Das Augenmass der Melancholie Von Marco Meier Das Porträt bleibt als Akt kultureller und künstlerischer Wahrnehmung so etwas wie ein aktueller Ewigkeitswert. Und das gilt gleicherweise für die Malerei und die Fotografie. Dieses mediale Flattern zwischen Selbsterzeugung und Objektivierung lässt einen als Betrachter nie kalt, weil man sich selbst im Angesicht von Porträts auf beiden Seiten mit denken kann, auf der Seite des Abbildenden und auf der Seite des Abgebildeten. Ein gelungenes Porträt bleibt immer irgendwie rätselhaft, weil es unablässig zwischen hoher Vertrautheit und völliger Fremdheit schillert. Medial und technisch bringt die Fotografie dieses Schillern am wirksamsten hervor. Fotografie ist eine melancholische Disziplin. Ihre mediale Kraft liegt in einem ungefähren Dazwischen. Sie ist immer mehr als das, was sie darstellt und festhält, und also ist sie immer auch etwas anderes als das Dargestellte. Sie ist somit das Darstellende von etwas Anderem, aber gleichzeitig auch von sich selbst. In der geglückten Fotografie bleibt eine verborgene Dynamik wirksam, obwohl ihr genuiner Gestus ein Festhalten mimt. Der Kulturwissenschaftler Valentin Groebner formulierte in der Juni-Nummer des Merkur gar die These, die Fotografie präge rückwirkend bis zurück in die Renaissance unser Reden über die Abbildung einer Person. „Was heutige Betrachter auf fünf Jahrhunderte alten Porträts sehen“, sei wesentlich bedingt durch die technische Erfindung der Fotografie. Damit erklärt sich Groebner auch den überwältigenden Erfolg zweier Ausstellungen im letzten Jahr, die sich mit den grossen Porträtmalern des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigten, unter anderem auch mit Dürrer, Cranach und Holbein. Groebner ist überzeugt, dass Porträts der Renaissance zwar starke Wirkung auf die Zeitgenossen ausübten, allerdings nicht so sehr, „weil sie die Eigenheiten einer individuellen Person so exakt wiedergegeben hätten, sondern weil sie die Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit so virtuos für ihre Betrachter erzeugen konnten“. Ob die Geste des Fotografierens unsere Wahrnehmung gemalter Gesichter bis zurück in die Renaissance massgeblich verändert hat, bleibt spekulativ. Ohne Zweifel spiegelt aber kein künstlerisches Genre die jeweils neuen Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit so direkt wie das Porträt. Es tun sich konzeptionelle Welten auf zwischen feinsäuberlich und statisch arrangierten fotografischen Porträts aus der Gründerzeit, als die langen Belichtungszeiten noch die kleinste Bewegung registrierten und zum Beispiel den ersten Bildern mit Selbstauslöser. Ein Polaroidbild, das seit den 70er Jahren als Instant-Aufnahme zu haben war, spricht eine völlig andere ikonografische Sprache als ein Selbstporträt mit digitaler Kamera. Das iPhone scheint jungen Menschen als eine Art Spiegel zu dienen, mit dem man sich bei jeder Gelegenheit vergewissert, ob man äusserlich noch die Person ist, als die man morgens aus dem Haus ging: das GPS der permanenten Selbstbespiegelung. Die Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit auf jeden Fall bleibt durch alle technischen Neuerungen der Bildproduktion hindurch wirksam. Ein eigentlicher Kultur- und Generationenstreit hat sich vor Jahren am breitenwirksamen Übergang von der analogen zu digitalen Fotografie entzündet. Der Kunstkritiker Hans Belting sprach von einer Zeitenwende. „Der Papierabzug, auf dem das Kamerabild auf alle Zeit fixiert gewesen war, gehört bald der Vergangenheit an. Die digital hergestellten Fotos lassen sich augenblicklich und weltweit versenden, wie sie sich auch jederzeit bearbeiten lassen. Es zählt nicht mehr der Moment, in dem wir den Auslöser bedient haben.“ Der Spiegel titelte einen Artikel über die digitale Fotografie vor einiger Zeit – „Bilder ohne Geschichte“. Mittlerweile publiziert das Nachrichtenmagazin kaum noch analog hergestellte Fotos. So schnell dreht die technische Spirale. Wirtschaftlich und medial ist die analoge Fotografie auf verlorenem Posten. Ein Pressefotograf, der seine Filme womöglich noch in der eigenen Dunkelkammer belichtet und entwickelt, kommt nicht mehr ins Geschäft. Digitale Bilder befriedigen den Informationsanspruch schneller und formal perfekt. Das scheint zu genügen. Hier endlich sind wir bei der Porträtfotografie von Reto Camenisch angelangt. Jeder der in diesem Buch vorgelegten schwarz-weissen Porträtfotografien ist eine unverwechselbare Materialität eigen. Die darin angelegte Information wäre allerdings auch digital zu haben. Aber, so wage ich zu behaupten, die spezifische Körperlichkeit und Materialität lässt sich analog adäquater vermitteln. Körperlichkeit meint eine erlebbare Substanz, eine materielle Ausdehnung und verweist damit auf eine Lebenswelt, die ihre Bedeutung nur im exklusiv vorliegenden Dokument des ganz und gar singulären Ereignisses dieser fotografischen Begegnung erzeugen kann. Der chemische Prozess zur Hervorbringung des Bildes vollzieht sich in der Folge wie die Wiederholung dieses Aktes. Das mag nach nostalgischer Überhöhung tönen, nach längst überlebtem künstlerischem Essentialismus. Es steckt dahinter nur bedingt ein kulturtechnischer Dreh, aber umso mehr das ästhetische Konzept von der Einzigartigkeit menschlicher Individualität und ihrer autonomen Darstellbarkeit. Michel Foucault hätte wohl vom „Souverän des Sichtbaren“ gesprochen. Aber warum sollte diese Sichtbarkeit analog besser gelingen als digital? Die erwähnte materielle Ausdehnung reicht weit über eine blosse physische Körperlichkeit hinaus. Es ist damit eine raum-zeitliche Ausdehnung angelegt, in der sich zwei Intentionalitäten, nämlich die des Porträtierten und jene des Porträtierenden, so ultimativ treffen, dass daraus in diesem Moment eine Evidenz des gegenseitigen Erkennens entsteht, die das gelungene Bild jeder interpretativen Nachbearbeitung zu entreissen scheint. Was sich dadurch technisch ereignet, gleicht der Wahrnehmung, wie sie der Phänomenologie methodisch zu Grunde liegt. Der Philosoph Vilém Flusser sah in dieser Geste der Fotografie ein „Beispiel dafür, wie die Technologie die Theorie hervorbringt“. Der Fotograf Reto Camenisch wäre der Letzte, der sich diesbezüglich ideologisch auf einen Purismus einliesse. Als Leiter des Faches Fotografie an der Journalistenschule (MAZ) in Luzern weiss er um die grenzenlosen und phantastischen Möglichkeiten der digitalen Technik. Er weiss aber auch, was jedem Literaten oder Maler selbstverständlich ist, dass jeder Gegenstand kulturtechnisch und ästhetisch seine genuine Art der Darstellung verdient. Für seine hier versammelten Gesichter und Menschen hat er die analoge Annäherung gewählt, vielleicht, weil damit die „Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit“ (Valentin Groebner) für beide Seiten gleichwertig einen kurzen Moment von Verbindlichkeit erzeugt. Der gestalterische Grat in diesen Fotografien ist schmal. Den gültigen Ausdruck im Bild schafft Camenisch nicht nur mit der porträtierten Person selbst. Er arrangiert auch, mal mehr, mal weniger, setzt Momente von Kontextualisierung, die ab und zu gar mehr Raum bekommen, als die ins Bild gesetzten Menschen. Und immer dieses präzis geführte Licht, manchmal hart an der Grenze zur Dramatisierung. Wie ein Filter der Objektivierung legen sich die Grautöne der Schwarz-weiss-Bilder darüber. Und das Augenmass der Melancholie bleibt respektvoll gewahrt, als wären Fremd- und Eigenbild für den Bruchteil einer Sekunde identisch. Ob sich dieser Augenblick überhaupt ereignete, hat sich erst in der Dunkelkammer gezeigt.
© Copyright 2025 ExpyDoc