf und nie zu deren Nachteil führte. Hausierer wie der junge Mann von letzter Woche
merkten erst beim Kontrollieren ihrer Kontoauszüge, daß etwas
nicht stimmte und kündigten sofort die Verträge. Beamte legten
das Dorf betreffende abgeschlossene Vorgänge zu den Akten, wo
sie erst wieder hervor gekramt wurden, wenn auf ihrer
Verwaltungsstelle Überprüfungen stattfanden. Dann kamen neue
Beamte, die wiederum Schriftstücke über abgeschlossene Vorgänge einordneten.
Das ging schon seit Generationen so und Opa Hubert erzählte
öfters, daß es auch bei seinen Großeltern nicht anders war. Wann
diese merkwürdigen Vorgänge in Rosbach begonnen hatten, wußte keiner so richtig; es gab da keine verläßlichen Geschichten drüber, aber es interessierte auch keinen. Es war eben so und alle
wollten, daß es auch so bliebe.
Früher mahlten die Mühlen der Verwaltungen wesentlich langsamer und ein Eingreifen durch die Dorfbewohner fand nicht so
häufig statt. Doch in den letzten Jahren vermehrten sich die Besuche von ungehaltenen Menschen, die dies oder jenes versuchten
im Dorf durchzusetzen. Doch bis heute hat sich nichts verändert.
Die Rosbacher reagierten auf die jetzt öfters stattfindenden
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Eingriffsversuche von außen. Zum Einen wurde die Position des
Ortsvorstehers eingerichtet, zum Anderen traf man sich regelmäßig zu gemeinsamen Besprechungen. Der größte Raum des Ortes
befand sich bei Bauer Jung in seiner Scheune. Zu den Versammlungen erschienen alle neunzig Dorfbewohner, also auch die
Kinder.
In die baufällige Kirche paßten sie zwar auch, aber dort saß
man zu eingepfercht und man konnte sich nur in die Gesichter
schauen, wenn man sich umdrehte, was alle als unpraktisch ansahen. Die alte Kirche wurde für andere Treffen gebraucht, wobei es
nicht um Beten ging oder Pfarrer Konrad zuzuhören; es war ein
Teil ihres Geheimnis.
In der Scheune von Bauer Jung war es jedenfalls viel gemütlicher und die Zusammenkünfte dort hatten auch nicht den zeremoniellen Charakter wie in der Kirche. Für die Alten wurden
Strohballen bereit gestellt, die anderen setzten sich hin wo gerade
Platz war und die Kinder spielten im Heuboden, wenn ihnen die
Gespräche der Erwachsenen zu langweilig wurden.
Heute abend fand wieder so ein Treffen statt und wie jedesmal
brachten die Frauen Kuchen und die Männer ausreichend viel zu
trinken mit. Als es draußen dämmerte waren bereits alle außer
dem Ortsvorsteher Zöller anwesend. Opa Hubert schüttelte gerade
seinen Kopf und meinte: „Ich sag' ja immer, in der Stadt verliert
man halt seinen Verstand.“
„Ach Hubert,“ versuchte Pfarrer Konrad zu beschwichtigen,
„er gibt sich doch sehr viel Mühe. Außerdem glaube ich eher, daß
die Angst der Leute aus der Stadt abfärbt, wenn man zu lange mit
ihnen zusammen ist.“
„Auf keinen Fall darf man seine Warnungen auf die leichte
438
Schulter nehmen,“ fand Anna Schwarzenau. „Wir sind nicht unverwundbar.“
„Ja, das wissen wir doch,“ sagte Schulmeister Lehmann, „solange wir keine Gefahr darstellen für die Auswärtigen, wird es bei
den hilflosen Versuchen bleiben, uns auf ihre Schiene zu ziehen.
Eine richtige Strategie uns zu bekämpfen habe ich bisher nicht
ausmachen können. Das sind nur jeweils Einzelinteressen, die uns
anzugreifen versuchen. Wenn sich daran nichts ändert, wird es
noch hunderte Jahre so weiter gehen.“
„Habt ihr euch auf die Schule vorbereitet?“, wollte Lehmann
von den Realschülern wissen.
Insgesamt sieben Kinder fuhren mit dem Schulbus zur Stadt. In
einer Woche endeten die Ferien, dann ging es wieder los. Hanni,
die sich im letzten Jahr vor der Prüfung befand antwortete: „Alles
läuft bestens. Ich habe mich doch entschieden das Abitur zu machen; die Empfehlung fürs Gymnasium ist sicher. Übrigens ist die
neue Lehrerin Stötzel sehr neugierig. Ich bin gespannt, was sie
sich in den Ferien ausgedacht hat.“
Die sieben Schüler bildeten in der Schule eine eigene Gruppe.
In den Pausen blieben sie zusammen und von den anderen
Kindern fern. Da gab es öfters Versuche, wie das nun mal üblich
ist, sie auseinander zu bringen. Das ging immer von Seiten der
Mitschüler aus, denn gerade unter Kindern herrscht ein ständiger
Gruppenzwang, wie etwa bei der Kleidung und auch beim Verhalten.
Doch die Rosbacher Kinder ließen in den Pausen und auch auf
dem Heimweg alle abblitzen; die Versuche sie zum Mitmachen
bei Spielen oder Streichen zu bewegen scheiterten grundsätzlich.
Immer warteten die Rosbacher auf die anderen aus ihrem Dorf
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und ließen außerhalb der Schule keinen alleine gehen.
Von den Lehrern in den einzelnen Klassen wurden sie in
Schutz genommen, denn sie verhielten sich vorbildlich, zum
Einen was das Benehmen betraf, aber auch in Bezug auf Fleiß.
Natürlich wurden sie als Streber tituliert, doch Anfeindungen
wußten sie geschickt aus dem Weg zu gehen.
Irgendwann einmal war das Gerücht aufgekommen, die Rosbacher gehörten alle einer Sekte an. Das hatte anfangs zu Schmähungen und Sticheleien geführt. Doch mit der Zeit hatte sich auch
das wieder gelegt. Die Kinder aus Rosbach versuchten keinesfalls
das Gerücht zu widerlegen oder zu bestätigen, was ihnen eine gewissen Freiraum verschaffte, um ihre Sonderrolle unangefochten
aufrecht zu erhalten.
Die seit einem Jahr in der Schule tätige Lehrerin Stötzel hatte
dieses Verhalten beobachtet und sich darüber gewundert, da sie
das Gerücht von der Sekte nicht ohne weiteres glauben wollte.
Nach ein paar Monaten verglich sie die Noten der unterschiedlich
alten Kinder und stellte fest, daß alle Rosbacher weit überdurchschnittliche Leistungen zeigten. Darauf hin hatte sie Hanni angesprochen und wollte wissen, woran es läge.
Hanni hatte ihr erklärt, sie kämen alle aus intakten
Elternhäusern und machten Nachmittags ihre Hausaufgaben gemeinsam in der Grundschule des Dorfes unter Aufsicht von Schulmeister Lehmann. Dabei helfe man sich gegenseitig, denn alle
wollten schließlich einen guten Beruf erlernen.
Die Lehrerin hatte diese oder zumindest eine ähnliche Antwort
wohl erwartet und gab sich damit nicht zufrieden. Sie forschte
weiter und fand heraus, daß in der Vergangenheit alle Rosbacher
Schüler beste Noten auf den Abschlußzeugnissen vorweisen konn440
ten. Aber in den letzten zwanzig Jahren war außer einem gewissen
Zöller keiner an weiterführende Schulen gewechselt.
Alle hatten eine Lehre in einem handwerklichen Beruf begonnen, was an sich nicht einmal ungewöhnlich ist, abgesehen
von den guten Noten und der Übereinstimmung aller Rosbacher in
diesem Verhalten. Aber die Neugierde der Lehrerin war geweckt
und sie wollte mehr wissen. Sie erkundigte sich, was die Rosbacher nach der Lehre gemacht hatten und da wurde sie dann doch
stutzig als sich heraus stellte, daß alle ihrem erlernten Beruf ausschließlich in ihrem eigenen Dorf nachgingen.
Kurz vor den Ferien sprach sie erneut Hanni darauf an. Hannelore lud sie ein, doch mal das Dorf zu besuchen, um sich selbst ein
Bild davon zu machen, da sie mit Erklärungen nicht vermitteln
könne, was in Rosbach vorging. Die Lehrerin gab zu verstehen,
daß sie nach den Ferien darauf zurückkommen würde.
Das alles teilte Hanni nun der Dorfgemeinschaft mit und Schulmeister Lehmann lobte sie dafür. „Bevor die Sache größere Kreise
zieht, sollten wir uns um sie kümmern,“ ließ er verlauten.
„Ich finde das aber gut, daß immer mehr Auswärtige ins Dorf
kommen; sie bringen uns doch eine Menge Spaß,“ warf Oma Leni
ein.
„Spaß muß sein, ohne Spaß ist das Leben nur halb so lustig,“
pflichtete ihr Opa Hubert bei. „Apropos Spaß, da kommt der Zöller,“ fügte er an und alle lachten.
„Lacht ihr etwa über mich?“, wollte der wissen und wußte natürlich, daß dem nicht so war.
Trotzdem konnte ihm Opa Hubert einen weiteren Spruch nicht
ersparen. „Über Rosbach lacht die Sonne, über Zöller die ganze
Welt.“ Jetzt lachten auch die Kinder im Heuboden so heftig, daß
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sie sich kugeln mußten.
Der Ortsvorsteher nahm dem alten Mann nichts übel; nicht nur
weil der Respekt vor alten Menschen in Rosbach selbstverständlich war. Opa Hubert gehörte halt zu den Spaßvögeln in der Dorfgemeinschaft, was eindeutig als Zeichen der Lebensfreude eingeordnet werden mußte.
„Was gibt's neues?“, fragte Quak, der Dorfarzt und drückte damit das aus, was alle interessierte.
„Tja, es ist noch schlimmer als ich dachte,“ erklärte Franz Zöller als er sich setzte und erst einmal ein Stück Kuchen zu sich
nahm. Nach einem Verzückten ,Hmm' fuhr er fort: „Ich habe mal
so verschiedene Quellen angezapft und muß euch sagen, da ist ein
richtiger Komplott im Gange.“
„Kompott ist immer gut,“ warf Hubert ein.
Zöller sprach weiter: „Also der Landrat scheint tief in diese
Grundstücksangelegenheit verwickelt zu sein. Jedenfalls hat man
mir das hinter vorgehaltener Hand versichert. Da springt wohl
einiges für ihn heraus, wenn die Gemarkung unterhalb der Landstraße verkauft wird. Ein Möbelgroßhändler will dort ein Einkaufszentrum bauen, mit vielen Parkplätzen. Und die Landstraße
soll bis Dorfende komplett erneuert werden. Dann soll die Umgehungsstraße über die oberen Felder gebaut werden, woran die
Dorfstraße angebunden wird. So sieht es aus. Die Vorentwürfe
sind schon fertig und liegen zum Planfeststellungsverfahren aus.“
Die Blicke der Dorfbewohner richteten sich auf Bauer Jung,
dem diese Stücke laut Kadasteramt gehörten. „Ei verbibscht,“
meinte der, „da freu' ich mich schon drauf.“
„Wann ist denn mit einem Angebot zu rechnen?“, fragte Pfarrer Konrad.
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„Erst mal gibt es eine Ortsbegehung - wie immer. Ich geh' davon aus, daß danach ein schriftliches Angebot eingehen wird.“
„Und der Kaufinteressent für die unteren Grundstücke, ist das
ein Privatmann oder vertritt er einen Konzern?“, wollte Konrad
weiter wissen.
„Es handelt sich dabei um Joseph Zacharias, einem Besitzer
von einer ganzen Kette von Möbelhäusern. Allerdings ist er der
starke Mann in dem Laden und hat - glaube ich - die Mehrheitsanteile in seinen Händen.“
„Na, wenn das so ist, dann ist die Sache doch einfach,“ erklärte
Konrad, „Unsere Dorfkasse braucht dringend noch mal eine Auffrischung und wenn wir es geschickt anfangen, wird uns Herr Zacharias alsbald ein rundes Sümmchen zur Verfügung stellen.“
Er unterbreitete den Dorfbewohnern seinen Plan, der allgemeinen Anklang fand. Nur Zöller hatte noch Bedenken, die er
auch ausdrückte: „Natürlich kann es laufen wie immer. Aber diesmal stecken mehrere unabhängig voneinander wirkende Gruppen
dahinter. Wir können nur die Menschen beeinflussen, die gerade
zugegen sind.“
„Wo ist das Problem?“, fragte Lehmann. „Solange es die Leute
sind, die Einfluß auf die unter ihnen stehenden haben, sehe ich
keine Schwierigkeiten. Nein, der Plan ist gut. Und wenn neue
Schwierigkeiten auftauchen, werden wir auch damit fertig. Basta.“
„Ja ja, Pasta,“ meinte Opa Hubert, „Pasta ist immer gut, das
wär' jetzt genau das Richtige.“
Die Dorfgemeinschaft beriet sich nun über die Arbeitsaufteilung der nächsten Woche. Ein paar Leute wurden für den Hauberg
eingeteilt, ein paar andere sollten Bauer Jung helfen, denn auf
dem Hof begann die Erntezeit und es wurden reichlich helfende
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Hände gebraucht.
Basti, der fünf Jahre alte Sohn von Bauer Jung und seiner Frau
Ilse unterbrach die Unterredung, als er weinend aus dem Heuboden in die Tenne kam. „Klara hat mich gekratzt,“ rief er
schluchzend, „ich wollte den anderen nur die kleinen Kätzchen
zeigen.“
Klara, die Hauskatze des Bauernhofes hatte vor zwei Wochen
Junge bekommen. „Du darfst auch nicht so nah an die Kleinen
ran. Das mag ihre Mutter gar nicht. Komm, ich mach dir die
Wunde sauber.“ Ilse ging mit dem Jungen hinüber in die Küche
und die anderen setzten ihre Unterhaltung fort.
„Und wird die Umgehungsstraße auch gebaut, wenn der Zacharias sein Möbelhaus nicht bekommt?“, fragte Lehmann, der
sich immer noch mit dem Anfangsthema beschäftigte.
„Die Umgehungsstraße soll auf jeden Fall gebaut werden,“ entgegnete Zöller.
„Nur nicht in Rosbach,“ ergänzte Konrad.
„Warum heißt das eigentlich Umgehungsstraße, wo ja doch
kein Mensch drauf laufen darf,“ fügte Hubert noch hinzu.
„Um gehen zu können brauchst du doch gar keine Straße,“
meinte Leni und kurz darauf beteiligten sich alle mit wachsender
Begeisterung an den albernen Wortspielen. Zu lange konzentrierte
Erörterungen durch zu ziehen ermüdete die älteren unter den
Dorfbewohnern und da es nichts wichtiges mehr zu klären galt,
machten sie halt lieber ihre Späße.
Zum Schluß, als alle im Aufbruch begriffen waren meinte Hubert, daß er jetzt umgehend gehen müßte und verschwand als
erster in der mondbeschienenen Nacht.
Die nächsten Tage verliefen sehr arbeitsreich, aber ohne beson444
dere Vorkommnisse. Das Wochenende kam und nach einer langen
Trockenzeit begann es zu regnen. Die Kinder planschten in den
Pfützen, die Älteren freuten sich über die Bewässerung der Gärten
und im Besonderen Bauer Jung, der kurz vor dem Wetterumschwung noch das Heu in die Scheune bringen konnte.
Am Freitag abend kam der Ortsvorsteher mit der Nachricht zu
Pfarrer Konrad, daß schon am Montag die Ortsbegehung stattfinden sollte. „Acht Personen werden kommen, mit mir neun und
auch ein Vertreter der Presse ist eingeladen,“ sagte er. „Dabei hätte es sogar noch schlimmer kommen können, denn es gab einen
Antrag ans Land sich zu beteiligen. Doch die haben abgelehnt und
gemeint, die Umgehungsstraße sei Kreisangelegenheit.“
Ohne ein besonderes Aufheben um die Sache zu machen
meinte Konrad nur: „Hoffentlich kommen sie nachmittags, dann
haben wenigstens die Schulkinder noch was davon.“
Es regnete den ganzen Samstag und der Spaß draußen zu toben
ließ nach. Statt dessen besann man sich wieder auf gemütliches
Beisammensein in der Küche beim Tee oder dem gemeinsamen
Spielen im Wohnzimmer.
Am Sonntag morgen war der Himmel wolkenverhangen, doch
der Regen hatte aufgehört. Die Niederschläge der letzten Tage
senkten die Temperaturen nicht sonderlich, vielmehr lag nun ein
feucht warmer Dunst über den Feldern. Als Hubert nach dem
Frühstück Leni abholte, wie er es jeden Sonntag morgen tat, sagte
er zu ihr: „Heute nachmittag schaue ich mal, ob es schon Pilze
gibt. Ist zwar noch etwas früh im Jahr, aber das Wetter ist günstig.“
„Oh ja, da komme ich mit und die Kinder auch; die werden
sich freuen.“
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Dann gingen sie gemeinsam zur Kirche. Alle Rosbacher fanden
jeden Sonntag morgen den Weg in das nicht mehr so gut erhaltene
Gotteshaus. Doch nicht etwa das Geläute einer Glocke rief die
Dorfgemeinschaft zum Kirchgang ein, so wie es in anderen Ortschaften üblich ist. Nein, sie gingen alle wie es ihnen zeitlich paßte. Selbst Pfarrer Konrad hielt sich an keinen festen Termin; oft
gehörte er zu denen, die erst kurz vor Mittag durch die Kirchentür
traten.
Hätte ein Fremder diese Szene beobachtet, wäre ihm nicht nur
diese sonderbare Prozession aufgefallen, die sich Sonntag für
Sonntag dort in Rosbach abspielte. Alle neunzig Einwohner betraten das Gebäude in einem Zeitraum zwischen acht und elf Uhr,
blieben etwa eine Stunde und kamen überaus zufrieden und mit
deutlich gesteigerter Vitalität wieder heraus. Keine Orgelmusik,
kein gemeinsamer Gesang, noch nicht einmal eine Predigt konnte
von außen vernommen werden.
Als Hubert und Leni die Kirche verließen, merkte man ihnen
ihre neunzig Lenze keineswegs mehr an; vorher waren sie beide
noch recht mühsam die vier Stufen zum Eingang emporgestiegen,
nun hatte Hubert seinen Krückstock lässig über der Schulter
liegen und stieg die Treppe mit federndem Schritt hinab.
Bei den Kindern hätte man eine Umkehrung dieses Verhaltens
erkennen können; sie gingen meist ausgelassen und albernd hinein
und kamen in sich gekehrt und sehr ernst wieder heraus. Bisher
hatte noch kein Fremder diese Vorgänge beobachtet. Bis zu
diesem Sonntag.
Die junge Lehrerin Stötzel hatte mit ihrem Freund Dennis
einen Spaziergang unternommen und saß mit einem Fernrohr ausgerüstet auf einer Bank für Wanderer auf der gegenüber liegenden
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Seite des Rosbacher Tals am Rande des Waldes. Mehr als eine
Stunde schaute sie herüber und konnte sich keinen Reim aus dem
Verhalten der Dorfbewohner machen. Natürlich kannte sie Pfarrer
Konrad nicht und hatte insofern keine Ahnung, daß der Pfarrer
selbst sich in der Reihe der Kirchenbesucher befand.
Die Bank am Waldrand war allerdings auch so weit entfernt
von der Kirche, daß sie nicht in der Lage waren zu hören, was
sich im Gotteshaus abspielte und ob überhaupt etwas zu hören
war. Doch das was sie beobachten konnte, kam ihr schon merkwürdig genug vor.
„Was hast du denn eigentlich,“ fragte ihr Freund Dennis, „das
sind halt fromme Leute. Ich kann nichts außergewöhnliches daran
erkennen.“
„Schatz, sei mir nicht böse, aber du schaust nicht richtig hin.
Findest du es nicht komisch, daß in der ganzen Zeit, wo wir hier
sitzen immer nur einzelne oder paarweise Leute hinein gehen und
ebenfalls einzeln wieder heraus kommen? Also ein normaler
Gottesdienst findet dort nicht statt.“
„Vielleicht stimmt das Gerücht von der Sekte ja doch und uns
ist nur ihre Art des Gottesdienstes unbekannt. Oder vielleicht
haben sie keinen Pfarrer und gehen halt nur zum Beten da hin.“
„Nein, Hannelore hat mir im Religionsunterricht erzählt sie
hätten einen.“
„Kann doch sein, daß er heute krank ist und sie ohne ihn die
Kirche aufsuchen.“
„Das wäre eine Erklärung. Aber alles was ich bisher über
dieses Dorf in Erfahrung gebracht habe ist merkwürdig und ungewöhnlich. Irgendwas geht da vor, ich spüre es und ich werde es
heraus bekommen.“
447
„Nun, dann laß uns doch einfach da rüber gehen. Du gibst ja
doch keine Ruhe, wie ich dich kenne.“
Sabine Stötzel gab ihrem Freund einen leichten Stoß mit dem
Ellebogen in die Seite, weil er sie mit seiner Bemerkung aufziehen wollte. Dann verließen sie ihren Beobachtungsposten und begaben sich auf den Weg zur anderen Talseite, wo die Häuser des
Dorfes Rosbach standen.
Ein Fußweg führte über eine kleine Holzbrücke am Rande der
unteren Wiese bis vor den Ortseingang an die Dorfstraße. Sie
passierten eine große Linde, die den Schuppen für den Feuerwehrkarren überragte, dann ging es um eine Kurve und jetzt hatten die
beiden freien Blick auf den Dorfplatz, das Zentrum des Ortes. Direkt in der Mitte befand sich ein Brunnen, dessen unmittelbare
Umgebung von einer mächtigen Eiche überdacht wurde.
An dem Baum standen im Halbkreis um den Brunnen drei Bänke. Zur linken, etwas höher gelegen sah man die Kirche und
daneben das morsche Schulgebäude. Rechts vom Dorfplatz reihten sich fünf Häuser hintereinander, alle mit Gärten ausgestattet,
die jetzt im Hochsommer ihre volle Pracht entfalteten.
Im Hintergrund erkannten die Spaziergänger den Hof von Bauer Jung, der etwas weiter entfernt von der Dorfmitte ein stattliches
Anwesen darstellte. Allerdings wenn der Wind von Westen kam
und wie heute mit einer leichten Brise alle Gerüche vom Gehöft
herunter wehte, wurde jedem Besucher unmißverständlich klar,
daß er sich auf dem Lande befand.
Die restlichen Wohngebäude des Dorfes verteilten sich auf der
linken Seite des nicht allzu steilen Tales, die man wegen der Kirche und der Schule nur teilweise sehen konnte.
Die Atmosphäre des Ortes nahm sie ganz und gar gefangen,
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auch wenn ihre Reaktion darauf unterschiedlich ausfiel. „Ist das
kraß,“ meinte Dennis, „das ist ja tiefstes Mittelalter.“
Sabine dagegen lachte das Herz. „Das ist ja irre, phantastisch,
wie in einer anderen Welt.“
Vor der Kirchentreppe lag ein großer Hund - es war Hasso, der
Boxer von Pfarrer Konrad, der die beiden als Erster bemerkte und
darauf hin erst einmal ausgiebig gähnte. Hinter dem Dorfplatz, an
der Ecke des Zugangsweges zum Hof schnüffelte Rex, der Schäferhund von Bauer Jung in Mauselöchern rum. Doch auf das
fiepende Geräusch seines Kumpels Hasso hin entdeckte er die Besucher und kam mit großen Sätzen auf die beiden zugesprungen.
Sabine beendete ihren Anflug von Nostalgie abrupt, als der
große Hund auf sie zu sprang und versteckte sich hinter Dennis.
Dieser wußte nicht wie er reagieren sollte und bewegte sich erst
einmal gar nicht, sondern rief Rex entgegen: „Braver Hund, braver Hund.“
An dessen wedelndem Schwanz war zu erkennen, daß er
keinerlei böse Absichten hegte und erleichtert tätschelte Dennis
seine Flanken, als der Hund sie erreicht hatte und sich verhielt,
wie als wenn man alte Freunde begrüßt - die angespannte Situation löste sich sofort auf.
Jetzt wurden die beiden auch von verschiedenen Dorfbewohnern wahr genommen. Diejenigen die auf dem Weg zur Kirche waren, begrüßten sie mit einem freundlichen ,Hallo'. Die Leute, die aus der Kirche kamen traten auf sie zu und hießen sie in
Rosbach willkommen.
Der erste war Quak, der Dorfarzt, mit seiner Frau Adele, der
ihnen die Hand reichte und meinte, ob sie nicht Platz nehmen
wollten auf einer der Bänke am Dorfbrunnen.
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„Mein Name ist David Quast und das hier ist meine Frau Adele. Wie gefällt Ihnen unser Dorf?“
Die beiden waren von der Herzlichkeit des Empfangs sichtlich
angetan, so etwas hatten sie nicht erwartet. Auch die anderen
Dorfbewohner, die als nächstes hinzu kamen, zeigten sich überaus
freundlich und vor allem aufmerksam. Ihnen schien in diesem
Moment nichts wichtiger zu sein, als das Wohl ihrer Gäste.
Man holte schnell eine Decke aus einem Haus, weil die Bänke
vom Regen der letzten Tage noch etwas zu feucht zum Sitzen
waren. Jemand anderes brachte ein Stück Kuchen und eine Flasche Kirschsaft sowie Gläser. Sabine und Dennis konnten gar
nichts sagen, so überrascht waren sie von der Begrüßung.
„Frau Stötzel, hallo,“ rief Hanni, die mit ihren Eltern gerade
die Kirche verließ. Mit offen gezeigter ehrlicher Freude lief die
sechzehnjährige auf die Lehrerin zu, umarmte sie wie eine Freundin und teilte den anderen mit, daß dies die neue Lehrerin aus der
Realschule sei, die sie besuchen wolle. Sabine stellte ihren Freund
Dennis vor, der mit derselben Herzlichkeit aufgenommen wurde.
Als sie sich setzten und den Kuchen probierten, hielten sich bereits etliche Dorfbewohner auf dem Platz auf. Wer keinen Sitzplatz mehr auf den Bänken fand, setzte sich auf den Brunnenrand
und als der auch besetzt war, holten sie sich sogar Stühle aus den
Häusern. Die beiden Gäste fühlten sich keineswegs bedrängt von
der Anzahl der Menschen um sie herum, allerdings erschien es ihnen etwas sonderbar.
Schulmeister Lehmann kam mit seiner Frau Helene hinzu und
weil sie es ablehnten jemanden den Sitzplatz weg zu nehmen, holten zwei jüngere Schüler der dorfeigenen Grundschule Stühle aus
dem Schulgebäude.
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„Ich hoffe, der Menschenauflauf ist ihnen nicht unangenehm,“
sagte Lehmann, „wir haben hier selten Besuch und sind sehr froh,
wenn sich jemand für uns interessiert. Und sie interessieren sich
doch für uns, hab' ich recht? Sonst hätten sie nicht über eine
Stunde drüben am Waldrand gesessen und uns mit dem Fernrohr
beobachtet.“
Sabine fühlte sich ertappt. „Woher wissen sie das?“, fragte sie.
„Nun, vielleicht machen wir auf Fremde den Eindruck von
Hinterwäldlern, doch wie so oft im Leben trügt der Schein. Wir
wissen ganz genau, was um uns herum passiert. Wir kennen die
Gedanken der Menschen dort draußen und um nichts in der Welt
würden wir dieses Leben hier mit dem dort tauschen wollen keiner von uns. Aber wir müssen auch wachsam sein, denn jeder,
der gegen den Strom schwimmt wird in dieser Gesellschaft mit
Argwohn betrachtet. Selbst wenn Menschen wie wir sich aus den
Geschehnissen dort draußen raushalten, ist unser anders sein für
viele ein Anlaß uns zu bekämpfen; mit dem Ziel uns so zu formen,
wie sie selbst sind. Ob das nun gut ist oder schlecht wird dabei
nicht bedacht. Sie verstehen was ich meine.“
Und ob Sabine verstand. Er hatte genau die Gedanken ausgedrückt, die ihr selbst andauernd durch den Kopf gingen. Diese
Oase des Friedens hier an diesem Ort erfüllte ihre Hoffnung, daß
es doch noch Menschen auf dieser Welt gibt, die dem Trubel der
Ellbogengesellschaft zu trotzen verstehen.
„Aber wie schafft ihr das nur?“, wollte sie wissen.
„Wir haben da ein kleines Geheimnis, in das wir sie gerne einweihen würden. Doch möchte ich sie warnen und bitten es sich
gut zu überlegen. Denn wenn sie das Geheimnis kennen, wollen
sie nicht mehr weg aus Rosbach. Sie werden hier bei uns einzie451
hen und das Leben dort draußen beenden. Jeder Neue ist uns herzlich willkommen. Normalerweise ziehen Fremde bei uns nur ein,
wenn geheiratet wird. Denn wir vermählen uns nicht untereinander, weil sonst im Laufe der Generationen Inzucht entstehen
würde. Falls jemand von sich aus hierher möchte, machen wir natürlich auch Ausnahmen. Wie sieht es mit ihnen aus Dennis? Sie
sind Programmierer von Beruf und damit der Gefahr ausgesetzt in
rationalen Gedanken gefangen zu sein. Trotzdem steckt in ihnen
ein sehr romantischer Mensch. Könnten sie sich ein Leben in einer
Dorfgemeinschaft wie hier vorstellen?“
Dennis fühlte sich eindeutig überfordert, spontan eine Antwort
auf diese Frage geben zu können. Deshalb meinte er: „Ich habe
keinen Einblick in das Leben, das ihr hier führt. Allerdings brauche ich meine tägliche Dusche und noch so ein paar Dinge der Zivilisation. Ich kann mir nicht vorstellen wie es ist, ohne diese
Annehmlichkeiten auszukommen. Allerdings geht eine große Faszination von eurem Dorf aus und ich bin ehrlich überrascht, wie
angenehm es hier bei euch ist. Vielleicht sollte ich mir mal ein
paar Gedanken darüber machen und abwägen, welche Vorzüge
überwiegen.“
„Es kommt ihnen vielleicht etwas zu kraß vor, wie sie es selbst
wahrscheinlich bezeichnen würden, aber sie haben nur so lange
wie sie hier sind Zeit zu überlegen. Wenn sie sich bis zum Abschied nicht entschieden haben, wird es keine zweite Chance geben. Denn wenn sie ohne Entscheidung von hier weg gehen,
werden sie sich nicht mehr an das Dorf erinnern. Das hört sich garantiert so an, als wenn wir sie unter Druck setzen wollten, aber
wir haben keine andere Wahl. Wir können es uns nicht erlauben
jemand von hier fort zu lassen, der dann draußen in der sogenann452
ten Zivilisation dritten seine Erlebnisse hier im Dorf schildert.
Diese Weitergabe von Informationen über Rosbach hätte unabsehbare Folgen für die Gemeinschaft, was letztlich großen Schaden
bewirken könnte. Selbst wenn sie uns versichern es nur gut zu
meinen, läßt es sich nicht vermeiden, das andere weniger fürsorglich damit umgehen, das können sie gar nicht verhindern. Und
auch eine Versicherung ihrerseits, nichts weiter zu erzählen wäre
uns zu riskant.“
Dennis beschlich ein Gefühl von Unsicherheit. Er verstand
Lehmanns Worte nicht als direkte Bedrohung, doch legte sich ein
gewisses Angespanntsein über sein Gemüt und Sabine ging es genauso. Auf jeden Fall hatte das Gespräch eine vollkommen andere
Entwicklung genommen, als sie erwartet hatten.
„Wie wollt ihr das verhindern?“, gab Dennis zu bedenken.
„Und überhaupt, woher wißt ihr all diese Dinge über mich?“
„Das ist wiederum ein Teil des Geheimnisses,“ fuhr Lehmann
fort, „ihr braucht euch wirklich nicht zu fürchten. Wir sind bestimmt keine bösen Menschen. Aber wie schon gesagt sind wir
vorsichtig und wissen wie wir uns zu schützen haben. Sie sind
herzlich eingeladen einen wunderschönen Tag hier mit uns zu verbringen. Wir werden euch alles, bis auf unserer Geheimnis zeigen
und die Zeit muß euch genügen eine Entscheidung zu treffen.
Sobald ihr gehen wollt ohne euch zu entscheiden und unser Geheimnis kennen zu lernen, um dann für immer hier zu bleiben,
werden wir die Erinnerung an den Besuch hier aus ihrem Gedächtnis löschen.“
Dennis fühlte sich nun doch in die Ecke gedrängt und in seinem Kopf breitete sich eher Panik aus, als daß er in der Lage gewesen wäre, das Gesagte rationell zu verarbeiten. Sabine hatte
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sich schneller unter Kontrolle und nahm das was Lehmann gesagt
hatte nicht so sehr als Anlaß sich zu fürchten. Zusammen mit den
Erkenntnissen, die sie bereits über das Dorf gesammelt hatte und
das was sie jetzt hörte, zweifelte sie keineswegs an der Aufrichtigkeit. Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie das
funktionieren sollte mit der Löschung der Erinnerung, war sie
doch bereit es einfach als gegeben anzunehmen.
Als sie alle Gedanken geordnet hatte ergriff Neugier von ihr
Besitz. „Entschuldigt bitte mal, aber ich mußte das alles erst einmal ordnen.“ Sie schaute dabei in die Runde und sah die heiteren
aber gespannten Gesichter der Leute, wobei sie feststellte, daß
mittlerweile etwa siebzig bis achtzig Menschen hier auf dem
Dorfplatz versammelt waren. „Das ist wirklich ein sehr merkwürdiger Ort,“ begann sie. „Wenn ich euch recht verstanden habe,
drücken sie Herr Lehmann genau das aus, was alle hier denken.
Richtig?“
Sie erkannte, daß alle die sie anschaute mit dem Kopf nickten.
„Wir können uns heute hier aufhalten und stören keinen. Ich
gehe davon aus, daß sich an der Gastfreundlichkeit nichts ändern
wird, solange wir hier sind.“
Wieder nickten alle.
„Sie werden uns ihr Geheimnis nicht verraten, solange wir uns
nicht entschieden haben hier zu bleiben. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, daß es auch keinen Zweck hätte so zu tun als
wenn wir bleiben wollten, um an das Geheimnis zu gelangen,
denn anscheinend macht es keine Probleme unsere Gedanken zu
durchschauen. - Ansonsten werden sie uns weiterhin alles über
das Dorf berichten, ohne uns die Ursache für die ungewöhnlichen
Zustände mitzuteilen.“
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„Sie sind ein sehr aufmerksames Mädchen Sabine, muß ich
schon sagen, wir könnten sie gut gebrauchen“ meinte Lehmann.
„Ja, bleiben sie hier,“ rief Hanni von weiter hinten.
„Ja, bleibt doch,“ fielen auch die anderen Kinder ein.
„Und sie würden sich tatsächlich alle freuen, wenn wir bleiben
würden?“
Ein einmütiges ,Ja sicher' oder ,Na klar' war zu hören.
„Ich verstehe das nicht,“ war letztlich alles, was Sabine Stötzel
heraus brachte.
„Und ich erst recht nicht,“ ergänzte Dennis.
„Liebe Leute,“ sagte Pfarrer Konrad, „natürlich erwartet niemand von euch, daß ihr alles sofort versteht. Aber ich bewerte es
als gutes Zeichen, daß ihr nicht sofort in Panik davon gelaufen
seid. Was haltet ihr von folgendem Vorschlag. Um euch ein Bild
von dem Leben hier zu machen, solltet ihr wesentlich mehr erfahren. Zu allererst wird es Zeit fürs Mittagessen. Wer möchte die
beiden jungen Menschen zu sich zum Essen einladen?“, fragte er
in die Runde.
„Hier ich“ oder „Bei mir gibt's Sauerkraut mit Würstchen“ und
auch „Ich hatte schon so lange keinen Gast mehr“ war zu hören.
Augenscheinlich entstand ein regelrechter Wettstreit, wer die
beiden zu sich einladen durfte, allerdings in der gewohnten naiven
freundlichen Art.
„Ihr habt die Wahl,“ meinte zum Schluß Konrad schmunzelnd.
Dennis und Sabine schauten sich an. Dann sagte sie: „Wir
wollen aber niemand enttäuschen; ihr seid alle so nett.“
„So etwas wie Enttäuschung oder Neid kennen wir hier nicht,
glauben sie mir,“ versicherte Lehmann.
„Wir losen,“ gab Sabine zu verstehen. „Ich lasse mir ganz
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schnell das Alphabet durch den Kopf gehen und du sagst stopp.
Der Buchstabe, an den ich dann denke ist der Anfangsbuchstabe
des Nachnamens wo wir essen werden. OK?“
Dennis kannte das Verfahren von etlichen Stadt-Land-Fluß
Spielen, bei den sie ihm des öfteren ihr nicht geringes Allgemeinwissen bewiesen hatte. Als erstes, weil er zu lange zögerte, kam
,X' heraus und so hieß keiner im Dorf. Beim zweiten Versuch war
es ein ,H' und Hubert jubilierte.
„Nachnamen Hubert, Nachnamen,“ berichtigte ihn Zöller.
„Ess' ich meine Kartoffelpuffer eben alleine, selbst Schuld.“
Zufällig gab es niemand im Dorf, der mit ,H' anfing und so
wurde ein drittes Mal gewählt und diesmal war es ,K'. Davon gab
es allerdings zwei, denn Opa Hubert hieß Klein mit Nachnamen.
„Nö,“ sagte der, „jetzt verzichte ich.“
Damit löste sich die Gemeinschaft auf und die beiden wurden
Gast von Pfarrer Konrad. Das Haus des Pfarrers stand gegenüber
der Kirche auf der anderen Seite des Dorfplatzes, direkt neben
Zöllers, dessen Haus das erste in der Reihe unterhalb des Dorfplatzes war.
Es gab Johanniskrauttee als sie in der Küche Platz genommen
hatten.
„Sie wohnen ganz allein hier?“, fragte Sabine, um das
Gespräch zu eröffnen.
„Nein, sie haben doch meine Familie gesehen,“ lächelte der
Dorfpfarrer verschmitzt. „Aber hier im Haus wohnt sonst niemand, falls sie das meinten. Hier ist beispielsweise noch genug
Platz für zwei junge Leute.“
Er hantierte am Herd und holte anschließend drei Teller und
Löffel. Dann stellte er eine große Schüssel mit Eintopf auf den
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Tisch.
„Ich koche meist schon vorher, deshalb bin ich auch oft der
Letzte in der Kirche.“
„Macht denn jemand anderes den Gottesdienst?“
„Nein, Gottesdienst macht jeder für sich. Ein normaler Mensch
braucht keine Kirche und auch keinen Pfarrer um mit Gott zu
sprechen. Sie wollen jetzt bestimmt wissen, was die Leute denn
sonst in der Kirche machen. Aber da muß ich sie leider vertrösten
- daß ist ein Teil unseres Geheimnisses.“
Sabine hatte so viele Fragen, sie wußte gar nicht wo sie
anfangen sollte. Deshalb kümmerte sie sich erst einmal um den leckeren Eintopf.
Dennis hatte so etwas köstliches noch nie gegessen. „Da
kommt Mutters Eintopf nicht mit,“ meinte er nach dem ersten
Teller und ließ sich auch nicht lange bitten für den zweiten.
Sabine dachte sie hätte einen guten Einfall. „Eigentlich könnten sie mir das Geheimnis doch verraten, wenn ich es ja doch
wieder vergesse, falls wir uns gegen einen Verbleib entscheiden.“
„Ich versichere ihnen, wenn sie es kennen, werden sie von
allein nicht mehr weg wollen. Und außerdem gibt es kein Nehmen
ohne Geben. Deswegen haben wir diese Regel aufgestellt. Sehen
sie, all diese existentiellen Regeln, für die man tagtäglich draußen
kämpfen muß sind hier selbstverständlich. Es redet keiner mehr
darüber und es wird auch nicht für und wider diskutiert. Sie haben
doch die Schüler genau beobachtet, da will keiner etwas haben
ohne eine Gegenleistung zu bieten. Und niemand von uns gibt etwas, ohne dafür etwas wieder zu bekommen. Aber in beiden Fällen darf man nichts voraussetzen, denn das Spiel funktioniert nur,
wenn man ohne Erwartung oder sogar Bedingung an das Spiel
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heran geht. Und der Grund warum wir das Geheimnis nicht
einfach so preisgeben, wenn die innere Überzeugung hier zu
bleiben nicht gegeben ist, liegt darin begründet, daß wir niemand
in die Verlegenheit bringen wollen, nichts zurück geben zu
können. Genau darauf läuft es hinaus; wir haben da so unsere
Erfahrungen.“
Dennis beendete seinen zweiten Teller und meinte: „Also so
richtig folgen kann ich dem Ganzen nicht. Mich würde viel mehr
interessieren, wie ihr euren Lebensunterhalt bestreitet. Ist es
richtig was Sabine vermutet, daß keiner hier Geld verdient?“
„Welch praktische Frage für einen Romantiker,“ lachte Konrad.
„Was habt ihr eigentlich andauernd mit meiner romantischen
Seite? Ich bin ein durch und durch logisch denkender Mensch; ich
mache den ganzen Tag nichts anderes als mit Fakten und Zahlen
umzugehen.“
„Das ist was sie tun; was sie träumen ist etwas anderes.“
Dennis schüttelte den Kopf. „Daran muß ich mich erst noch gewöhnen. Anscheinend gibt es für euch keine Geheimnisse was
Menschen betrifft. Können eigentlich alle von euch in die Köpfe
der anderen schauen?“
„Aber natürlich. Soweit es Auswärtige betrifft ist es immer
wieder interessant. Wir machen zu gerne Späße mit Ortsfremden,
da sind dann alle zugegen, die im näheren Umkreis verfügbar
sind. Untereinander brauchen wir uns nicht abzuhorchen. Es gibt
keine Vorhänge hinter denen Charakterzüge verborgen sein könnten. Jeder kennt den anderen ganz genau, wobei die jeweilige Art
des Einzelnen ohne Hintergedanken und Versteckspiel offen ausgelebt wird.“
458
Sabine wollte wissen: „Dann streitet ihr also nicht und führt
auch keine kontroversen Diskussionen? Was macht ihr denn sonst,
wenn ihr zusammen seit und nicht arbeitet?“
Dennis mußte plötzlich lachen. „Was für eine Frage Schatz, gerade eben hast du bestätigst, was ich schon immer versuche dir zu
sagen: Es gibt ein Leben ohne Streit.“
Sabine fühlte sich keineswegs angegriffen, sondern lachte
ebenfalls. „Du Schlauberger. Das habe ich nie bezweifelt, aber es
funktioniert nur bei totaler Offenheit beiderseits. Du wirst mir
doch recht geben, daß du nicht immer sagst, was du denkst.“
„Aber ich weiß doch gar nicht immer, warum ich mich gerade
so oder anders fühle. Und letztlich meine ich immer wenn wir uns
streiten, es läge daran, daß du mir nicht vertraust.“
„Aber natürlich vertraue ich dir, du Dummerchen.“ Dann umarmten sie sich von Stuhl zu Stuhl und als sie sich wieder lösten,
schauten sie in das schmunzelnde Gesicht von Pfarrer Konrad.
„Was geht hier vor?“, fragte sie, denn irgendwie kam es ihr
komisch vor, daß sie sich so schnell mit Dennis wieder vertragen
hatte - das war sonst anders. Vor allem aber schien dieser Mensch
genau zu wissen, was in ihnen vorging. „Sind vielleicht irgendwelche Drogen im Spiel?“
Konrad lachte lauthals. „Ihr seit mir aber wirklich zwei
vergnügliche Persönchen, ehrlich.“ Danach mußte er sich erst einmal die Tränen aus den Augen wischen. „Es ist nicht das was sie
meinen. Nein, mit Halluzinogenen hat es nichts zu tun. Lassen sie
sich überraschen. - Kommen sie, das Dorf will sie kennenlernen
und ich hoffe, sie wollen noch immer wissen, was wir so
machen.“
Sie ließen alles so stehen und liegen und auch den kleinen
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Rucksack von Dennis nahmen sie nicht mit. Auf dem Dorfplatz
erwarteten sie schon einige Dorfbewohner, Dennis kam sich vor
wie ein Star unter Fans.
„Ich zeige ihnen am Besten erst einmal das Dorf,“ gab Konrad
zu verstehen. „Die Kinder sind mit Opa Hubert, Leni und noch ein
paar anderen in den Wald gegangen um Pilze zu suchen. Ich glaube es ist noch etwas zu früh dafür, doch wer weiß. Hanni dort drüben und die anderen Realschüler wollten nicht mit. Kann ich auch
gut verstehen.“
Sie machten einen gemeinsamen Rundgang durchs Dorf. Zur
kleinen Mühle unten am Bach gingen sie nicht, die konnte man
auch von oben gut sehen. Konrad erklärte nur, daß sie ihr sämtliches Getreide dort mahlen würden.
Am Hof von Bauer vorbei ging es links hoch. Ihr Weg führte
sie oberhalb des Dorfteiches hinter den oberen Häusern lang bis
zurück zum Friedhof, der genau hinter dem Feuerwehrhaus lag.
Bei jedem Haus das sie passierten hielt die Prozession an und
Konrad erklärte, wer da wohnt und was er macht. Nur in zwei der
Häuser, an denen sie vorbei kamen wohnte niemand. Fast alle
handwerklichen Berufe waren vertreten, doch zumeist nur einmal.
Bei den älteren Bewohnern teilte Konrad mit, was diese früher
für einen Beruf hatten und was sie heute noch tun. Industriehandwerker gab es nur einen, nämlich Lothar Seifert, der Schlosser gelernt hatte und nun Bauer Jung half bei der Instandhaltung seiner
Geräte. Lothar reparierte auch den alten Kleinbus, der immer dann
Hilfe brauchte, wenn sie ihn benutzen wollten.
„Autos habt ihr ja nicht sehr viele,“ bemerkte Dennis, als sie
den Friedhof erreichten.
„Wozu?“, gab Konrad als einzige Antwort.
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Bei der Betrachtung der Grabkreuze - Steine gab es keine stellte Dennis als schneller Kopfrechner fest, wie alt die Leute in
Rosbach wurden.
„Das kann doch gar nicht sein. Ist euch da kein Irrtum unterlaufen? Hier, hundertvierzehn, und da hundertsechs, da drüben
hundertachtzehn. Gehört das vielleicht auch zu eurem
Geheimnis?“
Pfarrer Konrad grinste nur. „Da, sehen sie, da liegt Albert. Als
er vorletztes Jahr verstarb war er gerade sechsundneunzig und er
war der letzte Jäger und Förster, den wir hatten. Dieser Job wäre
noch frei, Dennis. Na, interessiert?“
Dennis hatte es schon vor einer Weile aufgegeben sinnlose
Gegenargumente für das reizvolle Leben hier zu suchen. Immer
wieder verglich er die bisher als Vorzüge verstandenen Bequemlichkeiten des Lebens in der Zivilisation mit dem, was er hier
vorfand. In diesem Verhältnis kam ihm seine Vergangenheit mehr
als banal vor. Auf dem Weg zurück zum Dorfplatz fragte er Konrad: „Aber was ist mit Geld. Man braucht doch etwas um Dinge
zu kaufen, die man selbst nicht herstellen kann. Stoffe zum Beispiel oder Porzellan. Wie ist es damit?“
„Tatsächlich gibt es Dinge die wir kaufen müssen, auch wenn
es sehr wenige sind. Unser Dorfvorsteher verdient reichlich. Er
gibt zwar auch mehr als die anderen aus, aber es bleibt genug übrig. Auch die Gehälter der Lehrlinge sind Einnahmen, die dem
Dorf zugute kommen.“
„Wollen sie damit sagen, daß alle Einkünfte in einen Topf
fließen, aus dem dann die Ausgaben des Dorfes bestritten
werden?“
„Ja, genauso ist es. Wir machen uns nichts aus Geld oder unnö461
tigen Besitz; keiner von uns. Es ist also nicht ungewöhnlich, wenn
diejenigen, die etwas verdienen es den anderen geben. Allerdings
muß ich dazu sagen, daß wir keine Steuern zahlen und auch Versicherungen lehnen wir ab.“
Dennis wußte schon, was auf seine nächste Frage geantwortet
würde und sagte nur: „Geheimnis?“
Konrad nickte. „Absolut kraß,“ bemerkte Dennis.
Zurück auf dem Dorfplatz, der Nachmittag war bereits vorgerückt, konnte Hanni ihre Frage nicht mehr zurück halten. „Bleiben
sie, Frau Stötzel?“
Sabine nahm sie in den Arm. „Kannst du dir vorstellen wie ich
mich fühle? Auf der einen Seite würde ich es schrecklich bedauern, all diese Dinge nicht gesehen zu haben....“ Sie unterbrach
sich selbst. „Ja, ich weiß, ich würde es natürlich nicht bedauern,
weil ich mich ja an nichts erinnern werde. Auf der anderen Seite
ist der Schritt in dieses Leben so gewaltig, so ...“ Sie fand die
rechten Worte nicht.
„Eines können sie mir glauben, diesen Schritt werden sie nie
bedauern,“ meinte Quak.
„Das klingt alles so endgültig - und entschuldigt bitte, ein bißchen nach Gehirnwäsche.“
Jetzt mußten alle lachen, das fanden sie doch zu komisch.
„Gehirnwäsche, das ist gut, ein vortreffliches Stichwort,“ rief
Konrad in einer Atempause, als er versuchte sich wieder unter
Kontrolle zu bringen. Dann plötzlich ganz ernst und eindringlich
sagte er: „Liebe Sabine, sie sind doch eine aufgeweckte Kritikerin
ihrer Gesellschaft. Meinen sie nicht auch, es wäre genau umgekehrt; daß die Menschen dort draußen aller wahren Bedürfnisse
beraubt werden und als Ersatz irgendwelche grotesken Wohl462
standsvergünstigungen erfahren, die keinen wirklich befriedigen,
sondern immer nur Lust auf ,Mehr' provozieren? Wo bitte schön
findet die Gehirnwäsche statt? Hier bei uns gibt es sie sicherlich
nicht. Oder Leute, was meint ihr?“
Dabei wendete er sich den anwesenden Dorfbewohnern zu.
„Hanni Schatz, hast du heute schon dein Gehirn gewaschen? Zeig'
mal her, ich muß nachschauen, ob es auch richtig sauber ist.“
Jetzt grölten alle aus vollem Hals, was so ansteckend war, daß
auch Dennis und Sabine mitmachen mußten. Langsam ebbte das
Gelächter ab; doch dann sagte Ruprecht in einem beiläufigen Ton:
„Vielleicht sollte ich neben der Mühle einen Gehirnwaschsalon
eröffnen. Einmal Gehirnwäsche mit einlegen bitte. Sehr wohl,
gnädige Frau, macht zwei Glockenfrösche.“
Wiederum konnte sich keiner mehr halten vor lachen. In all
dem Gegröle brüllte auf einmal Bauer Jung von hinten: „Ruprecht, wann hast du zum letzten Mal dein Gehirn gewaschen, du
hast so krause Gedanken.“
Die albernen Wortspielereien wollten kein Ende nehmen, weitere spitzfindige Einfälle ließen das Gelächter immer wieder aufs
neue aufleben. Dann meinte Konrad, sie sollten doch besser aufhören, sonst käme neben der Gehirnwäsche noch eine Magenwäsche hinzu.
Dennis und Sabine hatten alle Gedanken an ihr altes Leben
abgelegt. Sie fühlten sich dazugehörig und erst als das Lachen
ganz aufhörte, wurde sich Sabine der Situation wieder bewußt.
„Was passiert, wenn wir jetzt einfach ja sagen?“
Konrad faßte sie mit beiden Händen an den Oberarmen und
ließ freudestrahlend vernehmen: „Aber ihr habt doch schon längst
ja gesagt.“
463
Wäre irgendwo noch ein Restwiderstand vorhanden gewesen,
spätestens in diesem Moment wäre er auch noch verflogen.
Dennis und Sabine stimmten einmütig zu und das Gefühl, als
wenn eine Last von ihnen gefallen wäre überwältigte sie. Wie ein
kleines Kind jauchzte Dennis: „Ich werde Förster, ich werde
Förster.“ Sabine weinte sogar, so erleichtert fühlte sie sich.
In diesem Moment kam die Schar vom Pilze suchen zurück:
Opa Hubert vorne weg, den Krückstock geschultert. „Das ist
wieder einmal typisch,“ meinte er mit einem aufgesetzt beleidigtem Gesicht. „Kaum sind wir weg, schon gibt's hier eine Lachorgie. Euch hört man ja bis zum Tannenwald kreischen.“
„Gut das ihr kommt. Wir haben eine wichtige Entscheidung zu
treffen. Wer ist dafür, daß wir diese beiden lustigen Menschen in
unser Dorf aufnehmen?“
„Ja ja,“ brüllte das ganze Dorf und einige hüpften dabei auf
und ab und klatschten in die Hände.
„Ist einer dagegen?“ Kein Laut war zu hören.
„Noch Fragen?“ Damit meinte Konrad Sabine und Dennis.
„Jein,“ sagte Dennis und sofort ging das Lachen von vorne los.
„Was ein Spaß,“ rief Opa Hubert dazwischen, „das sind
wirklich lustige Leute.“
„Alle organisatorischen Dinge klären wir hinterher, einverstanden?“ Konrad schaute ihnen abwechselnd in die Augen.
Sabine und Dennis konnten seinen liebevollen Blick ohne jegliche
Hintergedanken erwidern - sie waren bereit. Die beiden kamen
sich vor wie kleine Kinder zu Weihnachten wenn das Glöckchen
schellte und die Tür zum Zimmer mit dem Weihnachtsbaum aufging.
„Dann kommt, Freunde - es ist Zeit für die Bescherung.“
464
Einige im Hintergrund hatten Schwierigkeiten einen neuen
Lachanfall zu unterdrücken.
„Unser Geheimnis ist in der Kirche; dort gehen wir jetzt hin.“
Konrad führte die beiden, jeweils an einer Hand zur Kirche, stieg
die vier Stufen hinauf, während die Kinder des Dorfes bereits
voraus geeilt waren um die Tür auf zu halten. Konrad schob die
beiden bis aufs äußerste gespannten jungen Menschen in den
großen Raum. Sie schauten sich um, als sie sich an das gedämpfte
Licht gewöhnt hatten, konnten aber nichts besonderes entdecken.
Zwei Bankreihen zu jeder Seite des Mittelgangs, ein Altar zwei
Stufen erhöht und eine Kanzel machten den Eindruck einer ganz
normalen Kirche. Auffällig erschien ihnen lediglich die schlichte
Einrichtung, keinerlei Verzierungen ließen sich erkennen.
„Könnt ihr irgendwas besonderes entdecken?“, fragte Konrad
in sehr sachlichem Ton.
„Nein,“ erwiderte Sabine, „nichts.“
„Ich auch nicht,“ meinte darauf Konrad, „aber ich seh' das ja
auch jeden Sonntag und ab und zu auch mal während der Woche.“
Zwei oder drei der nach Konrad in den Raum Drängenden
prusteten mit dem hörbarem Versuch dies zu vermeiden.
„Wir sind gleich da,“ sagte der Pfarrer und schob die zwei
Verwirrten den Gang runter Richtung Altar. Sie blieben davor
stehen und jetzt war es mucksmäuschen still in der kleinen Kirche.
Den Altar bedeckte ein weißes Tuch und um die Spannung der
beiden auf den Höhepunkt zu treiben zögerte Konrad kurz, um
dann mit einem Ruck das Tuch beiseite zu ziehen. Wie um einen
Tusch zu simulieren rief er: „Ta ta ta taa.“
Sabine und Dennis sahen, daß es sich um gar keinen Altar
handelte, vielmehr befand sich dort lediglich ein viereckiger Holz465
zaun, der nur mit dem Tuch darüber den Eindruck erweckt hatte,
es handele sich um einen massiven Block. Ohne die Abdeckung
blickte man auf den offenen Innenraum des Altars, in dem etwas
versenkt ein schwarzer Stein ruhte. Er füllte den ganzen inneren
Teil aus und Sabine hatte den Eindruck, daß der viereckige Zaun
um den Stein herum gebaut worden war.
„Kommt,“ forderte Konrad die beiden auf, „berührt ihn.“
Sabine und Dennis traten näher. Der Stein bot einen faszinierenden Anblick. Äußerlich glich er einem normalen Felsbrocken, doch die Oberfläche strahlte eine wohltuende Wärme aus.
Hinter der tief schwarzen Außenhülle konnte man ein pulsierendes Licht erkennen.
„Berührt ihn.“
Dennis streckte seinen Arm aus und legte vorsichtig seine
Hand auf das Gebilde. Sabine machte es ihm nach. Ein unglaublich angenehmes Gefühl durchströmte beide. Die anfängliche Furcht war gänzlich gewichen. Ohne weitere Gedanken zu
formulieren ließen sie die Kraft des Stein einfach durch ihre Körper hindurch fließen. Das Gefühl war mit nichts vergleichbar, was
sie bisher erlebt hatten.
Nach kurzer Zeit dehnte sich ihr Bewußtsein aus und alle
Dinge die jemals im Dorf vor sich gegangen waren offenbarten
sich ihnen auf wunderbare Weise. Sie wurden eins mit dem Stein,
dem Dorf und mit allem Wissen, daß jemals ein Mensch sein
eigen nannte, der diesen Stein ebenfalls berührt hatte.
Diese wohlig wärmende intensive Kraft des Stein stammte
nicht von dieser Erde. Die Rosbacher erzählten sich, er wäre vor
etwa siebenhundert Jahren einfach vom Himmel gefallen und die
damaligen Bewohner des Dorfes erkannten schnell, zu was er sie
466
befähigte. Später baute man eine Kirche um ihn herum und tarnte
das Relikt aus den Tiefen des Weltalls als Altar.
Eine halbe Stunde verstrich und die beiden Neurosbacher fühlten sich durch und durch mit Frieden durchflutet; es kam ihnen
wie eine Erleuchtung vor und alle Nöte und Ängste der
Vergangenheit fielen einfach so von ihnen ab. Dann löste sich die
Berührung und Dennis sagte zu den Anwesenden: „Danke, daß ihr
an uns geglaubt habt.“
Sabine fand ebenfalls Worte des Danks und dann, ohne weitere
Verzögerung wurden sie einbezogen in den normalen Tagesablauf
der Dorfgemeinschaft als zwei von ihnen. Erst jetzt mit ihrem
erweiterten Wissen erkannten sie, daß ein kleiner Wasserlauf unterirdisch am Fuß des Steins vorbei plätscherte und weiter talwärts
den Brunnen speiste. Alles Wasser das die Rosbacher dort schöpften und für Essen oder Getränke benutzten war angereichert mit
der Energie des Steins. Sabine schmunzelte bei dem Gedanken,
daß die Dorfbewohner genau wußten, welche Wirkung die
Speisen und der Tee auf sie haben würde.
Der Tag ging zur Neige und trotz immer noch wolkenverhangenem Himmel war genug Licht vorhanden, um sich erneut
um den Brunnen zu versammeln. Die Kinder und deren Eltern
verabschiedeten sich und auch viele der älteren Leute ging nach
Hause. Der verbliebene Rest beriet sich über das weitere Vorgehen. Man einigte sich darüber, den beiden das leer stehende Haus
des verstorbenen Albert zu überlassen. Konrad meinte lakonisch,
es wäre wohl besser so, weil die jungen Leute bestimmt viel
Krach in der Nacht machen würden und außerdem könnte ihn eine
junge Frau im Haus wieder zu seiner geliebten Faulheit verleiten.
Sabine und Dennis planten heute abend nach Hause in die Stadt
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zu gehen und morgen direkt in der Frühe ihr Arbeitsverhältnis zu
kündigen, Eigentumswohnung und Auto über Zeitungsinserat
anzubieten und dann möglichst schnell wieder ins Dorf zu kommen um dabei zu sein, wenn der Landrat mit seiner Begleitung
vorbei kommt. Das wollten sie auf keinen Fall verpassen, wenn
sich die Kräfte der Dorfbewohner vereinten, um irgendeinen
Schabernack mit Auswärtigen zu treiben.
Auf der anderen Seite war sich Sabine klar darüber, weil sie die
Mühlen der Verwaltung nur allzu gut kannte, daß die Gefahr für
das Dorf bezüglich der Umgehungsstraße nicht dadurch abzuwenden war, indem die morgige Delegation mit einem hypnotischen Befehl des Vergessens nach Hause geschickt wurde. Wenn
das Planfeststellungsverfahren erst einmal eingeleitet ist, sind weitere Personen damit beschäftigt und würden die Angelegenheit garantiert wieder aufrollen.
Sie teilte ihren neuen Freunden diese Gedanken mit und meinte
abschließend, man müsse der Delegation eine Alternative
schmackhaft machen. „Die sollten nach Hause gehen und sich
ganz sicher sein, daß eine Trasse über Rosbacher Gebiet die
schlechteste aller Lösungen ist. Zacharias muß glauben, hier sei
nun wirklich nicht der Platz um Geschäfte zu machen. Ich gehe
morgen früh direkt mal in die Stadtverwaltung und schaue mir die
Karten an. Soweit ich es in Erinnerung habe, liegt Rosbach im
Nordosten direkt an der Landesgrenze. Das heißt, weiter östlich
kann die Planung nicht angesetzt werden. Zwischen der südwestlichen Grenze von Rosbach und der Kreisstraße finde ich es noch
zu nahe, dann hätten wir den Zacharias doch am Hals und seine
Kunden würden den Frieden hier erheblich stören. Am Besten
wäre es, wenn wir sie davon überzeugen westlich der Kreis- straße
468
zu bauen.“
„Der Meinung bin ich auch,“ warf Zöller ein, „doch dort gibt
es das Problem mit dem Langenbachtal und den Felsen dort. Weil
die Straße zu teuer würde, hat man diese Variante abgelehnt.“
„Wie gesagt, ich schaue mir die Karten mal genauer an - das
kriegen wir schon hin.“
Zöller war von der frischen Kraft im Dorf sehr angetan. Endlich verstand jemand, daß seine Bedenken nicht unbegründet
waren.
„Ihr braucht natürlich nicht in die Stadt zu laufen. Ich fahre
euch, ist doch klar,“ meinte er deshalb.
„Unser Auto steht in Zweifelden - so weit ist das doch gar
nicht,“ warf Dennis ein.
„Um so besser, dann könnt ihr ja noch etwas hier bleiben und
ich fahre euch später zu eurem Auto.“
Sabine und Dennis waren einverstanden. „Komm Schatz, wir
schauen uns unser neues Haus mal von innen an,“ schlug Sabine
vor.
Sie verbrachten noch zwei Stunden in ihrer neuen Heimat und
Zöller fuhr sie spät am Abend in den nächsten Ort. Wie viele
Dinge so zu erledigen sind, wenn man sein Leben in der Form
ändert wie es Sabine und Dennis taten, erfährt man erst, wenn
man es selbst erlebt. Das lief alles lange nicht so reibungslos ab,
wie sie es im ersten Moment erhofft hatten.
Die Schwierigkeiten begannen schon bei dem Versuch den
Lehrerjob zu kündigen. So einfach scheidet ein Beamter nicht aus,
da müssen schon besondere Gründe nachgewiesen werden. Die
beiden zeigten sich allerdings energiegeladen und tatkräftig, mit
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dem nötigen Maß an Inspiration und Improvisationsgabe. Sabine
meldete sich kurzerhand krank und ließ sich einen Termin bei
einem Psychiater geben. Sie begründete ihr Fernbleiben von der
Schule mit seelischer Überlastung.
Dennis hatte es da schon leichter. Er ging einfach nicht mehr
zur Arbeit und wollte abwarteten bis man ihm fristlos kündigte. Er
nutze den Morgen, als Sabine unterwegs war, um eine Aufstellung
zu machen, was alles zu erledigen sei. Schwierigkeiten beim Verkauf der Eigentumswohnung waren ebenfalls unumgänglich, denn
sie zahlten erst seit zwei Jahren an dem Kredit ab und der Verkauf
der Immobilie würde nicht genug einbringen, um die angefallenen
Zinsen zu decken.
Doch auch hierbei machte er kein großes Aufheben; er kündigte einfach den Dauerauftrag für die Tilgung und spekulierte damit,
daß eines Tages der Gerichtsvollzieher die Wohnung pfänden
wird.
Für die anderen Dinge brauchten sie etwas mehr Zeit, denn die
Kündigung sämtlicher Versicherungen - und so ein junges Paar
hat nicht gerade wenige - war nur der erste Schritt; der daraus entstehende Briefverkehr der nächste. Dennis richtete ein Postfach
ein und anschließend traf er sich mit Sabine bei der Stadtverwaltung, um sich beim Einwohnermeldeamt umzumelden. Auch
das ging nicht ohne Probleme. Doch hier zeigte sich die Weitsicht
der Rosbacher, die grundsätzlich das Eigentum der Verstorbenen
auf den Ortsvorsteher überschreiben ließen. So kam Zöller den
beiden im Meldeamt zur Hilfe und die Sache war schnell erledigt.
Er teilte ihnen bei der Gelegenheit mit, daß die Ortsbegehung
für fünfzehn Uhr angesetzt war. Somit hatten sie noch Zeit ein
paar Sachen aus der Wohnung in den Wagen zu verstauen und
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fuhren danach in ihre neue Heimat.
Als vollkommen normal faßten sie die Tatsache auf, etliche
Rosbacher am Haus der beiden werkeln zu sehen. Ruprecht hatte
sich mit zwei anderen um den Garten gekümmert, im Schuppen
lagerte bereits ein ausreichender Holzvorrat für den nächsten
Winter, die Küche war frisch geputzt und jeder hatte ein wenig
seines eigenen Essenvorrats an die beiden abgegeben und in die
Kammer neben der Küche eingeräumt. Die Kinder hatten sie am
Dorfplatz in Empfang genommen und halfen die Sachen aus dem
Auto hoch in ihr neues Heim zu bringen.
Hannis Vater Kurt Breitenbach, genannt Kurti, hatte schon früh
morgens den Kamin gereinigt und beschäftigte sich gerade mit
Ausbesserungsarbeiten am Fachwerk, als die beiden mit den
Kindern das Haus erreichten. „Wie schnell doch ein Haus verfällt,
wenn es leer steht,“ meinte Kurti nach der Begrüßung.
Anna Schwarzenau kam ihnen aus der Küche entgegen. „Hallo
ihr beiden. Wir sind gerade fertig geworden mit der Küche. Kurti
hat soviel Dreck gemacht, da brauchten wir etwas länger. In den
Schlafzimmern oben waren wir noch nicht, daß wollt ihr bestimmt
selber machen. Aber der Fußboden im Wohnzimmer muß unbedingt mit Leinöl gestrichen werden. Wenn ihr etwas braucht sagt
Bescheid.“
Dann gingen die Frauen, die wirklich ganze Arbeit geleistet
hatten. Auch die anderen ließen das junge Paar allein und sie
schlenderten Arm in Arm durch ihr neues zu Hause, daß jetzt bei
Tageslicht genau den selben gemütlichen Eindruck bescherte, wie
gestern abend in der Dämmerung.
„Wir müssen eine Liste machen für die Dinge, die wir noch
brauchen,“ sagte Sabine.
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„Wir sollten heiraten,“ meinte Dennis, als sei es die normalste
Sache von der Welt.
„Ja, das sollten wir,“ entgegnete Sabine im gleichen sachlichen
Tonfall.
Im Wohnzimmer bestaunten sie das Bücherregal, daß sie bei
der ersten Besichtigung gar nicht so recht wahr genommen hatten.
„Die Hälfte davon bezieht sich auf deine neue Aufgabe, Schatz,“
bemerkte Sabine, „da hast du noch einiges zu tun.“
Sie stiegen die steile Treppe nach oben und begutachteten die
drei Schlafräume. Dennis erkannte sofort ihre Gedanken, als sie in
das niedliche Kinderzimmer hinein schauten und drückte sie zärtlich an sich.
„Wie komisch das ist,“ meinte sie, „so viele Frauen draußen in
der Welt lehnen das Kinderkriegen ab - und ich hab' auch mal
dazu gehört.“
In diesem Moment spürten sie die gesteigerte Spannung im
Dorf und Dennis sagte: „Komm, sie sind da.“
„Ja,“ sagte sie, „geh schon mal vor, ich muß noch auf Toilette.“
Dennis zog die mitgebrachten Stiefel an, denn es hatte zwar
nicht mehr geregnet seit Samstag, aber es stand reichlich Wasser
in den Pfützen und die Wiesen waren ebenfalls noch feucht.
Sabine benutzte das Klo in der Diele neben der Ausgangstür.
Hier wollte sie noch ein wenig Hand anlegen, was die Gestaltung
des Raumes betraf. Auch das Badezimmer oben bedurfte einer
Generalüberholung. Mit den sanitären Anlagen konnte man durchaus zufrieden sein, die Rosbacher hatten in den letzten Jahrzehnten einiges umgebaut. Früher gab es für jedes Haus nur ein Plumsklo mit Herzchen außerhalb der Häuser. Dann hatten sie nach und
nach alle Gebäude mit Speichertanks auf den Dachböden ausge472
rüstet, die für fließendes Wasser in den Toiletten und Küchen
sorgten.
Das Brauchwasser wurde vom Dorfteich je nach Bedarf in die
Tanks gepumpt. Lothar der Schlosser hatte dafür einen kleinen
Generator für den Pumpenbetrieb zusammen gebastelt, der vom
Bach an der Mühle angetrieben wurde. Die Abwasser wurden seitdem in Dreikammergruben gesammelt und mußten pro Haus etwa
alle fünf Jahre geleert werden. Da in keinem der Haushalte irgendwelche schädlichen Reinigungsmittel Verwendung fanden,
war der Aushub gut genug die Weiden am hinteren Ende des Tals
zu düngen und kam somit auch nicht direkt in den Nahrungskreislauf.
Auch bei der Wäsche hatten die Rosbacher improvisiert. Bei
Zöller in der Waschküche stellten sie drei Waschmaschinen auf das reichte allemal für den Bedarf der Dorfbewohner. Die Abwasser von dort leitete man direkt unterhalb der Mühle in den
Bach, der sich ein paar Kilometer weiter mit dem Fluß verband
und sofort danach durch die Kläranlage gereinigt wird. Dadurch
wurde die Belastung minimiert, wobei die Verwendung von abbaubaren Waschmitteln für die Rosbacher zur Selbstverständlichkeit gehörte. Sabine fühlte sich rundrum zufrieden und zog jetzt
auch ihre Gummistiefel an, um an dem Spektakel der Ortsbegehung teilzunehmen.
„Das gibt es doch gar nicht, ja wo leben wir denn,“ kommentierte der Bürgermeister, was sich seinem Auge darbot. Neben
ihm stelzte der Unternehmer Zacharias wie ein Storch um die
Pfützen herum und war panisch darauf bedacht seine Wildlederschuhe nicht allzusehr dem Dreck auszusetzen. Sie hatten gerade
den Dorfrand erreicht, nachdem sie den zwei PKW's an der Schul473
bushaltestelle entstiegen und dem verschmutzten Feldweg gefolgt
waren.
Am Dorfplatz empfing sie Pfarrer Konrad und Schulmeister
Lehmann. Hubert stand ebenfalls dabei und präsentierte voll stolz
sein von ihm ausgedachten Geck. ,Meine Stimme gehört
Haubrich' hatte er auf ein altes Bettuch gemalt, das zwischen zwei
Stöcken gespannt die Besucher empfing. Der Landrat Haubrich
fand die Idee überaus reizend und konnte die abfälligen Bemerkungen seiner Kollegen nicht verstehen, die hinter vorgehaltener Hand von Hinterwäldlern und ewig Gestrigen sprachen.
Der Bürgermeister, der sich um den hilflosen Zacharias bemühte schimpfte wie ein Rohrspatz auf Zöller: „Sie hätten uns
wirklich warnen können, das wird ein Nachspiel haben.“
Zöller nahm das ganz gelassen. ,Sollte er doch ruhig
schimpfen, heute abend weiß der Alte sowieso nicht mehr, was
sich hier abgespielt hat,' dachte er und stellte die Leute untereinander vor.
Man hatte einen alten Tisch zwischen Dorfbrunnen und den
Bänken aufgestellt und ihn mit einer sauberen Tischdecke versehen. „Für einen kleinen Begrüßungstrunk wird doch wohl Zeit
sein, nicht wahr?“ Konrad lud die Delegation zum Platz nehmen
ein und goß jedem ein Gläschen selbst gemachten Himbeerwein
ein. Die zwei Fahrer als nicht so hochrangige Personen fanden
keinen Platz mehr auf der Bank, bekamen aber Stühle angeboten.
„Das ist eine Spezialität des Dorfes, zum Wohl.“
Sie ließen sich nicht zweimal bitten und kosteten den Fruchtwein. Er traf allerdings genau ihren Geschmack und es dauerte
nicht lange, da waren die Gläser wieder leer. Zacharias hatte zuerst nur genippt, doch als er den herrlichen Geschmack auf der
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Zunge registrierte, trank er den Rest in einem Zug aus.
„Das ist ein richtiger Zungenlöser, hab' ich recht?“, lachte Konrad verschmitzt. „Darf es denn noch ein zweites Glas sein?“
Keiner lehnte ab; von der sonst so gern zur Schau gestellten höflichen Zurückhaltung war nichts zu merken.
Inzwischen hatte sich nicht nur Dennis, sondern fast die Hälfte
des Dorfes eingefunden und stand um die Sitzgruppe herum.
„Kommen sie denn gut voran mit ihrer Besichtigung?“, fragte
Lehmann.
Der Bürgermeister fühlte sich angesprochen. „Auf jeden Fall.
Doch diese Zustände hier hätte ich nun wirklich nicht erwartet.
Das ist alles so, so ... so lustig hier.“
Alle hatten gespannt darauf gewartet, wie er es zu beschreiben
gedachte. Doch nach den letzten Worten platzte ein einmündiges
Lachen heraus, dem sich auch die sitzende Delegation nicht entziehen konnte. Der dicke Landrat schlug sich unentwegt auf seine
speckigen Schenkel und seine Bauchringe hüpften dabei hoch und
runter. Fast hätte er den Tisch umgeschmissen, weshalb er vorsichtshalber sein zweites Glas austrank. „Wenn ich's nicht besser
wüßte könnte man meinen, dies hier sei eine Filmkulisse.“
„Ja genau, da vorne hinter dem Zaun ist die versteckte
Kamera,“ rief Hubert dazwischen.
Urplötzlich brach das Lachen in Haubrichs Gesicht ab und
nahm einen noch dümmeren Ausdruck an, als es eh schon hatte.
Doch dann prustete er los. „Das war ein Joke; das war ein wirklich
guter Witz.“ Er kam durch den folgenden Lachanfall so sehr in
Bewegung, daß sein massiger Körper gegen den neben sitzenden
Bürgermeister schwankte. Dieser wiederum hatte die plötzliche
Annäherung nicht erwartet und gab die Energie des Schupsers un475
gebremst an Zacharias weiter, der weil er auf der Ecke der Bank
saß, dadurch von dieser runter flog und mit dem Hintern auf dem
feuchten Gras landete.
Verdutzt schauten alle auf den kleinen Mann im Trenchcoat,
der erst mit offenem Mund versuchte seine Lage zu begreifen und
dann lachend aufstand und meinte: „Da hilft nur noch ein weiteres
Gläschen.“
Die Dorfbewohner, die jetzt fast vollzählig zugegen waren,
klatschten Beifall. Konrad machte eine weitere Flasche auf, während die Herren auf der Bank ihre Krawatten lösten, weil es ihnen
jetzt heiß geworden war. In diesem Moment kam ein Auto den
Feldweg herauf und hielt direkt neben dem Feuerwehrhaus.
„Ah,“ meinte der Bürgermeister, der sein drittes Glas schon zur
Hälfte getrunken hatte, mit auffälligen Problemen bei der Aussprache, „dasch is Meier von de Lokalreaktion, unser rassiger Roboter.“ Huberts Selbstbeherrschung verhinderte ein lautes Gröllen,
worüber er sich selbst am Meisten wunderte, doch die anderen
Dorfbewohner lachten bis die Tränen flossen.
Der junge Mann kam näher und konnte die Szene, die sich ihm
darbot absolut nicht einordnen. „Tag Herr Bürgermeister, guten
Tag die Herren. Äh, ich wollte gerne schnell ein paar Fotos machen, den Bericht bekomme ich ja sowieso von ihnen.“
„Mensch Meier,“ polterte Haubrich, der ebenfalls Schwierigkeiten mit dem Sprechen zeigte, „sie sollten das nicht so nüchtern
betrachten, wie?“
„Genau,“ fügte der Bürgermeister hinzu, „komm Junge setz'
dich hierher und nimm einen Schluck von diesem edlen Tröpfchen.“
Meier begriff jetzt, warum die Gruppe der wichtigen Leute so
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vergnügt da saßen und überlegte, ob das nicht eine günstige Gelegenheit wäre, dem Bürgermeister und dem dicken Landrat mal
richtig eins auszuwischen. Doch im nächsten Moment verwarf er
den Gedanken wieder, denn er brauchte schließlich seinen
Arbeitsplatz.
„Nein danke,“ antwortete er, „ich muß noch fahren. Ich glaube,
das mit den Fotos machen wir ein anderes Mal.“
„Paperlapapp, hier nehmen sie einen Schluck.“
Doch Meier blieb standhaft, er konnte Alkohol sowieso nichts
abgewinnen.
„Aber ein Glas Obstsaft ohne Alkohol werden sie doch sicher
nehmen,“ sprach Lehmann ihn an und schüttete ohne eine Antwort abzuwarten tief roten Kirschsaft aus.
Der Reporter nahm das Glas und bedankte sich. Er wollte sich
nicht zu der angeheiterten Gruppe setzen und bedauerte schon
überhaupt in dieses Gott verlassene Nest raus gefahren zu sein.
Nach dem ersten Schluck schaute er sich um und erkannte Sabine
in der Menge der Dorfbewohner. „Hallo Frau Stötzel, sie auch
hier?“
Die attraktive junge Lehrerin war ihm schon beim Schulfest
vor den Ferien aufgefallen. Nur leider hatte sie bereits einen
Freund, wie er bei späteren Erkundigungen feststellen mußte.
„Tag Herr Meier, ich hoffe der Kirschsaft schmeckt ihnen.“
„Ja danke, sehr gut,“ sagte er und trank das Glas leer. „Ich muß
allerdings direkt wieder los; hab' heute noch einige Termine, tut
mit leid.“
„Aber kein Problem. Komm Dennis, wir bringen Herrn Meier
zu seinem Wagen.“
Dennis verstand was sie wollte und auch die Kinder kamen mit,
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denn für solche Aktionen waren mehrere Leute von Vorteil. Am
Wagen angekommen meinte Sabine: „Schade daß sie nichts von
der Begehung mitbekommen haben, aber die Entscheidung die
Umgehungsstraße woanders zu bauen, hatte die Delegation anscheinend schon vorher getroffen.“
„Das ist wieder mal typisch Bürgermeister. Er hätte mir ja auch
Bescheid sagen können.“
„Ach, nehmen sie es nicht so tragisch. Am Besten vergessen
sie den Nachmittag hier.“
„Ja, vergessen sie den Nachmittag in Rosbach,“ sagten die
Kinder im Chor und schauten den Reporter durchdringend an.
Wie in Trance stieg er ein, wendete seinen Wagen und fuhr zu seinem nächsten Termin. Warum er - wie er glaubte - an diesem
Nachmittag nicht in Rosbach gewesen war, obwohl es doch klar
und deutlich in seinem Terminkalender stand, wußte er später
nicht mehr. Er machte auch kein Anstalten die Sache zu klären,
denn wichtigere Dinge forderten seine Konzentration.
Zurück am Brunnen hörten sie, wie Konrad auf die jetzt ruhigen und in sich gekehrten Herren einredete. „Eine Umgehungsstraße auf der Ostseite der Kreisstraße ist einfach nicht lukrativ
genug. Zacharias will schließlich ein gutes Geschäft machen, was
nur möglich ist, wenn er sich zwischen Kreis- straße und Umgehung ansiedeln kann. Die westliche Variante ist wesentlich sinnvoller. Der Felsen am Langenbach ist mit einer herrlichen Hängebrücke zu überwinden, sie wird der ganze Stolz der Stadt werden.
Nach Rosbach braucht keiner mehr wieder zu kommen. Da ist
alles dreckig und es kostet viel zu viel das alles zu sanieren. Am
Besten ihr vergeßt den Besuch hier; schließlich braucht keiner zu
wissen, was hier vorgefallen ist. Geht jetzt zurück zu euren Autos
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und behaltet im Gedächtnis, daß ihr schon an der Bushaltestelle
den Entschluß gefaßt habt, die östliche Variante abzulehnen und
deshalb gar nicht erst nach Rosbach gekommen seit. Vergeßt den
Besuch hier.“
Alle Rosbacher murmelten gleichzeitig: „Vergeßt den Besuch
in Rosbach.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen standen die Besucher auf,
wankten sich gegenseitig stützend zum Feldweg und dann entlang
des Kartoffelackers bis zu ihren abgestellten PKW's. Konrad hatte
darauf geachtet, daß die Fahrer der beiden Wagen nur in ihrem
ersten Glas Obstwein hatten. Für die weiteren Gläser hatte er ihnen Kirschsaft ausgeschenkt, denn niemand wollte, daß sie zu
Schaden kämen.
„Schade,“ meinte Hubert, als man in der Ferne die abfahrenden
Autos sah, „noch eine Flasche und sie hätten hier auf der Bank
übernachtet.“
„Schade um den Obstwein,“ widersprach Anni, „wir sollten für
solche Anlässe Kartoffelschnaps brennen und mit ordentlich
Knoblauch versetzen, dann hätten sie am nächsten Tag garantiert
frei.“
Die Bewohner wendeten sich wieder ihrer Arbeit zu und alle
waren der Ansicht, es wäre alles viel zu schnell gegangen und gerne hätten sie den dicken Landrat in einer Pfütze landen gesehen.
Im Grunde verlief der Besuch so, wie sie es wünschten, auch
wenn es jetzt kein Geld von Zacharias für nicht gekauftes Bauland
gab.
Sabine und Dennis, die am übernächsten Tag in ihrer ehemaligen Wohnung zu tun hatten, lasen im Lokalteil des Stadtanzeigers, daß die Entscheidung über den Verlauf der Umge479
hungsstraße gefallen sei. Sie würde jetzt westlich von der Kreisstraße gebaut. Von Rosbach war keine Rede in dem Artikel.
Das Leben im Dorf ging ungehindert seinen Weg. Sabine und
Dennis heirateten vier Wochen später, nachdem sie die Angelegenheiten ihres alten Lebens erledigt hatten. Selbst die Eigentumswohnung stellte kein Problem mehr dar und brauchte nicht
versteigert zu werden. Zöller und Quak waren gemeinsam mit den
beiden zur Bank gegangen und diese hatte dann ohne weitere
Fragen die Wohnung selbst übernommen, womit der Kredit als
getilgt galt und zu den Akten gelegt wurde.
Zwei Monate später, der Herbst zeigte sich von seiner grauen
Seite, wurde Sabine schwanger und versetzte das Dorf dadurch in
helle Aufregung. Dennis hatte inzwischen den ganzen Wald mehrmals abgewandert und die Bäume markiert, die beim nächsten absteigenden Mond geschlagen werden sollten, als Brennholz für
den Winter im darauf folgenden Jahr. Nach Sabines freudiger
Nachricht blieb er lieber in der Nähe des Hauses und half Apfelmost herstellen.
Von dem Geld, was Sabine und Dennis in die Dorfkasse gebracht hatten wurden zwei Norwegerponys gekauft, da die zwei
alten von Bauer Jung für die schwere Arbeit auf dem Feld und
beim Rücken der Stämme im Wald nicht mehr fit genug waren.
Auch ein Faß Petroleum und eine ganze Kiste Haushaltskerzen
wurde angeschafft, womit das Dorf für den kommenden Winter
gerüstet war.
Anfang November gab es ein Schlachtfest auf dem Hof, woran
sich alle Rosbacher beteiligten. Würste wurden hergestellt,
Fleisch zerteilt und als alles fertig eingekocht oder zum Räuchern
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aufgehängt war, saßen sie in der Scheune und aßen aus einem
riesigen Topf Wurstesuppe mit frisch gebackenem Brot.
Plötzlich mitten in der geselligen Runde stand Hubert auf und
in einem ungewohnt ernsten Ton mit reiflich abgewogenen
Worten, bedankte er sich bei seinen Mitbewohnern für ein ausgefülltes Leben. Zum Schluß seiner Rede meinte er, daß seine Zeit
zum Abschied nehmen jetzt gekommen sei und er sie nur noch um
den Gefallen bitten wollte, ihm ein Loch auf dem Friedhof direkt
neben seiner vor längerer Zeit verstorbenen Frau auszuheben.
Frank Wolff, der den alten Mann besonders ins Herz geschlossen hatte, wollte es nicht wahr haben und weinte herzergreifend.
„Ach mein Junge, da oben kann ich doch viel besser auf dich
aufpassen. Außerdem gibt es bald wieder ein Baby im Dorf und
da müssen die Alten Platz machen. Das ist der Lauf der Dinge,
das müssen wir einfach so hinnehmen und dankbar sein für jede
Minute, die wir hier erleben dürfen. Für jeden ist irgendwann
Schluß und meine Zeit ist jetzt abgelaufen. Das ist kein Grund
zum Heulen, nein, ich möchte daß du dich für mich freust, denn
ich bin ja dann viel näher beim lieben Gott.“
Heidi, die Mutter von Frank nahm ihren Sohn in den Arm und
tröstete ihn. Zöller schlug mit dem Löffel gegen eine Flasche um
sich Gehör zu verschaffen. „Liebe Rosbacher,“ begann er seine
feierliche Rede, „wir haben einen Mann zu ehren, der sich in ganz
besonderem Maß um Rosbach verdient gemacht hat ... und keine
Sekunde in seinem Leben versäumte, sich über mich lustig zu machen. Danke Hubert, du bist ein feiner Mensch und wirst mir so in
Erinnerung bleiben.“
„Danke Franz,“ entgegnete Hubert, der den Ortsvorsteher sonst
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nie beim Vornamen nannte, „ihr kennt alle den Wahlspruch der
Rosbacher. Lebe lebendig, damit selbst der Tod noch Spaß macht.
Ich lade euch alle ein für Sonntag nachmittag. Essen und trinken
müßt ihr selber mitbringen und gute Laune habt ihr ja sowieso.
Wenn nicht, sorge ich schon dafür.“
Damit war das Thema beendet, wie es immer geschah, wenn
ein Rosbacher das zeitliche segnet. Keine Geschichte aus der
Vergangenheit des Dorfes erzählt von irgendeiner Trauerfeier; es
wurde immer nur von rauschenden Abschiedspartys berichtet mit
viel Obstwein und einer Menge Spaß. Für diese Anlässe fanden
sich sogar ein paar Leute zusammen, die ihre Musikinstrumente
raus holten und vergnügliche Weisen spielten.
Am Sonntag morgen vor der Feier betrat Hubert als erster die
immer offene Kirche. Mühsam ging er, sich auf seinen Krückstock stützend zum Stein. Es war sehr kalt an diesem Novembertag und Hubert trug eine Wollmütze mit Ohrenschützern, einem
Schal um den Hals und Handschuhen an den Händen, die ihm
Leni letzten Weihnachten gestrickt hatte. Er nahm die Decke vom
Altar und traute seinen Augen nicht - der Stein war weg.
Hubert starrte ungläubig auf die leere Höhle und merkte erst,
daß Quak hinter ihm die Kirche betreten hatte, als dieser seine
Hand auf Huberts Schultern legte. „Was ist los Hubert? Geht's dir
nicht gut?“
„Schau, der Stein, er ist verschwunden.“
Quak verstand nicht was sein alter Kumpel meinte, denn er sah
den schwarzen Brocken, der wie immer ein warmes Licht hinter
seiner dunklen Außenhülle ausstrahlte. Hubert wankte und der
Doktor half ihm sich in die vordere Bankreihe zu setzen. Der alte
Mann starrte Quak mit glasigem Blick an und flüsterte: „Sag Leni,
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daß ich sie ganz lieb habe und sag den anderen, sie wären feine
Leute.“
Dann schloß er die Augen und sein Geist stieg wie eine leuchtende Nebelschwade aus seinem Körper, flackerte hin und her und
verschwand danach für immer. Mehrere Dorfbewohner waren inzwischen ebenfalls zugegen und wünschten dem lustigen alten
Mann eine gute Heimreise. Dann legten sie den toten Körper vor
den Altar und jeder konnte sich persönlich von Hubert verabschieden,
Die ganze Prozession hatte an diesem Sonntag eine besonders
feierliche Note; keiner redete, aber niemand wurde traurig, denn
das hätte Hubert nicht gewollt. Am Nachmittag, nachdem der
Leichnam in eine von Ruprecht gezimmerte Kiste gelegt worden
war, trafen sich alle in Huberts Haus.
Zuerst kam keine richtige Stimmung auf, alle schauten ernst
und in sich gekehrt. Dann sprach Konrad: „Das ist es nicht, was
sich Hubert gewünscht hat, Leute. Macht die Obstweinflasche auf,
das fröhliche Fest soll beginnen.“
Die Leute pflichteten ihm bei und bald wurde es lustig, so wie
Hubert es gewollt hatte. Der graue mit tiefen Wolken verhangene
Herbsttag war schnell vergessen und man widmete sich ausgiebig
den mitgebrachten Köstlichkeiten. Ruprecht, der trotz seiner
groben Hände eine vorzügliche Stehgeige zu spielen verstand,
trug ein Lied vor, das er selbst umgedichtet hatte und als Abschied
für Hubert gedacht war.
Als er gerade mit der Strophe beginnen wollte, in der er
gönnerhaft Huberts Vorzüge mit denen von Glockenfröschen vergleichen wollte, rief Lehmann plötzlich: „Halt, Ruhe bitte.“ Sofort
merkten alle, es konnte etwas nicht stimmen und Sekunden später
483
wußte die Dorfgemeinschaft, daß sich jemand am Stein zu schaffen machte.
Wie eine wilde Horde stürzten die Männer voran aus dem Haus
zur Kirche und blieben auf halbem Wege stehen. Über der Kirche,
was von Huberts Haus noch nicht zu erkennen war, sahen sie jetzt
ein merkwürdiges Gebilde frei schwebend in der Luft über dem
Gotteshaus stehen. Sie ahnten was das zu bedeuten hatte und
hasteten weiter in die Kirche hinein.
Ihre Vermutung bewahrheitete sich, denn um den Stein herum
standen vier Fremde in heller Kleidung und einem Helm aus Glas,
der den ganzen Kopf einhüllte. Die Gestalten drehten sich zu den
Rosbachern um und geboten ihnen mit ausgestrecktem Arm mit
erhobener Handfläche stehen zu bleiben. Die vorderen Männer
blieben tatsächlich stehen und breiteten die Arme aus, um die
nach ihnen kommenden aufzuhalten, denn das Gebot der Fremden
schien ihnen überzeugend genug. Natürlich konnten sie nicht
verhindern, von den Nachkommenden, die in die Kirche drängten
weiter in Richtung Altar geschoben zu werden. Immerhin hatten
die in der ersten Reihe Gelegenheit die merkwürdige Gestalten
genauer zu betrachten - eindeutig waren sie nicht von der Erde.
Sie hatten durchaus menschliche Gestalt, doch an der Form des
Kopfes konnte man erkennen, daß es keine Menschen waren.
Einer der Außerirdischen begann zu sprechen: „Der Stein hat uns
eure Sprache übermittelt. Wir wissen, daß ihr unsere Gedanken
lesen könnt und somit merkt ihr, daß wir nichts böses im Schilde
führen. Aber den Stein müssen wir wieder mitnehmen. Er ist vor
etlichen Jahren bei einem Unfall verloren gegangen - wir haben
lange nach ihm gesucht. Er ist ein Teil aus einer Reihe von
Lebensspendern, die wir auf unseren Kolonien einsetzen. Wir
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brauchen ihn, weil das Leben auf einem dieser Planeten
schwindet.“
Die Gruppe der Rosbacher war etwa fünf Meter vor den Altar
zum Stehen gekommen. Konrad löste sich daraus und ging einen
Schritt auf die Gestalten zu. „Aber uns gibt er auch Energie.
Wenn ihr ihn jetzt von uns nehmt, werden wir von dieser schlechten Welt überrollt. Unser ganzes Schaffen, unser ganzes Leben
wäre beendet. Wollt ihr das?“
„Wir sind absolut friedliche Wesen, ihr wißt es. Aber unsere
Leute verlassen sich auf uns. Der Stein ist die letzte Chance den
betreffenden Planeten zu retten. Wir wissen welche Bedingungen
auf diesem Planet herrschen und bedauern ehrlich, euch diesem
Chaos schutzlos aussetzen zu müssen. Aber wir haben keine andere Wahl.“
„Wenn das so ist möchte ich euch bitten uns schmerzlos zu töten, denn wir können nicht mehr so leben wie die anderen Menschen auf dieser Welt.“
Der Sprecher der Außerirdischen unterhielt sich in einer
anderen Sprache mit seinen Kollegen. „Wie viele seit ihr denn?“
„Neunzig Personen.“
„Und kein anderer Mensch weiß von diesem Stein?“
„Keiner, dafür haben wir immer gesorgt.“
„Wärt ihr bereit diesen Planeten zu verlassen, um beim Stein
zu bleiben?“
Konrad drehte sich zu den anderen um. „Was meint ihr?“
„Wir bleiben am Stein - lieber tot als ohne,“ war die einhellige
Meinung.
„Nun, der Planet wohin wir den Stein bringen wollen hat in
etwa dieselben Lebensbedingungen wie dieser hier. Wir bieten
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euch an mitzukommen, denn die Welt unserer Schwestern und
Brüder ist nicht gerade dicht besiedelt und da ihr ebenfalls friedliche Kreaturen seit, paßt ihr gut zu uns. Was haltet ihr davon?“
„Habt ihr denn genug Platz in eurem Schiff?“
„Aber natürlich, ihr könnt sogar einpacken und mitnehmen was
ihr wollt. Nur muß es alles innerhalb des heutigen Tages geschehen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Außerdem
werden wir bald von euren Beobachtungssatelitten entdeckt und
wir möchten keine Konfrontation. Die Reise wird vielleicht zehn
Erdentage dauern und ihr müßt mit der großen Lagerhalle des
Schiffes vorlieb nehmen. Ist euch das recht?“
Die Rosbacher waren sofort begeistert von der Idee. Das
Raumschiff über der Kirche änderte seine Position und landete im
Tal unterhalb der Mühle. Den Stein hatten sie bereits mit Hilfe
eines Traktorstrahles im Laderaum verfrachtet. Leider hinterließ
das Manöver ein großes Loch im Dach der Kirche und Zöller
meinte, jetzt habe die Kirchenbehörde endlich einen trifftigen
Grund das Gebäude anständig zu renovieren.
Man baute eine provisorische Rampe, so daß die vielen Gänge
der Rosbacher zu Fuß erledigt werden konnten. Die schweren Sachen wurden in einen Container verstaut, den die Außerirdischen
frei gemacht hatten und auf dem Dorfplatz abstellten. Dieser
wurde als er gefüllt war ins Schiff gehievt. Kühe, Pferde,
Schweine, Federvieh, Hunde und Katzen kamen über die Rampe
ins Schiff, wo Ruprecht in der Eile einen abgetrennten Bereich gezimmert hatte. Alle Vorräte wurden herbeigeschafft, die sie in ihren Schränken hatten. Für das Viehfutter wurde wiederum der
Container verwendet, den sie zuvor im Schiff entladen hatten.
Auch Werkzeuge wurden verstaut und sogar den Generator und
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die Pumpe nahmen sie mit. Zum Schluß wollte Bauer Jung noch
seinen Pflug und die Egge herbei holen. Doch einer der Außerirdischen gab zu verstehen, daß von den großen landwirtschaftlichen Geräten genügend vorhanden seien - man solle mehr Wert
auf Saatgut und Futter für die Tiere legen.
Der ganze Tag und der Abend verstrich bis sich alles im Raumschiff befand. „Habt ihr alles?“, fragte ein Außerirdischer. „Falls
ihr etwas vergessen habt, ist es nicht so schlimm. Auf dem Planeten wachsen zwar andere Pflanzen, aber sie sind ganz bestimmt
für euch genießbar.“
„Moment,“ sagte Konrad, „eines haben wir noch vergessen.
Gebt uns noch eine Stunde.“
Er nahm drei Männer mit und sie beerdigten Hubert bei Fackelschein auf dem Friedhof. Dann verabschiedeten sie sich von ihrem
Dorf, daß so lange Zeit ihr gemütliches Zuhause gewesen war.
Nun waren sie soweit und gaben den Außerirdischen zu verstehen,
daß alles erledigt sei. „Eigentlich war das die einzig richtige Entscheidung,“ meinte einer der Fremden, „dieser Planet wird in
nicht allzu ferner Zukunft unbewohnbar werden.“
„Woher wollt ihr das wissen,“ fragte Dennis.
„Nun, wir messen und analysieren alles bis ins Detail. In unserem Rechner werden die Ergebnisse ausgewertet und es kam
dabei heraus, daß sehr bald das Klima umkippen wird und die gesamte nördliche Halbkugel unter einer dicken Eisschicht
verschwindet.“
„Oh,“ meinte Sabine, mehr sagte sie nicht.
Das Schiff hob ab und verschwand ungesehen in den grauen
Wolken der Novembernacht, mit einem schwarzen Stein im
Lagerraum, umringt von neunzig Menschen, die gespannt auf ihr
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neues Zuhause warteten.
Als Zöller an dem darauf folgenden Montag morgen nicht zur
Arbeit erschien, rief die Sekretärin des Bürgermeisters bei ihm zu
Hause an, doch niemand nahm den Hörer ab. Sie probierte es noch
viermal und am Mittag schickten sie den Hausmeister des Amtes
los um nachzuschauen, was mit Zöller los sei. Er kam wieder und
berichtete in Rosbach sei kein Mensch und auch kein Tier.
Allerdings hätte er ein großes Loch im Dach der Kirche entdeckt
und der Altar schien gestohlen zu sein.
Darauf hin schickte der Bürgermeister die Polizei ins Dorf, die
die Auskünfte des Hausmeisters bestätigen konnten und darüber
hinaus noch ein frisch aufgefülltes Grab fand, sowie ein rampenähnliche Holzvorrichtung, aus der sie sich keinen Reim machen
konnte.
488
G., 2004
8. Babaluna
Die Stimmung im Konstruktionsbüro war wieder einmal
äußerst gedrückt. Auch die Versuche der notorischen Possenreißer
unter den Kollegen schafften es nicht wirklich die Atmosphäre
aufzuheitern. Die Situation würde solange anhalten, bis die Ursache ergründet und die Fehlerquelle gefunden wurde.
In den Augen der Verantwortlichen ging es darum, Fehlfunktionen auslösende Faktoren zu minimieren. Dabei handelte es
sich nur um die offizielle Version - in Wahrheit konnte keiner der
Beteiligten ruhigen Gewissens bestätigen, daß Fehler nach diesen
Untersuchungen tatsächlich weniger häufig vorkamen.
Das übliche Prozedere, das Heinz immer wie eine Inquisition
vorkam, war längst in Gang gesetzt worden. Der Konstruktionsleiter erschien schon um sieben und seitdem zitierte er nacheinander
alle Beteiligten in sein Büro. Immer wieder spielte sich die gleiche Szene ab. Der zum Gespräch Gebetene betrat mit Spannung
und prüfenden Seitenblick auf seine Mitarbeiter das Büro des
Konstruktionsleiters, die Tür wurde geschlossen und nach einer
Weile, mit unverständlichen aber lauten Äußerungen des Leiters
untermalt, ging die Tür wieder auf und ein frustrierter und in sich
gekehrter Kollege kam heraus.
Den Grund für diesen Vorgang kannten alle, er änderte sich nur
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unmaßgeblich gegenüber den früheren Vorkommnissen dieser
Art. Dieses Mal hatte ein Werkzeug beim Einfahren Schrott produziert; der Kunde zeigte sich äußerst ungehalten, weil der
Termin noch weiter überschritten wurde, als vorher schon absehbar. Der Chef hatte den Konstruktionsleiter darauf hin ordentlich
zusammen gefaltet und eigentlich gab dieser jetzt nur den Druck
weiter.
Das fatale an solchen Situationen bestand darin, daß der
Vorgesetzte der Abteilung selbst gar keine Schuld an dem
fehlerhaften Werkzeug hatte, aber die Verantwortung trug. Des
weiteren konnte in den meisten Fällen auch keine Verschuldung
durch Konstruktionsfehler nachgewiesen werden, zumal viele sich
gegenseitig kontrollierende Teams die Ursachen bis auf ein Restrisiko minimierten.
Meist stellte sich hinterher heraus, daß es nur an unzureichender Kommunikation gelegen hatte; irgend jemand hatte etwas
falsch verstanden und so weiter gegeben oder ein anderer hatte
eine unglückliche Formulierung bei einer Anweisung gegeben, die
eben mißverständlich aufgefaßt werden mußte.
Im Prinzip ging es nur um den Druck bei der Erfüllung eines
Auftrages, ausgehend vom Kunden über die Banken bis zur Geschäftsleitung, die dann den Druck nach unten weiter gab bis zum
kleinsten Glied in der Produktionskette.
Nicht jeder konnte den Automatismus durchblicken, doch in
der Planungsetage, der Konstruktionsebene und vor allem im Betriebsrat, den Heinz als Vorsitzender anführte, waren diese Dinge
schon bekannt. Wenn etwas schief gelaufen war bekamen alle ihr
Fett weg, auch wenn man gar nichts dafür konnte. Und in letzter
Zeit lief öfters etwas schief. Eben nicht wegen nachlässiger
490
Arbeitsauffassung, sondern weil die Termine immer enger
wurden. Es wurde von denen, die den Überblick behielten, als ein
Teil des Verfahrensweges angesehen, genauso dazu gehörig wie
etwa eine Konstruktionsbesprechung, eine Zeichnung oder der
Zusammenbau.
Wenn die Zeitfenster zum Abarbeiten eines Auftrags größer
waren, fielen die Fehler nicht so sehr auf. Sie ließen sich bei den
komplexen Werkzeugen überhaupt nicht vermeiden, sie wurden in
der Regel beim Einfahren bemerkt und behoben. Das interessierte
den Kunden auch nicht. Aber wehe wenn die Zeit drängte. Vor
allem in letzter Zeit häuften sich diese Engpässe, was nicht zuletzt
daran lag, daß die Aufträge immer öfters auf Grund von unhaltbaren Terminversprechungen vergeben wurden.
Das Bemühen des Konstruktionsleiters bestand darin, seine
Abteilung sauber zu halten und Verfehlungen seiner Untergebenen möglichst auszuschließen, damit er als Verantwortlicher seines Bereiches mit reiner Weste dastehen konnte, auch
wenn jeder wußte, daß das ganz und gar unmöglich war.
Dabei handelte er nicht anders als alle anderen Abteilungsleiter
und Meister auch, die am Produktionsablauf beteiligt waren - und
das betraf fast alle in der Firma. Oft stellte sich am Schluß der
Fehlersuche heraus, die Kunden und ihre ständigen Änderungswünsche - vor allem während der Fertigung - leisteten den größten
Beitrag dazu, daß die Produkte nicht immer sofort so
funktionierten wie gewünscht.
Aber der Kunde ist König. Und wie sagte der vor zwei Jahren
ausgeschiedene ehemalige Konstruktionsleiter so schön: ,Nur das
Werkzeug das bezahlt ist, ist ein gutes Werkzeug'.
Die momentan anstehende Krisenstimmung war also nichts
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neues und jeder spielte seine Rolle so wie er sie gelernt hatte.
Heinz erfreute sich immer wieder an der Tatsache, dem Streß
seiner Kollegen nicht in gleichem Maß ausgesetzt zu sein. Denn
sein Arbeitsbereich lag etwas außerhalb der eigentlichen Konstruktion. Seine Tätigkeit mit der Bezeichnung Datentransfer
beinhaltete die Schnittstelle zwischen Kunden und Konstruktion.
Er bediente das Terminal, das die Daten entgegen nahm. Nach
Anpassung an die Grenzwerte der Fertigungsmöglichkeiten
schickte er sie zur Genehmigung wieder zurück an den Kunden.
Bei den Datensätzen handelte es sich um die digitale Wiedergabe
des Endproduktes, welches von den Werkzeugen hergestellt
werden soll.
Der Job war so wichtig, daß er von fünf verschiedenen Abteilungen der Firma kontrolliert wurde. Heinz ließ sich gerne über
die Schultern schauen und hatte lediglich dafür zu sorgen, daß bei
allen Kontrollstellen eine Übereinstimmung zustande kam. Seine
Arbeit bestand also nicht überwiegend aus der Bedienung seines
Computers und der für seine Aufgabe bereitstehenden Programme, sondern eher in dem Überblick, was gerade als aktueller
Datensatz gültig war und welche Anfragen über Änderungswünsche zur Zeit bearbeitet wurden.
Das alles geschah unter Einbeziehung aller Kontrollstellen, vor
allem der technischen Leitung des Betriebes, die man zwischen
Geschäftsleitung und Konstruktion einzuordnen hatte. Ohne die
permanente Rückversicherung mit Unterschriften bezüglich der
Kenntnisnahme wäre Heinz aufgeschmissen gewesen und da auch
an seiner Planstelle Fehler nicht auszuschließen waren, wurde
Heinz in die Inquisition mit einbezogen.
Er war als Letzter an der Reihe für das Klärungsgespräch beim
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Konstruktionsleiter. Heinz nahm seine Unterlagen mit, die ihn und
seine Arbeit von dem Vorwurf freisprechen sollten, an der
fehlerhaften Einarbeitung des betreffenden Werkzeugs beteiligt zu
sein. Er betrat das Büro und schloß die Tür hinter sich. Sein
Verhältnis zu Manfred konnte durchaus als gut bezeichnet
werden. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die wesentlich sensibler mit dem Druck umgingen, schaute er dem Kommenden gelassen entgegen.
„Setz dich Heinz,“ forderte Manfred ihn auf und lehnte sich,
zum ersten Mal an diesem Morgen zurück. Die Sachfragen waren
schnell geklärt, mit dem für Heinz erwarteten Ergebnis. Er konnte
die Anspannung, der Manfred ausgesetzt war durchaus verstehen
und fühlte sich verpflichtet, ihn moralisch zu unterstützen. Denn
wie Manfred des öfteren bei privaten Unterhaltungen durchsickern
ließ, hatte er sich den Job, den er nach dem Ausscheiden des alten
Konstruktionsleiters übernommen hatte, wesentlich leichter
vorgestellt.
„Wir wissen doch beide worum es geht,“ sagte Heinz deshalb.
„Wir sind doch immer die Dummen, wenn etwas nicht so läuft
wie es sollte. Fehler kommen in jeder Abteilung vor, entscheidend
ist doch nur, sie miteinander zu beheben. Es ist einfach nicht gut
fürs Betriebsklima und letztlich auch für die Produktivität des
Ganzen, wenn mit dem Finger auf die Leute gezeigt wird, die
Bockmist gebaut haben. Und du weißt, ich meine damit nicht etwas unter den Teppich zu kehren. Du bist doch auch nicht der Ansicht, mit Druck könnte man Mitarbeiter motivieren.“
„Du hast gut reden von deiner Warte als Obmanns. Du kriegst
ja auch nicht den Kopf gewaschen, wenn etwas daneben geht. Du
wirst mir aber doch recht geben, daß einige Leute mehr Bean493
standungen als andere aufweisen. Ist es nicht so?“
Heinz mußte ihm das bestätigen, aber er kannte auch die Ursachen dafür. „Die Leute haben auch unterschiedlich schwierige
Aufgabenbereiche, darüber hinaus kann man mit einem Teil der
Kunden vertrauensvoll zusammen arbeiten, aber mit einem größeren Teil nicht. Von denen wird man permanent über den Tisch gezogen.“
„Das ist leider sehr wahr,“ fügte Manfred hinzu.
„Letztlich dreht sich doch alles nur ums Geld,“ setzte Heinz
seinen Versuch fort, Manfred aus den vom Streß beeinflußten Gedanken zu einer vernünftigen Betrachtung der Dinge zu führen.
„Wir wissen doch beide, daß Fehler auch in der Chefetage gemacht werden. Wie ist es zum Beispiel mit den Terminen? Aufträge werden doch nur noch erteilt, wenn die Termineinhaltung
Gegenstand des Vertrages ist. Diese Zusagen werden auch dann
gegeben, wenn man schon bei Vertragsabschluß weiß, daß das
nicht gehen kann. Die Regreßstrafen durch die Terminüberschreitungen werden im Preis mit einkalkuliert. Der Kunde weiß
dies natürlich und akzeptiert die relativ hohen Preise nur, weil er
sie regelmäßig durch die Nichteinhaltung der Termine auf Normalmaß senken kann. Im Prinzip ist das alles doch nur ein Spiel,
das auf dem Rücken aller ausgetragen wird und das nur
funktioniert, weil alle glauben, es müßte so sein. Wir beide sollten
das alles doch gelassen sehen, denn wir können immer noch in
den Spiegel schauen, weil wir unser Bestes geben, weil wir unseren Job so gut wir es können erledigen.“
Heinz schaute Manfred an und fragte sich, wie die seines Erachtens gelungene Beschreibung der Verhältnisse bei ihm ankam.
Manfred war in jeder Beziehung Mensch geblieben, brauchte aber
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ab und zu genau diese Augenöffner, um nicht in ein Gedankenschema abzusacken, daß ausschließlich und einseitig nur das Interesse der Firmenleitung beinhaltete. Heinz hatte es Manfred
hoch angerechnet, als dieser einmal bei einem feucht fröhlichen
Anlaß mit anschließendem Gespräch unter vier Augen zugegeben
hatte, wie schwierig es für ihn wäre, persönliches Vorteilsdenken
bei seinen Entscheidungen außen vor zu lassen. Etwas später, bei
einer anderen privaten Zusammenkunft zeigte er sich sogar so ehrlich Heinz mitzuteilen, daß er in Gewissenskonflikte wegen seiner
Aussage gekommen wäre und sich nur dadurch retten konnte, sein
Verhalten als Anpassung und somit als Spiel zu betrachten.
„Redest du eigentlich mit Axel auch so?“, wollte Manfred, jetzt
wieder gut gelaunt wissen.
Jedem in der Firma war bekannt, das Heinz und Axel Roth, der
Chef der Werkzeugbaufirma, privat befreundet waren.
„Ja natürlich, gerade mit ihm,“ erwiderte Heinz. „Glaub' doch
ja nicht, daß der weniger unter Druck steht. Es ist schon eine
große Verantwortung einen Laden mit hundertfünfzig Mitarbeitern zu führen und man muß höllisch acht geben, nicht von der
Konkurrenz aufgefressen zu werden. Allerdings sprechen wir
lieber über andere Sachen, wie etwa Tennis oder Musik. In letzter
Zeit sehe ich ihn leider immer seltener. Verlaß dich drauf, der hat
weniger Freizeit als wir.“
„Das glaube ich unbesehen, dafür verdient er allerdings auch
ein paar Euro mehr als du und ich zusammen.“
Heinz wußte das wohl, doch war gerade das der Punkt, den die
meisten seiner Kollegen vollkommen falsch einschätzten. Axel
gehörte keineswegs zu der Sorte Chef, der mit seinen Einkünften
protzte.
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Der Werkzeugbau zählte im Gegensatz zu den meisten andern
Branchen eher zu den krisenfesten. Solange Autos gebaut wurden,
brauchte man auch Werkzeuge, die die Einzelteile herstellten.
Dazu kam, daß die Spezialisierung einen hohen Grad an Qualifikation und damit auch an qualifizierter Ausbildung der Mitarbeiter sowie umfangreiche Erfahrung erforderte. Die wenigen Betriebe, die diesen Anforderungen gerecht wurden, teilten sich den
Batzen der hauptsächlich von der Autoindustrie georderten Aufträge.
Der Konkurrenzkampf hielt sich also in Grenzen und alle
Firmen dieser Branche verdienten sich zwar keine goldenen Nasen, hatten aber doch ihr geregeltes und gutes Auskommen. Im
Gegensatz zu anderen Firmenleitern brauchte Axel während seines Aufenthaltes in der Firma keine maßgeschneiderten Anzüge
und bei der Wahl seines privaten Fahrzeuges, was überall als Indiz
für Wohlstand gilt, spielten bei ihm familiäre Aspekte eine größere Rolle, als das sonst in seiner Schicht üblich war.
Man konnte Axel getrost als Jungunternehmer bezeichnen mit
durchaus modernen Ansichten. Er mußte den Betrieb früh übernehmen, nachdem der Seniorchef gestorben war. Jetzt zählte er
sechsunddreißig Lenze und hatte schon acht Jahre in dieser Position auf dem Buckel.
Heinz, der schon auf die Fünfzig zuging und bereits in anderen
Firmen gearbeitet hatte konnte vergleichen, wieviel wichtiger es
allgemein ein Chefs nahm, als solcher Anerkennung und Bestätigung zu finden. Axel war da ganz anders, er machte kein Aufhebens wegen seiner Position, was sich nicht allein durch das ,Du'
belegen ließ, das er durchgängig im ganzen Betrieb als Anrede
benutzte.
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Weniger gut kam es bei den Angestellten an, daß er meist eine
unverständliche Abwesenheit ausstrahlte, wenn er durch den Betrieb ging. Die, die ihn nicht kannten interpretierten sein Verhalten als Arroganz, wie man es eben von einem Chef erwartet.
Die anderen sahen darin eher eine Unkonzentriertheit, ausgelöst anscheinend durch die stetige Anspannung seiner Verantwortung. Nur die, die ihn wirklich kannten wußten, daß er ein
Träumer war, oft gedanklich unterwegs in fernen Ländern, weg
von der Realität. Was für viele als Unnahbarkeit ausgelegt wurde,
interpretierte Heinz als liebenswerten menschlichen Zug.
Manfred und Heinz hatten die Pausenklingel bei ihrem
Gespräch überhört und erst als das Telefon ging merkten die
beiden, daß es Zeit fürs Frühstück war. Heinz ging zurück an seinen Arbeitsplatz; die anderen - bereits kauend - schauten ihn auf
seinem Weg erwartungsvoll an.
„Na,“ fragte Siegfried, einer der immer zu Späßen aufgelegt
war, „paßt die Hose noch?“
Heinz verstand die Anspielung und lachte. Er wollte allerdings
nicht darauf eingehen, denn jetzt stand die Tür zu Manfreds Büro
offen und alles was gesagt wurde, konnte man dort verstehen. Die
Gesetzmäßigkeiten in so einem Großraumbüro waren recht merkwürdig und gerade deshalb als menschlich anzusehen.
Vieles was so untereinander besprochen wurde, konnte mißverstanden werden, vor allem von denen, die man nicht direkt ansprach. Allein wegen seiner Erfahrung vermied es Heinz grundsätzlich über andere zu sprechen, die nicht während des Gesprächs
zugegen waren. Diese Unsitte über andere zu reden - meist mit
verändertem Wahrheitsgehalt - kannte Heinz schon aus früheren
Firmen. Ein paar Kollegen vermuteten bei der Analyse solchen
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Verhaltens ihrer Mitarbeiter eine versteckte Absicht der
Vorgesetzten, als Resultat der gängigen Taktik der Menschenführung - teile und herrsche -, vergaßen allerdings zumeist ihren
eigenen Anteil am Geschehen. In Wirklichkeit resultierte es eher
aus dem Mißtrauen untereinander, ausgelöst durch allzu menschliche Ängste.
Heinz hatte die Appelle an seine Kollegen doch offen miteinander umzugehen längst aufgegeben, als zu stark entpuppten sich
die Mechanismen des Eigenschutzes. Dazu gehörte Schadenfreude
über andere, die gerade einen Tadel einzustecken hatten, genauso
wie Schuldzuweisungen hinter dem Rücken, egal ob berechtigt
oder nicht. Als schier aussichtslos hatte er erkennen müssen, welchen Einfluß der Neid auf die Gedankengänge vieler Kollegen
hat. Das abartige daran war, so empfand es Heinz jedenfalls, daß
schon eine Vermutung über Vorteile, die andere angeblich genossen ausreichte, um solche Gefühle einschließlich der entsprechenden Reaktionen auszulösen.
Es kam nicht von ungefähr, daß er die Arbeiter im Fertigungsbereich meist als ehrlicher einstufte, als die Verantwortlichen in
den Führungsetagen. Manches mal beschlich ihn der Gedanke,
daß verschiedene Kollegen den menschlichen Teil ihrer Person
morgens mit an den Kleiderhaken hängten, wo sie ihn abends
wieder in Empfang nehmen konnten.
Das war alles kein Grund zu verzweifeln, man mußte sich
einfach damit abfinden, weil es nicht zu ändern war. Ab und zu
liefen Gespräche ab, die die Hoffnung aufkeimen ließen, es könnte doch noch etwas zu bewegen sein. Doch spätestens ein paar
Tage später, wenn die selben Themen zufällig noch mal angegangen wurden, erkannte Heinz erstaunt, daß es nur wenige gibt,
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die wirklich zuhören. Am Auffälligsten gestaltete sich dieser Mißstand, wenn kluge Sprüche oder witzige Aussagen in kurzen Abständen wiederholt wurden, jedesmal mit dem Anspruch etwas
wirklich spontanes von sich gegeben zu haben, wobei auch die
Zuhörer offensichtlich unter dem selben Gedächtnisschwund
litten.
Wer mit zu hohem Anspruch in Bezug auf Änderungen bei
diesen Dingen hantiert läuft Gefahr zu verschleißen. Das war jedenfalls Hein Resümee, weshalb er dieselbe Distanz aufbaute, die
ihm auch entgegen gebracht wurde. Äußerlich lief alles kollegial,
ja manchmal sogar richtig kumpelhaft, aber wehe man berührte
private Dinge zum falschen Zeitpunkt. Heinz verfuhr also ähnlich
wie die anderen auch, man muß den Tag nur einfach rum bringen
und für geistige Erfrischung sorgt man am Besten nach dem
Verlassen der Firma.
Er war mit diesem Arrangement zufrieden. Das Betriebsklima
hatte einigermaßen zu stimmen, mehr konnte man als Sprecher
der Belegschaft nicht erwarten. Hier und da fühlte er sich veranlaßt ein paar mahnende Worte zu äußern und glaubte es weitest
gehend geschafft zu haben, das in anderen Firmen oft vorkommende Mobbing unter Kontrolle zu haben.
Mit dem Druck mußte jeder selbst fertig werden, er war als
Teil des Gesamten unvermeidlich. Die Sensiblen und Wehleidigen
konnte man als die wirklich Leidtragenden bezeichnen, diejenigen
die laut dagegen aufbegehrten verarbeiteten diese Dinge wesentlich leichter.
Heinz nahm sein Frühstück zu sich und suchte währenddessen
im Internet nach Musikstücken zum down loaden. Das machten
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fast die Hälfte der im Planungsbereich arbeiteten Kollegen; man
hatte sich sogar einen gemeinsamen Ordner im Netzwerk der
Rechner angelegt, auf den alle Zugriff hatten und sich jeder seine
CD's zusammenstellen konnte - natürlich nur während der Pausen.
Davon schloß sich Axel auch nicht aus, obwohl seine von ihm bevorzugte Musikrichtung nur wenigen anderen zusagte und umgekehrt genauso.
Steffen von der technischen Leitung rief an und fragte nach
einem Datensatz, den er von einem Kunden erwartete. Heinz
hatte den Mund noch voll; es bereitete ihm stille Freude mit
diesem Handicap zu antworten um Steffen deutlich zu machen,
das jetzt Pause war. Überflüssigerweise meinte Steffen: „Oh, habe
ich dich beim Essen gestört?“
Heinz nahm die Eingangspapiere und machte sich auf den Weg
zu Steffens Büro. Die beiden technischen Leiter der Firma waren
in zwei eigenen Büroräumen untergebracht, etwas abseits vom
Konstruktionsbereich. Die technische Leitung stellte so etwas wie
eine Zwischenebene zwischen Geschäftsleitung und Konstruktion
dar, was mit dem Status leitende Angestellte untermauert wurde.
Mit ihnen hatte Heinz am Meisten zu tun, denn dort bekam er die
Unterschriften für seine Unterlagen.
Privat pflegte er mit beiden ein freundschaftliches Verhältnis,
sie waren sogar eine richtige Clique, die ab und zu schon mal die
Kneipen der Gegend unsicher machten. Dazu gehörte auch Axel,
der ebenfalls für jeden Unsinn zu haben war, wenn er denn mal
Zeit hatte.
Heinz betraf Steffens Büro und legte die Eingangspapiere auf
dessen Schreibtisch. Mit seinem noch nicht ganz aufgegessenen
Butterbrot in der Hand setzte er sich auf einen Stuhl gegenüber
500
von Steffen, der gerade am Telefonieren war. Das Telefonat schien nicht von besonderer Wichtigkeit zu sein, Heinz merkte wie
Steffen seinen Gesprächspartner schnell los werden wollte andernfalls wäre er der Form halber wieder gegangen.
Bernd, der andere der beiden technischen Leiter schien noch
nicht im Büro zu sein. Jedenfalls hatte Heinz kein Licht darin
gesehen, als er gerade an der offenen Tür vorbei gegangen war.
Steffen legte den Hörer auf und fragte scherzhaft: „Du arbeitest in
der Pause? Und das für mich? Das kann ich ja gar nicht wieder
gut machen.“
„Oh doch. Erzähl mal einen Witz - in letzter Zeit ist alles so
ernst hier.“
Steffen schaute ihn an. „Das hat auch seinen Grund. Uns ist
nämlich gerade ein dicker Folgeauftrag durch die Lappen gegangen - durch den Lapsus am letzten Werkzeug. Axel ist auf
hundertachtzig. Wir müssen das ganze Teil noch mal auseinander
bauen und die Gasdruckfedern wechseln. Das dauert mindestens
noch zwei Wochen und wirft uns ganz weit zurück.“
„Gut ist das wirklich nicht und witzig auch nicht.“
Steffen wußte natürlich, daß er bei Heinz an den Falschen
geriet, falls er beabsichtigte den allgegenwärtigen Druck aufrecht
zu erhalten. Deshalb lehnte er sich zurück und schlug einen
anderen Ton an. „Weißt du, im Moment macht es echt keinen
Spaß mehr. Das ist ja noch gar nicht alles. Die Baumann-Gruppe
hängt uns permanent im Nacken; die würden lieber heute als
morgen den ganzen Laden hier übernehmen. Dann aber gute
Nacht; da werden sich einige ganz schön umgucken.“
Die Baumann-Gruppe galt als Marktführer der Branche - sogar
überregional, sie hatten schon einige mittelständige Werkzeugbau501
betriebe geschluckt. Heinz hatte bisher nicht gewußt, das der
Großunternehmer auch an Axels Betrieb Interesse zeigte. Wenn
sie sich in der Clique privat trafen, galt es als Tabu über Angelegenheiten der Arbeit zu sprechen und mit Axel allein hatte
Heinz schon lange kein Bier mehr getrunken.
Steffen fuhr fort: „Axel geht der ständige Kampf um Aufträge
und Marktanteile schwer auf den Senkel. Jetzt spielen auch noch
die Banken verrückt. Wir könnten über ein Jahr voll ausgelastet
sein, wenn die Banken etwas kulanter bei den Bürgschaften wären. Und letztlich geht es mit der Zahlungsmoral der Kunden
immer weiter bergab. Bei drei ausgelieferten Werkzeugen haben
wir immer noch kein Geld gesehen. Die verschieben einfach die
Endabnahme durch ihre eigenen Leute - produzieren aber schon
fleißig Teile damit. Wirklich Heinz, im Moment habe ich es
einfach dicke.“ Er machte eine Bewegung mit der flachen Hand
quer unter der Nase um zu demonstrieren, bis wohin es ihm stand.
Heinz kannte die Phasen wenn es mal enger wurde, das war
nichts neues; irgendwie ging es immer weiter. Vor allem die
Klagen der Führungskräfte beeindruckten ihn nur mäßig, zu oft
hatte er erlebt, daß es sich dabei um vorbeugende Maßnahmen
handelte, als Motivationsgrundlage für die Untergebenen. Doch
erschien ihm die derzeitige Situation schlimmer als sonst.
Um das Thema zu wechseln, weil er hierbei sowieso nicht helfen konnte sagte er: „Wir sollten alle zusammen noch mal weggehen und einen drauf machen. Arbeitsmoral tankt man am Besten
außerhalb der Firma.“
„Du hast aber auch so was von recht. Bernd meinte gestern
schon, es wird mal wieder Zeit einen richtigen Schlag zu
machen.“
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„Kommt der eigentlich heute noch? Ich brauche noch eine Unterschrift von ihm.“
„Ja, er meinte er wäre gegen Mittag wieder im Haus.“
„Alles klar, ich gehe mal zu Axel. Vielleicht nimmt er sich
auch mal wieder Zeit für uns.“
„Gute Idee. Ach übrigens. Hier, der Eingang, das muß ich mir
erst noch anschauen, bevor ich dir das unterschreiben kann.“
„Ist gut, komm einfach rüber wenn du Zeit hast. Bis nachher.“
Die Tür zum Chefzimmer war wie üblich nur angelehnt. Heinz
schaute vorsichtig herein um zu sehen, ob Axel allein war. Der
saß vor seinem Schreibtisch über einige Landkarten gebeugt. Als
Heinz den Raum betrat sagte Axel: „Mach die Tür zu. Schau dir
das mal an.“
Heinz ging auf Axels Seite des Tisches und erkannte eine Ansammlung von Inseln nordöstlich von Neuseeland.
„Ist das dein nächstes Urlaubsziel?“, wollte Heinz wissen.
Axel ging gar nicht auf die Frage ein. „Hier,“ sagte er und zeigte auf eine der Inseln, „hier schau, das ist Babaluna. Weißt du was
die kostet?“
Heinz schaute ihn fragend mit hoch gezogenen Augenbrauen
an.
„Na, was meinst du?“, ließ Axel nicht locker.
„Keine Ahnung.“
„Dreimillionen US-Dollar. Da gibt es zwei Berge und einen
Süßwassersee in der Mitte. Platz genug für hundert Leute.“
Heinz beschlich eine Ahnung, war aber eher geneigt Axels Enthusiasmus bezüglich der Insel als Teil seiner oft geäußerten Träume ab zu tun. Deshalb wollte er es genauer wissen. „Wie ernst ist
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es dir damit?“
„Diese Inseln hier sind französisches Territorium. Letzte Woche war ich in Paris, ich hatte durch einen Kunden eine Adresse
von einem Makler bekommen, der diese Inseln im Auftrag der
französischen Regierung verkauft. Also wenn du mich so direkt
fragst, die Sache ist sehr konkret.“
Jetzt war Heinz doch recht perplex und suchte sich erst einmal
einen Stuhl zum Setzen. Wie oft hatten sie in abendlichen Stunden
herum gesponnen, wie es wäre alles hinzuschmeißen und einfach
abzuhauen. Das Kreuz des Südens zu sehen war schon seit seiner
Kindheit Axels größter Traum gewesen, was er sich geschworen
hatte, irgendwann einmal in die Tat umzusetzen. Als Heinz später
davon erfuhr, übernahm er diesen Traum und fortan sponnen sie
gemeinsam. Axel hatte das Kreuz des Südens bereits gesehen, seine finanziellen Möglichkeiten gestatteten ihm verschiedene
Urlaubsreisen südlich des Äquators. Und für Heinz, der sich während seiner Urlaubszeiten lieber ins Gebirge verkroch, reichte das
Traumbild ohnehin aus, um zufrieden zu sein.
Ein Blick in Axels strahlendes Gesicht einschließlich dessen
offensichtliche Begeisterung genügten Heinz zu realisieren, daß
der Schritt vom Traum zur Wirklichkeit anscheinend schon
vollzogen war - wenigstens bei Axel. Jetzt kam ihm die Sache
doch etwas plötzlich vor.
„Schau doch nicht so verdutzt. Ich hab' dir noch gar nicht gesagt, wie konkret das alles ist.“
„Du machst mir richtig Angst.“
„Angst? Wie lange kennen wir uns schon? Glaubst du wirklich,
du könntest mir weiß machen, daß du Angst vor Veränderungen
hast? Das nehme ich dir nicht ab.“
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„Ich fasse es nicht. Komm, erzähl mir mehr. Aber hab Mitleid
mit einem alten Mann, Spontaneität ist ein Begriff, an den ich
mich nur noch dunkel erinnern kann.“
„Blödsinn. Du hast mir beigebracht, daß es nie zu spät ist sein
Leben neu zu beginnen.“
So langsam begriff Heinz was hier vorging. War er anfangs
noch erschreckt, als er die Ausmaße von Axels Plan erkannte, so
kam jetzt mehr und mehr die Erinnerung an die Wunschträume
von früher zum Vorschein. Und irgendwie erwachte Abenteuerlust in ihm.
„Los,“ sagte er, „ laß' dich nicht betteln, was war bei dem Makler in Paris?“
Axel schaute ihn mit spitzbübigen Blick an. „Du hast wohl
nicht damit gerechnet, gib's zu. Dachtest die Träume, die wir gemeinsam gesponnen haben wären nur Luftschlösser gewesen.
Warum wohl haben ich den Mist hier die ganze Zeit mitgemacht?
Meinst du, ich wollte in zwanzig Jahren als greiser Mann in den
Ruhestand treten - verbraucht und verschlissen? Unfähig etwas
anderes zu machen als Enkelkinder durch die Gegend zu schieben
oder als Ehrenmitglied im Tennisclub die Hände geschüttelt zu
bekommen? Acht Jahre sind genug mein Freund. Die BaumannGruppe hat ein Angebot zur Firmenübernahme vorgelegt, das ich
nicht ausschlagen werde. Der Vertrag liegt unterschriftsreif beim
Notar. Natürlich habe ich eine Klausel eingebaut, daß keiner hier
aus der Firme entlassen wird. Die Abfindung, die man mir zahlt
reicht dicke. Nicht nur um die Insel zu kaufen, sondern auch noch
für die Grundausstattung die wir brauchen, um dort Fuß zu fassen.
Linda ist total aus dem Häuschen. Schon vor vier Wochen haben
wir uns entschieden die Sache endlich anzugehen und seit vier
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Wochen rennt sie rum, macht Listen was alles gebraucht wird,
holt Infos aus dem Internet, telefoniert mit Freundinnen und so
weiter. Heinz, ich lebe wieder und Linda erst recht.“
Heinz spürte die Entschlossenheit und ließ sich von dem Enthusiasmus mitreißen. „Wie lange hast du den Vorlauf
eingeplant?“
„Ich denke, in zwei bis drei Monaten geht es los. Sobald die Insel bezahlt ist bekommen wir die Eignerurkunde und stell' dir vor,
eventuell könnte ich sogar Gouverneur werden, ist das nicht witzig?“
Heinz wußte nicht, ob er sich jetzt noch auf die Arbeit konzentrieren konnte, doch in diesem Moment fiel ihm das Gespräch
von vorhin bei Steffen ein und meinte zu Axel: „Auch wenn es
jetzt etwas idiotisch klingt, aber ich habe noch etwas zu tun da
drüben. Können wir uns nicht heute abend in unserer Stammkneipe treffen? Dann können wir alles bereden, Steffen will auch
kommen und mit Bernd werde ich heute mittag reden.“
„Nein, das geht nicht,“ entgegnete Axel mit gespielt betrübter
Miene. Dann lachte er auf einmal und platzte heraus: „Weil ihr
alle nämlich zu uns nach Hause kommt heute abend.“
Nun war der Funke gänzlich auf Heinz übergesprungen, er
fühlte sich überwältigt, aber auch verwirrt.
Beim raus Gehen rief ihm Axel hinterher: „Weißt du was? Verrate Steffen und Bernd noch nichts; ich bin auf ihre blöden
Gesichter gespannt, wenn ich ihnen das alles heute abend erzähle.
Ja?“
Heinz nickte grinsend und ging zurück an seinen Schreibtisch.
Er gehörte wirklich nicht zu der Sorte Mensch, der leicht aus der
Fassung zu bringen ist. Doch nun überschlugen sich die Gedanken
506
in seinem Kopf. Träume waren eine Sache, doch war er überhaupt
fähig so einen Schritt in Wirklichkeit durchzuziehen? Seine Gedanken beschäftigten sich mit den Konsequenzen, vor allem konnte er nicht überschauen, wie seine eigene Familie auf die Aussicht
reagieren würde tatsächlich das zu tun, was er jahrelang als
Wunschtraum ausgemalt hatte.
Er war zum zweiten Mal verheiratet. Aus erster Ehe wuchsen
zwei Kinder heran, die jetzt schon mit dem Studium fertig waren,
beziehungsweise bereits im Arbeitsleben standen; die beiden sah
er nur noch selten. Seine zweite Frau Sabine hatte einen Sohn und
eine Tochter mit in die Ehe gebracht, die beide noch zur Schule
gingen.
Linda, die Frau von Axel und Sabine kannten sich nur von
wenigen gemeinsamen Familientreffen, wobei auch schon mal
Ausstiegsträume angedacht wurden.
Heinz konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie Sabine
sich dazu geäußert hatte. Jedenfalls wenn sie alleine waren,
spielten diese Wunschvorstellungen keine Rolle und seine Traumschilderungen wurden stets mit dem Begriff ,Spinner' beendet. Sie
waren erst fünf Jahre verheiratet und allem Anschein nach noch
immer glücklich miteinander - da sind andere Dinge von Belang.
Seine Gedanken brachten ihn nicht weiter; eine Antwort würde
sich erst einstellen, wenn er Sabine mit Axels Ideen konfrontierte
und bis dahin, ja bis dahin mußte er sich selbst entschieden haben.
Irgendwie war ihm mulmig zumute. Wie würde Sabine reagieren?
An seinem Arbeitsplatz angekommen erwartete ihn bereits
Steffen. Der unterhielt sich gerade mit Stephan, dem Programmierer vom Nachbartisch über Fußball, während Heinz seinen
Computer bediente, um die angesprochene Datei aufzurufen.
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Steffen setzte sich neben ihn und meinte, die Löcher in dem abgebildeten Teil müßten nachgemessen werden. Heinz ging an die
Bearbeitung und erwähnte beiläufig, daß sie sich heute abend bei
Axel treffen sollten.
„Wieso bei ihm?“, fragte Steffen. „Ist Linda nicht zu Hause?“
Linda konnte sich normalerweise nicht für die privaten Treffen
der Clique begeistern. Sie verabscheute Alkohol und mochte es
nicht, wenn die Männer zu Hause vor den Kindern tranken.
„Doch,“ antwortete Heinz, „er will uns wohl im Familienkreis
sprechen, womit auch die Frauen gemeint sind. Genaueres kann
ich dir nicht sagen. Sicherlich wird es spannend.“
„Warum nicht?“ Damit war das Thema abgehakt und sie konzentrierten sich wieder auf ihre Arbeit. Das die Frauen bei dem
Treffen am abend ebenfalls eingeladen waren hatte Heinz von
sich aus hinzugefügt; für ihn war es in Anbetracht des Themas
selbstverständlich.
Der restliche Vormittag schleppte sich dahin, jedenfalls kam es
Heinz so vor. Es fiel ihm schwer die Gedanken, die Axels Plan
ausgelöst hatten einfach beiseite zu schieben.
Um elf Uhr fand eine Projektbesprechung statt, bei der
Manfred nochmals auf die Dringlichkeit des zu überarbeitenden
Werkzeugs hinwies. Dann kam die Mittagspause und Heinz setzte
sich draußen auf die Terrasse, wo einige Kollegen aus der Fertigung ihr Essen einnahmen. Darunter befand sich auch Kevin, der
Jugendvertreter des Betriebsrates, der die Gelegenheit nutzte,
Heinz über einige Mißstände bei der Lehrlingsausbildung zu unterrichten.
Heinz kam die Ablenkung gerade recht und so verbrachten sie
die Pause im Gespräch über den Ausbilder und verabredeten zum
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Schluß, das Thema bei der nächsten Sitzung aufzugreifen.
Wieder zurück am Arbeitsplatz rief Heinz bei Bernd an, der gerade in den Betrieb gekommen war. Er wollte erst einmal was
essen und meinte: „In einer halben Stunde habe ich Zeit für dich,
okay?“
Bernd war der einzige der vier Männer aus der Clique, der sich
auch dann mit Schlips und Kragen in der Firma aufhielt, wenn
kein Kunde sich angekündigt hatte. „Wenn schon Kompromiß,
dann richtig,“ hatte er einmal geäußert, als Heinz ihn danach fragte.
Das dies Verhalten tatsächlich nur ein Arbeitszeit andauerndes
Spiel für Bernd bedeutete, bestätigte er um so deutlicher in der
Freizeit. Dort trug er abgewetzte Klamotten und besonders wenn
er seinem Hobby, der Gärtnerei nachging, wofür er jede freie Minute aufwendete, konnte er seine Frau Judith ganz schön auf die
Palme bringen. Er brachte es ohne besondere Gedanken daran zu
verschwenden fertig, über und über mit Gartenerde verdreckt ins
Haus zu kommen. Von den Kunden hätte ihn in diesem out-fit garantiert niemand erkannt.
Manfred befand sich auf einem Rundgang in der Fertigungshalle, was die Kollegen im Konstruktionsbüro nutzten um heraus
zu finden, ob der Schuldige für das defekte Werkzeug schon ausfindig gemacht sei. Heinz beteiligte sich nicht an dieser Diskussion. Als man ihn ansprach um zu erfahren, was Manfred ihm
gegenüber geäußert hatte meinte er nur: „Das übliche.“
Er war einfach zu weit weg von den Belangen der Leute; er
brauchte sogar eine ganze Weile um zu verstehen, was sie eigentlich von ihm wollten. Seit dem Telefongespräch mit Bernd hatte
er sich hinter seinen Monitor zurück gezogen und seine Gedanken
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glitten ganz von allein zur Insel. Man ließ ihn in Ruhe, denn anscheinend war da nicht viel zu holen.
Kurze Zeit später ging er zu Bernd und unterrichtete ihn von
der Verabredung heute abend bei Axel. Zwischen den beiden Büros von Bernd und Steffen befand sich eine Tür, die nur geschlossen wurde, wenn einer von beiden Kundenbesuch hatte.
Steffen hatte Heinz gehört und kam jetzt durch diese Tür um
Bernds Reaktion mit zu bekommen. Bernd hatte noch gar nichts
dazu gesagt, da meinte Steffen: „Findest du es nicht auch ein bißchen komisch? Da ist doch irgendwas im Busch.“
„Wieso? Das ist eben ein Treffen mit den Frauen zusammen.
Wir können doch nachher immer noch woanders hingehen. Und
wenn nicht, machen wir es morgen am Freitag. Das ist sowieso
günstiger, weil wir ausschlafen können.“
„Eigentlich hat er die Frauen gar nicht erwähnt vorhin; ich hab'
mir das nur zusammengereimt, weil Linda auch da ist,“ gab Heinz
zu verstehen.
„Da lagst du vollkommen richtig,“ bestätigte Bernd, „ auf dem
Weg zur Firma habe ich mit ihm vom Auto aus telefoniert und da
sagte er mir schon, das wir die Frauen mitbringen sollen.“
„Ich bin mal gespannt, was meine Holde dazu sagt,“ warf
Steffen ein, „und ob sie überhaupt Zeit hat. Ich ruf sie gleich mal
an.“
Bernd fragte Heinz: „Weißt du was genaueres? Axel hat nichts
weiter gesagt als ,Es wäre unheimlich wichtig', was meint er
denn?“
„Mit hat er gesagt, wir sollen uns überraschen lassen. Ich muß
Sabine auch noch anrufen. Auf jeden Fall wird es kein gewöhnliches Treffen. Da bin ich mir sicher.“ Mehr wollte Heinz nicht
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dazu sagen; warum sollte er Axel den Spaß verderben.
Die restlichen Stunden mußte sich Heinz richtig quälen; je öfters er auf die Uhr schaute, um so langsamer schien ihm die Zeit
bis zum Feierabend zu vergehen. Um drei Uhr hielt er es nicht
mehr aus und meldete sich am Zeitterminal ab. Die Kollegen
wunderten sich, weil er sonst nicht so früh ging. Er teilte ihnen
mit, er hätte noch was zu erledigen und verschwand.
Zweimal hatte er versucht mit Sabine zu sprechen, doch anscheinend war sie nicht zu Hause und ihr Handy schien wie so oft
ausgestellt zu sein. Wie wird sie wohl reagieren? Diese Frage
beschäftigte ihn während der ganzen Heimfahrt. Nach zwanzig
Minuten zähem Berufsverkehr stellte er endlich den Wagen vor
der Garage ab.
Sabine empfing ihn an der Haustür, anscheinend war sie auch
gerade erst gekommen. „Hallo Schatz, ich habe dich nicht so früh
erwartet. Das Essen dauert noch ein Weilchen. Möchtest du was
trinken?“
Heinz legte seine Tasche auf den Arbeitstisch in der Ecke und
hängte seine Jacke auf. In die Hausschuhe geschlüpft machte er es
sich im Wohnzimmer bequem. Von oben hörte er die Stimmen der
Kinder, die sich über irgend etwas stritten. Als Sabine mit einem
Glas Orangensaft ins Wohnzimmer kam sagte Heinz: „Setz' dich
bitte, ich muß mit dir reden.“
Überrascht von seinem ernsten Ton setzte sie sich auf einen Sessel
neben der Couch. Sie spielte um die ungewohnte Situation,
vielleicht auch ihre aufkommende Unsicherheit zu überbrücken
das artige Kind. „Hab' ich was ausgefressen, Papi?“ Als Heinz
nicht sofort reagierte steigerte sich ihr unbehagliches Gefühl und
sie fragte: „Ist was passiert?“
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„Noch nicht, aber es könnte bald etwas wirklich einschneidendes geschehen.“
Jetzt war Sabine besorgt, so ernst hatte sie ihn noch nie gesehen. Heinz merkte, daß er falsch angefangen hatte und versuchte
die Sache anders anzugehen.
„Es ist kein Grund sich Sorgen zu machen, ganz im Gegenteil.
Eigentlich ist es etwas positives, nur ...“
Sie unterbrach ihn voll Ungeduld: „Ach bitte, mach' es doch
nicht so spannend.“
„Also, du kannst dich doch noch an unseren letzten Besuch bei
Axel und Linda erinnern. Weißt du noch, was Linda da erzählt
hatte?“
„Heinz, das ist doch schon ziemlich lange her.“
„Na gut, ich werde es dir noch mal erzählen, dann fällt es dir
gewiß wieder ein. Linda sagte damals, daß irgendwann einmal die
Zeit kommen würde, wo ihre Wünsche in Erfüllung gingen. Danach haben wir Urlaubsfotos aus Kanada angeschaut und sie war
so fasziniert von der herrlichen Landschaft.“
„Ja, jetzt weiß ich es wieder. Axel sagte noch, daß das keine
Gegend für ihn wäre - zu wenig Strand, glaube ich.“
„Ja genau. Die beiden haben aber nicht aufgehört nach einem
Platz zu suchen, wo sie die zweite Hälfte ihres Lebens verbringen
wollen.“
„Und jetzt haben sie ihn gefunden?“, folgerte Sabine mit ihrer
Frage.
„Jetzt haben sie ihn gefunden.“
„Und was wird aus der Firma? Will er sie verkaufen? Und was
ist dann mit deinem Arbeitsplatz? Gibt es da eine Änderung?
Wolltest du mir das mitteilen? Ehrlich gesagt hört sich das nicht
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so positiv an.“
Heinz konnte sich nicht mehr zurückhalten; besser gerade heraus, als sich in wilden Umschreibungen zu verzetteln. „Es könnte
eine Änderung geben, wenn wir wollen. Axel will eine Insel
kaufen, irgendwo im Pazifischen Ozean - und er will, daß alle seine Freunde und deren Familien mitkommen. Er hat es zwar nicht
so gesagt, aber du weißt wie gut ich ihn kenne. Das betrifft auch
Steffen und Bernd und ich glaube noch ein paar Familien.“
Nun wußte Sabine nichts mehr zu fragen, statt dessen meinte
sie: „Ich muß nach dem Essen schauen.“
Heinz merkte natürlich, sie brauchte Zeit um das alles erst einmal zu verdauen. Nachdenklich darüber wie sie es verarbeiten
würde schaute er ihr nach, wie sie in der Küche verschwand.
Einer spontanen Eingebung folgend ging er hinter ihr her. Sie
stand vor der Spüle, die Hände an der Kante abgestützt und
Tränen liefen ihre Wangen herunter. Er sah das erst, als er sie von
hinten umarmte und sie auf den Hals küßte.
„Jetzt bist du schockiert,“ meine er, „aber schonender konnte
ich es dir nicht erzählen.“
Sie nahm ein Taschentuch aus der Tasche und schneuzte kräftig hinein.
„Willst du das denn?“, kam es etwas gedrückt aus ihr heraus.
„Ach mein Liebes, du fragst manchmal Sachen. Ich war doch
genauso überrascht wie du. Ich hab's erst heute erfahren und bin
aus allen Wolken gefallen. So eine Sache will doch reiflich überlegt sein; das geht nicht von heute auf morgen. Aber die Möglichkeit ist jetzt da und kommt wahrscheinlich nie wieder - ich kann
das nicht einfach kategorisch ablehnen. Ich glaube, die Sache ist
es wert, wenigstens darüber nachzudenken. Außerdem gehe ich
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nirgendwo hin ohne dich und die Kinder.“
Sie atmete tief durch. „Ich dachte, du hättest dich schon entschieden. Entschuldige Schatz.“ Jetzt lächelte sie sogar wieder.
Sie drehte sich um und gab ihm einen Kuß auf den Mund. „Setz
dich bitte an den Tisch, das Essen ist fertig.“
„Hi daddy,“ rief Phillip, der jüngere der beiden Geschwister
Heinz entgegen, als er die Treppe herunter gepoltert kam. Jennifer
mußte erst noch eine Beschwerde über ihren Bruder loswerden,
bevor sie Heinz begrüßte.
„Haltet jetzt mal Ruhe, Kinder,“ nahm Sabine das Heft in die
Hand. „Heinz will euch was wichtiges fragen.“
„Übrigens findet heute abend so etwas wie eine Besprechung
bei Axel statt; wir sind alle eingeladen,“ begann er seine Erklärung von Axels Plan. Er vermied es seine eigene Ansicht darüber
mitzuteilen und beschrieb ausschließlich was Axel vorhatte.
Die Reaktionen kamen wie erwartet. Phillip schlug mit den
Händen auf den Tisch. „Oh ja, oh ja,“ rief er immerzu. Jennifer,
mit sechzehn drei Jahre älter als ihr Bruder, fand die Idee total
blöd, wie sie sagte. Sie stellte sich ein ärmliches Leben im Busch
vor, ohne Freundinnen und ohne Disco, wobei sie gar nicht weit
entfernt von dem lag, was sie tatsächlich erwartete.
„Das ist alles nur ein Vorschlag,“ schloß Heinz seine Erläuterungen, „laßt es euch einfach nur mal durch den Kopf gehen. Aber
versucht dabei alles zu bedenken, was euch dazu einfällt. Es wäre
gut, wenn ihr die Vorteile und Nachteile vergleicht, vor allem du
Philipp. Es ist ein ganz anderes Leben und es ist bestimmt nicht
alles schön, aber es hat auch Vorzüge gegenüber dem Leben hier.
Versucht das für euch heraus zu finden. Niemand wird zu nichts
gezwungen.“
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Damit sprach er eigentlich Sabine an. Als er sich seine eigenen
Worte noch mal durch den Kopf gehen ließ fiel ihm auf, daß er
selbst immer deutlicher zur Umsetzung des Plans tendierte. Und
dann wurde ihm auf einmal klar, er hatte sich längst entschieden;
seit er in Axel's Büro über die Landkarten geschaut hatte ließ ihn
das Gefühl nicht mehr los, daß sein Leben eine entscheidende
Wende machte. Er schaute Sabine an und wußte in diesem
Moment, er würde für die Umsetzung der Idee kämpfen.
Die Kinder räumten den Tisch ab, Sabine und Heinz nahmen
im Wohnzimmer Platz.
„Also hat Axel die Sache schon lange geplant,“ begann sie das
Gespräch. „Eigentlich bewundernswert, daß man sich so einen
Einschnitt ins Leben vornimmt und dann tatsächlich umsetzt.“
„Ja, das sehe ich auch so. Aber viele werden ihn auch für verrückt halten. Kommst du mit heute abend?“
„Ja natürlich. Ich will wissen, wie die anderen die Sache sehen.“
Eine Weile schwiegen sie, dann fragte Sabine: „Sollen wir das
alles hier aufgeben? Sind wir nicht schon ein bißchen zu alt für so
was?“
„Du nicht, ich schon eher,“ womit er den Altersunterschied von
zwölf Jahren zwischen den beiden anspielte.
„Ach, weißt du, ich komme mir manchmal schon so alt vor und
dann sehe ich dich mit den Kindern spielen oder vom Tennis kommend und erkenne keinen Altersunterschied. Eigentlich fühle ich
mich oft sogar älter als du.“
„Meinst du nicht, das liegt an der Art, wie wir hier in der
Gesellschaft leben? Die meisten Menschen verbrauchen ihre Vitalität bei der Einrichtung eines sorgenfreien Lebens und wenn
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das dann einigermaßen gegeben ist, sind sie müde und warten nur
noch auf die Rente. Dann findet man auch keine Herausforderungen mehr, die einen weiter bringen könnten, weil alles so
eingerichtet ist wie in einer Zwangsjacke. Ist das ein lohnenswertes Leben? Sind das die Ideale, die man als Jugendlicher
erträumt hat?“
Sabine schaute ihn an. „Du hast dich schon entschieden.“
„Ja, vielleicht. Vielleicht ist es das, was wir machen sollten.“
„Ich kann das nicht, - aber ich verstehe dich. Paß auf, ich verspreche dir, mir die Sache gründlich zu überlegen.
Einverstanden?“
„Mehr erwarte ich auch nicht; du bist ein Schatz.“
Bis zur Abfahrt sprachen sie nicht weiter über dieses Thema.
Die Kinder wollten lieber zu Hause bleiben und so fuhren sie in
Heinz Wagen den Weg zu Axel und Lindas Haus.
Schon beim Öffnen der Haustür schwappte ihnen eine Atmosphäre größten Durcheinanders entgegen. Da gab es keine Begrüßung mehr und von stilvollem Miteinander konnte überhaupt
keine Rede sein. Axel lag mit Steffen und Bernd auf dem Teppich
und studierte die Karten. Die Frauen gestikulierten wie wild
durcheinander und ein paar der mitgebrachten Kinder komplettierten das Chaos.
Überall lagen Papiere und Bücher herum, die beiden Neuankömmlinge wußten gar nicht wo sie sich hinsetzen sollten. Bei der
Suche nach einem geeigneten Platz stellte Heinz fest, daß alle da
waren, die er erwartet hatte und dazu noch fast alle Kinder. Den
Überraschungseffekt hatten sie also verpaßt, aber das war jetzt
auch nicht mehr wichtig. Es gehörte einfach zu seiner Rolle in der
Clique, das Heft in die Hand zu nehmen wenn er es für nötig hielt.
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Ob es nun daran lag der Älteste zu sein, wollte Heinz gar nicht
wissen.
Er nahm ein Glas vom Tisch sowie einen Löffel und ließ beim
Anschlagen einen hellen Ton erklingen, den alle aus ihrem Tun
heraus riß. „Leute,“ meinte er als Ruhe eingekehrte, „laßt uns die
Sache vernünftig angehen. Ich bin sicher nicht der Einzige, der
einen Haufen Fragen hat und wir kommen nicht weiter, wenn alle
durcheinander reden. Vorschlag: Axel oder Linda klären uns erst
einmal über den Stand der Dinge auf. Dann möchte ich von euch
allen hier wissen, wie sie dazu stehen. Einverstanden?“
Die Logik seiner Ausführung überzeugte alle. Daran änderte
sich auch nichts als Axel übermütig meinte: „Papa hat gesprochen, jetzt müssen wir artig sein.“
Linda fühlte sich aufgerufen die Sache in die Hand zu nehmen.
„Heinz hat ganz recht. Die Angelegenheit ist zu wichtig um sie zu
zerreden. Also, nachdem jetzt alle informiert sind was wir vorhaben und ich hoffe alle haben verstanden, daß wir euch dabei
haben wollen, will ich euch sagen, wie weit wir sind. Die Firma
wird Anfang nächster Woche verkauft. Da gibt es kein ,Wenn' und
,Aber' mehr. Selbst wenn irgendwas unplanmäßiges dazwischen
kommen sollte, vom Kern des Plans - nämlich endgültig auszusteigen - gibt es kein Zurück mehr. Bis alles mit Notaren und
Anwälten geregelt ist vergehen mindestens vier Wochen. Wir
rechnen mit der Auszahlung der Abfindung Ende nächsten Monats, also in ungefähr sechs Wochen. Vorher aber fliegt Axel mit
dem Makler nach Papeète, der Hauptstadt von Französisch-Polynesien, um von da aus einen Rundflug über die Insel Babaluna zu
machen. Wenn sie ein Wasserflugzeug bekommen, will der Makler auch dort landen. Wenn die Insel genauso in Wirklichkeit ist,
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wie wir sie auf Bildern gesehen haben, werden wir sie kaufen. Die
Formalitäten nehmen zwei Monate in Anspruch, das läßt sich
leider nicht ändern. Heute habe ich mit dem Auswärtigen Amt in
Paris telefoniert und die haben mir versichert, daß keine Einwände
für die Besiedlung bestehen. Dazu müssen ein paar Anträge ausgefüllt und einige Auflagen eingehalten werden. Die Formulare
schicken sie uns die nächsten Tage zu und bevor wir sie ausgefüllt
zurückschicken, sollte sich jeder entschieden haben, da die Übersiedler alle namentlich erfaßt sein sollen. Später wenn alles
perfekt ist, werden wir uns bei der französischen Botschaft vorstellen müssen um alle Papiere fertig zu machen.
Wir werden auf der Insel nicht als Touristen behandelt sondern
als Einwanderer; politisch sind wir dann Papeète unterstellt, zumindest für die ersten Jahre. Zu den geforderten Auflagen gehört
die medizinische Versorgung, also eine Krankenstation und
möglichst ein promovierter Arzt. Zur Pflichtausrüstung zählt
ebenso eine Funkstation, damit wir Kontakt zur Außenwelt haben,
zum Beispiel um vor Unwettern gewarnt werden zu können.
In der Zwischenzeit werden wir uns mit den Vorbereitungen
beschäftigen. Es muß Ausrüstung angeschafft werden und die
Übersiedlung will organisiert sein. Außer den vier Familien die
heute hier sind gibt es noch weitere, die mitmachen sollen. Fest
zugesagt haben erst zwei. Das ist mein Bruder und seine Frau - die
sind kinderlos. Und da ist noch Erich, unser Hausarzt - die meisten von euch kennen ihn -, seine Frau und ein fast erwachsener
Sohn. Alle anderen brauchen noch Bedenkzeit. Allerdings muß
ich dazu sagen, soviel Zeit zum Überlegen bleibt nicht. Denn ihr
habt alle Eigentum, Häuser und Autos und so weiter. Wer sich
entschieden hat mitzukommen, muß seine Angelegenheiten hier
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erledigt haben. Entweder müssen die Immobilien vermietet oder
verkauft werden. Was jeder mit den Erlösen aus den Verkäufen
anstellt ist seine Sache, für die Insel ist kein weiteres Geld nötig.“
„Halt,“ gab Axel zu bedenken, „das kommt darauf an, unter
welchen Bedingungen man dort leben will. Erich will sich zum
Beispiel ein Boot kaufen, wenn er die Praxis verkauft bekommt
und das können wir da unten gut gebrauchen.“
„Das nenne ich praktisch gedacht,“ übernahm Linda wieder das
Wort. „Damit sind wir auch schon beim letzten Punkt des gegenwärtigen Planungsstandes. Alle Dinge die mitgenommen werden
sollen, auch die Werkzeuge die wir für den Bau einer kleinen
Siedlung benötigen, müssen aufgelistet werden, damit wir einen
Überblick bekommen bezüglich des Transports. Wir haben vor
alles in Container zu verpacken und nach Wellington in Neuseeland zu schicken. Dort werden die Container auf ein Frachtschiff
verladen, der sie dann zur Insel bringt. Wir haben schon Kontakt
aufgenommen mit einem Transportunternehmen, die solche
Transporte öfters machen. Die wollen hunderttausend Euro für
zwei Container haben von hier bis vor die Insel - Abladen müssen
wir allein. Der Preis ist zwar heftig, dafür sind die Sachen natürlich versichert. Der Transport dauert vier Wochen, das heißt wir
müssen - wenigstens zum Teil - schon vorher mit einer Notausrüstung da sein.
Das was ich euch jetzt so alles erzählt habe ist natürlich nur ein
grober Plan. Es werden noch einige Arbeitsstunden nötig sein, um
die Organisation bis ins Detail auszuarbeiten.“
Nach einer Weile des Schweigens, denn allen wurde bewußt,
wie gewaltig der Schritt vom Traum zur Wirklichkeit ist, fragte
Judith, die Frau von Bernd: „Ist das eigentlich ein one-way519
ticket?“
„Selbstverständlich nicht, schließlich wollen wir nicht von
einem in ein anderes Gefängnis übersiedeln,“ gab Axel zu verstehen, „aber die Zelte die man hier abbricht - und sie sollten
abgebrochen werden - müssen erst wieder aufgebaut werden; das
gilt es zu bedenken.“
„Nun, wie sieht's aus,“ fragte Linda, „Heinz Idee war goldrichtig; jeder sollte seine Meinung dazu sagen. Natürlich weiß ich,
daß man sich nicht sofort entscheiden kann bei so einer gewaltigen Sache. Trotzdem interessiert mich eure Meinung.
Vielleicht weiß der eine oder andere jetzt schon, daß er unter
keinen Umständen mitmachen will. Dafür wird jeder Verständnis
haben glaube ich und bestimmt wird niemand sauer darüber sein.“
Die geäußerten Meinungen waren doch recht unterschiedlich.
Die Unentschlossenen redeten allerdings etwas um das Thema
herum, da sie noch längst nicht alles verarbeitet hatten. Steffen
und seine Freundin Petra, die er immer seine Holde nannte,
brauchten nicht lange zum Überlegen. Sie waren ebenfalls kinderlos und augenscheinlich fiel ihnen unter diesen Voraussetzungen
die Entscheidung leichter.
„Wir sind dabei,“ jauchzte Petra und Steffen fügte hinzu: „Ihr
glaubt doch nicht im Ernst, daß ich einen Finger für Baumann
krumm machen werde. Schon seit Jahren gehen uns Ausstiegsgedanken durch den Kopf, ich habe euch das nicht erzählt weil ich
dachte, ihr würdet mich für bekloppt halten.“
Judith, deren drei Kinder jetzt still lauschend an ihrer Seite
kuschelten, hatte einige Bedenken. „Was ist denn auf der Insel?
Gibt es da Schlangen und Spinnen oder vielleicht Raubtiere? Habt
ihr euch da mal erkundigt?“
520
Axel antwortete: „Der Makler hat mir gesagt, daß sie vollkommen unbewohnt ist. Sie liegt zwischen dem fünfzehnten und
zwanzigsten Breitengrad südlicher Breite und ist vom Klima her
ähnlich wie Nordaustralien. Also keine Wüste sondern eher dichter Regenwald, man kann getrost von tropischem Klima ausgehen.
Schlangen und Spinnen werden sich nicht vermeiden lassen,
allerdings bin ich sicher, daß es keine größeren Raubtiere gibt, dafür ist die Insel einfach nicht groß genug. Aber genaueres erfahre
ich erst, wenn ich da bin. Natürlich nehme ich eine Kamera mit
und werde euch haargenau Bericht erstatten.“
Heinz mußte eine Frage los werden, die ihn schon die ganze
Zeit beschäftigte: „Französisch-Polynesien ist doch das Gegend,
wo die Franzosen ihre Atomwaffentests durchführen. Liegt die Insel in der Nähe von diesem Gebiet?“
Linda grinste: „Das war auch meine erste Frage gewesen, die
Axel dem Makler stellen sollte. Also, die unter französischem
Schutz stehenden Inseln befinden sich in einem riesigen Gebiet.
Das Testgelände ist mehr als tausend Kilometer Luftlinie entfernt
von der Tuamotu-Inselgruppe, zu der Babaluna gehört. Die letzten
Versuche haben die Franzosen vor zehn Jahren gemacht und wenn
man sich auf die Karten verlassen kann, die wir uns besorgt
haben, sind die radioaktiv belasteten Luftströmungen hauptsächlich nach Osten abgezogen. Der Makler meinte, es wären
einerseits keine weiteren Tests geplant, sonst bekäme die Regierung keine Käufer für die Inseln und andererseits hätte man die
Inseln auf Radioaktivität untersucht und eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt, die dem Kaufvertrag beigefügt wird.“
„Das sind Konsolidierungsmaßnahmen,“ erklärte Axel, „die
müssen ihren maroden Haushalt auffrischen. Dazu sollen mehr als
521
vierzig Inseln verkauft werden.“
„Gleich morgen werde ich einen Makler beauftragen unsere
Wohnung zu verkaufen,“ meinte Petra. „Vermieten ist doch bescheuert; was sollen wir auf der Insel mit Geld anfangen? Und
hier finanzielle Rücklagen anlegen für eine eventuelle Rückkehr?
Ich denke gar nicht daran.“
„Und wenn irgendwas mit dem Haus ist oder die Mieter ausziehen, muß man jedesmal zurück,“ ergänzte Steffen, „das kann es
doch nicht sein.“
„Was meint ihr Kinder,“ wendete sich Bernd an seine Kleinen;
selbst hatte er sich noch gar nicht geäußert.
„Wenn es da Schlangen gibt, will ich da nicht hin,“ gab die
fünfzehnjährige Paula zu verstehen.
Sebastian, mit siebzehn der älteste der drei Kinder meinte:
„Granatenstark. Keine Schule mehr, kein Streß mehr mit Lehrern nur noch fun, irre. Wegen mir könnte es gleich losgehen.“
Die dreizehnjährige Anke war ebenfalls Feuer und Flamme.
„Schlangen haben doch Angst vor Menschen und Spinnen finde
ich cool. Ich paß' schon auf dich auf, Mama.“
„Und was ist mit dir Bernd?“, fragte Axel.
„Wir werden die Sache zu Hause in Ruhe besprechen. Ich will
keinen mit meiner Meinung beeinflussen; in jedem Fall werden
wir als Familie entscheiden - anders geht es nicht.“
„Und du Sabine,“ wollte Linda wissen.
„Was ich dazu denke? Lacht mich aber nicht aus. Ich hab'
einfach Angst; ich bin nicht so mutig wie ihr. Da sind so viele unbekannte Faktoren, die wir hier gar nicht einschätzen können. Und
die, die wir voraus sehen können, sind schon furchteinflößend
genug. Bei unseren Kindern steht es fünfzig zu fünfzig. Ich brau522
che noch Zeit.“
Sie verbrachten noch über eine Stunde beim ,Für' und ,Wider'.
Dann verabschiedeten sich Sabine und Heinz. Axel meinte:
„Vergeß' nicht Heinz, du mußt eine Betriebsversammlung einberufen, damit die Belegschaft von der Änderung in Kenntnis
gesetzt wird. - Kommt gut nach Hause.“
Auf dem Weg zurück fragte Sabine: „Hältst du mich eigentlich
für feige?“
„Du bist doch nicht feige; eher vorsichtig, würde ich meinen.“
„Vielleicht bin ich ja übervorsichtig.“
In diesem Moment kam ihnen auf dem kurzen Stück Landstraße ein voll aufgeblendetes Fahrzeug entgegen und hielt direkt auf
sie zu. Geschickt wich Heinz aus, sonst hätte es einen Zusammenstoß gegeben. Nach einer Weile der Beruhigung, bei der
man erst merkt, wie gefährlich die Situation eigentlich war sagte
Heinz: „Weißt du, es gibt auch in dieser Welt keine Sicherheit.
Nur haben wir uns hier an die Gefahren gewöhnt, weil sie bekannt
sind. Ich glaube das ist der Grund, warum du dich gegen eine
Änderung wehrst, weil du die Gefahren nicht überschauen kannst,
die auf uns zukommen.“
„Da hast du vielleicht recht. Aber Augen zu und drauf; dafür
bin nicht der Typ. Du kennst mich.“
„Na klar. Aber selbst wenn man alle Risiken abwägt, letztlich
muß man sich einfach überwinden; Unbekanntes ist nicht kalkulierbar.“
Sie fuhren die Einfahrt zur Garage hoch, das Tor öffnete sich
per Fernbedienung und Heinz parkte den Wagen in der Garage.
„Was denkst du?“, wollte er wissen, weil Sabine etwas abwesend
schien.
523
„Ach Schatz, ich stelle mir gerade einen Abend unter Palmen
vor; im Mondschein am Strand spazieren gehen und Sterne ohne
Ende. Und morgens vom Krächzen der Papageien geweckt
werden und Sonnenaufgänge - einer schöner als der andere.“
Heinz mußte lachen. „Ja dann kann ich ja gleich Axel anrufen
und Bescheid sagen.“
„Untersteh' dich. Das war nur ein leichter Anflug von - ich will
mal sagen - neutraler Abwägung. Nicht mehr.“
Er nahm sie in den Arm und so gingen sie ins Haus. Die Kinder
saßen vorm Fernseher und Phillip rief ihnen entgegen: „Wann
geht's los? Muß ich morgen noch zur Schule?“
„Natürlich ist morgen Schule, du Schlaumeier,“ sagte Heinz.
„Noch ist nichts entschieden; wenigstens nicht für uns.“
Sabine fügte hinzu: „Steffen und Petra sind sich einig, die
wollen auf jeden Fall mit - die anderen überlegen noch. Nur
Sebastian ist sich sicher, daß er dort hin will.“
Sie wartete gespannt auf die Reaktion ihrer Tochter, weil sie
wußte, Sebastian war Jennifers heimliche Liebe. „Sebastian will
mitmachen, oh.“ Mehr sagte sie nicht.
„Darf ich das in der Schule erzählen,“ wollte Phillip wissen.
„Was willst du in der Schule erzählen,“ gab Heinz zu bedenken, „daß wir uns noch nicht entschieden haben? Besser ist es du
wartest damit bis es spruchreif ist, sonst halten dich deine Freunde
vielleicht für einen Angeber. In Ordnung?“
So schnell war das Thema an diesem Abend natürlich nicht
vom Tisch. Der Atlas mußte herbei und das Fernsehprogramm
hatte keine Chance mehr.
Als die Kinder recht spät zu Bett gegangen waren meinte
Sabine zu Heinz: „Hast du gemerkt, wie Jennifer ihre Ansicht
524
plötzlich geändert hat. Und überhaupt war der Abend so lebendig,
so ausgefüllt. Ich weiß nicht, aber irgendwie läßt mich der Gedanke nicht mehr los an etwas Großem teilhaben zu können und
ich brauche nur ja zu sagen.“
Heinz sagte nichts. Sie lagen eng aneinander noch lange wach
und schliefen dann erst ein. Am Morgen waren alle etwas übermüdet - über das Thema wurde nicht mehr gesprochen. Heinz
ging wie immer als Erster aus dem Haus; wenig später fuhr Sabine
die Kinder in ihrem Wagen zur Schule. Erst beim Aussteigen erinnerte Jennifer an den gestrigen Abend. „Mama, ich habe von der
Insel geträumt, es war irre schön. Vielleicht ist es doch eine gute
Idee.“
Phillip war noch zu verschlafen um irgend etwas zu sagen. Auf
dem Weg zurück dachte Sabine: ,Sterben müssen wir alle. Auf das
,Wann' haben wir keinen Einfluß, aber das ,Wie' und vor allem
das ,Wo' können wir mitbestimmen, wenn wir zur rechten Zeit die
Weichen stellen.'
In der Firma herrschte helle Aufregung. Nachrichten verbreiten
sich in Windeseile; im nachhinein wußte keiner mehr, von wem
die Meldung ausging. Heinz rief den Betriebsrat zusammen und
direkt wurde das Thema Firmenverkauf erörtert. Viele Fragen
konnten nicht beantwortet werden und mußten auf die zu
organisierende Versammlung verschoben werden.
„Wichtig ist, daß keine Panik unter den Leuten entsteht,“ erklärte Heinz zum Abschluß. „Axel hat versichert, daß kein
Arbeitsplatz verloren geht. Ihr müßt mithelfen die Leute zu beruhigen. Argumentiert einfach in der Form, daß der Übergang
eigentlich nur ein Austausch der Chefetage bedeutet und die Be525
legschaft kaum etwas davon merken wird. Was später kommt
kann keiner sagen, denn wir können nicht in die Zukunft schauen,
weder mit Axel als Chef, noch mit Baumann.“
Zurück im Konstruktionsbüro merkte Heinz, daß keinem nach
arbeiten zumute war. Wilde Spekulationen gingen reihum und
auch hier galt es für eine gelassene Betrachtung der Dinge zu
sorgen. Manfred beteiligte sich an dem Gespräch und stellte etwas
weiter gehende Fragen. „Weißt du eigentlich, warum Axel jetzt
plötzlich verkaufen will? Die Auftragsbücher sind doch voll. Die
kleinen Rückschläge zur Zeit sind wohl kaum der Grund dafür.“
Heinz verwies auf die kommende Betriebsversammlung, da
würde Axel seine Gründe bestimmt offen legen. Er wollte nichts
weiter dazu sagen, denn er konnte nicht vorausschauen, wie Axel
seinen Rückzug aus dem Betrieb begründen wollte und es wäre
demnach wenig förderlich für das Betriebsklima, wenn Heinz jetzt
eine andere Version kund tun würde.
Erst nach einer ganzen Weile kehrten sie nach und nach an ihre
Arbeitsplätze zurück, doch die Gespräche und Vermutungen flackerten immer wieder auf. Heinz nutzte eine günstige Gelegenheit
als Manfred allein in seinem Büro saß, ging zu ihm rein und
schloß die Tür hinter sich. „Jetzt aber mal Butter bei die Fische,“
empfing ihn Manfred.
„Ich wollte gerade vor den Leuten nichts sagen, du verstehst
schon, die brauchen nicht alles zu wissen. - Axel will sich seinen
Jugendtraum verwirklichen. Raus aus dem Trott hier - rein ins
Abenteuer. Ein paar Dinge haben sich ergeben und das war für ihn
das ausschlaggebende Zeichen nicht länger zu warten. Er
verschwindet auf eine Insel im Pazifik, mit Kind und Kegel und
nimmt auch noch ein paar Freunde mit. Nicht alle die er in seine
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Pläne eingebaut hat haben sich schon entschieden. Ich denke, daß
dauert noch. Aber die Meisten werden wohl mitgehen.“
„Und du?“
„Gestern haben wir es erfahren und aus dem anfänglichen strikten ,Nein' ist mittlerweile ein ,Vielleicht' geworden.“
„Könntest du nicht ein bißchen genauer werden, was Axels
Pläne betrifft?“
Heinz erzählte ausführlich worum es ging und Manfred hörte
gespannt zu. Er sah keine Veranlassung ihm diese Informationen
vorzuenthalten. Zum Einen würde er es ohnehin erfahren, des weiteren konnte man bei davon ausgehen, daß Manfred die Angelegenheit ebenfalls nicht unter die Leute tragen würde, weil es
eventuell zu falschen Schlüssen führte. Nicht zuletzt vertraute er
ihm voll und ganz, auch wenn er nicht zur Clique gehörte.
Manfred schwieg einen Moment als Heinz geendet hatte. Dann
sagte er: „Weißt du eigentlich, daß ich solche Dinge schon lange
in meinem Kopf herum trage?“
„Echt?“
„Na klar, was glaubst du denn. Aber mit Sicherheit wird sich
meine steife Alte solche Spinnereien nicht antun wollen.“
„Versuch's doch einfach mal, vielleicht hast du sie nur falsch
eingeschätzt.“
„Entschuldige bitte, aber ich kenne sie schon etwas länger.
Eher wird der Mond viereckig, glaub's mir.“ Nur kurz später fragte er: „Ist eigentlich bei euch ein Limit gesetzt, wer und wie viele
mitkönnen?“
„Nicht das ich wüßte. Ich frag' aber mal und du redest mit
deiner Frau.“
„Einverstanden. Das ist ein Ding, aber hallo.“
527
Axel kam an diesem Tag nicht in die Firma und Steffen und
Bernd sah Heinz nur kurz. Quälend lang zog sich der Freitag hin.
Heinz beschäftigte sich zwar ausgiebig mit Betriebsratsarbeit,
aber mehr als einmal erwischte er sich irgendwo hin starrend bei
vollkommen anderen Gedanken.
Kurz vor Feierabend rief Bernd an. „Seid ihr heute abend zu
Hause?“, fragte er. „Judith und ich würden gerne mal vorbeikommen.“
„Ich weiß nicht ob Sabine etwas vor hat; am Besten ihr ruft
vorher noch mal an,“ antwortete Heinz. „Und bringt die Kinder
mit.“
Dann war endlich Wochenende; keine Sekunde länger als nötig
blieb er in der Firma. Noch beim Hinausgehen ging ihm durch den
Kopf, bisher zu denen gezählt worden zu sein, die jede Überstunde mitnahmen - wie unwichtig kam ihm das jetzt vor.
Der Verkehr auf dem Heimweg stockte mehr als das es vorwärts ging. Aber Heinz stellte fest, ihn berührte das gar nicht so
sehr. Die Einstellung, alles ist nur noch vorüber gehend, ließ ihn
den sonst ätzenden Berufsverkehr locker angehen. An der Tankstelle, wo er anhalten mußte um nachzutanken, stauten sich etliche
Fahrzeuge. Der Hektik der Leute begegnete er mit einem verständnisvollen Lächeln. ,Wozu die Hast,' fragte er sich, ,sie wissen
ja doch nichts mit ihren gewonnenen Sekunden anzufangen.' Doch
dann wurde ihm klar, noch vor zwei Tagen hatte er sich nicht
anders verhalten. Auf einmal war er sich so sicher wie nie zuvor:
,Wir werden das durchziehen'.
Zu Hause angekommen überraschte ihn Sabine. Schon an der
Tür kam sie ihm entgegen und konnte es nicht erwarten ihren Entschluß sofort mitzuteilen. „Heinz, ich hab' es mir überlegt. Wir
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werden diesen Schritt machen. Das ist so eine phantastische Idee;
zum Teufel mit der Angst. So eine Gelegenheit gibt es nur einmal
im Leben.“
Auch Jennifer hatte das Fieber gepackt. „Das ist so was von
geil. Stellt doch nur mal vor: Jeder kann seine eigene Hütte haben.
Das fetzt total. Irre. Wie ist das eigentlich mit dem Essen da,
wachsen genug Früchte oder muß man einen Garten anlegen?“
So einen raschen Umschwung hatte Heinz nun wirklich nicht
erwartet. Total erleichtert nicht noch mühsame Überredungskünste anzuwenden umarmte er alle nacheinander. Trotz aller Euphorie, die er in sich hochsteigen fühlte, versuchte er dennoch etwas
mehr Sachlichkeit in die Angelegenheit zu bringen. „Wir haben
noch viel Arbeit vor uns. Das muß alles haarklein organisiert
werden. Zuerst müssen wir alle Infos über Vegetation, Klima und
was uns sonst noch so einfällt besorgen. Jennifer, du bist doch fit
im Internet, häng' dich da rein und versuch' alles heraus zu finden
was zu kriegen ist. Phillip - wo ist der schon wieder?“
„Der ist oben und macht eine Liste, was er alles mitnehmen
will. Ich glaube er ist schon bei der vierten Seite,“ lachte Sabine.
„Keine schlechte Idee,“ ergriff Heinz wieder das Wort, „das
sollte jeder von uns tun. Und wir, Schatz, sollten uns aufschreiben, was wir kaufen müssen. Bettzeug zum Beispiel brauchen wir wahrscheinlich nicht mitnehmen, dafür aber Stoffe für
alles mögliche. Unser Kochgeschirr ist für solche Beanspruchungen nicht geeignet, da muß was Gußeisernes her. Nächste
Woche setzen wir ein paar Annoncen in die Zeitung, was alles
verkauft werden soll. Und das Haus geben wir an einen Makler.
Mit einem guten Preis können wir die Sache bestimmt
beschleunigen. Oh je, mir fällt so viel ein, was noch zu tun ist.
529
Das machen wir ganz anders. Holt mir Zettel und Stift, das
schreiben wir alles auf. Wäre doch gelacht wenn meine Erfahrungen aus der Firma nicht für etwas gut sein sollten. Wir machen
eine Check-Liste. Und ihr helft mir bitte.“ Dann ging er an die
Treppe und rief noch oben: „Ej, du Inselchaot, komm runter, wir
brauchen deine Hilfe.“
Eine bisher nie da gewesene Emsigkeit hatte die Familie gepackt. Diskussionen über ,Für' und ,Wider' lagen so weit in der
Vergangenheit zurück, daß sich anscheinend niemand daran erinnerte. Auf einen Schlag waren die seit Jahren festgefahrenen
Abläufe des Alltagslebens nicht mehr relevant. Das merkten sie
zum Beispiel am Hunger, der sich nach zwei Stunden konzentrierter Planung bei allen heftig meldete.
„Oh Schreck,“ meinte Sabine, „ich hab' gar kein Essen gemacht.“
„Na und?“, lachte Heinz, „bestellen wir doch einfach eine Pizza. Wir haben jetzt besseres zu tun, als zu kochen. Wo ist das Problem? - Ach so, beinahe hätte ich es vergessen, Bernd und Judith
kommen nachher vorbei - die werden sich wundern.“
Der Rest des Nachmittags ging so schnell rum, keiner merkte,
daß es draußen schon dunkel wurde. Ihr Eifer wurde erst unterbrochen, als es an der Tür schellte. Judith, Bernd und zwei ihrer
Kinder kamen herein. „Sebastian ist beim Sport,“ sagte Judith,
„aber dazu mußten wir ihn erst überreden.“
Bernd schaute sich um und sah das Chaos im Wohnzimmer.
Alles lag voller Zettel, Pizzaschachteln und Bücher; von einem
gut situierten Haushalt konnte keine Rede sein. „Euch hat's also
gepackt wie man sieht,“ stellte er fest und Judith fügte hinzu: „Ihr
habt aber nicht lange gefackelt. Gestern dachte ich noch, du
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wolltest nicht.“ Damit sprach sie Sabine an.
„Frag' mich nicht, wie das plötzlich so kam. Auf einmal geht es
mir so was von gut. Alle Zipperlein sind wie weggeblasen, das ist
wie ein Rausch.“ Mit leuchtenden Augen fixierte sie Judith. „Und
was ist mit euch?“
Sie druckste herum und sagte dann: „Wenn ich euch so anschaue, fühle ich mich gar nicht mehr so sicher. Eigentlich wollten wir absagen, aber jetzt - ich weiß nicht. Bernd, sag' du doch
mal was.“
„Wir sind von anfang an davon ausgegangen alle oder keiner.
Letzte Nacht hatte Paula Alpträume, sie wollte sich gar nicht beruhigen. Erst als wir ihr versprachen nicht mitzumachen ist sie
wieder eingeschlafen.“
Paula saß da mit bekümmertem Gesicht. „Ich will aber auch
kein Spielverderber sein. Aber ich habe so eine Angst vor
Schlangen.“ Dabei schüttelte sie sich am ganzen Körper.
„Ich hab' eine Idee, paß mal auf,“ meinte Heinz. „In der Stadt
gibt es ein Terrarium. Die machen extra Vorführungen für Kinder.
Wir waren Ende der Sommerferien einmal da drin. Von den
Kindern die wir gesehen haben, hatte nachher keiner mehr Angst.
Vorher schrien einige sogar, sie wollten nicht da rein - und hinterher? Du warst doch auch dabei Jennifer, erzähl' mal.“
„Das war irre aufregend. So ein beknackter Typ hat mir das
Vieh einfach um den Hals gelegt - ich dachte ich sterbe. Aber die
fühlen sich so - keine Ahnung - so anders an. Nachher wollte ich
sie sogar mit nach Hause nehmen, echt.“
Judith meinte: „Da will ich auch hin. Vielleicht sehe ich die
Sache dann anders. Wißt ihr, das ist alles so fremd, so weit weg
von zu Hause. Ich weiß, daß Bernd sofort dabei wäre, wenn ich ja
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sagen würde. Stimmt's mein Schatz?“
„Meine Frau kennt mich eben. Tja, warum soll ich es leugnen?
Was sagst du Paula, fahren wir nächste Woche dahin?“
„Hoffentlich mache ich mir nicht in die Hose dabei,“ erwiderte
sie.
Die Abenteuerlust kann ein ansteckendes Fieber sein und so
wie Sabine und Heinz einschließlich der Kinder begeistert ihre
Planungen schilderten wunderte es nicht, daß auch Bernd's Familie langsam ihr Vorbehalte aufgab, zumindest aber Anzeichen
davon erkennen ließ.
Judith hatten so viele Fragen und Bedenken und sie konnte sich
kaum vorstellen, wie man mit nüchterner Betrachtung diese Einwände widerlegen könnte. Zum Beispiel wollte sie wissen, ob
man die Verantwortung ohne Gewissensbisse tragen konnte, daß
die Kinder keine Ausbildung bekämen und falls sie sich irgendwann entschieden die Insel wieder zu verlassen, dann Probleme
bekämen in der westlichen Welt Fuß zu fassen.
„Das ist mir anfangs auch durch den Kopf gegangen,“ bekannte
Sabine, „aber damit werden wir wohl leben müssen. Ich bin nicht
so blauäugig zu glauben, alle Kinder werden sich über Jahre mit
der Art zu leben zufrieden geben. Erstens kommt es darauf an, wie
wir Erwachsenen mit dem neuen Leben umgehen, damit sich die
Kinder abschauen können, wie zufrieden man dabei sein kann.
Und wenn sie doch weg wollen, müssen wir sie ziehen lassen; natürlich mit einer uns zur Verfügung stehenden Hilfestellung. Also
Schule wird es auch auf der Insel geben, da bin ich mir sicher.“
Die Kinder hatten sich alle um den Computer versammelt und
nahmen begierig die Informationen auf, die Jennifer über tropische Inseln finden konnte. Sabine erzählte derweil von dem
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Vorfall mit dem Auto gestern abend, wo es um ein Haar zu einem
Unfall gekommen wäre. „Ich glaube, das war das Schlüsselerlebnis. Gefahren gibt es überall. Es ist unbeschreiblich, was jetzt hier
bei uns abgeht, keiner kann es mehr erwarten bis es los geht. Und
dabei gehen die Kinder viel nüchterner mit der Sache um als ich
zum Beispiel. Ich bekomme das Gefühl einfach nicht mehr los
plötzlich aufgewacht zu sein. In meinem Bauch geht es zu als
wenn hunderte Schmetterlinge ein Frühlingsfest feiern. Heinz hat
das schön ausgedrückt. Hier lebt doch eigentlich keiner mehr
richtig - hier wird man gelebt. Jeder weiß genau was ihn als
nächstes erwartet, da ist überhaupt keine Spannung mehr, nur
noch Gewohnheit.“
„Meinst du nicht, auf der Insel wird sich nach einer gewissen
Zeit auch so etwas wie Alltag einstellen, wenn der Reiz des neuen
erst mal verflogen ist,“ warf Judith ein.
„Das schon, vor allem bei den Kindern ist das zu erwarten,
wenn sich eine gewisse Gewohnheit eingestellt hat. Trotzdem ist
es anders als hier,“ entgegnete Heinz. „Der Alltag hier ist so ermüdend, weil es keine lohnenden Herausforderungen bietet. Wenn
ich Hunger habe, gehe ich an den Kühlschrank und hol' mir was.“
„Oder bestell' den Pizzaservice,“ murmelte Bernd dazwischen.
„Genau,“ fuhr Heinz fort. „Da unten nimmst du dir deine Machete und mußt erst einmal richtig was tun, bevor du dein Futter
bekommst. Das ist alles viel existentieller, viel näher am Leben.
Ich glaube, so schnell wird sich das Gefühl von Langeweile nicht
einstellen.“
„Ganz sicher werden wir körperlich mehr gefordert sein als
hier,“ übernahm Sabine wieder das Wort. „Stell' dir vor, du
brauchst was zum Anziehen. Ist es nicht wesentlich interessanter
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sich selbst was zu nähen, als in einem Kaufhaus vor einem
riesigen Angebot zu stehen und die einzige Herausforderung darin
besteht sich zu entscheiden, ob man nun das eine oder das andere
Kleid kauft?“
„Eigentlich gehe ich ganz gerne ins Kaufhaus,“ überlegte Judith, „aber du hast natürlich recht. Nein, die Arbeit ist es nicht, die
mir Angst macht. Ich glaube sogar, das würde mir richtig gut tun.
Obwohl, ohne Waschmaschine waschen? Auf die Dauer sehe ich
da wenig abenteuerliches drin. Oder?“
„Moment,“ warf Bernd ein, „wir Jungs sind doch technisch
nicht ganz unbegabt. Das Problem mit der Wäsche läßt sich doch
gewiß in den Griff kriegen.“
„Na klar,“ ergänzte Heinz, „so was funktioniert sogar Wasser
betrieben. Dazu brauchen wir nur ein paar Sachen von hier mitnehmen - alles eine Frage der Vorbereitung.“
Paula hatte im angrenzenden Arbeitszimmer wo der Computer
stand der offenen Tür am Nächsten gestanden und das Gespräch
der Erwachsenen mitbekommen. Sie schaute durch die Tür und
rief: „Mama, Jennifer hat gerade heraus gefunden, daß das es da
keinen Winter gibt. Die niedrigsten Temperaturen liegen zwischen
zwanzig und fünfundzwanzig Grad. Glaubst du wirklich, ich
würde viele Klamotten brauchen. Oder was meint ihr?“
„Oh ja,“ freute sich Phillip, „wir laufen alle nackt rum, das
wird lustig.“
Heinz schüttelte grinsend den Kopf. „Schau an, unser Kleiner,
woran der immer denkt.“
Auch Judith mußte lachen. „Ihr seit ja richtig ansteckend. Was
soll ich dazu noch sagen.“
Vom Arbeitszimmer rief Anke: „Mama, Mama, komm schnell,
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hier sind Bilder von den Cook-Inseln. Da ist vor zwei Wochen ein
Taifun durchgezogen mit zweihundert Stundenkilometer. Ist das
nicht Klasse?“
„Das ist ja wunderbar,“ sagte Judith, „willkommen zurück in
der Wirklichkeit. Was sagen die Herren Techniker dazu?“
„Ich hab' noch keinen Taifun erlebt,“ meinte Heinz, „aber sicherlich liegen auf den Inseln nicht überall Leichen herum, die
von einem Taifun erwischt wurden,“
„Ganz genau,“ fügte Bernd hinzu, „in Florida leben Millionen
von Menschen, die immer damit rechnen müssen, daß ihr Haus
beim nächsten Tornado zerstört wird. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, nirgendwo.“
„Wenn deine Zeit um ist, erwischt es dich - sogar auf der Toilette,“ grinste Sabine.
„Gerade du fällst mir in den Rücken,“ sagte Judith, „bin ich
denn eigentlich die Einzige hier, die noch ein wenig Verstand
hat?“ Nach einigen Sekunden fuhr sie fort: „Oder bin ich die
Einzige, die sich krampfhaft an ihrem Schneckenhaus festhält? Ach Leute, helft mir doch. Ich weiß ja, daß ihr recht habt.
Vielleicht lebe ich schon zu lange in dem goldenen Käfig und
weiß gar nicht mehr wie schön es ist frei herum zu fliegen.“
„Die Tür steht jedenfalls offen.“ Sachlich aber genau treffend
fanden Bernds Worte ins Schwarze.
Judith's Widerstand war auf einmal wie weggeblasen. Sie erinnerte sich an ihre Kinderzeit, als sie vor jedem Jungen der Nachbarschaft auf die Bäume kletterte, wo sie bei Mutproben immer
die Erste war. Ohne ersichtlichen Übergang wurde sie vom gleichen Fieber befallen wie die anderen auch und ihre Bedenken vorher kamen ihr kleinlich vor, wie jemand, der sich krampfhaft an
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etwas festklammert, weil er Angst vor der eigenen Courage hat.
Der Wandel geschah so plötzlich, daß die anderen zuerst nichts
davon mitbekamen. Erst als nach einigen Minuten des Schweigens
Paula ins Zimmer kam und tief stöhnend meinte, die wären alle so
begeistert und sie wüßte gar nicht, warum sie so eine Angst hätte
und das es doch eigentlich nichts mehr zu überlegen gäbe, sagte
Judith: „Warum sollten wir nicht da hin fahren. Du wirst sehen,
wenn wir erst einmal da sind, wird es dir auch gefallen.“
Paula schaute ihre Mutter mit großen Augen an „Was?“, fragte
sie ungläubig.
„Meinst du, ich will jahrelang zu Hause rum sitzen und alle unsere Freunde vergnügen sich auf der Insel. Und dann denken wir
neidisch darüber nach, warum wir so feige waren?“
Paula verstand immer noch nicht. „Willst du jetzt auch da
hin?“
„Aber natürlich Prinzessin und dich werde ich ganz besonders
beschützen. Nächste Woche schließen wir Freundschaft mit den
Krabbel- und Kriechtieren und dann fangen wir an zu packen.“
„Oh je, jetzt ist alles aus, Mama ist auch verrückt geworden.“
Bernds Handy klingelte und Sebastian an der anderen Seite
wollte wissen, wo sie geblieben seien, er wäre schon zu Hause.
Als Bernd ihn davon unterrichtete was hier vorging, entschloß er
sich kurzerhand wieder aufs Mofa zu steigen und die paar Kilometer zu Sabines und Heinz zu fahren.
Nachdem Paula den Wandel ihrer Mutter erst einmal verdaut
hatte, löste sich ihre ablehnende Haltung ebenfalls auf, obwohl
der Respekt vor den Reptilien natürlich nicht so ohne weiteres
verschwand. Jennifer hatte von Sebastians Anruf nichts mitbekommen, ihre Aufgabe Informationen zu sammeln nahm sie kom536
plett in Beschlag; genau wie die anderen Kinder, die mit Tips und
Fragen immer wieder neue Ideen einbrachten.
Als Sebastian ins Haus kam und die Stimmung der beiden Familien aufnahm, waren alle kaum noch zu bremsen. Er schüttelte
den Kopf über die seiner Ansicht nach recht kindischen
Erwachsenen und ging ins Arbeitszimmer. Er stellte sich hinter
Jennifer, die immer noch nichts gemerkt hatte.
Nach einer kleinen Weile legte er beiläufig seine Hand auf ihre
Schulter ohne sich was besonderes dabei zu denken und meinte:
„Schau doch mal bei amazon.de nach.“
Jennifer fiel aus allen Wolken. „Se-se-sebastian,“ stotterte sie.
Sie fühlte sich außerstande weiterhin zu sitzen; da er ein schlanker, hoch aufgeschossener junger Mann war, hätte sie ihren Kopf
zu sehr nach hinten beugen müssen, um ihn anzuschauen.
Die Art wie sie auf sein Erscheinen reagierte verwirrte ihn
mächtig.
Er hatte bisher nicht viel mit Mädchen zu tun gehabt, die
Klassenkameradinnen nervten mehr als daß sie sein Interesse geweckt hätten. Natürlich gehörte das andere Geschlecht zu den
wichtigen Themen in seinem Freundeskreis, aber auf eine zuzugehen die ihm gefiel, hatte er sich bisher noch nicht getraut. Und
über Jennifer machte er sich so gut wie nie Gedanken, schließlich
gehörte sie mehr oder weniger zur Familie.
Oft dauert es recht lange bis ein Junge in seinem Alter merkt,
daß sich ein Mädchen für ihn interessiert, es sei denn sie hilft
nach. Gerade bei Sebastian hatten die oberflächlichen Annäherungsversuche der Mädchen eher dazu geführt, ihn auf Distanz
zu halten.
Doch jetzt stand Jennifer vor ihm mit glänzenden Augen und
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hauchte mehr als daß sie sprach: „Wir werden gemeinsam auf
einer einsamen Insel leben. Ist das nicht toll?“
Plötzlich sah er sie, die er schon Jahre kannte, mit ganz
anderen Augen. Ohne willentlich viel dazu beizutragen, umarmten
sie sich vor all den Kindern und wollten sich eine Weile nicht
mehr loslassen. Phillip war der erste, der die Situation von seiner
Sicht aus betrachtend kommentierte: „Schaut mal, ein Liebespaar.“
Anke fügte hinzu: „Die sind doch viel zu jung zum Heiraten.“
Die Erwachsenen, die die Szene durch die offene Tür beobachteten, schauten sich zuerst überrascht an und dann lachten sie.
„Na, wenn das kein gutes Zeichen ist,“ grinste Sabine.
Nun da Jennifer und Sebastian ohne viele Worte ihre Zuneigung entdeckt hatten, fühlten sie sich sich der Kinderschar nicht
mehr zugehörig. Hand in Hand gingen sie ins Wohnzimmer und
setzten sich zu den Großen. Die wußten nichts besseres zu tun als
Beifall zu klatschen und die beiden frisch Verliebten wurden rot
bis hinter beide Ohren.
Das war der Anfang einer Zeit ausgefüllt mit Plänen und
Besorgungen, Behördengängen und Gesprächen. Nachdem sie
Axel und Linda von ihrer Entscheidung in Kenntnis gesetzt
hatten, traf man sich regelmäßig zu gemeinsamen Beratungen. Sie
teilten Gruppen ein, die jeweils mit bestimmten organisatorischen
Dingen betraut wurden.
Die Anfrage von Manfred führte zu einer Debatte, bei der man
sich am Schluß einigte nur Paare mitzunehmen, weil Einzelgänger
Schwierigkeiten bekommen könnten, sich auf die Dauer in der
Gruppe wohl zu fühlen. Manfred nahm diesen Beschluß zähne538
knirschend auf, denn seine Frau, mit der er sich schon seit Jahren
auseinander gelebt hatte, wollte auf keinen Fall mit.
Zwei weitere Familien aus Axels Bekanntenkreis sagten ebenfalls ab, weil sie einerseits die Eltern zu versorgen hatten und bei
den anderen Nachwuchs erwartet wurde, den man auf jeden Fall
in einem hiesigen Krankenhaus zur Welt bringen wollte. Die
Eltern von Linda wollten zuerst auch mit, doch da sie regelmäßig
medizinische Versorgung brauchten, entschieden sie sich letztlich
gegen das Abenteuer. Somit belief sich die Gruppe der Inselstürmer auf acht Familien, bestehend aus vierzehn Kindern und sechzehn Erwachsenen.
Der Verkauf der Firma ging ohne Schwierigkeiten über die
Bühne und als Rolf Baumann erfuhr, daß die gesamte technische
Leitung und der Betriebsratsvorsitzende gekündigt hatten, kam
ihm das gerade recht. Er hatte sowieso vorgehabt, Änderungen an
der Spitze vorzunehmen. Und von engagierten Betriebsräten hielt
er schon gar nichts.
Axel ließ sich die Woche über nicht in der Firma sehen. Innerlich hatte er seinen Ausstieg vom Unternehmertum längst vollzogen. Was jetzt noch firmenbezogen erledigt werden mußte, zählte
er zu den unvermeidlichen Dingen, zu den Aufräumarbeiten eines
beendeten Lebensabschnitts. Für die Vorverträge flog er am
Donnerstag nach Paris, ansonsten nahm ihn wie die anderen die
Vorbereitungsarbeiten voll in Beschlag.
Die am Ende der nächsten Woche durchgeführte Betriebsversammlung endete mit einem Eklat. Die Hälfte der Belegschaft
verließ aus Protest gegen die Firmenübernahme durch Baumann
die Sitzung. Sie beruhigten sich allerdings auch wieder nach einer
gewissen Zeit.
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Heinz arbeitete nur noch diese eine Woche, der Rest seiner
Kündigungsfrist wurde mit Resturlaub ausgeglichen. Die Zeit
reichte so gerade eben aus, um seinen Nachfolger einzuarbeiten.
Auch Steffen und Bernd hatten noch so viel Urlaub übrig, daß sie
ihre laufenden Projekte den von Baumann eingesetzten
Technikern übergaben und dann der Firma nach wenigen Tagen
den Rücken kehrten.
An dem folgenden Wochenende trafen sich einige Familien auf
dem Flohmarkt. Mit fünf Autos transportierten sie Unmengen an
Kleinkram herbei, den sie dort feil boten. Das war ein riesiger
Spaß für die Kinder, die ohne Bedenken ihre sämtlichen Spielsachen auf oder unter die Verkaufstische legten.
Die Männer kümmerten sich um die technische Ausrüstung.
Listen der benötigten Werkzeuge wurden erstellt, Kataloge über
out-door Ausrüstung gewälzt und Konstruktionen erdacht, um die
tägliche Arbeit auf der Insel zu erleichtern.
Axel flog am Montag nach der Betriebsversammlung los um
sich mit dem Makler zu treffen; von Paris aus wollten sie gemeinsam einen Flieger nach Australien und weiter nach Papeète
nehmen. Diese Erkundungsreise würde zwei Wochen in Anspruch
nehmen und sie drückten sich gegenseitig die Daumen, daß Axel
das vorfand, was sie sich erhofften.
Der Besuch im Terrarium erfolgte erst eine Woche später, da
für eine so große Gruppe eine Anmeldung nötig war. Einige
gingen erst nach zähen Diskussionen unter Aufbietung aller Überredungskünste hinein. Hier zeigten die Kinder wesentlich mehr
Bereitschaft Vorurteile gegenüber den exotischen Tieren abzubauen, aber auch die widerstrebenden Erwachsenen legten ihre Scheu
schnell ab, nachdem sie erst einmal körperlichen Kontakt herge540
stellt hatten.
Ganz aus der Nähe betrachtet verblieb der Phantasie kein
Raum mehr, die anerzogenen Ängste weiterhin zu pflegen. Die
Wärter beschrieben Einzelheiten des Lebensverhalten, was letztlich allen eine ganz neue Sicht bescherte. Sogar Paula ließ sich
eine Tarantel auf die Schulter setzen ohne mit der Wimper zu zucken. Judith wollte das zwar nicht, aber eine Schlange faßte sie
dennoch an und meinte hinterher, es wäre eigentlich gar nicht so
schlimm.
Es wurden sogar Tips und Ratschläge verteilt, wie man sich in
freier Wildbahn zu verhalten hatte. Alle die vorher noch Angst gehabt hatten mußten zugeben, daß diese wirklich nur aus Unwissenheit entstanden war.
Das gemeinsame Ziel und die notwendigen Vorbereitungen
schweißten die Familien regelrecht zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Die meisten trafen sich fast jeden Tag um
die Fortschritte zu begutachten und neue Ideen abzuwägen.
Erich kam nicht voran in seiner Absicht die Praxis zu verkaufen - Anfragen von Ärzten, die die Immobilie mieten wollten
gab es reichlich. Die anderen hatten sich schon früh entschlossen,
ihre Häuser nicht an Makler abzugeben sondern privat zu verkaufen, denn die Konditionen bei den Verträgen zum Verkaufsauftrag beinhalteten viel zu lange Fristen.
Steffen und Petra hatten mit ihrer Eigentumswohnung Glück;
sie konnten einen fairen Preis beim Verkauf erzielen und der
Termin beim Notar wurde bereits auf Anfang der dritten Woche
festgelegt.
Am Ende der zweiten Woche kehrte Axel zurück und spannte
541
seine Freunde ganz schön auf die Folter. Er gab zu keiner Frage
einen Kommentar ab und meinte nur, sie sollten sich erst mal die
Bilder anschauen. Linda kannte ihren Mann und seine Neigung
andere zappeln zu lassen; für sie war sein Verhalten ein sicheres
Anzeichen dafür, daß sich alles als gut herausgestellt hatte.
Alle acht Familien trafen sich am Sonntag beim ihm, um sich
seinen Bericht anzuhören. Als erstes schloß er die Digitalkamera
an den Computer an und zeigte die Bilder, die er gemacht hatte.
Zunächst sah man die Insel vom Flugzeug aus fotografiert. Das
entsprach genau dem, was sie vorher schon auf den Fotos gesehen
hatten, die der Makler zur Verfügung gestellt hatte. Auf diesen
Bildern zeigte sich die Insel überschaubar groß. Man konnte zwei
Berge erkennen; einen größeren und einen etwas kleineren. Die
Form der Insel ähnelte einem Ei, das an einer flachen Seite eine
Einbuchtung aufwies. Außer auf den Berggipfeln konnte man
durchweg satt grüne Vegetation erkennen. Unterhalb des größeren
Gipfels sah man einen kleinen Binnensee.
Je näher das Flugzeug an die Insel heran kam, um so größer erschien sie. Beim Anflug auf die Lagune hatte Axel nur zwei
Bilder geschossen, die aber lösten bei den Kindern ein langgezogenes ,Ahh' aus. Wunderschön war dieser Anblick, so wie man es
nur von Reisekatalogen kennt.
Dann folgten Bilder nach der Landung des Wasserflugzeuges.
Jetzt begann Axel die einzelnen Aufnahmen zu kommentieren und
man merkte an seinen Worten, wie zufrieden ihn die Erkundungstour gemacht hatte. „Wißt ihr, es ist noch schöner als ich dachte.
Zwanzig Meter breiter Sandstrand, Zufahrt mit dem Transportschiff in die Lagune - es ist einfach überwältigend. Der Makler
meinte, solch kleine Inseln sind kein Lebensraum für größere
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Raubtiere, allerdings - ich fand das ganz fair von ihm, daß er mir
das sagte - sollten wir die Warane nicht unterschätzen. Sie sind
zwar nicht sehr groß und würden einem Erwachsenen bestimmt
aus dem Weg gehen, aber bei Kindern wäre das was anderes.
Außerdem würden ihre Bißwunden häßliche Infektionen verursachen, die nur schwer heilen. Er empfiehlt uns daher Schußwaffen
mitzunehmen und wir sollten bei Erkundungsgängen nie alleine
gehen. Auch die Siedlung, die wir beabsichtigen am See im
Landesinneren aufzubauen, sollte mit Zäunen versehen werden,
um von diesen Viechern nicht überrascht zu werden.
Der Urwald ist sehr dicht und wir müssen erst einmal am
Strand ein Lager beziehen. Wenn die Insel erforscht ist und wir
einen brauchbaren Weg geschlagen haben, verlegen wir das Lager
an den See. Wir sind einmal die Hälfte des Strandes bis wo die
Korallenbänke anfangen gegangen. Dort am Ende des Strandes erkennt man, daß die Insel eigentlich nur von der Lagune aus betreten werden kann; auf der Rückseite der Berge befindet sich felsige
Steilküste. Ihr habt das wahrscheinlich schon bei den Luftaufnahmen sehen können.
Und heiß war es; ohne Kopfbedeckung bekommt man einen
Sonnenstich. Ich glaube, das Klima wird uns anfangs am Meisten
abverlangen; daran muß man sich erst einmal gewöhnen. Zum
Klima meinte der Makler, es gäbe zwei Monate Regenzeit - dann
wenn hier in Europa Sommer ist. Auch sonst kann es das Jahr
über heftige Regenfälle geben, aber nicht so häufig wie eben in
der Regenzeit. Die Durchschnittstemperaturen liegen am Tag bei
35 bis 40 Grad und nachts kühlt es nur während der Regenzeit
spürbar ab. Die Insel gilt als besonders windgeschützt; der Makler
machte mich darauf aufmerksam, daß keine umgeknickten Palmen
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zu erkennen waren, was man auf anderen Inseln öfters sieht.
Leute, ich glaube wir haben einen Volltreffer gelandet. Wie
seht ihr das? Und vor allem, wann geht's endlich los?“
Wenn irgend jemand geglaubt hätte, die Euphorie würde im
Laufe der Zeit etwas nachlassen oder Axels Bericht hätte
vielleicht die als besiegt angesehenen Ängste neu zum Leben
erweckt, sah sich an diesem Sonntag getäuscht. Ganz das Gegenteil trat ein - das Fieber verstärkte sich noch.
Der Tag verging wie im Flug. Wieder einmal mußte von außen
Essen geordert werden, weil natürlich keiner Lust hatte sich in die
Küche zu stellen, während die anderen Pläne schmiedeten. Erich
berichtete von seinen Schwierigkeiten mit dem Bootsführerschein.
Bisher besaß er nur eine Berechtigung Küstenfahrzeuge steuern zu
dürfen. Für die Erweiterung zur Jachtlizenz bedurfte es mehr als
ein halbes Jahr Anmeldefrist. Sie einigten sich darauf, auf ein
eigenes Schiff zu verzichten und nur ein Beiboot in Wellington zu
kaufen, daß man an den Frachter hängen wollte.
„Eine Zeit lang werden wir uns hauptsächlich von Fisch ernähren,“ erklärte Axel, „also brauchen wir zumindest ein Boot.“
Lindas Bruder Hubertus hatte plötzlich eine neue Idee. „Arthur
und ich können doch Segelflugzeuge fliegen. Wir brauchen
eigentlich nur noch zwanzig Flugstunden auf einer einmotorigen
Maschine zu absolvieren, dann sind wir für die Prüfung zugelassen. Das schaffen wir locker in einem Monat. Warum kaufen
wir uns nicht ein Wasserflugzeug?“
Arthur und seine Frau Barbara gehörten zu Axels Bekanntenkreis. Man hatte sich erst in der letzten Woche kennengelernt und
sofort Freundschaft geschlossen.
„Die Idee ist Klasse,“ meinte Axel. „Dadurch haben wir ganz
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andere Möglichkeiten. Paßt auf, ich stelle mir das so vor. Wir
fliegen alle zusammen über Sydney nach Wellington und warten
dort auf das Frachtschiff, daß uns zur Insel bringt. Arthur und Hubertus besorgen sich einen kleinen Flieger und können schon ein
Basislager errichten. Das Frachtschiff braucht von Wellington
zwei bis drei Wochen also Zeit genug für die beiden Vorausflieger
schon mal ein Bett für uns zu bauen.“
Der Plan wurde von allen für gut befunden. Noch eine Entscheidung wurde an diesem Abend gefällt, da mit dem Kauf eines
Flugzeuges eine schnellere Anbindung an die Zivilisation möglich
wurde. Alles Geld, was nicht für Insel, Transport, Übersiedlung
und Flugzeug verbraucht wurde, wollten sie auf einem gemeinsamen Konto hinterlegen. Damit erreichte man nicht nur eine
schnellere Versorgung mit wichtigen Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln, die nicht oder nur unzureichend auf der Insel
erzeugt werden konnten, man erhöhte auch noch den Sicherheitsaspekt. Obwohl sich im Moment keiner dazu veranlaßt fühlte, Gedanken über eventuell eintretende Notfälle zu machen, registrierten sie dennoch zufrieden die Aussicht, in wenigen Stunden
ein Krankenhaus erreichen zu können.
Die Planungen nahmen immer konkretere Züge an und es
stellte sich ein gewisser Überblick über die noch zu erledigenden
Vorbereitungen ein. In der dritten Woche schafften sie es zwei
weitere Häuser zu verkaufen, allerdings zu einem lächerlichen
Preis. Am Ende dieser Woche lieferte die Transportfirma den
ersten Container und sie begannen technische Ausrüstung einzuladen.
Das Geld von Baumann wurde Mitte der vierten Woche verbucht und Axel flog mit Linda nach Paris, um den Kauf der Insel
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perfekt zu machen. Über irgendwelche undurchschaubaren
Klauseln hatte Baumann die Höhe der Abfindung auf viereinhalb
Millionen gedrückt. Beim Überschlagen der finanziellen Seite
stellten sie fest, daß das Geld so gerade eben ausreichte. Erst war
Axel sauer, denn er hatte ein wenig mehr erwartet, weil so ausgehandelt. Sie rechneten noch mal alles durch, wobei sie die
Verkäufe der Immobilien mit einbezogen. Bei dieser Rechnung
blieben ausreichend Reserven übrig und Axel sah ein, daß es
nichts bringen würde einen Rechtsanwalt einzuschalten, zumal die
ganze Angelegenheit sehr viel Zeit erforderte.
Einige Tage später erhielten sie die Eignerurkunde, mit der Bestätigung, daß der Geldtransfer abgeschlossen sei. Zu diesem
Anlaß wurde ausgiebig gefeiert; bis spät in die Nacht hinein erzählten sie sich gegenseitig welche Vorstellungen sie von ihrem
zukünftigen Leben haben. Bernd machte den Vorschlag die Ausrüstung zu erweitern, denn zur Erzeugung von alkoholischen Getränken brauchte man die eine oder andere Vorrichtung, meinte er,
schließlich gehörte zu einer zünftigen Feier auch ein kräftiger
Schluck.
Steffen und Petra mußten ihre Wohnung verlassen und zogen
bei Axel ein, der immer noch keinen Käufer für sein Haus gefunden hatte. Der erste Monat der Vorbereitungen war vergangen,
sie hatten große Fortschritte gemacht. Alle Verträge wie Lebensversicherungen, Bausparverträge und ähnliches waren gekündigt;
alle Verbindungen zur Zivilisation brachen nach und nach ab.
Die Stimmung der Leute bewegte sich weiterhin auf einem
Hoch; das anfängliche Fieber der Abenteuerlust wurde von ständig wachsender Ungeduld abgelöst. Die letzten Arbeiten der
Kinder in ihren Schulen fielen durchweg bescheiden aus und
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keiner der Haushalte in den Familien konnte noch als solcher bezeichnet werden. Das Chaos in den Räumen störte niemand, denn
schließlich war der Zeitraum überschaubar, den sie in dieser Form
noch zu verbringen hatten. Aber die Kinder wurden aus den
Schulen genommen, da es keinen Sinn mehr machte, sie länger
mit den sowieso endenden Pflichten zu konfrontieren. Es gab
zwar Gemecker von den Schulbehörden, doch man verwies auf
die bevorstehende Aussiedlung und versicherte den fehlenden
Stoff am Zielort nachzuholen.
Nach sechs Wochen fand sich endlich ein Abnehmer für Lindas
und Axels Anwesen und erst jetzt konnten sie den Termin für die
Abreise festlegen. Weitere sechs Wochen wurden für den Rest der
Vorbereitungen benötigt. Sie hatten sich alle über den Übergabetermin ihrer Häuser geeinigt, denn inzwischen war sämtliches
Eigentum verkauft. Nur Hubertus und seine Frau mußten früher
ausziehen, weil der Käufer darauf bestand. Sie kamen den Rest
der Zeit bei Sabine und Heinz unter. Erich bekam seine Praxis
nicht los. Weil die Zeit drängte und es außerdem ihrem Konto gut
tat, vermietete er sie kurzerhand.
Kurz bevor sie die Flugtickets bestellten meldete sich plötzlich
Manfred. Still und heimlich hatte er seine Vorbereitungen selbst
getroffen. Seinen Anteil an ihrem gemeinsamen Haus überschrieb
er seiner Frau, wobei sie im Gegenzug auf Scheidung und Unterhalt verzichtete. Dann hatte er über Annonce eine junge Frau
gefunden, die mit ihm das Abenteuer bestreiten wollte. Keiner
hatte etwas dagegen, daß die beiden auch noch mit kamen und somit wurden zweiunddreißig Tickets für den Flug nach Wellington
bestellt.
Derweil war der erste Container fertig beladen mit Kochge547
schirren, Werkzeugen und vielen anderen Dingen, die sie für nötig
hielten. Darunter befanden sich einige Sonnenkollektoren mit dem
nötigen Zubehör, denn ganz wollten sie auf Elektrizität nicht verzichten. Der Container wurde abgeholt und in der letzten Woche
vor der Abreise brachte die Speditionsfirma den zweiten für die
persönlichen Sachen der Familien.
Mittlerweile hatte alle ihre Autos verkauft und organisierten
das Beladen mit dem letzten verbliebenen Fahrzeug von Axel.
Was nicht benötigt wurde an Möbeln oder anderem Inventar überließ man den neuen Eigentümern, verkaufte es bei Haushaltsauflösungen oder schaffte es mittels Müllcontainer auf die Halde.
In der letzten Woche vor der Abreise steigerte sich die
Spannung erheblich. Schon längst waren die bekannten Tätigkeiten der Haushaltsführung eingestellt worden, da die Küchengeräte
sowie das Geschirr entweder verkauft oder wegschafft waren. Das
Essen ließen sie sich nur noch bringen und die Kinder schliefen
schon seit Tagen auf dem Boden in Schlafsäcken. Niemand
wunderte sich darüber, daß keiner in der ganzen Zeit der Vorbereitung krank gewesen war. Alle hatte kurz vor Beendigung des
Versicherungsschutzes ihre Zähne in Ordnung bringen lassen.
Erich versicherte, auch Geräte für die Zahnbehandlung eingepackt
zu haben.
Die Aufregung steigerte sich bei den Erwachsenen immer weiter, während die Kinder wesentlich mehr Besonnenheit zeigten. In
den letzten Tagen liefen die Großen wie aufgescheuchte Hühner
durch die Zimmer um herauszufinden, was sie noch vergessen
hatten.
In ihren Gedanken befanden sie sich bereits auf der Insel und
der Abschied von der gewohnten Umgebung hatte längst stattge548
funden. Sie zählten die Tage bis zur Abreise herunter. Jennifer bemerkte irgendwann zwischendurch, daß dieses Herumlaufen ihrer
Eltern eigentlich nur Beschäftigungstherapie sei, um die Zeit herum zu bekommen. Sabine meinte darauf hin, sie solle sich doch
besser um ihren Sebastian kümmern.
Als letzte Verbindung zur Zivilisation wurde Axels Auto verkauft und ab dem Zeitpunkt - es waren nur drei Tage - benutzten
sie öffentliche Verkehrsmittel um sich zu treffen. Sie hatten sich
während der ganzen Vorbereitung nicht mehr um ihre früher gepflegten Nachbarschaftsbeziehungen gekümmert. In den ersten
Wochen der Vorbereitung fiel niemandem auf was sie vor hatten,
weil keiner der verschworenen Gemeinschaft mit ihren Absichten
hausieren ging. Nach und nach wurden doch schon mal Fragen gestellt und vor allem, als die Autos verkauft waren wollten die
Nachbarn wissen, was da vor sich ging.
Natürlich hielt man sie für total verrückt; wie konnte jemand
auf die Idee kommen sein komfortables Leben gegen die Ungewißheit auf einer Tropeninsel zu tauschen. Das kümmerte die Betroffenen herzlich wenig. Sie fühlten sich schon seit Beginn der
Vorbereitungen nicht mehr dazu gehörig und empfanden die Resttage als unvermeidliche lästige Angelegenheit.
Aus diesem Grund gingen ihnen ihre Nachbarn bis zur Abreise
aus dem Weg. Es wurde eine ganze Zeit lang über die Aussteiger
getuschelt und nicht selten wußte man nur schlechte Dinge über
die Mitglieder der Gemeinschaft zu erzählen. Erst später, als diese
Leute abgereist waren, ließ das Gerede nach und die ehemaligen
Nachbarn gingen zur Tagesordnung über. Dann vermied man es
über das Thema zu reden, weil man nicht daran erinnerte werden
wollte, in welch persönlichen Konflikt diese Leute mit ihren
549
außergewöhnlichen Ideen sie durchweg gestürzt hatten.
Alles hatte perfekt geklappt; Wohnsitzabmeldungen, die Anträge zur Übersiedlung in französisches Hoheitsgebiet und der Besuch bei der französischen Botschaft waren die letzten Schritte,
um die Trennung von ihrem alten Leben zu vollziehen. Als Abreisetermin wurde der 24. 11. festgelegt, gerade zu Jennifers sechzehntem Geburtstag. Ein Tag vorher sollten alle noch ausstehenden Schlüsselübergaben stattfinden. Die erzielten Gelder
aus den Verkäufen wurden auf das gemeinsame Konto weitergeleitet und alle sonst noch bestehenden Bankverbindungen aufgelöst.
Über das Konsulat richteten sie sich eine postlagernde Adresse
in Papeète ein; ein Nachsendeauftrag wurde für drei Monate festgelegt. Nun war alles organisiert und zur Abreise bereit. Zur Beförderung der zwei Hundeboxen besorgten sie einen Van, der
einem ehemaligen Arbeitskollegen gehörte und der sie gerne an
den Flughafen fuhr - einschließlich der Hundebesitzer. Der Rest
der Truppe schnürte am Morgen der Abreise die Rucksäcke und
traf sich zur gemeinsamen Abfahrt am Bahnhof der Stadt.
Es war ein naßkalter ungemütlicher Tag und alle waren froh,
als sie den Zug besteigen konnten. Keiner von ihnen schaute wehmütig zurück; endlich, endlich war es soweit. Sie nahmen einen
ganzen Waggon in Beschlag und feierten dort Jennifers Geburtstag mit belegten Brötchen und warmen Tee. Einige Tränen
flossen vor Aufregung und Vorfreude.
In Frankfurt wurde eingecheckt und die Hundeboxen verladen.
In den letzten zwei Stunden auf europäischem Boden dachte
keiner mehr über das ungastliche Wetter nach. Die Kinder
vertrieben sich die Zeit in der Wartehalle mit Spielen, während
550
die Erwachsenen still vor sich hin grübelnd die Zukunft abzuwägen versuchten oder sich über das Bevorstehende unterhielten.
Das Wetter geriet ebenso in Vergessenheit, wie ihr ganzes
Leben zuvor in einer Welt, die sie nicht zurückhalten konnte.
Selbst die Reisestrapazen, die ihnen jetzt bevor standen, gingen
sie gelassen an; denn auch das war nur vorüber gehend.
Dann bestiegen sie die Maschine. Nach zehn Stunden ereignislosem Flug mit einer Zwischenlandung kamen sie in Sydney an.
Es folgten sechs Stunden Aufenthalt im zollfreien Bereich. Die
Hunde durften ihre Boxen verlassen und ein freundlicher Beamter
ließ sie durch einen Nebenausgang ins Freie, damit sie unter Aufsicht ihrer Herrchen wenigstens etwas herum tollen konnten.
Anschließend ging es weiter mit einer Linienmaschine nach
Wellington.
Hier gab es die erste Panne der sonst reibungslosen Organisation. Das Frachtschiff war mit den Containern an Bord schon zwei
Tage vorher ausgelaufen und keiner sah einen Nutzen darin heraus
zu finden, wo der Fehler lag - es war eh nicht mehr zu ändern. Sie
mieteten sich in einem Hotel ein, wobei keine Hektik aufkam,
denn jeder war sich sicher, daß es eine andere Lösung geben wird.
Genauso traf es auch ein. Bei einer Chartergesellschaft wurde
ein Flugzeug gemietet, welches sie die restlichen knapp fünftausend Kilometer nach Papeète bringen sollte. Über den Computer im Hotel fand man heraus, daß man auch in der Hauptstadt von
Französisch-Polynesien Wasserflugzeuge kaufen konnte. Sie
meldeten sich über Telefon an, damit es nicht noch weitere Verzögerungen gab. Nach zwei Tagen verließen sie Neuseeland wieder.
Diesen letzte Teil der Flugreise zählten sie später zu den unangenehmsten Erlebnissen der Fahrt. Sie mußten ein Schlecht551
Wetter-Gebiet überfliegen; es holperte und schlingerte fast ununterbrochen und an Schlaf war nicht zu denken. Phillip und zwei
weiteren Kindern wurde es so schlecht, daß sie sich mehrmals
übergeben mußten. Doch dann war es endlich geschafft. Sie
landeten in Papeète und alle waren glücklich diese Tortour hinter
sich zu haben.
Die Stadt selbst verdiente den Namen eigentlich nicht, vielmehr handelte es sich um ein großes Fischerdorf. Total übermüdet
fanden sie ein Hotel und schliefen erst einmal richtig aus - danach
ging es allen viel besser. Während ein Großteil der Gruppe die
Stadt erkundete, machten sich Axel, Hubertus und Arthur auf den
Weg zum Hafen, um das bestellte Wasserflugzeug in Augenschein
zu nehmen.
In der Inselwelt von Polynesien sind diese Flieger neben den
all gegenwärtigen Schiffen das Hauptverkehrsmittel. Es war also
keineswegs ungewöhnlich sich unter mehreren gebrauchten Maschinen eines auszusuchen, daß ihren Wünschen entsprach. Auch
der Preis überforderte sie nicht; Axel hatte viel mehr dafür einkalkuliert.
Hubertus und Arthur machten sich direkt an ihre Aufgabe; testeten ihre neue Errungenschaft, übten unter Anleitung Starts und
Landungen und knüpften Kontakte, um den Nachschub an Treibstoff zu sichern, sowie eventuell anfallende Reparaturen durchführen zu können. Dann stellten sie eine Notausrüstung zusammen,
die sich auf das wesentliche beschränken mußte. Über die Botschaft erhielten sie eine Adresse, wo man Funkgeräte kaufen
konnte, wie es von der französischen Regierung zur Übersiedlung
auf die Insel gefordert wurde.
Nachdem sie das Flugzeug einschließlich der Hunde beladen
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und natürlich die Karten ausreichend studiert hatten brachen sie
auf. Nahrungsmittelvorrat nahmen sie nur für vierzehn Tage mit;
allerdings hatten sie sich Schußwaffen besorgt, damit sie sich
nicht nur im Notfall verteidigen, sondern auch zusätzliche Nahrung besorgen konnten. Mit den besten Wünschen versehen verlor
sich der Flieger aus den Augen der verbliebenen Gemeinschaft.
Als nächstes kauften sie ein robustes Fischerboot und dazu die
zum Fischen notwendige Ausrüstung. Nunmehr hatten sie alles
erledigt und brauchten nur noch auf das Frachtschiff zu warten,
das Papeète auf jeden Fall anlaufen mußte. Sie nutzten die Zeit
um die Stadt näher kennen zu lernen. In Zukunft wollten sie
schließlich ohne große Verzögerung Gebrauchsgegenstände oder
Grundnahrungsmittel per Flugzeug besorgen, wobei eine gute
Ortskenntnis auf jeden Fall von Nutzen war.
Das Krankenhaus machte keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck und Erich meinte dazu, da müßte er mal vier
Wochen Zeit haben um aufzuräumen, dann sähe es bestimmt
anders aus. Auch die Stadt konnte die Gruppe nicht so recht begeistern; es war überall dreckig und stickig, an allen Ecken
moderte es und selbst im Botschaftsviertel war es nicht viel
besser. Im Hafenbereich stank es aufdringlich nach Fisch und entfernte man sich davon, nahmen Abfälle und Fäkalien die Geruchsorgane der Besucher in Beschlag.
Deshalb hielten sie sich lieber im Hotelbereich auf, wo es aircondition und einen pool gab. Judith meinte dazu, sie sollten die
Vorzüge der Zivilisation noch ausgiebig nutzen, denn für die
nächsten Jahre gäbe es so etwas nicht mehr. Paula erwiderte: „Da
hast du recht, aber bestimmt wird es noch viel schöner.“ Damit
drückte sie das aus, was die anderen auch dachten, die Vorfreude
553
auf ihr Abenteuer hatte auch kurz vor dem Ziel noch nicht abgenommen.
Papeète schien nicht zu den attraktiven Urlaubszielen zu gehören, denn sie waren fast allein im Hotel. Nur draußen im Jachthafen lagen ein paar Hochseejachten von Exklusiv-Touristen. Der
Hotelmanager war äußerst angetan von seinen unverhofft erschienenen Gästen und erzählte, daß er ohne Subventionen der
französischen Regierung längst hätte dicht machen müssen.
In der zweiten Woche ihres Aufenthaltes trafen ein paar
Erwachsene in einer Spelunke am Hafen Seeleute, die auf eine
neue Heuer warteten. Ihre Erzählungen waren überaus spannend
und informativ. Zwei davon kannten sogar die Insel Babaluna und
meinten, Überlieferungen zu Folge wäre es früher einmal ein Unterschlupf für Piraten gewesen. Als die Kinder die Geschichte erfuhren, gab es wieder helle Aufregung. Die nach wie vor vorhandene Abenteuerlust bei den Kindern wurde dadurch noch weiter gesteigert. Wann kommt das blöde Frachtschiff endlich, hörte
man sie immer öfters fragen.
Ein Angestellter der Gendarmerie rief im Hotel an und ließ
schöne Grüße von Hubertus und Arthur bestellen. Sie waren inzwischen an der Insel gelandet und hatten den Sender installiert.
Sie ließen mitteilen, daß alles nach Plan liefe und die Insel sehnsüchtig auf seine neuen Bewohner warten würde.
Am Ende der zweiten Woche lief endlich das Frachtschiff ein.
Axel nahm über den Hafenkommandeur Kontakt zu dem Kapitän
auf, der strikt darauf verwies, daß in seinen Papieren nichts von
Passagieren stand. Das müßte ein Mißverständnis sein, zumal gar
kein Platz für eine so große Gruppe bereit stände. Außerdem
könnte er nicht in die Lagune rein fahren, da der Wasserstand viel
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zu niedrig dafür sei.
Die Gemeinschaft ließ sich von dieser weiteren Panne nicht aus
der Ruhe bringen. Die beiden Container wurden entladen und da
der Hafenkommandeur die ausgeflippten Europäer, wie er sie
nannte, ins Herz geschlossen hatte, gab es keinerlei Probleme, die
Fracht kurzfristig im Hafenbereich zu lagern.
Alles war eine Frage der Improvisationskunst. Der wirklich
freundliche Kommandeur besorgte ihnen sogar ein Charterschiff
eines einheimischen Transporteurs, dessen Tiefgang eine Einfahrt
in die Lagune ermöglichte. Die Fracht mußten sie allerdings allein
auf das gemietete Schiff bringen. Auch die vorhandenen
Schlafräume reichten nicht für so viele Personen. Deshalb errichteten sie ein Lager auf dem Deck; in den wenigen vorhandenen
Kojen wollte sowieso keiner schlafen.
Es wurden ausreichend Lebensmittel besorgt und nach
achtzehn Tagen Aufenthalt in Papeète verließen die Aussiedler
einen enttäuschten Hotelmanager und die wenig einladende Stadt.
Das Fischerboot wurde vertäut und sie begaben sich auf die letzte
Etappe ihrer Reise.
Arthur und Hubertus funkten sie vom Schiff aus an. Sie informierten die beiden in ungefähr fünf Tagen die Insel zu erreichen, wenn das Wetter mitspielte. Der Kapitän meinte, daß keine
Überraschungen zu erwarten seien. Er und seine drei Leute Besatzung hatten ihre eigene Meinung über die Passagiere. Es schien
ihnen unvorstellbar, daß so viele Leute aus Europa ihren Wohlstand und Luxus freiwillig tauschen wollten gegen ein karges
Leben in Ungewißheit. Die mußten komplett verrückt sein und so
behandelten sie sie auch.
Die einzige Wohltat, die der Kapitän seinen Gästen bescherte
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war eine Plane, die er über den Schlafplatz spannen ließ. Ansonsten verhielt er sich kurz angebunden und des öfteren recht schroff.
Jetzt auf offener See ohne schützendes Haus und air-condition bekamen sie das Klima voll zu spüren. Schon am ersten Abend mußte Erich Sonnenbrände behandeln; es wurden Verhaltensmaßregeln ausgegeben, um möglichst wenig Schaden davon zu tragen.
Der wettergegerbte Kapitän betrachtete das Lazarett nicht ohne
Schadenfreude und zu allem Überfluß begann er am Abend
Schauermärchen über Seeungeheuer und Piraten zu erzählen, daß
den Kindern Angst und Bange wurde. Axel mußte einschreiten
und bat den Kapitän höflich aber bestimmt damit aufzuhören. Beleidigt verkroch er sich in seine Kajüte mit der Überzeugung, sie
hätten es doch nicht anders verdient.
Erst am dritten Tag der Seereise gewöhnten sich die Meisten an
die Widrigkeiten des Wetters - man vermied tagsüber die Sonne
so gut es ging - und der Rest der Reise verlief ohne weitere Probleme.
Am Morgen des sechsten Tages schrie ein Maat: „Insel
voraus!“ und weckte damit die ganze Schar. Gegen Mittag fuhr
das Schiff in die Lagune ein und alle waren wieder guter Dinge.
Das fiel ihnen nun wirklich nicht schwer beim Anblick der herrlichen Insel.
Das Wasserflugzeug lag an der Seite in ruhigem Gewässer und
am Strand erkannten sie die winkenden Männer. Bis auf hundertundfünfzig Meter kam das Schiff an den Strand heran; weiter ging
es nicht.
Erich kümmerte sich um das Fischerboot und bugsierte es
längsseits. Die Männer begannen mit dem Abladen, was noch
nicht beendet war als es dunkel wurde. Die restlichen zwei
556
Fahrten mit dem Boot verschoben sie auf den nächsten Morgen,
was dem Kapitän entgegen kam, weil er zum Auslaufen Tageslicht benötigte.
Die Frauen und Kinder hatten sich direkt nach dem Betreten ihres neuen Heimatbodens mit der Errichtung eines Notlagers
beschäftigt, wobei sie feststellen konnten, daß Arthur und Hubertus schon gute Vorarbeit geleistet hatten. Am Abend gab es
dann die erste Mahlzeit auf ihrer Insel. Sie hatten noch keine Zeit
gefunden sich umzuschauen; alle waren sehr müde an diesem
Abend nach dem anstrengenden Tag, weshalb sie schnell einschliefen.
Erst am nächsten Morgen begriffen sie so richtig, daß das Ziel
ihrer Träume erreicht war und das neue Leben jetzt begann. Nach
einem kurzen Frühstück holten sie die restlichen Sachen von dem
Schiff und verabschiedeten sich von dem Kapitän.
„In spätestens zwei Monaten sehen wir uns wieder,“ meinte er
in seinem gebrochenen Französisch, „dann habt ihr die Schnauze
voll von dem Leben in der Wildnis und ich muß euch wieder
abholen.“
Sie kümmerten sich nicht um ihn und brachten die letzte Fuhre
an den Strand. Es mußte erst noch alles geordnet werden, damit
ein vernünftiges Arbeiten möglich wurde. Den Nachmittag lagen
sie alle auf dem Lager unter den Palmen und berieten ihr weiteres
Vorgehen. Es wurde ein Plan ausgearbeitet und die Aufgaben verteilt. Erich, Sebastian und Jennifer sollten sich um das Boot kümmern, sich mit Netzen und Fischfang vertraut machen und die
Lagune erkunden.
Zwei Männer übernahmen die Aufgabe einen möglichst einfachen Weg zum See zu suchen und ihn wenn möglich gangbar ma557
chen. Dorthin wollten sie so schnell wie möglich gelangen, um die
eigentliche Siedlung zu bauen. Zwei Pärchen wurde zur Erforschung der näheren Umgebung ausgewählt, wobei sie auch nach
eßbaren Früchten Ausschau halten sollten. Der Rest wollte sich
um den Ausbau des Notlagers kümmern, Unterstände errichten
und die später erst benötigte Ausrüstung zu tragbaren Paketen zusammen stellen.
Diesen Tag erklärten sie zum Feiertag, an dem nicht gearbeitet
werden sollte. Axel holte ein großes Buch aus seinem Gepäck und
sagte feierlich, dies wäre das Tagebuch der Besiedlung der Insel
Babaluna und schrieb auf die erste Seite: 21. Dezember, zweiter
Tag nach der Ankunft. Alle sollten ihren Namen darunter
schreiben und sie schworen sich alles in ihrer Macht stehende zu
tun, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Dazu gab es
frische Kokosmilch zu trinken; Hubertus kramte seine Gitarre aus
dem Haufen hervor und sie sangen bis spät in die Nacht Lieder
aus der Vergangenheit.
Als Heinz und Axel zu fortgeschrittener Stunde einen Spaziergang am sternenbeschienenen Strand unternahmen, waren sie
sich einig darüber, alles richtig gemacht zu haben. Plötzlich blieb
Axel stehen und schaute an den klaren Himmel. „Sieh mal Heinz,
da ist es - das Kreuz des Südens.“
Heinz starrte nach oben und dann liefen ihm die Tränen. Die
ganze Anspannung der letzten Zeit durch Vorbereitung und Reise
fiel einfach von ihm ab und er dankte Gott für das Gelingen ihres
Vorhabens. In dem Bewußtsein ein neues Leben anfangen zu
dürfen gingen sie Arm in Arm, wie gute Freunde zurück zu den
anderen.
Die Arbeit begann am nächsten Morgen.
558
Anhang
Es mir ein besonderes Bedürfnis im Nachhinein ein paar Erklärungen über die Entstehung der Geschichten sowie auch zu
Besonderheiten des Inhalts abzugeben. Damit die Erzählungen unbeeinflußt aufgenommen werden können, wählte ich die Form des
Anhangs. Wer ein Buch von hinten anfängt zu lesen braucht sich
also nicht zu wundern, wenn einige Pointen nicht mehr als solche
verstanden werden können, weil man sie schon gelesen hat.
In fast allen Geschichten ließ ich eigene Erlebnisse mit
einfließen, sowie Berichte mir bekannter Personen. Meist sind
mehrere solcher Begebenheiten von mir gemischt worden, um
eine schlüssige Erzählung daraus zu machen. Das bedeutet, nur
ein Teil des Erzählten ist frei erfunden; selbst unglaubwürdige
Einzelheiten entspringen nicht immer meiner Phantasie. Es gibt
halt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die man so auf
Anhieb nicht glauben mag, aber dennoch der Wahrheit entsprechen.
Um dies für den interessierten Leser zu enträtseln, was wahr ist
und was frei erfunden, habe ich diesen Anhang hinzugefügt.
Alle verwendeten Namen sind natürlich ausgedacht. Sollte jemand der mich kennt, sich selbst wieder entdecken mit geändertem Namen so sei ihm versichert, daß es sich nur um einen
Zufall handeln kann. Keine mir bekannte Person wurde authentisch dargestellt, es sind immer nur Auszüge von Personen,
Teile ihrer persönlichen Geschichte benutzt worden.
Der aufmerksame Leser wird festgestellt haben, daß fast alle
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Geschichten zu einem Zeitpunkt enden, wo das Ausmalen der eingeleiteten Begebenheiten eigentlich erst beginnt. Dies ist natürlich
mit vollster Absicht so gewählt, denn die Geschichten sollen zu
einem großen Teil der Unterhaltung dienen und nichts ist unterhaltsamer, als die eigene Phantasie zu benutzen. Mein größtes
Anliegen - und das ist der andere Teil - ist der Versuch Denkanstöße zu geben, um Fragen nach der eigenen Position in dieser
Welt zu beantworten. Dabei sollte die Grundaussage, daß man die
Welt auch ohne phänomenale Fähigkeiten verändern kann deutlich zum Vorschein kommen.
1. Der Wunderheiler vom Pavillon Freud
Die Geschichte entstand 1975 kurz nach meiner Ersatzdienstzeit in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung einer
Universitätsklinik irgendwo mitten in Deutschland.
Die Person Terry gibt es tatsächlich, nur traf ich sie nicht in
dieser Klinik, sondern in einem ganz anderen Land und zu einer
anderen Gelegenheit. Dieser Mensch und seine eigene Geschichte
paßte aber in das beschriebene Umfeld, daß ich annähernd wahrheitsgetreu wiedergegeben habe.
Die Fähigkeiten des wirklichen Terry sind nicht so spektakulär,
wie die der Geschichte - also habe ich bißchen dazu gedichtet.
Aber was der junge Mann vermochte reichte aus, um seinen Mitmenschen die Haare zu Berge stehen zu lassen. Seine heilenden
Hände haben so manchen Mediziner zum Staunen gebracht.
Leider wurde ihm seine Begabung als Fehlfunktion ausgelegt und
soviel ich weiß, hat er die Psychiatrie seiner Heimatstadt nie
verlassen.
Ohne zu übertreiben sei gesagt, daß es noch viele Terry's auf
560
der Welt gibt, die meist ihre selbst gewählte Anonymität nicht
verlassen wollen, teilweise allerdings auch in abgeschirmten Labors ihr bedauernswertes Schicksal erleiden müssen.
2. Kugelblitz
Diese Erzählung ist ein reines Phantasieprodukt was die
Beschreibung des Unfalls von Felix betrifft. Sie gehörte zu
meinen Lieblingstagträumen und ich konnte mich monatelang an
ihr ergötzen. Sie entstand 1998 als Niederschrift, ist aber von der
Idee her schon wesentlich älter.
Die beschrieben Details seiner Wahrnehmung sind allerdings
keineswegs pure Erfindung. Vielmehr handelt es sich um eine für
mich logische Vermischung von esoterischem Wissen sowie Erkenntnissen von Magie praktizierender Gruppen. Gerade in diesen
Bereichen ist der Durchschnittsmensch schwer davon zu überzeugen, daß es Dinge gibt, die nicht in das Schema der erlernten
Realität passen.
Von Seiten der etablierten Gesellschaft wird dieses Thema in
den Bereich Hokuspokus verschoben und man vermeidet peinlich
genau, Beweise für die Existenz von magischen Taten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Daß all diese beschriebenen Vorkommnisse einer blühenden
Vorstellungskraft entspringen, sollte nicht als Bestätigung der
Nicht-Existenz mißbraucht werden, sondern eher zum Nachdenken anregen und den Reiz wecken, mehr über solche Dinge in
Erfahrung zu bringen.
Der Schauplatz befindet sich wiederum mitten in Deutschland,
wobei der Anfang der Geschichte bis zum Erscheinen des Kugelblitzes von mir in Wirklichkeit erlebt wurde. Am Ende, was
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vielleicht nicht für jeden befriedigend aussieht, möchte ich dem
Leser zu erkennen geben, daß die Fähigkeiten, die in jedem Menschen stecken, nur herausgeholt zu werden brauchen, um sie
verfügbar zu haben.
3. Ein Weg ins nichts
Es liegt schon etwas länger zurück, als mir diese Erzählung
durch den Kopf spukte. Allerdings möchte ich sie nicht als Tagtraum sondern eher als Vision bezeichnen, denn Ursachen für
Alpträume gibt es sicher schon genug. Das Konzept der Geschichte entstand 1976 in einer Zeit, wo Hesse für mich der einzig wahre
Autor war. Damals fiel es mir schwer die gesamte Konsequenz
der Idee als Planetengeist wiedergeboren zu werden zu überschauen. Vor allem, weil der Aspekt Gott sich als sehr schwierig in die
Geschichte einbaubar entpuppte.
Fertig gestellt habe ich sie erst 2001, nachdem ich behaupten
konnte, ein abgerundetes Bild vom Wirken Gottes und seines
Heilsplans zu besitzen.
Wer die Ich-Form als Anmaßung empfindet und unterstellen
möchte, der Erzähler wollte sich erheben, mißversteht die ganze
Sache gründlich. Vielleicht sollte sich dieser Leser die Geschichte
noch mal zu Gemüte führen und das wesentlich konzentrierter.
Eigentlich möchte ich sie als Parabel verstanden wissen, um
Einblicke in den Werdegang des Menschen von einer anderen Seite zu ermöglichen. Ähnlich dem Gedanken das Treiben der Menschen aus einer Perspektive des absolut Vorurteilsfreien zu sehen,
wie es zum Beispiel außerirdischen Wesen möglich ist, die aus irgendwelchen Gründen unseren Planeten in diesem abgelegenen
Teil der Galaxis besuchen und sich ihr eigenes Bild machen.
562
Nach meinem Wissenstand werden Geister die ihren Körper
verlassen nicht als Planeten wiedergeboren. Dennoch finde ich die
Idee ganz amüsant und unter den erwähnten Aspekten durchaus
wert, einmal durchdacht zu werden.
4. Sieglinde
Diese Geschichte ist die jüngste in diesem Buch und mir
besonders ans Herz gewachsen. Sie ist die einzige, die nicht irgendwann bei mir als Tagtraum in Erscheinung trat, was nicht
heißt, das sie der eine oder andere nicht für sich selbst verwenden
kann. Bei der Person Sieglinde schwebte mir ein Mädchen vor,
daß ich früher einmal kannte und alle äußeren Eigenschaften an
sich trug.
Die Traumerlebnisse sind teilweise auf eigene Erfahrungen und
Experimente zurückzuführen, sowie von einem anderen jungen
Mädchen aus einer nördlichen Gegend Deutschlands. Das Aufwachen im verschlossenen Schrank zum Beispiel ist von glaubwürdigen Augenzeugen belegt.
Für die weitere Entwicklung der Figur Sieglinde habe ich mich
an Carlos Castanedas Werke angelehnt und möchte allen Interessierten empfehlen, sich einmal die Zeit zu nehmen seine Lehrzeit nachzuvollziehen. Seine Ausführungen über die Kunst des
Träumens beispielsweise sind so spektakulär, daß der gesittete
westliche Denker wahrscheinlich nur mit Ablehnung reagieren
wird. Hinter diesen Erfahrungen des Autors stecken allerdings
mehrere Jahrzehnte diszipliniertes Training und da der erwähnte
Denker sich diese Tortour nicht antun will, steht ihm auch keine
Meinung bezüglich des Wahrheitsgehaltes der Werke Castanedas
zu.
563
Das beschriebene Verfahren zur Hilfestellung bei Alpträumen
ist durchaus ernst zu nehmen, wobei ich sogar gerne eine garantierte Wirkung versprechen möchte. Die Gründe für diese Belastung vieler Menschen - nicht nur Kindern - sind allerdings nicht
immer der unverarbeitete Tod. Hierzu möchte ich empfehlen, zuerst die Alptraum verursachenden Ängste heraus zu finden, denn
anscheinend reicht unsere Phantasie für die Erstellung aller möglichen Ängste aus. In meinem Buch ,Ein perfektes System'
beschreibe ich die sogenannte geistige Konditionierung ausführlicher und auch eine Analyse, wie man herausfinden kann um welche Art von Angst es sich im Einzelfall handelt, ist durch die
Anleitung in diesem Buch möglich.
5. Pyrenäen-Connection
Neben der Kugelblitz-Story ist dies wiederum einer meiner
Lieblings-Tagträume gewesen. Die Beschreibung des Lebens in
der Einsamkeit ist absolut authentisch, es sind eigene Erfahrungen. Doch es wäre ein großes Mißverständnis zu glauben, die
Sehnsucht von einem Raumschiff entführt zu werden, entstehe aus
dieser Art zu leben.
Vielmehr wuchs diese Geschichte in meinem Kopf in Deutschland bei den Gedanken an die Pyrenäen in Zusammenwirkung mit
der Erkenntnis, was unserer Rasse Hilfe geben könnte. Denn so
wie die Menschheit mit ihrer Heimat dem Planeten Erde umgeht,
wird sie es nicht mehr lange können. Manchmal hat man tatsächlich das Gefühl, der Mensch wäre ein Parasit und die natürlichen Abwehrmechanismen werden in ihrer eigenen Zeitvorstellung den Krankheitsbefall Mensch abwehren. Es ist wie bei allen
Krankheiten: Ist sie stärker als die Widerstandskraft des Körpers,
564
stirbt dieser - ist die Widerstandskraft groß genug, wird die
Krankheit besiegt.
Ein Wort noch an die science-fiction Fans. Sicher habt ihr die
Anspielung von der dritten Macht den Romanen um Perry Rhodan
zugeordnet. Das ist natürlich richtig und ich möchte mich bei den
Autoren bedanken für viele unterhaltsame Stunden. Aber es muß
nicht immer gleich ein Kult daraus entstehen; man benutzt solche
Bindungen zu leicht, um der Realität zu entfliehen, und das kann
sich die Menschheit nicht erlauben. Sie braucht die zukunftsorientierten Denker, die nicht wie die Anderen - ebenfalls aus
Gründen der Verdrängung - krampfhaft an Althergebrachtem festhalten, sondern offen sind für bisher nicht Gedachtes.
6. Die Kinder der Blauen
Auch dies ist entstanden aus dem Wunschdenken, der
Menschheit Hilfe von außerhalb zukommen zu lassen, mit dem sicheren Wissen, daß sie es von allein nicht schafft, dem Untergang
zu entgehen. Meiner Überzeugung nach weiß man in bestimmten
Kreisen der Führungselite dieser Welt längst von der bevorstehenden unabwendbaren Eiszeit. Der Zeitpunkt ist natürlich
nicht exakt vorhersehbar, doch beweisen Geologen eindeutig, daß
mit der Beginn der nördlichen Vereisung jederzeit zu rechnen ist.
Die angesprochene Elite hat sich darauf vorbereitet und ist sofort in der Lage, sich und ihre Familien an sichere Orte dieser
Welt zurück zu ziehen. Die gemeine Weltbevölkerung wird
dagegen mit widersprüchlichen Informationen hingehalten, nach
dem Motto: Nur keine Panik. Es gibt sogar schon pfiffige Demagogen die behaupten, daß es doch egal ist, ob der Mensch nun
dazu beiträgt, die nächste Eiszeit hundert oder mehr Jahre früher
565
auszulösen, denn sie kommt sowieso. Den Menschen die heute
leben und an die Zukunft ihrer Kinder denken ist dies allerdings
bestimmt kein Trost.
Welche für den Menschen zerstörerische Kraft von der Natur
ausgeht, hat man jüngst bei der Tsunami-Katastrophe im indischen Ozean erleben dürfen. Übriggeblieben in den Köpfen der
Weltbevölkerung ist lediglich die Gewißheit, daß man machtlos
ist gegen die Gewalten der Natur. Aber es sind auch kritische
Stimmen laut geworden, die berechtigterweise die fehlenden
Frühwarnsysteme einschließlich der unzulänglichen Zivilschutzmaßnahmen anprangerten.
Gerne ist man bereit der Weltgemeinschaft Sand in die Augen
zu streuen, wobei verschiedene Wirtschaftszweige sogar versuchen Profit aus der Angst der Menschen zu schlagen. So werden
zum Beispiel Unsummen ausgegeben für Weltraumüberwachung,
mit dem Argument drohende Meteroiteneinschläge nicht nur zu
erkennen, sondern auch abwenden zu können. Die Chancen dafür,
dies auch tatsächlich zu erreichen sind schwindend gering.
Die in den westlichen, sogenannten zivilisierten Ländern verbreitete Meinung, der Mensch wäre bisher immer noch mit allem
fertig geworden, wird solange Bestand haben, eben bis es zu spät
ist. Denn der Einzelne verläßt sich allzu gern auf die da oben, die
schon für die da unten sorgen werden. Das wird sich als fatal herausstellen, wenn innerhalb eines Jahres die Lebensbedingungen in
der nördlichen Hemisphäre nicht mehr erträglich sind.
Was wird dann passieren? Ein Chaos von unbeschreiblicher
Dimension wird ausbrechen und nur diejenigen werden überleben,
die stark genug sind. Die die genügend Widerstandskraft haben
und die bereit sind ihr altes Leben über den Haufen zu werfen,
566
haben die besten Chancen. Wer mit wenig auszukommen gelernt
hat, bereit ist neue Lebensräume zu finden und sie mit anderen teilen zu wollen, wird zum Vorbild für die Zeitgenossen nach der
Katastrophe.
Der Mythos von Argartha und die Existenz der Blauen ist keine
Erfindung von mir. Niedergeschrieben und damit der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht hat dies ein gewisser Charaux, den
Erich von Däniken als sein Vorbild bezeichnete.
Die Einflußnahme von nicht-menschlichen Wesen auf bestimmte Kulturepochen unserer Zeitgeschichte wird noch von
weiteren Forschern und Denkern in Erwägung gezogen.
Man kann sich seine Meinung über diese Theorien bilden wie
man möchte, aber man darf nie die einfachen und belegbaren Fakten aus dem Auge verlieren. Was soll zum Beispiel dieser Unsinn,
dem sich einige Forscher verpflichtet fühlen zu beweisen, das die
Pyramiden durchaus mit den anzunehmenden Mitteln der damaligen Zeit errichtet werden konnten? Oft habe ich das Gefühl, daß
die Lehrmeinung eines etablierten, also von der Öffentlichkeit anerkannten Forschers krampfhaft bewiesen werden soll. Es geht
vielen dieser zweifelhaften Gelehrten gar nicht um die Wahrheit,
sondern einfach nur um ihre Kompetenz - sprich: gesichertes Einkommen.
Die von mir erdachte Geschichte von den Blauen entstand unter Berücksichtigung der mir vorliegenden Informationen, die
selbstverständlich nur als hypothetisch anzusehen ist. Es gibt
allerdings auch keinen Beweis dafür, daß es sich nicht so zugetragen hat.
Ich nehme diese Form der Vergangenheitsverarbeitung sehr
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ernst, weil alles was wir erforschen und ergründen nie den Bezug
zur Realität heute verlieren darf. Denn es kommt wie immer nur
darauf an, wie wir unser Leben heute gestalten. Meiner Meinung
nach gelingt mir das besser als vielen meiner Mitmenschen, weil
ich mich nicht dem Undenkbaren verschließe, sondern bereit bin
alles was von der Mehrheit als gegeben angesehen wird in Frage
zu stellen. Dazu gehört auch die Akzeptanz des Plan Gottes,
dessen Definition was mein eigenes Leben betrifft allein mir obliegt.
7. Die braven Bürger von Rosbach
Diese Geschichte zählt ebenfalls zu den jüngeren. Mich faszinierte einfach die Idee mitten in Deutschland eine Gemeinschaft
von Menschen zu beschreiben, die sich nicht an dem perversen
Spiel der Wohlstandsgesellschaft beteiligt. Wirklich glaubwürdig
konnte ich es nur in der Form gestalten, daß Kräfte von außerhalb
(damit meine ich nicht auswärtige) den Bewohnern von Rosbach
zur Verfügung standen. Wie sollte es sonst in diesem von
Verwaltungen und Kontrollmechanismen vollgestopften System
gehen?
Besonders eingehend habe ich mich mit der Aufgabe auseinander gesetzt, über alle Altersstufen hinweg eine Lebensweise
darzustellen, die harmonisch und friedlich auch unter Berücksichtigung des weit verbreiteten Unvermögens der einzelnen Menschen unserer Zeit, ihr natürliches Gruppenverhalten zu erkennen
und zu akzeptieren funktioniert.
Es existieren heute einige Rosbachs; wer sie finden will
braucht sie nur zu suchen. Natürlich wird man keinen Energiestein
finden - aber reicht unser Verstand denn nicht aus, um die Leben568
sumstände in einer Gemeinschaft so einzurichten, daß man zufrieden und glücklich leben kann?
8. Babaluna
Den Traum vom Ausstieg aus der Wohlstandsgesellschaft teilen recht viele Menschen - aber nur wenige finden zueinander.
Die meisten Ausstiegswilligen vollziehen den Schritt allein oder
mit dem Lebenspartner und nur ganz selten wenn Kinder vorhanden sind. Meist ziehen sie sich schon vorher aus der Gemeinschaft zurück, weil es hauptsächlich die Menschen sind, die sie zu
diesem Schritt treiben. Darin ist auch der Grund zu finden, warum
viele dieser Aussteiger wieder zurück kehren, weil sie zu wenig
Erfahrung mit dem Anpassungsprozeß mitnehmen.
Wer unverarbeitete Dinge zurück läßt, wird zwangsläufig von
diesen wieder eingeholt, egal an welchem Ort der Erde er sich
verkriecht. Aber auch dies ist ein Erfahrungsprozeß und man
sollte nicht vor solchen Schritten zurückschrecken aus Angst zu
versagen. Man muß dahinter stehen was man tut und nur man
selbst hat das Recht zu urteilen, ob man etwas falsch oder richtig
gemacht hat. Warum also nicht mehrmals versuchen auszusteigen.
Letztlich werden wir immer wieder mit der Tatsache konfrontiert,
daß diese Gesellschaft keinen Raum für ein geistig gesundes
Leben bietet.
Für meinen Teil habe ich aus den anfänglichen Fehlern gelernt
und nehme mir jetzt, wenn ich mein Land wieder mal verlassen
will nicht vor für immer weg zu bleiben. Heute sage ich, ich muß
mal wieder Kraft tanken und als Abschiedsgruß verwende ich am
Liebsten ,Wir sehen uns'.
Die Beschreibung der Aussteigergruppe in der Geschichte ist
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keineswegs weit hergeholt. Erstens habe ich viele Charaktere
selbst kennen gelernt, also auch Chefs, die man durchaus als
menschlich bezeichnen kann. Des weiteren braucht man sich nur
mal umzuschauen um festzustellen, das solche Änderungen des
Lebens bereits von vielen vollzogen wurden.
Im Übrigen sind Unternehmer zunächst einmal Menschen. Wer
sie direkt in die Schublade ablegt und damit den freien Blick
versperrt, wird so einige gute Erlebnisse verpassen. Leider gibt es
von der Sorte, wie ich sie beschrieben habe zu wenige.
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