reziproke kräftepläne zu den spannungen in einer biegsamen haut

REZIPROKE KRÄFTEPLÄNE ZU DEN SPANNUNGEN IN
EINER BIEGSAMEN HAUT
VON WILHELM BLASCHKE.
Nach einigen älteren Versuchen, die bis auf Johann Bernoulli zurückgehen,
ist vor nunmehr etwa dreissig Jahren von Lecornu und Beltrami die Statik der
biegsamen und undehnbaren Häute entwickelt worden*. Ich möchte hier zeigen'
dass man dieser nicht bloss für den Geometer sondern vielleicht auch für den
Techniker interessanten Theorie eine besonders durchsichtige Fassung geben kann,
wenn man bemerkt, dass die in die graphische Statik von J. C. Maxwell eingeführten
reziproken Kräftepläne sich auch zur Bestimmung der Spannungen in einer biegsamen Haut anwenden lassen. Dabei kommt man auch von einer neuen Seite aus
auf die von L. Bianchi zum Studium der Flächendeformation benutzten "assoziierten" Flächen f.
Denken wir uns ein Stück eines Polyeders etwa von lauter Dreiecksflächen
begrenzt. Sind seine Kanten aus einem starren Material ausgeführt und in ihren
Endpunkten gelenkig verbunden, so haben wir ein besonderes räumliches Fachwerk
vor uns, das A. Föppl als ein Flechtwerk bezeichnet. Wirken auf dieses Flechtwerk
nur in den Eckpunkten seines Randes äussere Kräfte ein, so kann man für den Fall
des Gleichgewichts zu den Spannungen in seinen Kanten einen reziproken Kräfteplan
entwerfen, in dem die Spannungen durch Strecken dargestellt sind, die zu den
entsprechenden Kanten parallel laufen.
Das Polyeder unterwerfen wir nun einem Grenzübergang, bei dem es in eine
krumme Fläche übergeht. Sehen wir das Polyeder als Fachwerk an, so müssen wir
in der Grenze der Fläche notwendig folgende mechanische Eigenschaften zuschreiben :
die völlige Biegsamkeit und die Undehnbarkeit. Führt man diesen Grenzprozess in
geeigneter Weise durch, so geht auch das Polyeder des zugehörigen Kräfteplans in
ein Flächenstück über, das man als Kräfteplan zu den Spannungen in der ersten
Fläche ansehen kann. Die Verhältnisse liegen nämlich, wie man das nach diesen
Grenzbetrachtungen schon vorhersieht, so.
* L. Lecornu, " Sur l'équilibre des surfaces flexibles et inextensibles," Journal de VEcole Polytechnique,
cahier 48 (1880), S. 1—109.
E. Beltrami, "Sull' equilibrio delle superficie flessibili ed inestendibili," Oipere matematiche, 3. Bd, S.
420—464 oder Rendiconti del Istituto Lombardo, Serie 2, Bd 15 (1882), S. 217—265.
Man vergleiche dazu auch L. Bianchi, Lezioni di Geometria differenziale (Pisa 1903), Bd 2, S. 31 u. ff.
f Man siehe etwa Bianchi (Lukat), Vorlesungen über Differentialgeometrie (Leipzig 1910), Kapitel 11.
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WILHELM BLASCHKE
Es sei eine biegsame und undehnbare Haut, nennen wir sie H, unter dem
Einfluss äusserer Kräfte, die nur an ihrem Rande angreifen, im Gleichgewicht. Dann
kann man zur Fläche H eine zweite Fläche K mit folgenden Eigenschaften auffinden.
Wir bilden H derart punktweise auf K ab, dass in entsprechenden Punkten die
Flächennormalen parallel ausfallen. Will man nun zu einem Linienelement ds der
Haut H die hier wirksame Spannung angeben, so braucht man nur das entsprechende
Linienelement ds von K aufzusuchen : die Richtung von ds gibt bei zweckmässiger
Vorzeichen wähl die Richtung und das Verhältnis ds : ds gibt die Grösse der auf die
Längeneinheit bezogenen Spannung. So können wir also mit Recht K als reziproken
Kräfteplan der Spannungen in H bezeichnen. " Reziprok " deshalb, weil die Beziehung zwischen den beiden Flächen H und K wechselseitig ist, man kann nämlich in
derselben Weise auch H als Kräfteplan zu K ansehen.
Nimmt man H als gegeben, K als gesucht an, so ergibt sich für K eine partielle
Differentialgleichung zweiter Ordnung, die auch in Huberts Untersuchungen über
Integralgleichungen eine Rolle spielt. Die auf den Rand von H wirkenden äusseren
Kräfte liefern die zugehörigen Randbedingungen. Aus dieser partiellen Differentialgleichung ersieht man aber, dass K nichts anderes ist als die assoziierte Fläche einer
geeigneten " infinitesimalen Verbiegung " von H.
Es sei darauf hingewiesen, wie man diese assoziierten Flächen Bianchis, für die
wir eben eine statische Deutung gefunden haben, auch in einfacher Weise kinematisch
erklären kann.
Denken wir uns die Fläche H stetig ohne Dehnung und ohne Knick verbogen
und greifen wir einen Augenblick dieses BiegungsVorgangs heraus. Ist mit einem
Flächenelement von H ein starrer Körper verbunden, so führt er in dem Augenblick
eine Schraubung aus (die " tangierende " Schraubung). Die mit dieser Schraubung
verbundene Drehung stellen wir in üblicher Weise durch einen Vektor dar, der zur
Drehachse parallel läuft. Zu jedem Punkte von H gehört in dieser WTeise ein
Vektor. Alle diese Vektoren tragen wir von einem festen Punkt aus an, dann
erfüllen die Endpunkte im Allgemeinen eine Fläche und die ist die assoziierte Fläche
K der Biegung von H.
Ist H eine geschlossene konvexe Fläche, so reduziert sich, wie man unschwer
nachweisen kann, die zugehörige Fläche K notwendig auf einen Punkt. Deutet man
diese Beziehung (zum Beispiel) kinematisch, so findet man den Satz von Jellett und
Liebmann über die Unverbiegbarkeit einer geschlossenen konvexen Fläche.
Einige Formeln werden die vorgetragenen geometrischen und mechanischen
Überlegungen deutlicher machen. Nehmen wir an, unser reelles Flächenstück H
hänge einfach zusammen und werde durch parallele Normalen eineindeutig auf die
Kugel abgebildet. Nennen wir die Richtungskosinus der Normalen X, Y, Z und die
Entfernung der Tangentialebene vom Koordinatenanfang p, so können wir die Fläche
durch eine solche Gleichung darstellen
p=
H(X,Y,Z).
Dabei bedeutet es keine Einschränkung, wenn wir von der Funktion H annehmen,
es sei
H(cX, cY, cZ) = cH(X, Y, Z)
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für alle positiven c. Ein Punkt von H hat dann die Koordinaten
x = Hx,
y = Hy,
z = Hz,
wenn die Marken partielle Differentiationen andeuten.
Wir setzen das Flächenstück H als biegsam voraus—die Undehnbarkeit ist
unwesentlich—und nehmen an, H sei im Gleichgewicht unter der Einwirkung
äusserer Kräfte, die tangentiell am Rande von H angreifen.
Es sei nun S die Spannung mit den Komponenten dx/ds, dy/ds, dz/ds, die auf
das Linienelement ds von H wirkt. Soll Gleichgewicht herrschen, so müssen längs
jeder geschlossenen Kurve auf H die drei Integrale
• Jdx, y=jdy,
z = dz
Null ergeben. Erstreckt man daher diese Integrale von einem festen Punkt P 0 zu
einem veränderlichen Punkt P der Fläche H, so sind die Integrale unabhängig vom
Weg und nur abhängig von der Lage des Punktes P. Beschreibt P die Fläche H, so
durchläuft P{x, y, z) eine Fläche H. Da die Richtung {dx:dy:dz} der Spannung S
in der Tangentialebene an H liegt—gerade dadurch drückt sich die Biegsamkeit der
Fläche aus—so sind die Flächen H und H so auf einander bezogen, dass in
entsprechenden Punkten P und P die Tangentialebenen parallel sind. Deshalb kann
man H analog wie H so darstellen
p=
H(X,Y,Z).
Die partielle Differentialgleichung für die Fläche H, die nichts anderes ist als
der Kräfteplan K zur Haut H, gewinnt man durch folgende Betrachtung. Längs
jeder geschlossenen Kurve auf H müssen die Integrale über die Momente der
Spannung um die Koordinatenachsen
x* — jy dz — z dy,
y* — iz dx — x dz,
z* = Ix dy — y dx
verschwinden oder, was dasselbe bedeutet, diese Integrale sind erstreckt zwischen
den Punkten P0 und P von H unabhängig vom Integrationsweg. x*, y*, z* sind also
Funktionen der Richtungskosinus X, Y, Z der Flächennormalen in P .
Die drei Integranden oder die zweireihigen Determinanten der Matrix
Hx HxxdX
+
HxydY+HxzdZ
Hy ËyxdX + HyydY + HyzdZ
Hz ËzxdX
+
müssen vollständige Differentiale sein.
die identischen Beziehungen
•tiyy^-ZZ
~"
Aus der Homogeneität von H und H folgen
£-H-yZ±lyZ + llZZlJ.yy ^ ±1 Xy ±1 ZX ~T ±1 ZX ±1 Xy
xT
_ HZZHXX — lil^H.^
— ^xx^yy
HzydY+HzzdZ
'"^
A- HXXHZZ _ HyzHxy
HXXI2yZ
YZ~
+ Hxyayz
— Hmn.zx
~~ ^ftxyHxy + Hyyttxx _ J^zx^yz + -H-yz-Hzx ~~ ^zz^xy
ZZ
'
~
~ PL yZ±l XX
XY
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J^xy^zz
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WILHELM BLASCHKE
Führt man nach Hilbert für diese sechs gleichwertigen Ausdrücke die Abkürzung
(H, H) ein, so reduzieren sich die Integrabilitätsbedingungen auf die einzige
Gleichung
(H, Ë) = 0.
Derselben partiellen Differentialgleichung für H genügen aber, wie ich gezeigt
habe*, die den Biegungen der Fläche H assoziierten Flächen.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass man auch die vom Punkte P*{#*, y*y z*}
beschriebene Fläche, die auf H unter OrthogonaKtät entsprechender Linienelemente
bezogen ist, in gewissem Sinne als Kräfteplan für die Spannungen der Haut H
verwenden kann. Derartige Kräfteplane sind für Fachwerke kürzlich von L. Henneberg betrachtet worden f.
* Ein Beweis für die Unverbiegbarkeit geschlossener konvexer Flächen, Göttinger Nachrichten 1912.
f Über das Gleichgewicht an Seilnetzen,.., H. Weber-Festschrift (Leipzig 1912), S. 111—129.