G i u s e p p e Ve r d i | M A C B E T H | D e u t s c h
Giuseppe Verdi
MACBETH
DEUTSCH
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Giuseppe Verdi
MACBETH
w w w. w i e n e r - s t a a t s o p e r. a t
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsangabe
Macbeth, Melodramma in vier Akten
Über den heutigen Abend
Giuseppe Verdi | Biografie
Giuseppe Verdi | Musikdramatisches Schaffen
Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem
Zeitleiste Macbeth
Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng
Verdi, der Tyrann | Marianna Barbieri-Nini
Verdis Galeerenjahre
Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
Briefe
Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng
Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng
Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter
Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
Interview Alain Altinoglu | Andreas Láng
Interview Christian Räth | Oliver Láng
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George Petean als Macbeth, Wiener Staatsoper 2015
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Inhaltsangabe
INHALTSANGABE
Nach einer siegreichen Schlacht prophezeien Hexen dem schottischen
Feldherrn Macbeth, er werde Than von Cawdor und König Schottlands werden, sein Begleiter Banquo hingegen Vater von Königen. Unmittelbar darauf
melden Boten des Königs Duncan, dass dieser Macbeth zum Than von
Cawdor ernannt habe. In einem Brief berichtet Macbeth seiner Gattin von
den Ereignissen. Beider Ehrgeiz ist geweckt. Als sich bald die Gelegenheit
zum Königsmord bietet, treibt Lady Macbeth ihren Gemahl Macbeth zur Tat
an. Der Mord passiert, die Spuren werden sorgsam getilgt. Beunruhigt
durch die Weissagung der Hexen, Banquo werde Vater von K
­ önigen werden, beschließen Macbeth und Lady Macbeth, Banquo und s­ einen Sohn zu
töten. Doch der Sohn entkommt. In einer Vision erscheint Macbeth der ermordete Banquo. Macbeth ist entsetzt und sucht abermals die Hexen auf,
um Näheres über sein Schicksal zu erfahren. Diese teilen ihm unter anderem mit, dass er herrschen werde, bis der Wald von Birnam gegen ihn vorrückt, und ihn niemand töten könne, der von einer Frau geboren wurde.
Lady Macbeth irrt schlafwandelnd herum, ihre Schuld lastet auf ihr und
treibt sie in den Tod. Macbeth wird gemeldet, dass sich der Wald von Birnam
nähert – die vorrückenden Soldaten haben sich mit Zweigen getarnt.
Macbeth stellt sich Macduff, der ihn töten kann, da er nicht von einer Frau
geboren, sondern aus dem Leib seiner Mutter herausgeschnitten wurde.
Die Sieger feiern Malcolm als ihren neuen König.
5
Macbeth
MACBETH
Melodramma in vier Akten
Personen der Handlung:
Macbeth,
Feldherr
(Bariton)
Banquo,
Feldherr
(Bass)
Lady Macbeth
Sopran oder Mezzosopran
Kammerfrau
der Lady Macbeth
(Mezzosopran)
Macduff,
Edelmann
(Tenor)
Malcolm,
Duncans Sohn
(Tenor)
Spion
(Bass)
Duncan,
König von Schottland
Fleance,
Banquos Sohn,
Banquos Ehefrau,
Macduffs Ehefrau
(Stumme Rollen)
Hexen, Soldaten,
Erscheinungen, Boten,
Politiker
(Chor, Statisterie,
Kind der Opernschule)
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Vorlage
The Tragedy of Macbeth von William Shakespeare (um 1606)
Autoren der Oper
Giuseppe Verdi (Musik), Francesco Maria Piave, Andrea Maffei (Text)
Originalsprache
Italienisch
(die zweite Fassung wurde in französischer Übersetzung erstaufgeführt)
Orchesterbesetzung
1 Flöte, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte,­­
4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Cimbasso, Pauke, Schlagwerk, 1 Harfe,
Violine I, Violine II, Viola, Violoncelli, Kontrabass
Bühnenmusik: 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 4 Klarinetten, 2 Fagotte, 1 Kontra­
fagott, 4 Hörner, 6 Trompeten, 1 Flügelhorn, 3 Posaunen, Schlagwerk
Spieldauer
2 Stunden 30 Minuten (ohne Pause)
Entstehung
Nach seinem Attila erhielt Verdi vom Impresario Alessandro Lanari das Angebot, eine Oper für das Teatro alla Pergola in Florenz zu schreiben. Es
standen mehrere literarische Stoffe zur Auswahl (unter anderem die Ahnfrau
von Grillparzer), schließlich entschied man sich für Macbeth nach Shake­s­
peare. Die Wahl des Sujets zeigt deutlich, woher Verdi Anregungen erhalten
hatte: Meyerbeers Robert le diable und Webers Freischütz waren am Beginn
der 1840er-Jahre in Florenz mit großem Publikumszuspruch aufgeführt worden. Das Libretto verfasste – auf eine ihm zugesandte Prosaskizze Verdis –
Francesco Maria Piave, doch fiel die Arbeit nicht zur Zufriedenheit des
Macbeth
­ omponisten aus, worauf dieser auch noch Andrea Maffei hinzuzog. Die
K
Probenarbeit soll für damalige Verhältnisse ungewöhnlich aufwändig gewesen
sein, schließlich kam die Oper am 14. März 1847 zur Uraufführung. Mitte der
1860er-Jahre überarbeitete Verdi die Oper für das Pariser Théâtre Lyrique
neu, wo Macbeth in einer französischen Übersetzung am 21. April 1865 erstmals gespielt wurde.
Autograph / Manuskript
Verlagsarchiv Ricordi, Mailand (1. Fassung)
Bibliothèque nationale de France (2. Fassung)
Uraufführung
Teatro alla Pergola, 14. März 1847 (1. Fassung)
Théâtre Lyrique, 21. April 1865 (2. Fassung)
Wiener Erstaufführung
11. Dezember 1849 im Kärntnertortheater
Besetzung
Dirigent
Macbeth
Lady Macbeth
Banquo
Macduff
Kammerfrau
Malcolm
Doktor
Diener
Bote
Mörder
Uraufführung Giuseppe Verdi
Felice Varesi
Marianna Barbieri-Nini
Nicola Benedetti
Angelo Brunacci
Faustina Piombanti
Francesco Rossi
Giuseppe Romanelli
Giuseppe Romanelli
Giuseppe Bertini
Giuseppe Bertini
Erstaufführung im Haus am Ring
Clemens Krauss
Alfred Jerger
Gertrude Rünger
Richard Mayr
Josef Kalenberg
Aenne Michalsky
Hermann Gallos
Nicola Zec
Karl Ettl
Karl Ettl
Alfred Muzzarelli
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Tatiana Serjan als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper 2015
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Über den heutigen Abend
ÜBER DEN HEUTIGEN ABEND
Mit Macbeth begann Giuseppe Verdis künstlerische Auseinandersetzung mit
dem Werk William Shakespeares. Dessen Macbeth – 1611 uraufgeführt – inspirierte Verdi zu einem damals neuartigen Werk, musikalisch betrat er
Neuland und wagte manches stilistische Experiment. Seine zehnte Oper
markiert so in manchem Aspekt eine Abkehr von der italienischen Musik­
theater-Tradition. Und erstmals übertraf Verdis Honorar jenes seines früh
verstorbenen und umworbenen Komponistenkollegen Vincenzo Bellini.
Zwei Librettisten (Francesco Maria Piave und Andrea Maffei) schufen eine
verknappte Textfassung auf Basis des Originals von Shakespeare, wobei die
Figur der Lady Macbeth besonderes Gewicht erhielt. Verdi selbst verlangte
von der Interpretin keinen schlichten Schöngesang, sondern eine ausdrucksstarke Klangsprache, die vor hohlen, sogar hässlichen Tönen keinen Halt
macht. Inmitten seiner „Galeerenjahre“, also der Zeit intensivsten Schaffens,
brachte Verdi die Oper 1847 in Florenz zur Uraufführung – er selbst dirigierte
die Vorstellung. Doch der Erfolg war (noch) überschaubar. Rund 20 Jahre
später überarbeitete der Komponist das Werk ein weiteres Mal und brachte
seinen Macbeth 1865 in Paris in einer neuen Fassung heraus – und diese
setzte sich durch. An der Wiener Staatsoper erklang Macbeth spät, erst 1933
unter Clemens Krauss. Seither fanden insgesamt sieben Neuproduktionen
statt. Der aktuelle Macbeth kam 2015 in einer Inszenierung von Christian
Räth zur Premiere, Dirigent war Alain Altinoglu, der zugleich sein Debüt als
Staatsopern-Premierendirigent gab.
9
Giuseppe Verdi
10
Biografie
GIUSEPPE VERDI | Biografie
1813
1825
1828
1831
1832
1836
Am 10. Oktober wird Giuseppe Fortunino Francesco Verdi in
Le Roncole bei Busseto im Herzogtum Parma geboren, das
unter französischer Herrschaft steht.
Beginn der musikalischen Studien bei Ferdinando Provesi,
dem städtischen Musikdirektor Bussetos.
Erste Kompositionen.
Verdi zieht in das Haus von Antonio Barezzi in Busseto ein,
dessen Tochter Margherita er Klavierunterricht gibt.
Verdis Gesuch um Aufnahme am Mailänder Konservatorium
wird abgelehnt. Er nimmt Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna
in Mailand.
Verdi arbeitet an seiner ersten, unaufgeführten und heute verschollenen Oper Rocester. Er wird städtischer Musikdirektor
in Busseto. Heirat mit Margherita Barezzi.
1837
Geburt der Tochter Virginia (gestorben 1838).
1838
Geburt des Sohnes Icilio (gestorben 1839).
1839
1840
1842
Verdi verlässt Busseto und zieht nach Mailand. Uraufführung
seiner Oper Oberto, Conte di San Bonifacio an der Scala. Er
erhält einen Vertrag für drei weitere Opern an der Scala.
Tod seiner Gattin Margherita. Misserfolg an der Scala mit der
Oper Un giorno di regno.
Mit der triumphalen Uraufführung der Oper Nabucco an der
Scala gelingt Verdi der Durchbruch.
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Biografie
1843
1847
Uraufführung des Macbeth nach Shakespeare in Florenz. Die
Oper setzt sich zunächst nicht durch. Zwei Jahre später wird
das Werk erstmals in Wien gegeben, allerdings verschwindet es
bald vom Spielplan.
1851
Tod seiner Mutter. Verdi zieht nach Sant’ Agata.
1852
Louis Napoleon schlägt Verdi zum Ritter der Ehrenlegion.
1853
Uraufführung von La traviata in Venedig.
1854
1859
1861
Erstaufführung der überarbeiteten Fassung von La traviata
in Venedig.
Heirat mit Giuseppina Strepponi. Verdi wird Deputierter in
Parma. VIVA V.E.R.D.I. (für Vittorio Emanuele Re d’Italia) wird
zum Kriegsruf gegen Österreich.
Verdi ist Deputierter des ersten italienischen Parlaments in Turin.
Reise nach Russland.
1863
Reise nach Madrid und Paris.
1865
Die 2. Fassung von Macbeth wird in Paris erstmals gespielt.
1867
1868
12
Als erste Verdi-Operaufführung außerhalb Italiens erklingt
Nabucco an der Wiener Hofoper. Die Aufführung wird von
Verdi persönlich geleitet.
Tod des Vaters und Antonio Barezzis.
Das Ehepaar Verdi nimmt die siebenjährige Filomena an Kindes statt an; sie ist die Tochter eines Cousins von Verdis Vater
und wird Maria genannt.
Begegnung mit dem Dichter Alessandro Manzoni.
Biografie
1871
1874
1893
1897
1899
Verdi lehnt die Direktion des Mailänder Konservatoriums als
Nachfolger Mercadantes ab. Begegnung mit Arrigo Boito anlässlich der italienischen Erstaufführung von Richard Wagners
Lohengrin in Bologna.
Uraufführung von Aida in Kairo.
Uraufführung des für Manzoni geschriebenen Requiems unter der Leitung Verdis in Mailand. Ernennung zum Senator des
Königreichs.
Erstaufführung der Aida an der Wiener Hofoper.
Uraufführung seiner letzten Oper, Falstaff, in Mailand.
Ernennung zum Ehrenbürger von Rom.
Tod seiner Ehefrau Giuseppina.
Verdi stiftet ein Erholungs- und Altersheim für Musiker (Casa
di Riposo) in Mailand.
1901
Tod Giuseppe Verdis in Mailand am 27. Jänner.
1933
Macbeth wird erstmals im Haus am Ring gespielt.
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Musikdramatisches Schaffen
GIUSEPPE VERDI | Musikdramatisches Schaffen
OBERTO, CONTE DI SAN BONIFACIO,
Libretto: Antonio Piazza und Temistocle Solera, Opera seria in zwei Akten,
Uraufführung: 1839 in Mailand
UN GIORNO DI REGNO O IL FINTO STANISLAO,
Libretto: Felice Romani, Melodramma giocoso in zwei Akten,
Uraufführung: 1840 in Mailand
NABUCODONOSOR (NABUCCO),
Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in vier Akten,
Uraufführung: 1842 in Mailand
I LOMBARDI ALLA PRIMA CROCIATA,
Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in vier Akten,
Uraufführung: 1843 in Mailand
ERNANI,
Libretto: Francesco Maria Piave, Dramma lirico in vier Akten,
Uraufführung: 1844 in Venedig
I DUE FOSCARI,
Libretto: Francesco Maria Piave, Tragedia lirica in drei Akten,
Uraufführung: 1844 in Rom
GIOVANNA D’ARCO,
Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in einem Prolog und drei Akten,
Uraufführung: 1845 in Mailand
ALZIRA,
Libretto: Salvatore Cammarano,
Tragedia lirica in einem Prolog und zwei Akten,
Uraufführung: 1845 in Neapel
14
Musikdramatisches Schaffen
ATTILA,
Libretto: Temistocle Solera und Francesco Maria Piave,
Dramma lirico in einem Prolog und drei Akten,
Uraufführung: 1846 in Venedig
MACBETH,
Libretto: Francesco Maria Piave und Andrea Maffei,
Melodramma in vier Akten,
Uraufführung: 1847 in Florenz
I MASNADIERI,
Libretto: Andrea Maffei,
Melodramma in vier Akten,
Uraufführung: 1847 in London
JERUSALEM (Bearbeitung der LOMBARDI),
Libretto: Alphonse Royer und Gustave Vaëz, Große Oper in vier Akten,
Uraufführung: 1847 in Paris
IL CORSARO,
Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma tragico in drei Akten,
Uraufführung: 1848 in Triest
LA BATTAGLIA DI LEGNANO,
Libretto: Salvatore Cammarano, Tragedia lirica in vier Akten,
Uraufführung: 1849 in Rom
LUISA MILLER,
Libretto: Salvatore Cammarano, Melodramma lirico in drei Akten,
Uraufführung: 1849 in Neapel
STIFFELIO,
Libretto: Francesco Maria Piave, Dramma lirico in drei Akten,
Uraufführung: 1850 in Triest
15
Musikdramatisches Schaffen
RIGOLETTO,
Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in drei Akten,
Uraufführung: 1851 in Venedig
IL TROVATORE,
Libretto: Salvatore Cammarano und Leone Emanuele Bardare,
Dramma in vier Akten, Uraufführung: 1853 in Rom
LA TRAVIATA,
Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in drei Akten,
Uraufführung: 1853 in Venedig
Erstaufführung der zweiten Fassung: 1854 in Venedit
LES VEPRES SICILIENNES,
Libretto: Eugène Scribe und Charles Duveyrier, Oper in fünf Akten,
Uraufführung: 1855 in Paris
SIMON BOCCANEGRA,
Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in einem Prolog und drei Akten,
Uraufführung: 1857 in Venedig
AROLDO (Bearbeitung von STIFFELIO),
Libretto: Francesco Maria Piave, Oper in vier Akten,
Uraufführung: 1857 in Rimini
UN BALLO IN MASCHERA,
Libretto: Antonio Somma, Melodramma in drei Akten,
Uraufführung: 1859 in Rom
LA FORZA DEL DESTINO,
Libretto: Francesco Maria Piave, Melo­dramma in vier Akten,
Uraufführung: 1862 in St. Petersburg
MACBETH (Neufassung), Uraufführung: 1865 in Paris
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Musikdramatisches Schaffen
DON CARLOS,
Libretto: Joseph Méry und Camille Du Locle, Große Oper in fünf Akten,
Uraufführung: 1867 in Paris
LA FORZA DEL DESTINO (Neufassung),
Neufassung des Librettos: Antonio Ghislanzoni,
Uraufführung: 1869 in Mailand
AIDA,
Libretto: Antonio Ghislanzoni, Oper in vier Akten,
Uraufführung: 1871 in Kairo
SIMON BOCCANEGRA (Neufassung),
Überarbeitung des Librettos: Arrigo Boito,
Uraufführung: 1881 in Mailand
DON CARLO (Neufassung in vier Akten),
Uraufführung: 1884 in Mailand
OTELLO,
Libretto: Arrigo Boito, Dramma lirico in vier Akten,
Uraufführung: 1887 in Mailand
FALSTAFF,
Libretto: Arrigo Boito, Commedia lirica in drei Akten,
Uraufführung: 1893 in Mailand
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M alcolm I
M alcolm II
943 – 954
1005 – 1034
I ndulf
1034 – 1040
D uncan I
954 – 962
M acbeth
1040 – 1057
D ub
962 – 966
L ul ach I
1057 – 1058
C ulen
966 – 971
M alcolm III
1058 – 1093
K enneth II
971 – 995
D onald B ane
1093 – 1094
C onstantine III
995 – 997
D uncan II
1094
K enneth III
D onald B ane
997 – 1005
1094 – 1097
Schottische Könige des 10./11. Jahrhunderts mit ihren Regierungszeiten
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Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem
GETÖTET ... GETÖTET ...GETÖTET
Schottischer Königsrealismus im 11. Jahrhundert
Schottland im 11. Jahrhundert war ein für Könige ungemütliches Terrain:
Der natürliche Tod war unter Regenten nicht üblich, Standeskämpfe
und Nachfolgefehden prägten das Geschehen. In dieser Zeit lebte König
Macbeth, dessen Lebenszeit unscharf, aber immerhin dessen Regierungszeit
genau zu bestimmen ist. Er war von 1040 bis 1057 Herrscher von Schottland
und eng in der königlichen Genealogie verstrickt; so stammt er von König
Kenneth II. ab und war mit Gruoch, der Enkelin von König Kenneth III.,
verheiratet. Diese hatte aus erster Ehe einen Sohn namens Lulach, der
als Nachfolger Macbeths für ein Jahr regierte, bevor auch er von Malcolm
II. ermordet wurde. Der Vater von Lulach, also Gruochs erster Ehemann,
hatte im Jahr 1020 Macbeths Vater Findlaech ermordet, worauf Macbeth
ihn, seinen Bruder und eine stattliche Anzahl an Anhängern verbrennen
ließ – und so die Königswürde von Moray erlangte. Blättert man in Raphael
Holinsheds Chronicles of England, Scotland and Ireland aus 1577, die für
Shakespeare eine wesentliche Quelle darstellte, so wird Gruoch (also die
spätere Lady Macbeth) als „ehrgeizig, brennend vor Verlangen nach dem
Titel der Königin“ beschrieben. König Duncan wiederum, der tatsächlich
von Macbeth getötet wurde, war auch ein Verwandter. Immerhin hielt er sich
sechs Jahre lang an der Macht und war einer der wenigen Könige, die ohne
eine Liquidierung des Vorgängers ans Regieren kamen. Allerdings hatte
Duncan später keinen besonders guten Ruf, da er als zu weich und schwach
galt. So berichtet Holinshed: „Duncan war von solch sanfter und milder
Natur, dass sich die Menschen wünschten, die Charaktereigenschaften
wären zwischen ihm und Macbeth besser verteilt: Denn wo der eine zu
viel an Güte bot, hatte der andere zu viel an Grausamkeit. Wären aber
die Charaktere in den Extremen ausgeglichener, so hätte Duncan einen
ehrenwerten König und Macbeth einen exzellenten Feldherrn abgegeben.
Der Beginn von Duncans Regierung war sehr ruhig und friedlich, ohne
nennenswerte Schwierigkeiten; doch nachdem bekannt wurde, wie nachlässig er Missetäter bestrafte, nützen viele die Gelegenheit, durch Aufruhr
19
Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem
den Frieden und die Ruhe des Gemeinwesens zu stören.“ Als Duncan allerdings seinen minderjährigen Sohn zum Prinzen von Cumberland machte
und somit zum Thronfolger bestimmte, schwand für Macbeth nicht nur
die Hoffnung, König zu werden, er ortete auch einen Verstoß gegen das
königliche Nachfolgerecht, da ein Minderjähriger nicht zum Thronfolger
bestimmt werden durfte. Dazu kam auch noch, dass Duncan Macbeth aller
Titel verlustig erklärte, um ihm jeglichen Herrschaftsanspruch zu nehmen.
Und so begann Macbeth zu sinnieren, wie er „mittels Gewalt die Macht
doch noch an sich bringen könnte“, und als ihm drei Hexen die Herrschaft
prophezeiten, fasste er den Entschluss und tötete Duncan – so Holinshed.
Heute allerdings weiß man: Der Tod Duncans fand am Schlachtfeld statt.
Der ruhige Herrschaftsstil in Schottland änderte sich, als Macbeth an die
Macht kam, er eröffnete seine Regentschaft mit eiserner Hand und sorgte
für Ruhe und Ordnung im Regierungsgebiet, untermauert durch eine Reihe
von Gesetzen, die gleichzeitig auch seine Macht schützten: So war es allen
Mitgliedern von Familien der „Lords and Great Barons“ bei Todesstrafe
verboten, untereinander Ehen einzugehen, vor allem, wenn die Ländereien
der Sippen nebeneinander lagen; gleichzeitig aber schützte Macbeth auch
seine Untergebenen, die Schwachen und Schutzlosen durch eine Reihe
kluger Gesetze. Doch Schwäche zeigte er nicht. Bekannt ist die Geschichte,
wie Macbeth Lochquaber einnahm, wo ein Rebell namens Makdowald verschanzt lag. Dieser hatte sich und seiner Familie im Angesicht der drohenden verlorenen Schlacht das Leben genommen; Macbeth ließ der Leiche
den Kopf abschlagen und auf einen Pfahl stecken, der kopflose Körper
wurde an einem Galgen aufgehängt. Doch nach 17 Jahren – als erfolgreich
beschriebene Königszeit – war auch Macbeths Herrschaftsperiode abgelaufen, 1057 wurde er von Malcolm, dem Sohn Duncans, geschlagen und in
der Schlacht von Lumphanan getötet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Einfluss des englischen
Königs James I. auf Shakespeares Tragödie: James I. interessierte sich
sehr für Geister und Jenseitiges, lehnte gleichzeitig aber den Okkultismus
ab, wodurch bei Shakespeare die Hexen (und mit ihnen Macbeth) in ein
schlechtes Licht geraten mussten. Gleichzeitig wird Banquo im Drama als
positiver Gegenspieler Macbeths hervorgehoben, der sich etwa durch die
20
Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem
Weissagungen nicht in Versuchung führen lässt; eine nicht unwesentliche
Wandlung der Figur (in der Holinshedschen Chronik ist er ein Vertrauter
Macbeths), die aber verständlich ist, wenn man bedenkt, dass Banquo als
der Ahnvater des Königsgeschlechts der Stuarts galt, also jener Sippe, der
auch König James I. angehörte ...
Barbara Batchem ist freie Autorin und lebt in Dublin, London und Wien.
21
Zeitleiste Macbeth
Duncan wird König von Schottland. Er gilt als milder, aber
gleichzeitig schwacher Regent.
Um die Königswürde zukünftig
zu sichern, bestimmt er – widerrechtlich – seinen neunjährigen
Sohn zu seinem Nachfolger.
1034
1040
Bei der Schlacht von Lumphanan tötet Malcolm, der Sohn
von Duncan, Macbeth. Für ein
Jahr regiert Macbeths Stief­­sohn
Lulach, danach übernimmt
Malcolm die schottische Königswürde.
1057
Macbeth ermordet König Duncan
der Legende nach in seiner
Burg Glamis und wird König
von Schottland. Er regiert 17 Jahre
lang.
22
1577
Die Chronicles of England,
Scotland and Ireland von Raphael Holinshed erscheinen.
Sie bilden die wichtigste Quelle
zu William Shakespeares Königsdrama Macbeth.
Zeitleiste Macbeth
William Shakespeares Macbeth
wird in Hampton Court in
A nwesenheit des englischen
­
Königs James I. uraufgeführt.
1611
1838
Giuseppe Verdis Macbeth wird
in Florenz im Teatro alla Pergola
uraufgeführt.
1847
Carlo Rusconi veröffentlicht
eine italienische Übersetzung der
Dramen William Shakespeares.
1849
Wiener Erstaufführung des
Mac­beth am Kärntnertortheater in deutscher Sprache.
23
Zeitleiste Macbeth
Die zweite Fassung der Oper
Macbeth wird in Paris im ­Théâtre
Lyrique uraufgeführt.
1865
1933
Karl Böhm dirigiert eine Neu­
produktion des Macbeth an der
Wiener Staatsoper.
1943
Erstaufführung des Macbeth im
Haus am Ring unter Clemens
Krauss.
24
1953
Im Ausweichquartier der zerstör­
ten Staatsoper, dem Theater an
der Wien, bringt Karl Böhm
­erneut eine Macbeth-Neuproduk­
tion heraus. Elisabeth Höngen
singt die Lady Macbeth (Bild),
Josef Metternich den Macbeth.
Zeitleiste Macbeth
Ein drittes Mal leitet Karl Böhm
eine Neuproduktion von Macbeth
an der Wiener Staatsoper.
1970
1982
Am 7. Dezember kam die bisher
vorletzte Macbeth-Produktion
zur Pre­miere.
2009
Giuseppe Sinopoli leitet mit
einem neuen Macbeth seine
zweite Premiere an der Wiener
Staatsoper.
2015
3. Juni: 100. Vorstellung
von Macbeth im Haus
am Ring in Wien.
2016
Am 4. Oktober kam die aktu­elle
Macbeth-Produktion zur Premiere.
25
Giuseppe Verdi
26
Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng
DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER OPER
Ernani, 1844: nach Victor Hugo; I due Foscari, 1844: nach Lord Byron;
Giovanna d’Arco, 1845: nach Schiller; Alzira, 1845: nach Voltaire; Attila,
1846: nach Friedrich Ludwig Zacharias Werner. Der größte Teil der Opernsujets der letzten Jahre entsprang namhaften Dichtern, die Auseinandersetzung mit ihnen war auch eine Auseinandersetzung mit Erzählweisen und
dramaturgischen Modellen. Und nun war die Zeit reif für eine erste Annäherung an William Shakespeare, und mit seiner 10. Oper wagte sich Verdi an
den englischen Dramatiker (endlich) heran. Wobei das „endlich“ mehr einer
heutigen Sicht entspringt, denn im Italien in der Mitte des 19. Jahrhunderts
waren dessen Werke bei weitem nicht so populär, selbstverständlich und
naheliegend wie nun im 21. Jahrhundert. Er war kein Unbekannter, seit Carlo
Rusconi 1838 eine italienische Übersetzung seiner Dramen herausgegeben
hatte; man las und rezipierte ihn, aber eben noch nicht in jenem Maße wie
später. Drei Werke standen zur Auswahl, als der Florentiner Impresario Alessandro Lanari Verdi für die Karnevalssaison 1847 um ein neues Werk bat –
Grillparzers Ahnfrau, Schillers Räuber und Shakespeares Macbeth. Die
Ahnfrau wurde nie vertont, die Räuber kamen noch im selben Jahr in London
heraus. Für dieses Mal, für Florenz sollte es aber Macbeth werden, wohl auch
aus ganz pragmatischen Gründen. Den Tenor, den Verdi für die Räuber benötigte, konnte Florenz nicht aufbieten. Abgesehen davon interessierte sich
Verdi aktuell für ein möglichst numinoses Sujet, denn gerade in Florenz
hatten zwei Opern anderer Komponisten in den letzten Jahren besondere
Erfolge gefeiert: Robert le diable von Giacomo Meyerbeer und Der Freischütz
von Carl Maria von Weber. Etwas Fantasievolles, Mystisches musste also her,
und genau dies brachte Verdi in einem Brief an Lanari auch zu Papier. Nicht
politisch noch religiös sei der Stoff, sondern fantastisch. Vielleicht, so kann
man auch vermuten, war Verdi ein Shakespeare im nicht so Shakespeareaffinen Florenz lieber als in London; in London, also außerhalb Deutschlands,
wiederum der Schiller. Pragmatisches Denken soll auch in der Kunst nicht
unterschätzt werden.
Jedenfalls: Verdi hatte über die Gräfin Maffei Giulio Carcano kennengelernt,
der sich mit einer Übersetzung der Shakespeare’schen Werke Verdienste
27
Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng
erworben hatte. Und in diesem Dichter bewunderte Verdi die dramatische
Darstellungskraft, die Schärfe eines Realismus: „Er ist mein Lieblingsdichter,
den ich seit der frühen Jugend in Händen gehabt habe, lese und immer
wieder lese“, steht in einem Brief an den Verleger Léon Escudier. Der präzise
und tiefe Blick in die menschliche Seele, die durch keine moralische Wertung
gefärbte Beschreibung der Handlung und der Aktionen verbindet die beiden
Autoren; Verdi nahm sich Shakespeare zu Herzen und entwarf für den Macbeth, den er für „eine der größten Schöpfungen der Menschheit“ hielt, eine
neue Musiksprache, die damals den Charakter des Experimentellen hatte.
Denn es war eine Abkehr von einem reinen Schöngesang, gleichzeitig aber
auch eine Abkehr von liebgewonnenen Schematismen, alleine schon, was
die Besetzung betraf: Das zentrale Liebespaar fehlt in dieser Oper.
Ausdruck, Ausdruck, Ausdruck, so die Forderung des Komponisten, gleichzeitig aber auch: Kürze! Diese forderte er von Piave ein, trieb diesen zu
schnellem Arbeiten an und behandelte ihn, wie des Öfteren, wenig entgegenkommend. Ja, er zog sogar einen Co-Librettisten, Andrea Maffei, hinzu.
In einem Atemzug wollte er Erhabenheit von den Protagonisten, gleichzeitig
aber auch Extravaganz vom Hexenchor. Dass er mit dem Werk eine neue
Richtung einschlug, war ihm bekannt, ja er sah sich als Mauerbrecher für die
gesamte italienische Opernszene, wie er Lanari anvertraute: „Ich glaube, dass
diese Oper unserer Musik eine neue Richtung und den jetzigen und künftigen Komponisten neue Wege öffnen kann.“
Nicht nur dem Librettisten (der letztendlich nicht einmal genannt wurde)
forderte er Intensivstes ab, auch die Sänger mussten sich an Verdi, den Antreiber und Präzisionsapostel, gewöhnen. Berühmt sind die Erinnerungen
der ersten Lady Macbeth, Marianna Barbieri-Nini (siehe Seite 31), die von
mehr als 150 Proben eines einzigen Duetts berichtet. „Der unerbittliche Verdi
kümmerte sich nicht darum, dass er die Sänger ermüdete, dass er sie Stunde
um Stunde mit demselben Stück plagte. Und solange nicht jene Interpretation erreicht war, die sich nach seiner Auffassung am wenigsten schlecht zu
dem Ideal seiner Vorstellung fügte, ging er nicht zu einer anderen Szene
weiter“, hieß es in einer zeitgenössischen Dokumentation der Arbeit an der
Produktion. Wie zuvor niemals hat Verdi die Partitur mit Eintragungen versehen, die auch exakt den musikalischen Ausdruck definierten; die Anwei-
28
Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng
sung, die Lady Macbeth müsse hässlich und böse sein, und eine raue, hohle
Stimme haben, ist Gegenstand oftmaliger Diskussionen. Gemeint hat Verdi
hier wohl den Ausdruck, die Wahrhaftigkeit, die Spiegelung der begierigen
Seele. Nicht zu Unrecht sieht der Musikologe Joachim Campe Macbeth als
das Ende des Belcanto an.
Der Erfolg dieser neuen Oper im Teatro alla Pergola in Florenz war kein
unbestrittener. Verdi, der auch dirigierte, widmete das Werk seinem Schwiegervater, Antonio Barezzi: Die Oper solle von Herzen zu Herzen gehen, und
auch wenn das Sujet düster ist, sei es jenes, das Verdi als sein (bisher) meistgeliebtes beschrieb.
Rund 20 Jahre später kehrte der Komponist noch einmal zum Macbeth zurück. Für das Pariser Théâtre Lyrique schuf er eine zweite Fassung, die etliche
Umarbeitungen aufweist; zudem wurde die Oper, die am 21. April 1865 in
ihrer zweiten Fassung erstmals erklang, in Paris in einer französischen Übertragung gegeben. Auch diese Premiere wurde nur kühl aufgenommen; der
große Erfolg des Macbeth sollte sich erst im 20. Jahrhundert einstellen …
Zwei Details am Rande: Beim Macbeth übertraf das Honorar, das Verdi für
eine Oper erhielt, erstmals jene des früh verstorbenen und als Genie gefeierten Kollegen Vincenzo Bellini. Und beim Macbeth notierte Verdi erstmals
Metronom-Zahlen in die Partitur, sodass es ein verbindliches Tempomaß gab.
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Marianna Barbieri-Nini, die Uraufführungssängerin der Lady Macbeth
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Verdi, der Tyrann | Marianna Barbieri-Nini
VERDI, DER TYRANN
Marianna Barbieri-Nini über die Vorbereitungszeit
der Uraufführung
„Der Maestro kümmerte sich auf den Proben um jedes Detail der Partitur,
und ich erinnere mich, dass wir morgens und abends, im Foyer des Theaters
oder auf der Bühne zitternd auf den Maestro blickten, sobald er erschien,
und abzulesen versuchten, ob es für diesen Tag irgendeinen neuen Einfall
gäbe. Wenn er mir fast lächelnd entgegenkam, und etwas sagte, das wie
ein Kompliment klang, war ich sicher, dass mir an diesem Tag eine noch
längere Probe ins Haus stand. Ich erinnere mich, dass es zwei Höhepunkte
für Verdi in seiner Oper gab: die Schlafwandlerszene und mein Duett mit
dem Bariton. Nicht zu glauben, aber die Schlafwandlerszene allein kostete mich drei Monate Einstudierungszeit: für drei Monate, morgens und
abends, versuchte ich jene zu imitieren, die im Schlaf sprechen, Worte
stammeln (wie Verdi es mir vorschrieb), fast ohne die Lippen zu bewegen,
den Rest des Gesichts unbeweglich lassen, einschließlich der Augen. Es war
zum Verrücktwerden! Das Duett mit dem Bariton, das Fatal mia donna!
beginnt, wurde ohne Übertreibung mehr als einhundertfünfzigmal geprobt,
damit es mehr gesprochen als gesungen sei, wie der Maestro sagte. ... Wir
wurden gezwungen, dem Tyrannen zu gehorchen. Ich kann mich immer
noch an die drohenden Blicke, die Varesi [der Uraufführungs-Sänger des
Macbeth] ihm auf dem Weg ins Foyer zuwarf, erinnern; mit seiner Hand am
Griff des Schwertes wirkte er, als wollte er gleich Verdi niedermetzeln, so
wie er später König Duncan niedermetzelte.“
Die Sopranistin Marianna Barbieri-Nini (1818-1887) sang die Lady Macbeth bei
der Uraufführung der Oper in Florenz.
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Verdis Galeerenjahre
VERDIS GALEERENJAHRE
Eine der berühmtesten Briefstellen Giuseppe Verdis stammt aus dem
Jahr 1858 und entstammt einem Schreiben an seine Vertraute Clara
Maffei: „Seit Nabucco habe ich, kann man sagen, nicht eine Stunde Ruhe
gehabt. Sechzehn Galeerenjahre.“ Gemeint ist damit die fast pausenlose
Produktion einer Oper nach der anderen; meistens werden die Jahre von
Nabucco (1842) bis Rigoletto im Jahr 1851 (dem ersten Werk der trilogia
popolare, also jenen drei Opern – Rigoletto, Trovatore, Traviata –, mit
denen Verdi vom populären Komponisten zum italienischen Operngott
aufgestiegen ist) genommen; Verdi selbst dehnte diese Galeerenjahre tatsächlich auf 16 aus, also bis Un ballo in maschera im Jahr 1859. Erst danach
trat eine spürbare Verlangsamung und zeitweise Abkehr vom heimatlichen
Opernwesen ein. Nach Ballo kam La forza del destino im Jahr 1862 –
geschrieben für St. Petersburg –, Don Carlos im Jahr 1867, geschrieben für
Paris, und schließlich Aida im Jahr 1871, geschrieben für Kairo. Dass Verdi
mit diesem Arbeitstempo gefordert, herausgefordert war und sich mitunter
auch überfordert fühlte, steht außer Zweifel. Doch sprach er bei anderer
Gelegenheit davon, dass er nun einmal einer sei, der die Arbeit suche.
Ungewöhnlich ist eine solche Produktionsmenge freilich nicht. Man
denke nur an einen Rossini oder Donizetti, also die „Väter“ Verdis, die in
derselben Zeit noch deutlich mehr Werke produzierten. Doch „funktionierte“ Verdi nach den Regeln dieses italienischen Opernbetriebs nicht
einwandfrei: Gerade in der Zeit vor Macbeth verließen ihn seine Kräfte
(heute spräche man wohl von einem Burnout), er pausierte, litt unter
Erschöpfung und unter gereizten Nerven, machte im Sommer 1845 eine
Trinkkur in Recoaro. Erst ab Anfang 1846 kommt die „Produktion“ (mit
dem Macbeth) wieder in Schwung. Dieses beständige Arbeiten hatte
freilich mit den theaterimmanenten Umständen Italiens der Mitte des­
19. Jahrhunderts zu tun. Ein Repertoirebetrieb, wie er heute selbstverständlich ist, existierte nicht, die Opernunternehmer – Impresari – engagierten Sänger, Musiker, Bühnenbildner und eben auch Komponisten
und waren bestrebt, ständig neue Werke herauszubringen. Zentral waren
32
Verdis Galeerenjahre
die drei Spielzeiten, die Karnevalsstagione, die Frühjahrsstagione und die
Herbststagione. Der Komponist war Auftragnehmer und hatte das Werk
mehr oder minder nach den Vorgaben des Impresarios zu verfassen.
Immer wieder wurden auch Wünsche einzelner Sängerinnen und Sänger
laut, die eine geänderte Arie wollten; was zählte, war in erster Linie der
Publikumserfolg (und damit der finanzielle Erfolg), der oftmals eng mit
einzelnen Stars verknüpft war. Erst nach und nach machte sich Verdi
von dieser Produktionsmaschinerie frei – mit seinem wachsenden Ruhm
und immer bekannter werdenden Namen konnte er es sich mehr und
mehr leisten, nach seinen eigenen Regeln zu arbeiten. Dazu gehörte etwa
auch, dass er sich Sänger aussuchen bzw. ablehnen konnte. Zu diesem
Willen an Eigenständigkeit gehörte es aber auch, dass Verdi, mehr als
andere Italiener vor oder neben ihm, Einfluss auf das Libretto nahm und
es bewusst mitgestaltete: Gerade sein bestimmter (mitunter auch rüder)
Umgang mit Piave, so dieser nicht das Gewünschte für den Macbeth lieferte,
zeugt von dieser Haltung.
33
Erstausgabe des Macbeth 1623
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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
MACBETH: SCHAUSPIEL UND OPER IM VERGLEICH
Was war es für ein Skandal, als sich Charles Gounod den Faust als
Opernsujet vornahm und ihn für das Musiktheater adaptierte. Darf man
das? Nein!, riefen die deutschen und deutschsprachigen Kritiker, und zwar
jahrzehntelang, fast unisono, und es lag nahe, dass die Oper hierzulande
nur unter dem Titel Margarete herauskommen durfte. Alles andere wäre
Majestätsbeleidigung gewesen, wobei mancherorts vergessen wurde, wieviel vom in der Opernfassung vermeintlich Fehlenden der Komponist in
der und durch die Musik sagte. Musikdramaturgie gehorcht nun einmal
anderen Gesetzen als reine Schauspieldramaturgie, und dass die Musik
eine zweite Ebene sein kann, in der viel Ungesagtes kommuniziert wird, ist
inzwischen ja beinahe schon eine Binsenweisheit.
Ähnlich, wenn auch nicht so brisant, verhielt es sich mit dem Macbeth. Nicht
so brisant, weil es sich um einen englischen und nicht deutschen Autor
handelte, den man eher aus einer Übertragung kannte, und der Macbeth
hierzulande nicht jene Meisterwerk-Aufladung hatte, die dem Faust anhing.
Aber dennoch: „Wenn irgend ein Shakespeare-Enthusiast das Textbuch des
Macbeth, das der in allen Textbuchnöten bewährte Piave für Verdi schrieb,
liest, wird er das unabweisbare Verlangen empfinden, vor Verzweiflung an
einer Wand hinaufzuklettern und etliche Schmerzensschreie auszustoßen“,
las man in der Wiener Zeitung noch 1933, als das Werk an der Wiener
Staatsoper erstmals gespielt wurde.
Hier heißt es, bedachtvoll vorgehen, denn so vorschnell ist der Opernstoff
nicht zu verurteilen. Zweifellos wurden gewaltige Kürzungen und Raffungen
vorgenommen, diese aber nicht willkürlich, sondern im Sinne einer vorausschauenden Musiktheaterdramaturgie. Zunächst einmal muss festgestellt
werden, dass Verdi kein Englisch verstand und die Werke Shakespeares
aus italienischen Übertragungen, wie etwa jene von Giulio Carcano und
Carlo Rusconi, kannte – bei Letzterer handelt es sich wohlgemerkt um eine
freie Übertragung und nicht nur um eine Übersetzung: Ruconi bearbeitete
die Werke nach Gutdünken und scheute sich auch nicht vor tatsächlichen
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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
Eingriffen in den Text. Wo aber liegen die Unterschiede zwischen dem
Schauspiel und der Oper? Zunächst einmal wurden die Rollen stark reduziert: Bei Shakespeare fanden sich 24 Personen exklusive drei Hexen und
Hekate, nicht gerechnet die Gruppen wie Lords, Mörder, Erscheinungen,
Edelleute. Bei Verdi waren es weniger als die Hälfte (zuzüglich des Chores),
wobei König Duncan von einer mittelgroßen Rolle (im Stück) zu einer
stummen, kleinen Rolle in der Oper mutierte und Banquos Sohn Fleance
ebenfalls zu einer stummen Rolle schrumpfte; ebenso wurde die Aktzahl
von fünf im Drama auf vier in der Oper gesenkt. Diese Reduktionen führten im Sinne einer Handlungsdramaturgie noch zu keiner entscheidenden Änderung, ebensowenig das Streichen der zahlreichen und raschen
Ortwechsel im Shakespeare’schen Original: Das Wie veränderte sich, der
Sujet-Kern hingegen blieb gewahrt. Einhergehend mit diesen Personenund Schauplatzstreichungen erfolgte eine Tilgung einzelner Akzente, wie
etwa der Pförtnerszene (2. Akt, 3. Szene im Schauspiel), die mittels des
angeheiterten Pförtners ein, in seiner Entstehungszeit übliches, komisches
Element darstellt. Dieses fand in der Oper keine Verwendung, wobei es
Piave gelang, die dadurch entstehenden Logik- und Schlüssigkeitsdefizite
geschickt und theaterpraktisch zu überbrücken: Im Schauspiel (2. Akt,
2. Szene) hören Macbeth und Lady Macbeth ein Pochen, in der nächsten
Szene ist der Pförtner zu sehen, der auf eben dieses Klopfen am Tor reagiert
und die Tür öffnet; Macduff und Lenox (ein schottischer Edelmann) begehren Einlass, um den König zu wecken. In der Oper fehlt, wie gesagt, die
Pförtnerszene, wodurch sich die Situation ergibt, dass die Macbeths ein
Klopfen am Burgtor (Regieanweisung!) hören und in der nächsten kurzen
Szene Macduff bereits das Zimmer des Königs betritt. Dass dieser klopft
und Einlass begehrt, wird in der Oper nicht gesagt, ergibt sich allerdings aus
dem szenischen Zusammenhang. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich die
verknappende Arbeitsweise der Autoren: Was im Schauspiel im szenischen
Verlauf genau und fugenfrei abgewickelt wird, findet in der Oper nur in
einzelnen Schlaglichtern statt, ohne dadurch aber an Schlüssigkeit zu verlieren. (Man darf auch nicht vergessen, dass Teile des Publikums womöglich
das Stück schon gelesen hatten und es daher nur darum ging, einen bereits
bekannten Stoff neu auszuleuchten, nicht aber vollständig zu erklären.)
36
Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
Stärker ins Gewicht fällt der Eingriff in die Persönlichkeiten von Macbeth und
Lady Macbeth. In der zweiten Szene des Schauspiels etwa wird ein Dialog
zwischen König Duncan und seinen Edelleuten abgehandelt, in dem die Taten
Banquos und Macbeths positiv hervorgehoben werden. Aus Sicht Dritter wird
so der (loyale) Charakter Macbeths beschrieben, noch bevor man ihn als
Figur auf der Bühne erlebt. Erst dann kommt es zum Zusammentreffen der
Hexen mit Macbeth und zu der ersten Weissagungsszene. Sodann beschreibt
Shakespeare präzise die Wandlung des Feldherrn zum Königsmörder, lässt
Macbeth das Wort „suggestion“, Versuchung, aussprechen, eine Versuchung,
die ihm Angst macht. Auch in der Oper fühlt Macbeth den Schrecken bei der
Prophezeiung („quasi con ispavento“ – „Fast mit Schrecken“), zumal auch in
der Musik die Bedrohung und Gefahr hörbar wird; doch wird das Schwanken
des Königs im Schauspiel (im Gegensatz zur Oper) ausführlich vor Augen
des Publikums geführt. Seinen aufflackernden Drift ins Mörderische („Verbirg
dich, Sternenlicht! Schau meine schwarzen Wünsche nicht!“, 1. Akt, 4. Szene)
haben die Opernautoren nicht nachvollzogen, sondern es Lady Macbeth überlassen, die treibende negative Kraft zu sein. Das zeigt sich zum Beispiel auch
in einem Detail: Beim ersten Zusammentreffen des Macbeth-Ehepaares lässt
Shakespeare folgenden Dialog ablaufen:
Macbeth: Mein teures Leben, Duncan kommt heute noch.
Lady Macbeth: Und wann geht er wieder?
Macbeth: Morgen, so denkt er –
Lady Macbeth: Oh, nie soll die Sonne den Morgen sehen! …
In der Oper hingegen:
Macbeth: Gleich wird der König kommen.
Lady Macbeth: Und gehen?
Macbeth: Morgen.
Lady Macbeth: Nie geh uns die Sonne zu diesem Morgen auf.
Macbeth: Was sagst du?
Lady Macbeth: Du verstehst nicht?
Macbeth: Verstehe, verstehe!
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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
Man sieht an dieser Stelle, wie nahe der Operntext an jenem des Schauspiels
ist und mit wie kleinen Änderungen die Opernautoren die kriminelle
Tatenergie umzuleiten verstanden. Auf die Frage, wann Duncan wieder die
Macbeth’sche Burg verlasse, antwortet Macbeth: „Morgen, so denkt er“, was
doppeldeutig verstanden werden kann, im Sinne eines bereits gefassten
Mordplanes (den er ja in der zuvorgehenden Szene bereits ausgesprochen
hat). In der Oper aber sagt Macbeth nur „morgen“ – die Anspielung auf eine
Tötung muss Lady Macbeth vornehmen; Macbeth bleibt dadurch moralisch
integrer. Abgesehen davon lässt Verdi in dem darauffolgenden „Was sagst
du?“ Macbeths ihn auf musikalischer Ebene erschrocken reagieren: Auch
wenn ihm der Gedanke zur Tat schon gekommen wäre, so erschrickt er
zumindest bei der ausgesprochenen Tatsache.
Wie bereits angedeutet, fehlt im Libretto die detaillierte Entwicklung
Macbeths zum Bösen hin. Hier nimmt die Oper die Abkürzung: Zwar leidet Macbeth vor dem Mord, doch ist das moralische Hin und Her weniger
bedeutsam, was zählt ist die Tat, nicht der Weg dorthin. Das Disparate in
seinem Charakter wird zurückgedrängt: Im Drama quälen ihn auf der einen
Seite Ängste und Zweifel, auf der anderen trägt er aber auch Konstruktives
zur Mordplanung bei. Auch hier ein Detail mit großem Gewicht: Die Idee,
die Wachen mit Duncans Blut zu beschmieren, geht bei Shakespeare
zunächst auf ihn zurück, in der Oper aber auf seine Frau. Macbeth ist hier
wieder mehr das Werkzeug, der Furchtsamere, weniger Aktive.
Im Falle der Partie der Lady Macbeth ist die charakterliche Transformation
weniger stark ausgefallen, da sie bei Shakespeare bereits zu Beginn ein
abgeschlossener Charakter ist und eine allmähliche Wandlung zum Bösen
hin, wie bei ihrem Ehemann, ausgespart wird. Ihre Entschlossenheit wird
im Libretto verknappt, ohne dass ihr dadurch dramatische Kraft genommen werden würde; auch die Musik spricht – wie zum Beispiel in ihrer
ersten Arie – eine eindeutige Sprache. Entgegensteuernde Momente bei
Shakespeare – vor dem Mord an Banquo will Macbeth seiner Frau nichts
über diesen erzählen, um sie zu schützen – kommen in der Oper nicht vor;
vielmehr haben die Opernautoren an dieser Stelle eine, im Schauspiel nicht
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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng
vorhandene, Triumphpassage Lady Macbeths eingefügt, nachdem sie vom
geplanten Mord an Banquo erfahren hat.
Doch nicht nur Kürzungen, auch Ergänzungen ergaben sich durch die
Arbeit an der Oper: Banquo erhielt eine Arie vor seinem Tod und Lady
Macbeth ein Trinklied, das einen musikdramatisch idealen Kontrast zu den
dieses unterbrechenden Horror-Schüben Macbeths erzeugt. Ein besonderes Beispiel der Qualität der Raffungen Piaves zeigt sich in den finalen
Betrachtungen Macbeths; der Wissenschaftler Christian Springer hat hier
mehrfach auf die Qualität der Verknappung Piaves hingewiesen.
Während es bei Shakespeare heißt:
„Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühne, und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist’s,
Erzählt von einem Narren, voller Wut und Klang,
Das nichts bedeutet.“
lautet es in der Oper:
„Das Leben! … Was bedeutet das schon?
Das Märchen eines armen Narren;
Schall und Rauch, ohne Bedeutung!“
Deutlich kürzer freilich, doch fehlt nichts an der Aussage. Ein Beispiel einer
gelungenen Transformation, die den Bedürfnissen des Musiktheaters entgegenkommt, aber dem Sinn des Dramas treu bleibt. Wie sagte man über
Piave? Er sei einer, der ein Meer mit einem Löffel einfangen könne. Mit
Macbeth ist ihm dies jedenfalls gelungen.
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Brief Verdis an seinen Schwiegervater Antonio Barezzi, in dem er Macbeth als seine liebste
Oper bezeichnet, 1847
40
Briefe
BRIEFE
Verdi an Alessandro Lanari
15. Oktober 1846
Hier hast Du das Exposé zu Macbeth, und Du wirst begreifen, worum es
geht. Wie Du siehst, benötige ich einen erstklassigen Chor: insbesondere
der Frauenchor muss exzellent sein, denn es wird zwei Chöre der Hexen
geben, die von größter Wichtigkeit sind. Achte auch auf die Bühnenmaschinerie. Kurzum, die Dinge, auf die bei dieser Oper besonderes Augenmerk
zu legen ist, sind: Chor und Maschinerie.
Verdi an Giovanni Ricordi
29. Dezember 1846
Liebster Ricordi,
Ich akzeptiere den Vertrag, den Du für meine neue Oper Macbeth entworfen hast, die in Florenz zum Karneval gebracht werden wird. Allerdings stelle ich die Bedingung, dass du keine Vorstellung des Macbeth an der Scala
erlaubst. Ich kenne ausreichend Fälle, um sicher zu sein, dass man an diesem Haus nicht weiß oder wissen will, wie man Opern anständig aufführt
– besonders die meinen. Es geht mir nicht aus dem Sinn, wie entsetzlich
Lombardi, Ernani, Due Foscari in Szene gesetzt worden waren. Und auch
noch Attila! Du kannst Dir die Frage stellen, ob dieses Werk trotz gutem
Ensemble übler inszeniert werden könnte? Ich sage es also noch einmal,
dass ich den Macbeth an der Scala nicht gestatte, solange sich die Dinge
dort nicht bessern.
Verdi an Marianna Barbieri-Nini
2. Jänner 1847
Ich habe versucht, ... Musik zu machen, die, so gut ich vermochte, an das
Wort und die Situation gebunden ist; und ich wünsche, dass die Künstler
diese meine Idee genau verstehen, ich wünsche also, dass die Künstler
mehr dem Dichter als dem Komponisten dienen.
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Briefe
Verdi an Felice Varesi
7. Jänner 1847
Nie werde ich damit aufhören, Dir einzuschärfen, dich mit dem Text und
der Darstellung gut auseinanderzusetzen; die Musik hingegen kommt von
selbst. Aus dem ersten Duettino kannst du viel herausholen (mehr als aus
einer Cavatina). Gib dir bei der Darstellung Mühe, wenn Macbeth den Hexen begegnet, die ihm den Königsthron weissagen. Bei dieser Prophezeiung
bist Du verwundert und erschrickst, im selben Augenblick spürst du den
Ehrgeiz, König zu werden. … Im großen Duett müssen die ersten RezitativWorte, wenn er mit dem Diener spricht, ohne Betonung gebracht werden.
Wenn er aber allein ist, wird er aufgeregter und glaubt, den Dolch in seiner
Hand zu sehen, der ihm den Weg zum Mord an Duncan weist. Dabei handelt es sich um einen sehr beeindruckenden Augenblick, auf diesen achte
sehr! Achte auch auf die Nachtszene: Alle schlafen, das Duett muss sotto
voce gebracht werden, mit düsterer Stimme, die Entsetzen einflößt. … Das
Orchester wird an diese Stelle sehr leise spielen, und ihr sollt auch mit gedämpfter Stimme singen.
Verdi an Alessandro Lanari
21. Jänner 1847
Wenn Du die Musik erhältst, wirst Du sehen, dass zwei Chöre von größter
Bedeutung dabei sind: Spare nicht an den Choristen, und Du wirst zufrieden
sein. Achte darauf, dass die Hexen immer in drei Gruppen aufgeteilt sein
müssen, am besten wäre, wenn sie 6.6.6 wären, insgesamt also 18 etc. ... Ich
lege Dir den Tenor ans Herz, der den Macduff singen soll; und dann müssen
alle zweiten Partien gut besetzt sein, denn die Ensemblenummern erfordern
gute Stimmen. An diesen Ensemblenummern ist mir sehr gelegen. Ich kann
Dir nicht genau sagen, wann ich nach Florenz kommen werde, denn ich
will die ganze Oper hier in Ruhe fertig stellen. Du kannst sicher sein, dass
ich zeitgerecht eintreffen werde. Verteile die Partien der Chöre und SoloSänger einzeln, damit ich, wenn ich eintreffe, nach zwei oder drei Proben
die Orchesterproben angehen kann, denn es werden viele Orchester- und
Bühnenproben nötig sein.
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Briefe
Verdi an Antonio Barezzi
25. März 1847
Seit langer Zeit trage ich den Gedanken, Ihnen, der Sie mir ein Vater, Freund
und Gönner gewesen sind, eine Oper zu dedizieren. Es ist eine Pflicht, die
viel früher schon hätte erfüllt werden sollen, und ich hätte es getan, wenn
die Umstände es gestattet hätten. Hier ist nun Macbeth, den ich von allen
meinen Opern am meisten liebe und die daher würdiger ist, Ihnen überreicht zu werden. Von Herzen möge es zu Herzen gehen. Und es sei ein
Zeugnis des ewigen Gedenkens, der Dankbarkeit und der Liebe, die Ihnen
Ihr ergebener Giuseppe Verdi entgegenbringt.
Verdi an Salvadore Cammarano
23. November 1848
Ich weiß, dass Sie den Macbeth proben, und da es eine Oper ist, für die
ich mehr Interesse habe als für die andern, gestatten Sie mir wohl, dass ich
darüber einige Worte sage. Man hat der Tadolini die Partie der Lady Macbeth
gegeben, und ich bin sehr erstaunt, dass sie eingewilligt hat, diese Partie zu
übernehmen. Sie wissen, wie hoch ich die Tadolini schätze, und sie selbst
weiß es, aber in unserem gemeinsamen Interesse halte ich es für nötig, hier
eine Überlegung anzustellen. Die Tadolini hat zu große Fähigkeiten für diese
Rolle! Sie werden das für eine Ungereimtheit halten!! Die Tadolini ist eine
gute, schöne Erscheinung, und ich möchte die Lady Macbeth ungestalt und
hässlich haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich wünsche, dass die Lady
überhaupt nicht singt. Die Tadolini hat eine staunenswerte, helle, klare, gewaltige Stimme, und ich möchte für die Lady eine raue, erstickte und hohle
Stimme haben. Die Stimme der Tadolini hat etwas Engelhaftes, und die Stimme der Lady sollte etwas Teuflisches an sich haben. Übermitteln Sie diese
Gedanken dem Theaterunternehmen, dem Maestro Mercadante, der mehr
als jeder andere diese Vorschläge billigen wird, selbst der Tadolini; aber gehen Sie ganz nach Ihrem Ermessen vor, so wie Sie es für besser halten. Sagen Sie, dass die Hauptstücke der Oper diese zwei sind: das Duett zwischen
der Lady und ihrem Gatten und die Nachtwandlerszene. Wenn diese zwei
Stücke verloren gehen, liegt die Oper am Boden. Diese beiden Stücke dür-
43
Briefe
fen durchaus nicht gesungen werden: Man muss sie in Handlung umsetzen
und dabei mit hohler Stimme und verschleiert deklamieren: Sonst kann es
keine rechte Wirkung geben. Das Orchester gedämpft (colle sordine). Die
Bühne aufs Äußerste verdunkelt. Im dritten Akt dürfen die Erscheinungen
der Könige … keine Puppen sein, sondern echte Menschen von Fleisch und
Blut … Die Bühne muss vollkommen dunkel sein, besonders wenn der Kessel verschwindet, hell nur da, wo die Könige vorbeiziehen. Die Musik unter
der Bühne muss (für das große Theater San Carlo) verstärkt werden, aber
achten Sie wohl darauf, dass keine Trompeten und Posaunen dabei sind.
Der Klang muss von fern kommen und dumpf sein und muss daher nur von
Bassklarinetten, Fagotti, Kontrafagotten und keinen anderen Instrumenten
hervorgebracht werden. Leben Sie wohl ...
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Ferruccio Furlanetto als Banquo, Wiener Staatsoper 2015
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
GENIE, PATRIOT UND GESCHÄFTSMANN
Biographische Notate zum jungen Verdi
Die vielfache Annahme, dass Giuseppe Verdi aus dem Nichts
kam, ist eine Legende, die schlicht falsch ist. Verdi hat sein Leben
lang der Nachwelt damit Vorschub geleistet, dass er sich als
instinktiver, spontaner Künstler bezeichnet hat. Diese personifizierende Aussage wurde noch oft aufgegriffen, doch heute würde das wohl
kein Verdi-Kenner bestätigen. Verdi genoss nämlich eine Ausbildung
von profunder Gelehrsamkeit, als er in Busseto sieben Jahre lang im
Gymnasium in Latein, höherer Grammatik, Rhetorik und in humanistischer Kultur unterrichtet wurde.
Carlo Verdi, der Vater, Gastwirt und Musikliebhaber, hat die musikalische Begabung des Sohnes früh erkannt, als er dem Siebenjährigen
ein Spinett kaufte. Nach dem ersten Musikunterricht in Busseto 1824
wird er vom Kirchenmusiker Giuseppe Provesi in Harmonielehre und
Kontrapunkt unterwiesen, was zur schicksalsbestimmenden Begegnung
mit seinem Mäzen und späteren Schwiegervater, Antonio Barezzi, führt,
der dem drängenden Verdi ein Stipendium für Mailand besorgte.­Der
Provinz-Mäzen begleitete die Ausbildung des jungen Verdi, nachdem
schon Carlo Verdi gezielt den Jüngling Giuseppe von Le Roncole
in die Bezirksstadt Busseto schickte. Wenn Carlo Verdi für seinen
Kleinladen die Lebensmittel ausgerechnet beim Grossisten Barezzi in
Busseto einkauft, dann zeigt das kein spontanes, sondern ein wohlkalkuliertes Bildungsziel, das letztlich der 18jährige Sohn mit höchstem Selbstbewusstsein weiterverfolgten wird, nämlich: der größte
Opernkomponist zu werden. Dabei gilt es für Verdi, auf Nummer sicher
zu gehen, wenn er ausgerechnet in Mailand seine Studien vervollständigen will und nicht in Bologna, wo schon Rossini, Pacini, Donizetti
„gelernt“ haben, oder in Neapel, wo Generationen von Komponisten
ausgebildet wurden. Für Verdi gibt es nur ein Ziel und das heißt:
das „Teatro alla Scala“ in Mailand zu erobern.
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
Die lombardische Metropole war eine sprudelnd lebhafte Stadt, in der,
parallel zur prosperierenden Ökonomie, einzigartige Kulturen aufblühten.
Neben dem Teatro alla Scala gab es die besten Sprechtheater Italiens; es
wurden zahlreiche Werke nationaler und internationaler Autoren verlegt.
Vor allem aber waren die Musikverlage Ricordi und Lucca von höchster operativer Bedeutsamkeit, genauso wie die italienische Aristokratie.
Das „Milano Bene“ mit ihren Salons, rekrutierte sich aus den Familien
Belgiojoso, Borromeo oder Litta, es gab die „Società dei Nobili“ der Literaten
und Maler, und vor allem gründete der Musiker und Gesangslehrer Pietro
Massini die „Società dei Filarmonici“ und das „Casino dei Nobili“, wo am
16. April 1834 der „Giovine Maestro sig. Giuseppe Verdi……“ mit „Cuore e
intelligenza“ (schreibt Giacinto Battaglia) Haydns Schöpfung vom Cembalo
aus dirigierte.
Ob Graf Pompeo Belgiojoso und Renato Borromeo anwesend waren, wie
Verdi Jahrzehnte später an Ricordi schrieb, ist fraglich; doch es war sein
Entreebillet in das „Milano Bene“ während seines Privatstudiums beim
Komponisten Vincenzo Lavigna. Die Aristokratie wurde von den österreichischen Besatzern geduldet und sie arrangierte sich mit ihnen, weil sie als
Staatsbedienstete große Karrieren machte. Es sei hier vorweggenommen,
dass sich schon der junge Verdi keineswegs politisch oder patriotisch
exponierte, sondern nur daran interessiert war, seine Opern überall aufzu­
führen. Deshalb waren seine Verbindungen mit der Aristokratie so eifrig,
weil sie ihm erst Opernaufführungen ermöglichten, um sein weiteres,
wichtiges Ziel zu erreichen, Millionär zu werden!
Nach drei Jahren kehrte Verdi „schweren Herzens“ nach Busseto zurück,
wo er keineswegs der „Sconosciuto“ (Unbekannte) war, was er selbst in
Umlauf setzte. Durch das Studium bei Lavigna gewann Verdi bereits die
gewichtige Reputation in allen kulturellen Zirkeln der lombardischen
Hauptstadt, wo er mit Andrea Maffei oder mit Opprandino Arrivabene
Freunde der ersten Stunde kennenlernte, die ihn in die aristokratischen
Salons, ins besondere bei Clara Maffei, einführten, wo auch Balzac, Liszt,
Scribe oder Dumas verkehrten.
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
Verdi hat also schon 1835 einen tiefen Eindruck hinterlassen, weil er u.a.
alle Dramen von Shakespeare kannte. Er kommt 1839 zur richtigen Zeit
mit seiner ersten Oper an das „Teatro alla Scala“. Mit eiserner Willenskraft
verfolgt Verdi einen Weg, auf dem sich Verleger, Impresari, Librettisten,
Bühnen und Kostümbildner, Sänger und sogar Zensoren (s)einem Genie
von verführerischer Inkommensurabilität fügen werden. Ganz im Sinne
des französischen Wortes „génie“ hat der junge Verdi als allmächtiger, allwissender Meister des Melodrams in der Verssprache „Fiorentino – Aureo“
des Trecento nach Petrarca die natürliche Gabe, die angeborene Art,
Eigenschaft, den Verstand, den Geist und die übersteigernde Fähigkeit,
etwas zu erdenken und letztgültig zu erschaffen.
Der mächtige Scala-Impresario Bartolomeo Merelli wird Verdis erste
Oper Oberto, Conte di S. Bonifacio 1839 uraufführen. Es wird ein
großer Erfolg, Verdi wird schlagartig berühmt und: Er ist damit finanziell unabhängig. Seine Opernhonorare bestimmt er ab nun selbst,
genauso die Sängerbesetzungen oder die Bühnenbildner und auch
die Autorenrechte.
Da der Sardisch-Österreichische Vertrag im Königreich „Beider Sizilien“
nicht anerkannt wurde, verlangte Verdi eine von ihm fixierte Summe an
Gebühren vom Verleger. Wenn schon ab 1840 der Künstler Verdi vom
Geschäftsmann nicht zu trennen ist, so ist der Weg seit dem Oberto
vorgezeichnet, denn schon damals beklagte er sich wegen mangelhafter
Bezahlung der Aufführungsrechte, was sich allerdings nach Nabucco
ändern sollte, wobei Verdi neben dem Honorar auch noch sagenhafte 50 %
von den Verlagserträgen des Verlegers ausgezahlt bekam.
Die Oper war in den 1840er Jahren in Italien von ungeheurer Wirkungskraft,
die der antiklerikale erste Ministerpräsident Italiens, Camillo Benso Conte
di Cavour, als Kunstform erkannte und die auch als prosperierender
Wirtschaftsfaktor das neue Italien ankurbeln sollte. Wieso aber konnte Verdi überhaupt zum Mythos der Einheit, ja zum Volkshelden des
Risorgimento werden?
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
Die alles überlagernden „Patria, Patria, Guerra, Guerra“-Rufe, die Sehnsucht
nach Befreiung oder zur Einheit Italiens beantwortet sein singuläres
Musiktheater. 1859 wurde in Rom während der Uraufführung von Un
ballo in maschera das suggestive Akrostichon „Viva V.E.R.D.I“ (Vittorio
Emanuele Re D’ Italia) an die Häuserwände gemalt. Der savoyische König
sollte Italien von den Österreichern und Bourbonen befreien und die
Herrschaft des Papstes beenden.
Der Patriotismus des Privatmenschen Verdi ist allerdings verdächtig! Als
Verdi 1859 in Piacenza dem Patrioten Montanelli in Uniform begegnet,
rührt ihn sein „nobile esempio“; er bedauert jedoch, nicht mit in den Krieg
gehen zu können, weil er es nicht fünf Minuten in der Sonne aushalte (an
Clara Maffei). Fünf Minuten in der Sonne? Später schreibt er aus Sant’ Agata
„Mein Gesicht ist von Luft und Sonne wie Leder geworden!“
Verdi hat immer vorrangig seine Interessen vertreten: So etwa am 18. März
1848, als die Österreicher bei den „Cinque Giornate“ in Mailand besiegt
wurden und er „geschäftlich“ in Paris war. Als Unbeteiligter bezeichnete er
dann die Aufstände in Paris mit: „Era uno spettacolo stupendo! sublime!“
(„Es war ein wunderbares Spektakel! Erhaben!“) An Francesco Maria Piave
schreibt er mit überschäumend-patriotischem Pathos, dass er „queste stupende barricate“ („Diese wundervollen Barrikaden!“) in Mailand versäumt
habe und dass er ein republikanisches Italien erwarte. Aber im gleichen
Brief (Mailand, 21. April 1848) kündet er gleich seine Rückreise nach Paris
wegen „Verpflichtungen und Geschäften“ an. Verdi verhandelte über ausstehendes Geld und das brauchte er auch, da er im Mai – also zwei Monate
nach den „Cinque Giornate“ – drei Höfe in Sant’ Agata mit insgesamt
105 Hektar (Ackerland!) erwarb. Das erklärt auch, dass er für die Revolution
keine Zeit zu „vergeuden“ hatte.
Wie Rossini, Donizetti oder Bellini, die ebenso geniale Geschäftsleute
waren, konnte Verdi es sich (noch) nicht leisten, sich realpolitisch zu
exponieren. Der wahre Mythos Verdis im Risorgimento substanziert sich
schließlich in seinen Chören, die in den 1840-er Jahren allein durch das
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Hexen, Wiener Staatsoper 2015
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
Absingen tagespolitischer Erscheinungsbilder provozierten. Dabei gibt
es Erfindungen, die jeder Wahrheit entbehren. So wurde „Va pensiero
sull’ali dorate“ aus Nabucco bei der Uraufführung 1842 in Mailand nicht
wiederholt, wie es der zweifelhafte zu Fiktionen neigende Verdi-Biograph
Franco Abbiati (1959) schreibt. In Neapel war die Erstaufführungsserie des
Nabucco 1848 nicht ausverkauft, die Premiere war sogar ein Misserfolg, das
Publikum war verärgert. Bei Ernani hingegen gab es politische Reaktionen
in Rom. Statt „A Carlo Quinto sia gloria e onor“ wurde „Pio Nono sia
gloria e onor“ gesungen, weil der liberale Pius IX. politische Gefangene
begnadigte. Dass es in Neapel sowohl für Nabucco oder bei I Lombardi
Demonstrationen gab, lag am Bourbonenkönig Ferdinand, der noch 1847
beide Opern aus religiösen Gründen verboten hatte.
Viele Chöre lösten Aufstände aus, so kam es am 26. Dezember 1847 in
Venedig während der Textstelle „La patria tradita“ aus dem Chor/Cabaletta
„Patria oppressa“ (Macbeth), den übrigens der weitunterschätzte Literat,
Freund und Librettist (I Masnadieri) Andrea Maffei geschrieben hat, zu
lauten Kundgebungen. Freilich spielte Verdis Musik keine revolutionäre
Rolle (das Publikum langweilte sich), sondern es war der Text. Es ist eher
unwahrscheinlich, dass Verdi den Macbeth als patriotische Oper konzipierte, wohl aber als politische. Als die Einheit vollzogen war, wuchs Verdis
Skepsis: „Merkwürdig! Als Italien in viele kleine Staaten geteilt war, blühten
überall die Finanzen! Jetzt, wo wir alle vereint sind, sind wir ruiniert. Aber
wo ist der Reichtum von einst!“
Sein abwertend scheinheiliges Gerede gegenüber der Aristokratie, dass
er nur ein „Contadino“ oder „Agricoltore“ – also ein einfacher Bauer sei,
ist von einer schelmischen „Furbizia“ unterlegt, was im erweiterten Sinne
natürlich auch misstrauische Bauern- oder Volksschläue darstellt. Verdi
war aber überhaupt kein Bauer oder Mann des Volkes, sondern er war
schon vor dem Macbeth 1847 ein reicher, nach der Trilogie La traviata,
Rigoletto und Il trovatore ein steinreicher Großgrundbesitzer und viel­
facher Millionär.
Verdi als herbeigewünschter Prophet des Risorgimento und weltberühm-
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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler
ter Hero des Melodrams wird mit Giuseppina Strepponi, seiner zweiten
Ehefrau, im Sommer 1851 auf seinen Landsitz Sant’ Agata ziehen, um
seine Ländereien zu verwalten. Penibel achtet Verdi auf die Erträge, seine
Landarbeiter und Bauern beobachtet er mit Misstrauen, weil sie „zu zerstreut arbeiteten“. „La Giuseppina“ wird auch nach der Einheit die „Pasta“
(Nudel) „günstiger“ in Neapel kaufen, weil die „Pasta“ im Norden teurer
und noch wenig verbreitet war: „40 Kilogrammi della qualità buona, piú Kg.
100 (für die Dienstboten) non di prima qualità!“ Verdi wird in Sant’ Agata
die „Welt“ empfangen, er wird bis November 1891 (!) weiterhin Landgüter
kaufen und: Er wird weiterhin komponieren (fünf Opern in Sant’ Agata),
die Welt bereisen und erobern.
Es wäre allerdings völlig falsch, Verdi auf den Geschäftsmann zu reduzieren, obwohl sein künstlerischer Erfolg mit dem wirtschaftlichen einherging
und gerade seine die politische Abstinenz haben sein außergewöhnliches
Genie mitbestimmt. Seine Musik, die Melodien, die sich keineswegs aus
der italienischen Volksmusik ableiten – auch wenn sie schon bald nach der
Entstehung überall in den Gassen, auf Plätzen, bei Dorfesten nachgesungen
wurden –, sondern welche Verdi auf Prätexte komponierte, von Dichtern
verfasst, die zu seinen Lebzeiten (Victor Hugo) zum Teil noch aktiv waren,
oder gar die gigantischen Shakespeare- oder Schiller-vertonungen, sind
Liebesansprachen an die Volksseele. In Verdis Musik schwimmt nicht das
Paradox des alltäglichen Lebens mit, sondern seine Musik höhlt das Leben
von Innen aus, wie gelebte Liebe.
Carlo F. Pichler: Studium der Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität
Wien und Musik (Klarinette, Gesang) an der Wiener Musikuniversität (damals
Hochschule). Schüler und Assistent von Giorgio Strehler (Mailand, Salzburg,
Wien). Langjähriger persönlicher Assistent von Götz Friedrich (Amsterdam, London
und Berlin). Eigene Schauspiel- und Operninszenierungen u.a. in Deutschland,
Italien, Belgien. Konzert- und Operndramaturg. Kulturpublizist u.a. bei der
Dolomiten (Bozen/Südtirol). Opernabende mit Analysen/Kommentaren auf RAI
Radio Südtirol.
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Giuseppe Verdi
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
VERDIS NIE GESCHRIEBENE OPERN
Der Künstler muss in die Zukunft schauen, im Chaos neue Welten sehen;
und wenn er auf seinem neuen Weg in der Ferne ein kleines Licht sieht,
darf ihn die Dunkelheit, die ihn umgibt, nicht erschrecken: er muss
weiter­gehen, und wenn er auch manchmal stolpert und hinfällt, muss er
aufstehen und seinen Weg weiterverfolgen.
(Verdi an Achille Torelli im Dezember 1867)
Leicht hat es sich Giuseppe Verdi bei der Verarbeitung der von ihm
vertonten Stoffe nie gemacht. Ganz im Gegenteil, pflasterten doch
Umarbeitungen, Bearbeitungen, Neufassungen seinen gesamten schöpferischen Weg. Gestolpert, hingefallen und triumphal aufgestanden ist er
bekanntlich immer. Tatsächlich lässt sich spätestens seit den 1840er-Jahren
bei all seinen verwirklichten Opernprojekten die umfangreiche Recherche
bereits in den Vorbereitungen nachweisen. Fast 30 vollendete Opern,
schon zu Uraufführungszeiten begleitet von allen Aufs und Abs einer ganz
großen Karriere, beeindrucken den heutigen Rezipienten immer wieder.
Umso erstaunlicher offenbart sich die immense Summe qualitativ hochwertigster literarischer Stoffe, mit denen sich Verdi neben der Komposition
seiner realisierten Bühnenwerke, sprich neben dem Tagesgeschäft nachweislich intensiv beschäftigte. In einer 1996 veröffentlichten, nicht auf
Vollständigkeit abzielenden Analyse der handschriftlichen Quellen durch
die US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Roberta Montemorra Marvin
finden sich gar 86 Werke der Weltliteratur, Dramen ebenso wie Romane,
die den Komponisten über die Jahre bzw. Jahrzehnte begleiteten. Wenn in
Folge einige wenige der geplanten Projekte zu Theaterstücken des von ihm
verehrten Shakespeare oder des österreichischen Dramatikers Grillparzer
beleuchtet werden, darf die Vielzahl an anderen, von Verdi und seinen
Librettisten in Betracht gezogenen Spitzenstoffen nicht außer Acht gelassen
werden. An dieser Stelle seien rein exemplarisch aufgezählt: Neben Byrons
vertontem Corsair und den Two Foscari bewegte ihn ebenso des Dichters
Cain und The bride of Abydos. Während alle von ihm studierten Dramen
Schillers Eingang in sein Opern-Œuvre fanden (Giovanna d’Arco, I mas-
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
nadieri, Luisa Miller, zum Teil La forza del destino sowie Don Carlos),
ließen sich gerade zwei Werke des von ihm über alle Maßen geschätzten
französischen Dichters Victor Hugo vertonen. Der Hernani wurde 1844
zu Ernani, Le roi s’amuse fand 1851 in Rigoletto Eingang. Demgegenüber
stehen drei weitere bedeutende Werke Hugos, die Verdi für eine mögliche
Vertonung erfolglos zu entdecken suchte: Cromwell, Marion Delorme
und Ruy Blas. Abbé Prévosts berühmte Manon Lescaut war ihm auch
vertraut wie Molières Tartuffe, Racines Phèdre oder Sir Walter Scotts
Kenilworth. Die Kernfrage, die sich stellt: Weshalb investierte der vielbeschäftigte Komponist derart viel Energie in scheinbar unergiebige Projekte?
Oper schreiben für Sänger
„Der Meister beschäftigt sich mit dem Libretto für Florenz; es gibt drei
Möglichkeiten: Die Ahnfrau, I masnadieri und Macbeth. Er wird die
Ahnfrau auswählen, wenn er Fraschini bekommen kann [den Sänger, für
den er die Rolle des Jaromir in einer möglichen Ahnfrau-Vertonung plante];
sollten sie ihm statt Fraschini den Moriani geben, wird es Macbeth […]“
(Emanuele Muzio an Verdis Schwiegervater Antonio Barezzi)
Welch normative Kraft des Faktischen: Die ideale Besetzung war ebenso
eines seiner Spezialrezepte, die am jeweiligen Aufführungsort (sprich
Auftrag gebendes Theater) vorhandenen Sänger waren für Verdi das Um und
Auf zum Erfolg der Oper. Aus der immensen italienischen Operntradition
kommend, wusste er um die Wirkung der passenden Stimmen – und
zögerte keinesfalls, sich den örtlichen Gegebenheiten jeweils anzupassen.
Hier liegt ein erstes Mal auf der Hand, dass er eine Vielzahl an Stoffen
in petto haben musste, um situationselastisch agieren zu können. Legt
man nach ersten verworrenen Wegen (auf den erfolgreichen Oberto von
1838 inklusive zahlreicher Neuversionen dauerte es nach dem Desaster
von Un giorno di regno 1840 achtzehn Monate bis zu dem immensen
Erfolg des Nabucco ab März 1842) die mittlere Schaffensperiode von 1842
(Nabucco) bis 1853 (La traviata) aus, schuf Verdi in diesen elf Jahren 16
Opern. Ein Ausbrechen aus diesem System des Vielschreiben-Müssens im
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
Sinne eines freien Komponierens ohne Blick auf Termine, gelang erst nach
und nach dank der fortschreitenden finanziellen Unabhängigkeit Verdis.
Eine Ahnfrau für Verdi
Wien 1875, dreißig Jahre nach Macbeth. „Dass Grillparzer diese Dekoration
erhielt, macht sie für mich umso wertvoller“, so Verdi in einem überlieferten Interview (Juni 1875 in Wien abgedruckt, die italienische Übersetzung
erschien im Juli 1875 in Mailand) zu einem Journalisten seiner Zeit.
Die Rede war vom Franz-Joseph-Orden mit dem Stern, den Österreichs
Kaiser dem Komponisten während seines Wien-Aufenthalts verlieh. Ganz
Wien war ob der Anwesenheit des ersten Komponisten Italiens in heller
Aufregung, selbst Intimfeind Eduard Hanslick wusste viel Gutes über die
Dirigate Giuseppe Verdis an der Hofoper zu berichten. Seine Visite in der
Residenz ging am 24. Juni 1875 mit einer Privataudienz in Begleitung von
Verleger Ricordi (der sich, so das Wiener Fremdenblatt der Tage, mit den
Tantiemen zu den vier Konzerten der Messa da Requiem sowie zwei szenischen Aufführungen von Aida, allesamt im jungen Haus am Ring, eine
goldene Nase verdient hatte) bei Franz Joseph I. zu Ende.
Die Werke Franz Grillparzers waren Verdi ein Begriff. Nicht zuletzt, da er
sich spätestens ab 1846 nachweislich intensiv mit dessen Ahnfrau auseinandersetzte und sie immer wieder als möglichen Opernplan in Diskussionen
einfließen ließ. Dennoch, so der Komponist in zitiertem Interview weiter,
musste er von dem Drama Abstand nehmen, da es zu viel Romantizismus
aufkommen ließ. Und das – „serait quelque chose pour L’Ambigu ou pour
la Porte Saint-Martin.“ (Dieser Satz ist ausschließlich auf Französisch tradiert, angesichts der Thematik ein logischer Kunstgriff: Grillparzers Drama
war seiner abschließenden Meinung nach somit eher etwas für das Pariser
Théâtre l’Ambigu, das für seine Opéra Comique berühmt war, ebenso wie
das Théâtre de la Porte Saint-Martin im 10. Pariser Arrondisement.)
Was als biographische Glosse wirkt, bringt eine der wesentlichen Intentionen
des Tonkünstlers bei der Stoffauswahl zu seinen Werken zum Vorschein:
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Donna Ellen als Kammerfrau und Jongmin Park als Spion, Wiener Staatsoper 2015
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
Grillparzer im Allgemeinen und die Ahnfrau im Speziellen verkörperte
den von Verdi begehrten urromantischen Werkstil, der seine Begeisterung
hervorrief und ihn zu ersten Entwürfen bewegte. Ein Blick auf die
Vorlagen macht deutlich, dass Verdi romantische Dramen, die am besten
in früheren Zeiten beheimatet waren und nach Möglichkeit ihren Wert
als Sprechdramen bereits bewiesen hatten, favorisierte. Doch, und das
gestand er ja in der Unterredung im Juni 1875, wurden seine Wünsche –
etwa das zumindest konkret aufgeworfene Verwirklichen der Ahnfrau
– durch genaueres Erfassen aller Umstände in dem jeweiligen Theater
oftmals zunichte gemacht. Verdi wusste neben der bereits erwähnten
Kenntnis zu stimmlichen Lokalvorlieben, gleichsam wie die fachkundigen
Zeitgenossen, eine Oper den örtlichen Usancen anzupassen. Dies umfasste
auch die kraftintensive Absprache mit den über Gedeih und Verderb des
Buches entscheidenden Zensurbehörden. Über allem stand für den zeitökonomisch effizienten Künstler die Frage, ob sich dieses oder jenes Drama
tatsächlich auf der Opernebene, sprich in Aufbau und Durchführung der
Musiktheaterbühne angepasst, verwirklichen lässt? So legte er Die Ahnfrau
während seiner Studien zu Neuproduktionen immer wieder zur Seite.
„… dass ich Shakespeare nicht kenne – nein, bei Gott, nein …“
Die intensivste emotionelle Bindung verspürte Verdi zu William Shakespeares
Schaffen. Betrachtete der Komponist das dramatische Gesamtkunstwerk
Oper als seine Disziplin, erfüllten die Verse des Briten für ihn das Ideal
des Schauspiels, das ein ähnliches Welttheater wie das seine suchte und
dabei mit dem gesamten Spektrum menschlicher Gefühle und Schwächen
operierte. Wobei Verdi zu seiner Zeit nie mit den englischen Originalen
arbeitete, sondern ihm soeben angefertigte, teils recht frei bearbeitete
Übersetzungen italienischer Zeitgenossen zur Verfügung standen.
So äußerte sich der Komponist unmittelbar auf die Kritik an der 1865 in
Paris herausgebrachten Revision des Macbeth in einem Brief an seinen
französischen Verleger Léon Escudier: „Es mag sein, dass ich den Macbeth
nicht richtig wiedergegeben habe, aber dass ich Shakespeare nicht kenne,
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
nicht verstehe und nicht empfinde, nein; bei Gott, nein. Er ist einer meiner
Lieblingsdichter, den ich seit meiner frühesten Jugend in der Hand gehabt
habe und den ich ständig lese und immer wieder aufs Neue lese.“
Tatsächlich fiel bereits Giuseppe Verdis Jugend in eine Zeit der ShakespeareRenaissance in Italien. Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren die Werke des
Engländers auf der Apenninenhalbinsel weithin unbekannt und wurden
nun – in Zeiten der überall in Europa genossenen, tiefen Affektenlehre
der Romantik – zum erklärten Vorbild vieler literarischer Gruppen und
Bewegungen. Verdis Herz gehörte Heinrich IV. ebenso wie dem Othello,
den Merry Widows of Windsor zu gleichen Maßen wie Hamlet, Romeo and
Juliet, The Tempest und besonders King Lear.
„Es wäre mir sehr lieb gewesen, meinen Namen mit dem Deinen
zusammenzutun, da ich überzeugt bin, dass, wenn Du mir Amleto zur
Vertonung vorschlägst, es eine Fassung sein wird, die Deiner würdig
ist. Leider benötigen diese großen Sujets zu viel Zeit und ich musste für
den Moment auch auf den Re Lear verzichten, gab aber Cammarano den
Auftrag, das Drama für einen besser geeigneten Zeitpunkt zu bearbeiten.
Wenn schon Re Lear schwierig ist, so ist es Amleto noch mehr; und zeitlich
gedrängt, wie ich bin durch zwei Arbeiten, musste ich leichtere und kürzere
Sujets wählen, um meinen Verpflichtungen nachzukommen.“
(Verdi an den Shakespeare-Übersetzer und Freund Giulio Carcano)
Bezeichnend bleibt, dass speziell der Lear in all seiner Komplexität Verdi 50
(fünfzig!) Jahre begleitete. Immer wieder nahm er ihn aus dem Schreibtisch,
arbeitete am Textbuch von Cammarano weiter und legte ihn wieder zurück
in die Schublade. Und das, obwohl andere Stücke von Shakespeare
die musiktheatralische Beliebtheitsskala anführten: The Tempest (dieses
Sujet sprach Verdi weniger an, doch bezüglich Mitbewerb führt es mit
46 Überlieferungen den Reigen an – vor allem im deutschsprachigen
Raum von Hoffmeister bis Reichardt, vom Schiffbruch zur Zauberinsel),
A Midsummer night’s dream (39mal vertont) und der populäre Hamlet
(der dänische Prinz liegt uns heute in mindestens 32 Vertonungen vor)
blieben dem Komponisten vergleichsweise fremde Themen.
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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner
King Lear, das war sein erklärter Liebling, oder vielleicht auch das Stiefkind,
das die meiste Zeit als Libretto-Fragment in der Schublade vor sich hin
darben musste. Bereits 1843 – also vier Jahre vor Macbeth – brachte er
Shakespeares tragische Königsgestalt erstmals ins Spiel, noch dazu fürs
La Fenice: „ …hätte ich zum Beispiel einen Künstler mit der Kraft eines
Ronconi, dann würde ich Re Lear oder Il corsaro wählen, doch da es wahrscheinlich vorteilhaft sein wird, sich auf die Primadonna zu stützen, könnte
ich mich vielleicht entweder für die Fidanzata d’Abido oder für etwas
anderes entscheiden, bei dem die Primadonna die Hauptperson ist.“ 1844
ging stattdessen Ernani in Venedig über die Bühne.
Bereits 1845 versuchte es Verdi abermals mit dem Lear: Mit einer
Uraufführung fürs Londoner Covent Garden betraut, war die Idee des englischen Königs auf der englischen Bühne verlockend. Schlussendlich ließen
sich Schillers Räuber als I masnadieri rascher und simpler verwirklichen.
Scheitern eines Opernstoffes? Nicht unbedingt. Angesichts der komplexen
Werkgenesen bei Verdi lässt sich viel mehr von einer zutiefst kritischen,
reflektierten Zugangsweise sprechen – immer im Blick auf vorherrschende
Zeitökonomie, bewusst gemachte Gegebenheiten, versehen mit verhandlungstechnischem Geschick und Rücksichtnahme auf politische Umstände.
Giuseppe Verdi musste bei all seiner Produktivität sein Tun immer fokussieren – den Blick auf das bereichernde Rundherum hat er nie verloren.
Getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“.
Daniel Wagner studierte an der Wiener Musikuniversität Klavier und an der
Universität Wien Rechtswissenschaften, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte.
Schon während des Studiums Kulturjournalist (u.a. Fono Forum, Wiener Zeitung). Nach
Jahren im Rundfunk (radio klassik Stephansdom) nun Geschäftsführungsassistent
im Medienhaus der Erzdiözese Wien. Er hält regel­mäßig Vorträge und wirkt nach
wie vor als Rezensent für die Wiener Zeitung.
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Karte Schottlands im 11. Jahrhundert
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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng
ERFÜLLUNG DES GESAGTEN
Macbeths Königsdilemma ist auch für uns kein unbekanntes. Schon beim
Durchblättern der täglichen Zeitung stößt der Leser bald auf eine in
nebeliges Halbdunkel gehüllte, öffentliche Prophezeihung. „Beruflich wird
Ihnen heute ein großer Schritt gelingen, aus einer Bekanntschaft könnte
mehr werden, ein Geldgeschäft wendet sich heute zum Schlechteren.“ Da
steht man nun, mit einer vagen, aber doch auch inspirierenden Vorhersage,
die allerdings nur zu zwei Drittel der persönlichen Neigung entspricht. Was
tut man mit dem Geldgeschäft? Ignoriert man den kompletten Dreizeiler
– und ignoriert damit auch den beruflich großen Schritt? Hält man sich
an das Gute und probiert’s mit einer partiellen Wahrheit? Oder schluckt
man den dritten Teil, versucht ihn aber zu verhindern, indem man einfach
kein Geldgeschäft tätigt? Doch kann man Weissagungen einfach aushebeln?­
Eher nicht.
König Macbeth hat es nicht leicht. Er hört eine Prophezeiung, die ihm
unerwartet viel Gutes und Großes, aber dann doch auch eine ausgesprochen
sehrende Einschränkung gebietet: Than von Cawdor wird er werden, König
wird er werden, so teilen es die Hexen mit, doch Feldherrenkollege Banquo
der Vater von Königen. Kein Wunder, dass Giuseppe Verdi Macbeth in
der Regiebemerkung an dieser Stelle zunächst einmal erzittern lässt. Die
Perspektive, König von Schottland zu werden, ist zunächst ja durchaus
etwas Erstrebenswertes, und da Macbeth, unmittelbar auf diese Weissagung
folgend, ohne eigenes Zutun tatsächlich zum Than von Cawdor ernannt
wird, liegt auch die königliche Herrschaftswürde im Bereich des Möglichen.
Und schon sieht Macbeth vor seinem Auge Blut, schon erkennt Banquo,
der den Hexen deutlich distanzierter gegenübersteht, die machtlüsterne
Regung in Macbeths Blick. Noch gibt dieser vor, die gierige Hand nicht
nach der Krone auszustrecken, noch hält sich die Besessenheit mühsam im
Zaum, doch bald wird der Wille zur Macht durchbrechen und leider spricht
Banquo nur für sich die folgenden Reime: „Oft sagt uns die lügnerische Hölle
/ die Wahrheit, um uns zu täuschen / Und verlässt uns Unglückliche dann /
vor dem Abgrund, den sie uns auftat.“ Hätte er’s nur nicht so leise zu sich,
sondern laut zu Macbeth gesagt! Blättert man in Shakespeares gleichnamiger
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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng
Dramenvorlage, so ist Macbeth bereits dort mit menschlicher, logischer
Vorhersehung begnadet, er weiß, wohin eine blutige Machtaneignung führen
wird: zu noch mehr Blut, zum eigenen Untergang. Wäre er also ein wirklich
strategischer Feldherr, einer, der kühlen Geistes eine Partie durchrechnen
kann, so könnte er sich die Königswürde ganz einfach sichern, nämlich
durch praktisch angewandte Lethargie. Denn ist das Hexenwort wahr,
so tritt es ein, ganz ohne menschliches Zutun, unabwendbar, unfehlbar.
Macbeth wird demnach König, ob er will oder nicht, ob er’s vorantreibt oder
nicht. Punktum. Oder aber Macbeth glaubt erst gar nicht an diese seltsamen
Frauen, die mit dem Than von Cawdor halt einen Zufallstreffer gelandet
haben, dann ist die blutige Erlangung des Königstitels, die Ermordung
König Duncans, eine an sich sehr riskante Angelegenheit, von deren
Inangriffnahme logisch abzuraten ist. Doch dieser Macbeth ist mehr ein
Haudrauf, auch das liest man aus Shakespeare heraus (Er, wie des Krieges
Liebling, haut sich Bahn / Bis er dem Schurken gegenübersteht / Und nicht
eh’ schied noch sagt’ er Lebewohl / Bis er vom Nabel auf zum Kinn ihn
schlitzte), einer, der entweder schon länger mit einer Krone liebäugelt oder
aber so dumm ist, sich durch etwas Hexentändelei in die Irre führen zu
lassen. Wie es sein Unglück will, lebt er auch noch zu früh, um die ein halbes
Jahrtausend nach seinem Tod erschienene Geschichtschronik Holinsheds
eingehend zum Thema Prophezeiungen zu studieren. Denn da kommt
ganz klar zum Ausdruck, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen einem
guten König und einem Tyrannen in der Ablehnung oder Inanspruchnahme
von Hexendiensten, also der schwarzen Magie, liegt.
Macbeth tut, was ihm Seele und Gattin gebieten, und greift nach der
Krone. Doch was ist mit jenem fatalen Banquo-Satz, dass dieser Vater von
Königen werden wird? Hier beginnt sein großes Problem, nämlich jenes der
Negierung der unmittelbaren Realität: Mit dem Mord an Duncan und der
Erlangung der Krone hat er die Treffergenauigkeit der Hexenprophezeiung
auf nahezu unfehlbar angehoben; alles, was ihm vorhergesagt wurde, ist
ohne Abweichung eingetreten – und das auch noch dank seiner tatkräftigen
und blutigen Mithilfe. Die Paradoxie seines Handelns besteht also darin,
dass er im wahrsten Sinne ein Erfüllungsgehilfe des Hexenwortes wurde,
64
Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng
und sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Prophezeiung auch in puncto
Banquo richtig ist, durch den Königsmord erhöht hat: Macbeth ist also
im Käfig der eigenen Wahrheit gefangen, die einen solchen Grad von
Richtigkeit erreicht hat, dass er sich nun tatsächlich Sorgen um Banquos
königsreiche Nachkommenschaft machen muss. Spätestens ab diesem
Punkt ist aber jedes Agieren gegen die Prophezeiung absurd, und es muss
einem halbwegs klarsichtigen Macbeth selbstverständlich vorkommen, dass
Banquos Sohn Fleance jenen Meuchelmördern entkommt, die er auf ihn
angesetzt hat. Doch der Stachel sitzt tiefer, das Thema Kind ist doppelt
gewichtig. Nicht nur um Banquos Nachkommenschaft geht es, gerade die
Kinderlosigkeit des Ehepaars Macbeth ist es, die ein Antrieb wird: sinnloser
Machterhalt, denn sie kann nicht weitergegeben werden, es gibt Erbschaft,
aber kein Erbe vorhanden. Und denkt man in dynastischen Systemen,
so ist gerade die Möglichkeit der Weitergabe der Krone mindestens so
wichtig wie die Erlangung und Festigung dieser. Macbeth ist zu Beginn
kein Underdog, er ist Anführer des königlichen Heeres, hat Ansehen,
Stand, Besitz, Anwesen – nicht zu vergessen seine in der Oper präsente
Burg als Symbol –, er ist imstande Königswürde zu tragen, auf welche
Art sie ihm auch zugefallen ist. Dies und alles, was er hat und ist, kann
er nicht weitergeben, da er keine Kinder hat – der Machtfluss staut sich
also in der vertikalen Generationenlinie durch den Abbruch dieser auf und
entlädt sich – sinnloserweise – in der mordenden Tat. Die Macht, die nicht
in weiterer Folge gehalten werden kann, wird im Augenblick atemlos und
hastig potenziert, über alle Maßen gesteigert, verteidigt. Dieses Agieren
lässt sich, sehr frei nach Sigmund Freud, der sich in einer Schrift mit dem
Charakter der Lady Macbeth auseinandergesetzt und auf den Lehrsatz Die
Menschen erkranken neurotisch infolge der Versagung hingewiesen hat,
zusammenfassen: Die Versagung der Nachkommenschaft ist es, die das
Ehepaar im Menschlichen trifft, die es auf menschlicher Ebene verkümmern
lässt. Menschlich, weil irrig, ist es auch, dass Macbeth die Hexen ein zweites
Mal aufsucht, um – sinnloserweise – Details abzuklären. Was er erhält, sind
allerdings nur denkbar verschwommene Aussagen, wie es Prophezeihungen
(auf der Bühne) an sich haben. Auch hier könnte er klüger sein, denn
ein kurzes Stöbern im herkömmlichen antiken Wissensschatz hätte ihm
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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng
eine generelle Problematik von Voraussagen nachweisen können. Denn
entweder sie werden nicht gehört, wie im Falle Kassandras, oder sie
können ohnehin nicht verhindert werden, wie etwa bei Herodes oder
Ödipus. Aber Macbeth ist humanistisch ungebildet, unbelehrbar, vor allem
aber gut im Selbstbetrug. Er wird neuerlich von den Hexen beraten und
erfährt, was er bereits weiß (Hüte dich vor Macduff), lässt sich in die Irre
führen: Keiner kann ihn töten, der nicht von einer Mutter auf „natürlichem“
Wege geboren wurde, seine Macht wird ungebrochen sein, bis der Wald
von Birnam sich bewegt. Gleichzeitig aber erscheinen die Nachkommen
Banquos und wühlen in Macbeths alter Wunde – der Kinderlosigkeit. Noch
ein letztes Mal wird von Macbeth und Lady Macbeth der unbedingte Wille
zur Verhinderung des Schicksals verkündet. Ein Durchhalteappell, wo
nichts mehr durchzuhalten ist. Der Wahn Lady Macbeths wird nicht nur
durch Schuld, sondern auch durch die Unabwendbarkeit des Nahenden
ausgelöst. Und Macbeth fühlt sich gleichzeitig „im Innersten verdorrt“. Er
mag die Paradoxie seines Handelns, gemischt mit der Einsicht der Schuld
erkennen und spricht den berühmten nihilistischen Satz: „Das Leben... was
ist das schon? Das Gelalle eines armseligen Narren.“ Durchhalten wird er
bis zum Schluss, noch einmal wird er gegen die Prophetie fluchen, noch
einmal nach der Waffe greifen. Das Opernfinale ist dann heftig und in ihrer
Kürze ihm gewogen. Macbeths Tod wird szenisch schlank behandelt, das
Siegerfest Macduffs ebenso: Doch mehr braucht es nicht, denn es ist nur
noch Erfüllung des Gesagten.
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Jorge de León als Macduff, Wiener Staatsoper 2015
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Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud
LADY MACBETH AUF DER COUCH
Aus: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit,
die am Erfolge scheiterten
Eine Person, die nach erreichtem Erfolg zusammenbricht, nachdem sie mit
unbeirrter Energie um ihn gerungen hat, ist Shakespeares Lady Macbeth.
Es ist vorher kein Schwanken und kein Anzeichen eines inneren Kampfes
in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken ihres ehrgeizigen und doch
mildfühlenden Mannes zu besiegen. Dem Mordvorsatz will sie selbst ihre
Weiblichkeit opfern, ohne zu erwägen, welch entscheidende Rolle dieser
Weiblichkeit zufallen muss, wenn es dann gelten soll, das durch Verbrechen
erreichte Ziel ihres Ehrgeizes zu behaupten.
Akt I, Szene 5
„Kommt, ihr Geister,
Die ihr auf Mordgedanken lauscht, entweibt mich.“
„… An meine Brüste,
Ihr Mordeshelfer! Saugt mir Milch zu Galle!“
Akt I, Szene 7
„Ich gab die Brust und weiß,
Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt.
Und doch, dieweil es mir ins Antlitz lächelt,
Wollt’ reißen ich von meinem Mutterbusen
Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn ausschmettern,
Hätt’ ich’s geschworen, wie du jenes schwurst!“
Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreift sie vor der Tat:
Akt II, Szene 2
„Hätt’ er geglichen meinem Vater nicht
Als er so schlief, ich hätt’s getan.“
Nun, da sie Königin geworden durch den Mord an Duncan, meldet sich flüchtig etwas wie eine Enttäuschung, wie ein Überdruss. Wir wissen nicht, woher.
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Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud
Akt III, Szene 2
„Nichts hat man, alles Lüge,
Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge,
es ist sichrer das zu sein, was wir zerstören,
Als durch Zerstörung ew’ger Angst zu schwören.“
Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden Szene des Banketts
bewahrt sie allein die Besinnung, deckt die Verwirrung ihres Mannes, findet einen Vorwand, um die Gäste zu entlassen. Und dann entschwindet sie
uns. Wir sehen sie (in der ersten Szene des fünften Aktes) als Somnambule
wieder, an die Eindrücke jener Mordnacht fixiert. Sie spricht ihrem Manne
wieder Mut zu wie damals:
„Pfui, mein Gemahl, pfui, ein Soldat und furchtsam? – Was haben wir zu
fürchten, wer es weiß? Niemand zieht unsere Macht zur Rechenschaft.“
Sie hört das Klopfen ans Tor, das ihren Mann nach der Tat erschreckte.
Daneben aber bemüht sie sich „die Tat ungeschehen zu machen, die nicht
mehr ungeschehen werden“ kann. Sie wäscht ihre Hände, die mit Blut
befleckt sind und nach Blut riechen, und wird der Vergeblichkeit dieser
Bemühung bewusst. Die Reue scheint sie niedergeworfen zu haben, die so
reuelos schien. Als sie stirbt, findet Macbeth, der unterdes so unerbittlich
geworden ist, wie sie sich anfänglich zeigte, nur die eine kurze Nachrede
für sie:
Akt V, Szene 5
„Sie konnte später sterben.
Es war noch Zeit genug für solch ein Wort.“
Und nun fragt man sich, was hat diesen Charakter zerbrochen, der aus
dem härtesten Metall geschmiedet schien? Ist’s nur die Enttäuschung, das
andere Gesicht, das die vollzogene Tat zeigt, sollen wir rückschließen, dass
auch in der Lady Macbeth ein ursprünglich weiches und weiblich mildes
Seelenleben sich zu einer Konzentration und Hochspannung emporgearbeitet hatte, der keine Andauer beschieden sein konnte, oder dürfen wir
nach Anzeichen forschen, die uns diesen Zusammenbruch durch eine
tiefere Motivierung menschlich näher bringen?
69
Kostümfigurine Lady Macbeth von Gary McCann, Wiener Staatsoper 2015
70
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
DAS KOAN DER BLUTIGEN LADY
Ein Versuch über das Absolute Böse
Vor einigen Jahren traf ich einen weltberühmten Regisseur, der eben eine
Macbeth-Inszenierung vorbereitete. Er kam gerade von einem Treffen mit
der vorgesehenen Lady Macbeth-Darstellerin und war völlig aufgelöst und
verzweifelt und versucht, alles hinzuschmeißen. „Könnten wir die Lady
nicht irgendwie menschlich und sympathisch erscheinen lassen?“ hätte ihn
die renommierte Sängerin gleich als Erstes gefragt. Und ihm wäre nichts
anderes übriggeblieben als zu antworten: „Sympathisch und menschlich?
Meine Liebe, die Lady ist das absolute BÖSE!“ Nun mag ja die Eitelkeit einer
schönen Primadonna, die es nicht übers Herz bringen will, eine absolut
böse und hassenswerte Figur zu verkörpern (und dabei auch noch, wie das
berühmte Verdi-Zitat belegt, hässlich zu singen), eine solche Frage durchaus noch als verständlich erscheinen lassen. Darüber hinaus belegt aber
diese wahrheitsgemäße Anekdote leider in charakteristischer Weise unser
aller Umgang mit der schottischen Lady im Speziellen, aber vor allem unsere „westliche“ verharmlosende, relativierende, schönfärberische, verniedlichende, blauäugige, realitätsverleugnende, alles­
umjedenpreisverstehenund damit rechtfertigwollende Attitüde gegen über jenem Prinzip – das wir
in weiterer Folge „das Böse“ nennen wollen – im Allgemeinen.
In fast allen anderen außereuropäischen Kulturen hatte jenes Prinzip von
Alters her einen hohen und auch geachteten Stellenwert. Verkörperungen
dieser kosmologischen Energien der Zerstörung, der Vernichtung und des
Todes wurden und werden z.B. in Indien bis zum heutigen Tag sogar als
Gottheiten verehrt: als Shiva, als Kali (einer Göttin, der unsere Lady aus
Schottland durchaus einen privaten Schrein hätte errichten können). Das
arme Abendland hingegen litt seit seiner Christianisierung von Anfang an
unter dem logischen Konstruktionsfehler eines einzigen und dazu noch
ausschließlich grundgütigen Gottes. Behelfsweise wurde ihm gelegentlich
die abgespeckte Karikatur einer Autorität wie Shiva, nämlich die (manchmal
nicht ganz ernstzunehmende) Figur eines „Teufels“ oder „Satanas“ zur Seite
gestellt. Als man in unseren Breiten im Zuge der Aufklärung beschloss, die
71
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
Idee Gottes zu töten, fiel damit naturgemäß auch gleichzeitig sein Gegenspieler – der zwar lächerlich, aber immerhin der letzte Vertreter einer irgendwie dualen Weltordnung gewesen war – dieser Revolution zum Opfer.
Stattdessen wurde die Menschheit selbst zum einzigen und grundgütigen
Götzen erhoben – und „das Böse“ – statt es als anthropologisches Faktum
zu akzeptieren – als historisches Konstrukt entlarvt. Es hatte länger keinen
Platz mehr auf dieser Erde inmitten der gottgleichen menschlichen Rasse,
es musste vernichtet, es musste ausgerottet, es musste mit Butz und Stingl
vertilgt werden. Also machten sich die begabtesten Vor-Denker und Vorfühler Europas daran, an der Dekonstruktion des Bösen zu arbeiten. Sie suchten und fanden höchstverdächtige Ursachen für dessen skandalöse Fort­
existenz auch in minderen Erscheinungsformen wie Krankheit, Leiden,
Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und allem Lästigen generell. Hoch im
Kurs der bösen Verursacher standen: die Gesellschaft, die Wirtschaft, der
Kapitalismus, das Patriarchat, gewisse Philosophien, Religionen, die Familie, die Sprache, und und und ...
Wenn man das alles ändern könnte ... und sobald man das alles geändert
hätte ... na dann wäre dieses verfluchte Prinzip endgültig vom Antlitz des
Planeten verschwunden ... und wir würden alle von Stund an endlich in
einem unendlich friedliebenden, utopischen Paradies leben ... mit zu Pflugscharen geschmiedeten Schwertern und Seite an Seite mit in Eintracht
schlummernden Löwen und Lämmern ...
Sehr sehr leider stellte sich alsbaldigst heraus, dass die Gewalt, das Verbrechen, das Morden – also das wahre Unglück – je mehr man es im Kleinen
einzudämmen versuchte, daraufhin im Großen auf bislang unvorstellbare
Weise zu explodieren begann. Der legendäre Musikwissenschaftler Bruno
Cagli hat diesen Zusammenhang einmal so auf den Punkt gebracht: „Das
Ende der Ära der Kastraten markiert den Anfang der Ära der Konzentrationslager und der Genozide.“ Selbstverständlich haben diese „bedauer­
lichen Nebeneffekte“ die Ideologen, Propagandisten und Dasbösever­
stehenwoller mitnichten davon abgehalten, von ihren Bestrebungen
ab­­zu­lassen. Im Gegenteil: Gemäß dem alten Spruch „ Je falscher die Medizin, desto höher die Dosis“ vervielfachten sie ihre diesbezüglichen Anstrengungen bis zum heutigen Tage. „Zero Tolerance“: jede noch so klitzeklein­
72
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
ste Äußerung, jede noch so marginalste, aber unter dem Generalverdacht
des Womöglich-unter-Umständen-das-Böse-erregen-Könnende stehende
Tat­sache wird in einem ziemlich unverhältnismäßigen Einsatz der Mittel
gnadenlos und ohne Widerrede niederzumachen versucht. DDT gegen
Hautjucken, Chemotherapie gegen Wimmerln, Wasserstoffbomben gegen
Kopfweh. Hart tobt der Kampf ums Binnen-I, entfesselt ist die Schlacht um
Hymnen-Texte, Bücher werden zwar nicht verbrannt, aber „gesäubert“ (u.a.
Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Onkel Toms Hütte oder Zehn kleine
Negerlein), auf Verwendung von N-,F-,C- und D-Worten droht die gesellschaftliche Ächtung, auf „Mikroaggressionen“ (wie wenn man einen Studenten nach der möglichen Herkunft seiner Vorfahren fragt) folgt der sofortige Karrieretod, und wer vor einem etwaigen Geschlechtsverkehr keine
Einverständniserklärung oder ein Einverständnisvideo (gibt eine App dazu)
vorweisen kann, muss sogar mit Gefängnissen rechnen. Und nun sage man
nicht, das seien nur Überdrehtheiten amerikanischer Universitäten, das
sind Tendenzen, die längst auf den alten Kontinent zurück-übergeschwappt
sind. Der Autor dieser Zeilen kann z.B. persönlich bezeugen, dass die Reiseredaktion einer österreichischen Qualitätszeitung sich weigert, Artikel
über Siena oder Ronda zu veröffentlichen, nur weil das möglicherweise Assoziationen an Nicht-ganz-so-gut-Behandlung von Pferden und Stieren auslösen und somit „die Sensibilität der Leser“ verletzen könnte ... Ja, wo sind
wir denn da hingeraten? Warum will man uns mündige, geimpfte, denkfähige Erwachsene mit Bestemm in zu behütende Kleinkinder und/oder in sich
in einem Zustand der Daueraufregung befindlichen hysterischen alten
Jungfern verwandeln ? Huch! Ach! Och! Nun verstehe man mich nicht miss:
Natürlich bin ich dafür, allen negativen Tendenzen, allen Ursachen von
Leid, Tod und Zerstörung immer und überall entschlossen entgegenzu­
treten. Aber es ist eine Sache, das Böse zu bekämpfen, und eine andere, es
schlicht leugnen und verdrängen zu wollen. Es ist voll okay und gehört sich
sogar, den Kasperl vor dem Krokodil zu warnen. Es ist komplett schwachsinnig und kontraproduktiv, sich selbst und dem Kasperl einreden zu wollen, dass da überhaupt kein Krokodil ist ... In der Medizin gilt es mittlerweile unbestritten als erwiesen, dass die Unmengen von Allergien, die
heutzutage auftreten, darauf zurückzuführen sind, dass unsere Kleinkinder
73
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
zu steril aufwachsen, weil sie Schmutz nicht einmal mehr in kleinster Menge
zu sich nehmen. Und dadurch ihr biologisches Immunsystem nicht mehr
trainieren können. Dasselbe scheint mir hier mit den geistig-seelischen Abwehrkräften zu geschehen. Wie wehrlos wir diesbezüglich geworden sind,
zeigt unsere Reaktion auf jede neue, in den letzten Jahren häufiger, ja nahezu wöchentlich, auftretende und auf den ersten Blick völlig sinnlos erscheinende bisher so noch nie dagewesene Gräueltat. Sobald das bislang Unvorstellbare geschehen ist, wird jedesmal sofort der seit 200 Jahren gut
antrainierte Pawlow’sche Reflex der Umjedenpreisgutseinwollenden ausgelöst, setzt sich automatisch – wie das Amen im Gebet – dieselbe peinliche,
aber anscheinend unvermeidliche Maschinerie der stante pede ursachenherausfindenden und gleichzeitig lösungenanbietenden Korrespondenten,
Kommentatoren, Analysten, Poster, Blogger und sonstiger Senfdazugeber in
Gang. ­In einen Wolkenkratzer geflogen? In eine Menschenmenge gerast?
Einen spreng­stoffbeladenen Rucksack in einer U-Bahn „vergessen“? Eine
Hochzeitsgesellschaft in die Luft gesprengt? Entwicklungshelfer vor laufender Kamera geköpft? Filmemacher niedergeknallt? Zeitungsredaktionen
niedergemetzelt? Supermarktgeiseln kaltgemacht? Rollstuhlfahrer vom
Schiff gekippt? Homosexuelle von Dächern geschmissen und danach mit
Betonblöcken zerschmettert? Frauen gesteinigt? Gefangene in Brand gesetzt? Auf Leichen eingetreten? Mit abgeschlagenen Köpfen Fußball gespielt?
Sie waren doch so arm. Sie waren so ungebildet. Sie waren so verzweifelt.
Sie waren so unintegriert. Jemand hat sie einmal irgendwie scheel angesehen. Sie hatten keine andere Wahl. Sie hatten keinen anderen Ausweg. Es
gab keine andere Möglichkeit. Es musste zwangsläufig dazu kommen. Also
mehr Sozialhilfe, mehr Entwicklingshilfe, mehr Psychologen, mehr Pilotentests, mehr Schulen, mehr Bildung, mehr Integration …!
Es hilft natürlich wenig, wenn all diese „Erkenntnisse“ binnen kürzester
Zeit falsifiziert werden: Die betreffenden Täter kamen aus wohlhabenden
Fami­
lien, waren voll integriert, hoch gebildet, hatten Universitätsabschluss etc. etc. Aber Realitätsverlust ist ein hartnäckig Ding, und wir lassen uns unser rosarotes Weltbild doch nicht durch irgendwelche banalen
Fakten ruinieren ...! Das Interessante dabei ist, dass sich überlebende
­Attentäter mit ähnlich ­hanebüchenen „Argumenten“ und „Ursachen“ zu
74
Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta
rechtfertigen versuchen: Briefbombenverschicker Fuchs wollte „die Rothaarigen“ rächen, Jugendlichewiehasenabknaller Breivik dem „Multikulturalismus“ Einhalt gebieten ...
Und somit wären wir wieder bei unserer blutigen Lady und ihrem Bruder im
Ungeiste, Jago. Beide bringen für ihr Verhalten die verschiedensten Beweggründe und Erklärungen vor, eine so unstichhaltig und irreführend wie die
andere. Lets face it, auch wenn es unendlich schwer ist: Es gibt keine Ursache, keinen Sinn, keine Notwendigkeit und – was noch schlimmer ist –
­somit auch keine vorbeugenden Maßnahmen und keine generellen Heil­
mittel gegen solche Taten.
Die Lady ist die bloße Personifikation des umgekehrten Fünften Gebots: Du
sollst töten, du darfst töten, du musst töten! Im Zen-Buddhismus gibt es
paradoxe Rätsel, sogenannte Koans („Höre den Ton der einen Hand“), die
der Meister seinen Schülern stellt, um ihnen (notfalls auch mittels Stockschlägen) jede Versuchung auszutreiben, im Leben nach irgendetwas Ähnlichem wie einem Sinn zu suchen.
Und die blutige Lady ist unser Koan, unsere Mahnung, eine solche Sinnsuche gar nicht erst bei ihr und somit beim ABSOLUTEN BÖSEN anzustellen.
Robert Quitta: Studium der Philosophie (Dissertation über Nietzsche). Filmemacher.
Theaterautor und -regisseur. 51 Produktionen für das von ihm gegründete und
geleitete „Österreichische Theater“. Kultur- und Festivalberichterstattung für Die
Presse, Der Standard, Wiener Zeitung, Die Bühne, Orpheus, Operalounge, Hystrio,
L‘Opera etc. Träger des italienischen Kritikerpreises „Premio D‘Arcangelo“ (2015).
75
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Christa Ludwig als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Gertrude Rünger als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1933
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Josef Metternich als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1953
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Sherrill Milnes als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Birgit Nilsson als Lady Macbeth und Kostas Paskalis als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Herbert Alsen als Banquo, Wiener Staatsoper, 1943
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Elisabeth Höngen als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1943
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Karl Ridderbusch als Banquo, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Mara Zampieri als Lady Macbeth und Renato Bruson als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1982
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Tugomir Franc als Banquo, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Mathieu Ahlersmeyer als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1943
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Carlo Cossutta als Macduff, Wiener Staatsoper, 1970
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Josef Witt als Macduff, Wiener Staatsoper, 1943
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Kurt Rydl als Banquo, Wiener Staatsoper, 1988
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Egils Silin‚š als Banquo, Wiener Staatsoper, 2000
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Jewgenij Nesterenko als Banquo, Wiener Staatsoper, 1990
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Gottlob Frick als Banquo, Wiener Staatsoper, 1953
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Carlo Guelfi als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1999
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Peter Dvorský als Macduff, Wiener Staatsoper, 1982
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Nicolai Ghiaurov als Banquo, Wiener Staatsoper, 1982
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Franz Grundheber als Macbeth, Wiener Staatsoper, 2001
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Piero Cappuccilli als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1982
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Erwin Schrott als Banquo, Wiener Staatsoper, 1999
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Leo Nucci als Macbeth und Maria Guleghina als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 2001
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Simon Keenlyside als Macbeth, Wiener Staatsoper, 2009
Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper
Eliane Coelho als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1999
Abendzettel einer Macbeth-Aufführung der Wiener Staatsoper 1933
102
Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng
ANS HERZ GEWACHSEN!
Macbeth-Rezeption in Wien
Leicht hatte es Giuseppe Verdis Macbeth in Wien zunächst nicht. Gleich der
Start war schon verpatzt, da aus dem geplanten Erstaufführungstermin im
April 1848 am Kärntnertortheater vorerst nichts wurde. Die Revolution und
deren Folgen sowie die Abneigung von Teilen der Wiener Bevölkerung gegen
die damals üblichen alljährlichen italienischen Gastspiele schienen kein geeignetes Pflaster für das neueste Opus des Meisters aus Busseto zu sein. Und so
ergab sich das Paradoxon, dass die Aufführung einer Oper jenes Komponisten, der sich als (eindeutiger) Anhänger der Revolution deklarierte, erst
möglich wurde, nachdem die Aufstände niedergeschlagen worden waren. Am
11. Dezember 1849 also holte man die Erstaufführung am Kärntnertortheater
nach. Aber unter welchen Voraussetzungen! Die italienischen Sänger von
1848 standen nicht zur Verfügung und das deutschsprachige Ersatzpersonal
kam mit den musikalischen Anforderungen der Partien nicht zurecht. Erstens
weil sie sich in der Musik dieser Oper offenbar nicht heimisch fühlten und
weil sie zweitens falsch besetzt waren: Der Bass Joseph Staudigl gab die Baritonrolle des Macbeth, der Bariton Gustav Hölzel die Bassrolle des Banquo
und Anna Maria Wilhelmine van Hasselt-Barth fehlte schlichtweg das nötige
stimmliche Volumen für die Lady Macbeth. Die leeren Theaterkassen erzwangen darüber hinaus eine Ausstattung, die auf Grund ihrer Dürftigkeit diese
Bezeichnung genau genommen gar nicht verdient hatte. Wen wundert es daher, wenn die Wiener Kritiken das gezeigte und gehörte Ergebnis in Grund
und Boden stampften? Dass mancher Rezensent durch die unterdurchschnittliche musikalische wie szenische Umsetzung irregeleitet die Ursache für den
allgemein empfundenen Mangel in der Musik Verdis suchte, beweist nur
eines: Auch im 19. Jahrhundert war es empfehlenswert, sich eine eigene
Meinung zu bilden und den gedruckten Aufführungsbeschreibungen zu misstrauen. „Verdi hat zuerst den Victor Hugo, dann den Schiller und jetzt den
Shakespeare verdisiert. So darf die Musik nicht missbraucht werden“, hieß es
zwei Tage nach der Premiere etwa im Humorist. Und selbst Kritikerpapst Eduard Hanslick stieß ins gleiche Horn: „Es ist ein Jammer und ein Frevel, wie
103
Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng
Verdi mit den Dramen Shakespeares und Schillers umgeht.“ Nun, Hanslick
war bekanntlich ein Fließbandproduzent von Fehlurteilen, die den Verlauf der
Musikgeschichte nicht wesentlich beeinflusst hatten. Auch im Falle des
Macbeth entsprach seine Einschätzung nicht jener des Publikums, da das
Werk in den nächsten drei Jahren immerhin 22 Mal – davon sechs Mal dann
doch auf Italienisch – über die Bühne des Kärntnertortheaters ging. Das ist
zwar nicht viel, aber für damalige Verhältnisse auch nicht wenig. Danach kam
allerdings die große Pause. Eine Pause von nicht weniger als acht Jahrzehnten,
in denen das Werk in Wien praktisch totgeschwiegen worden war. Eine letztlich genauso unverständliche Tatsache wie der Umstand, dass Verdis Don
Carlo erst 1932 den Weg nach Wien fand. Doch spätestens mit dem Direktionsantritt von Clemens Krauss begann auch an der Staatsoper die so oft gepriesene Verdi-Renaissance – mit Neuproduktionen, Erstaufführungen oder
Wiederaufnahmen. Und seit dieser den Spielplan nachhaltig beeinflussenden
Ära blieb auch der Macbeth den Wienern nicht nur dauerhaft erhalten, sondern konnte sich sogar zu einem der populäreren Zugstücke im Repertoire
mausern – einige Nummern dieser Oper wie Banquos „Come dal ciel“, Macduffs „Ah, la paterna mano“ oder die Sonnambulismo-Szene im vierten Akt
mutierten zu gern und oft gebrachten Wunschkonzertbeiträgen. Doch nicht
nur dem Wiener Publikum war Macbeth seit 1933 ans Herz gewachsen! Die
berühmtesten Interpreten, die sich wiederholt dieses Werkes annahmen,
sorgten durch ihre Leistungen auch hierzulande für Glanzpunkte im Opernalltag: In den 30er-Jahren begeisterten im Haus am Ring unter Clemens
Krauss – aber auch unter dem damals noch jungen Josef Krips – Sänger wie
Alfred Jerger (Macbeth), Richard Mayr (Banquo), Gertrude Rünger (Lady Macbeth) oder Josef Kalenberg (Macduff). Karl Böhm betreute in der Folge gleich
drei Macbeth-Neuproduktionen (1943, 1953 im Ausweichquartier Theater an
der Wien sowie 1970) und Giuseppe Sinopoli festigte mit seiner Wiener Macbeth-Deutung (Premiere 1982) seinen Ruf als epochemachender Dirigent.
Und welcher regelmäßige Opernbesucher könnte das grandiose Paar der 80erund 90er-Jahre, Mara Zampieri und Renato Bruson als Lady Macbeth und Macbeth vergessen? Oder Christa Ludwig und Sherrill Milnes aus der 1970erProduktion?­Ältere Generationen hatten darüber hinaus das Glück einen Josef
Metternich, Hans Hotter oder Paul Schöffler als Macbeth beziehungsweise
104
Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng
eine Elisabeth Höngen oder Martha Mödl als Lady zu erleben. Aber auch die
Namen der Regisseure und Bühnenbildner dieser – seit 1849 an gerechneten
– sieben Neuproduktionen des Werkes an der Hof- bzw. Staatsoper dürfen
sich zumeist mehr als sehen lassen: Die Premiere von 1933 betreuten beispielsweise ­niemand Geringerer als Lothar Wallerstein und Alfred Roller, jene
von 1943 und 1953 Oscar Fritz Schuh sowie Wilhelm Reinking beziehungsweise Caspar Neher, die nächsten beiden Deutungen stammen von Otto Schenk
(1970) respektive Peter Wood (1982).
Auf Ablehnung stieß allerdings die bislang letzte Neuproduktion in der Regie
von Vera Nemirova im Dezember 2009: Man erlebte unter a­ nderem einen
ver­blödelten König Duncan im Schottenrock, Macbeth und seine Lady in
einer modernen Duschkabine, eine Pawlatschenbühne mitten im Wald,
Hexen als Selbstfindungskünstlerinnen, eine frei erfundene Pantomime
zur Ballettmusik, Mörder mit roten Clownnasen und roten Luftballons. Die
Ablehnung des Publikums war so groß, dass die, wenige Monate nach der
Premiere angesetzte zweite Aufführungsserie abgesagt und durch RepertoireVorstellungen von La traviata ersetzt werden musste. Mit insgesamt sechs
Aufführungen war diese Inszenierung somit eine der kurzlebigsten der
gesamten Staatsoperngeschichte.
Der Vollständigkeit halber soll noch auf die Aufführungsreihe der Scottish
Opera im Theater an der Wien hingewiesen werden, die im Zuge der Wiener
Festwochen im Mai 2000 zu erleben war. In der Regie von Luc Bondy und dem
Bühnenbild von Rolf Glittenberg hörte man damals unter Richard Armstrong
etwa Richard Zeller (Macbeth), Kathleen Broderick (Lady Macbeth), Carsten
Stabell (Banquo) und Marco Berti (Macduff).
In der Premierenserie der aktuellen Neuproduktion vom 4. Oktober 2015
sangen in der Inszenierung von Christian Räth unter der Leitung von
Alain Altinoglu (der erstmals für eine Premiere an der Wiener Staatsoper
­verantwortlich zeichnete) unter anderem George Petean (Macbeth), Tatiana
Serjan (Lady Macbeth), KS Ferruccio Furlanetto (Banquo) und Jorge de León
(Macduff).
105
Tatiana Serjan als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper 2015
106
Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter
GESANGSSTIMMEN IN MACBETH
Macbeth, Uraufführung 1847, die zehnte von Verdis fast 30 Opern, nahm
beim Komponisten stets eine Sonderstellung in seinem Gesamtœuvre
ein. Verdi ist hier seinem bisherigen und auch kurz darauf folgenden
Kompositionsstil – die weltweiten Erfolge von Rigoletto/Trovatore/Traviata
erfolgten in den Jahren 1851 bis 1853 – vorauseilend untreu geworden:
Nämlich durch die teilweise Abkehr von der reinen Nummernoper hin zu
dem teilweise durchkomponierten Musikdrama. Verdi machte mit Macbeth
seine erste Bekanntschaft mit Shakespeare und wollte die Charaktere
der komplexen Figuren musikalisch genau formen. Das hatte auf die
Ausgestaltung der Gesangsstimmen großen Einfluss. Bei keiner seiner
anderen Opern findet man so viele Anmerkungen, Auflagen, Wünsche
für die stimmlichen Erfordernisse und Ausdrucksvarianten der einzelnen
Gesangspartien.
Ich darf zitieren: „Con voce soffocata e cupa“ – mit erstickter, mit dunkler
Stimme. „Fra sè sottovoce e quasi con spavento“ – zwischen Flüstern und
fast mit Erschrecken… „Suono luminoso“ – mit leuchtend-hellem Klang etc.
So ist es nicht verwunderlich, dass Verdi diese Oper später umarbeitete,
ergänzte, um dann, fast 20 Jahre später, eine eigene Fassung für die Pariser
Oper herzustellen. Heute würden wir sagen: „Macbeth: Work in progress“.
Lady Macbeth
verlangt neben der starken, fast dämonischen Persönlichkeit, einen sinnlich jugendlich-dramatischen Charakter-Sopran beziehungsweise einen
dramatischen Mezzosopran. Der große, vorgelegte Stimmumfang reicht
teilweise über zwei Oktaven (vom tiefen Des bis zum hohen Des in der
„Schlafwandlerszene“). Die groß aufschwingenden, kraftvollen Kantilenen,
in den zahlreichen Chorszenen das gesamte Ensemble überstrahlend, die
stimmtechnische Fähigkeit von teils gesprochenen Rezitativen bis hin zu
Staccato-Koloraturen erfordern neben dem großformatigen Stimmpotenzial
eine enorme technische Souveränität. In der stimmlichen Gestaltung reicht
der Bogen von der überehrgeizigen, Mordpläne schmiedenden Dämonin
107
Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter
über die scheinbar souveräne Gastgeberin bis hin zu der dahinsiechenden, wahnsinnigen, somnambulen Sterbenden. Verdi hat hier ein ideales
„Stimm-Farben-Portrait“, ganz im Sinne von Shakespeare, komponiert. Man
kolportierte, dass Verdi für diese Partie eine „hässliche“ Stimme bevorzugte. Ganz so plump kann es nicht gewesen sein, denn seine Anmerkungen
lauteten seine, wie oben bereits beschriebenen Ausdrucksvarianten, zu
befolgen. Trotz des wirklich unglaublich negativen Charakters der Figur
haben stets große Sängerinnen nach dieser (auch beim Publikum) so
erfolgreichen Partie gegriffen. Ich erinnere an Mezzosopranistinnen, die
sich an die Rolle heranwagten, wie unter anderem Christa Ludwig, Grace
Bumbry und an die Sopranistinnen wie Birgit Nilsson, Leonie Rysanek,
Renata Scotto, Mara Zampieri bis hin zu Anna Netrebko und, last, but not
least, natürlich Maria Callas.
Macbeth
ist der typische dramatische Charakter-Kavalier-Bariton. Die Partie ist meist
in der Mittellage angesiedelt, wird hier aber in all seinen Ausdrucksvarianten
stark gefordert (vor allem in den Szenen mit den „Hexen“). Sinnliche, sonore Stimmfarbe und die Fähigkeit, neben dramatischen Ausbrüchen eine
geschmeidige, breite Kantilene zu formen, geben hier ein Beispiel, warum
diese Stimmlage, die der männlichen Sprechstimme am ähnlichsten ist,
vom Komponisten in den Zentralpartien seiner großen Opern bevorzugt
wurde. Der Lebensweg vom anfänglich Schwachen, dann Mordenden, später seine Schandtaten Bereuenden, wird hier ganz im Sinne Shakespeares
stimmlich grandios nachgezeichnet. Davon gibt seine Arie im letzten
Bild („Pietà, rispetto, amore“) mit breit strömender Kantilene in DesDur – Verdis bevorzugte Bariton-Tonart Zeugnis. Wer erinnert sich hier
nicht an Leo Nucci, Giuseppe Taddei, Dietrich Fischer-Dieskau (!), Piero
Cappuccilli, Sherrill Milnes, Renato Bruson …
Banquo
Geschrieben für den seriösen, sonor viril strömenden Bass mit der
Fachbezeichnung „Basso Nobile“. Obwohl von der tatsächlichen Länge
des Gesanges her eher eine kurze Partie – bekanntlich wird Banquo in der
108
Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter
ersten Hälfte der Oper meuchlings ermordet – betraut man die Rolle mit
einem Sänger der ersten Qualitätskategorie. Seine Arie („Come dal ciel precipita“) verlangt neben der breit fließenden Mittellage eine stabile Höhe, da
hier in aufsteigenden Kantilenen mehrere strahlend kräftig gesetzte hohe
Töne (es handelt sich um das hohe E) zu meistern sind. Bass-Sänger wie
u.a. Cesare Siepi, Nicolai Ghiaurov, Karl Ridderbusch haben das meisterhaft bewiesen. Eine Anmerkung aus der Praxis: Viele Bass-Sänger, die im
Rahmen eines Vorsingens an ein Opernhaus eingeladen werden, wählen
gerne die „Banquo-Arie“ als Vorsingarie aus.
Macduff
Von der tatsächlichen Länge der Gesangsstellen her eher mittelgroß, gilt auch
hier, ähnlich wie bei Banquo, die Vorgabe, den jugendlich lyrisch-dramatischen
Tenor mit einem Sänger von hoher Qualität zu besetzen. Es braucht sinnliches
Stimmtimbre mit der Fähigkeit, einen Charakter in kraft- und klangvollen
Tönen und Kantilenen, zunächst als jungen Feldherrn, später als Verzweifelten
den Tod seiner meuchlings ermordeten Familie Beklagenden, zu gestalten. In
seiner Arie „Ah, la paterna mano“ – geschrieben in Des Dur – bewegt sich die
Tenorstimme in der oft so genannten „Verdi-Tenor-Tessitura“ also zwischen
Es und As. Gerne erinnere ich mich da an den jungen Peter Dvorský.
Die kleineren Partien wie Malcolm (lyrischer Tenor), Kammerfrau
(Charaktermezzosopran) werden aus dem Hausensemble besetzt, erfordern
neben dem gut akzentuierten Gesang eine Bühnenpräsenz, da sie oft die vorliegenden Handlungssituationen stimm- und darstellerisch kommentieren.
Schließlich die Hexen
Dieser, aus dem Damen-Chorensemble ausgewählten Gruppe fällt eine
ganz wichtige Aufgabe zu. Nicht nur schauspielerisch, sondern vor allem
vokal, werden große Anforderungen gestellt. Müssen sie doch die geisterhaft, schaurig-dämonische Atmosphäre vokal entstehen lassen. Verdi hat
das in dreistimmigen Chorsätzen, die mit spitzen, durchdringenden, ja kreischenden Stimmen noch dazu im Staccato-Stil gesungen werden müssen,
meisterhaft geschrieben …
109
Proben für die Premiere 2015
KS Ferruccio Furlanetto,
Tatiana Serjan,
George Petean,
Alain Altinoglu,
Christian Räth,
Thomas Lausmann,
Jorge de León,
Jongmin Park,
Raphaela Hödl, Janina
Müller-Höreth und
Cécile Restier
proben Macbeth
110
Proben für die Premiere 2015
111
Kostümfigurine von Alfred Roller, Wiener Staatsoper 1933
112
Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng
ALS MAN VERDI WIEDERENTDECKTE
So wie es nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zum Deutschen
Wirtschaftswunder auch zu einem Österreichischen Wirtschaftswunder
kam, belebte in den 1920er- und 1930er-Jahren die vielbeschworene
Verdi-Renaissance praktisch zeitgleich in Deutschland und Österreich die
Opernspielpläne. Bis dahin waren jahrzehntelang wesentliche Werke Verdis
– wie etwa Don Carlo, Forza del destino oder Macbeth – hier wie da der
Vergessenheit preisgegeben. Die Gründe für diese eher eingeschränkt
­originelle Aufführungspolitik waren unterschiedlicher Natur: Allzu viel gute
Melodien innerhalb eines Werkes schienen den meisten Zuständigen offenbar suspekt, was nicht eindeutig von Richard Wagner beeinflusst war, galt als
ablehnenswert und auf alle Fälle banal, das Aufspüren und Herausarbeiten
der ungemein fesselnden musikalischen Dramaturgien hinter der sogenannten „Leierkastenmusik“ empfand man, sofern sie überhaupt erkannt
wurden, als zu umständlich, und ganz im Allgemeinen fühlte man sich als
deutschsprachiger dem romanischen Künstler ab ovo überlegen. Wehe
also, wenn sich ein Italiener oder Franzose an einem deutsch- oder englischsprachigen Stoff vergriff und diesen als Basis für eine eigene Oper heranzog. Noch im Jahr 1945 schrieb Richard Strauss in seinem künstlerischen
Vermächtnis an Karl Böhm: „Verdis Otello verurteile ich im Ganzen, wie alle
zu Operntexten verunstalteten Libretti nach klassischen Dramen, wie z.B.
Gounods Margarete, Rossinis Tell, Verdis Don Carlo! Sie gehören nicht auf
die deutsche Bühne.“ Als Entschuldigung für Strauss mag dessen natürliche
Aversion gegenüber jede Tantiemen mindernde Konkurrenz noch irgendwie durchgehen, aber die uninformierte Voreingenommenheit zahlloser
Operndirektoren, die künstlerische Schmalspurwerke zum Besten gaben
– an der Wiener Hofoper zum Beispiel Stücke wie Max von Oberleitners
Aphrodite, Raoul Maders Die Flüchtlinge, Antonio Smareglias Der Vasall
von Szigeth oder Carl Pfeffers Harold – und etliche Geniestreiche Verdis
links liegen ließen, wohl weniger. Selbst die Feierlichkeiten zum 100.
Geburtstag Giuseppe Verdis im Jahr 1913 brachten diesbezüglich keine entscheidende Wendung. Mit Verdi. Roman der Oper, dem 1924 erschienen
Bestseller Franz Werfels, änderte sich die Situation schlagartig. Plötzlich
113
Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng
war der italienische Komponist, den Werfel als einen intensiv und skrupulös um die musikalisch-künstlerische Wahrheit Ringenden porträtierte,
in aller Munde. Werfel gelang es mit diesem Roman, alle klischeehaften
Vorurteile gegenüber Verdi beiseitezuschieben und dessen künstlerische Potenz zu rehabilitieren. Doch damit nicht genug, schuf Werfel mit
den Übersetzungen und Neudichtungen einiger Verdi-Libretti sowie der
Übersetzung und Herausgabe von Briefen des Komponisten eine zusätzliche Basis für ein regelrechtes Verdi-Comeback. Seine deutsche Textfassung
der Macht des Schicksals von 1925 führte ein Jahr später sowohl an der
Dresdner Semperoper als auch an der Wiener Staatsoper zur jeweiligen Erstaufführung des Werkes. In seiner Premierenbesprechung vom
28. November 1926 unterstrich Julius Korngold in der Neuen Freien Presse
das Verdienst Werfels und zugleich das neu entflammte Interesse speziell
an dieser Oper: „Werfels Eingreifen verdient aber auf alle Fälle Dank. Das
Werk ist wieder beachtet, kann im Lichte der Bühne sprechen … Das Haus
war mit Spannung geladen, die sich für Mitwirkende und den Direktor am
Pulte wiederholt entlud. Dem Werke folgte man mit Entdeckerfreude.“ Der
erwähnte „Direktor am Pult“ war niemand Geringerer als Franz Schalk, der
nach dem Abgang Richard Strauss’ das große Wiener Opernhaus alleine
leitete. Doch mehr noch als er zeichnete sein Nachfolger Clemens Krauss
für die Wiener Verdi-Renaissance verantwortlich. Im Grunde entsprach
Krauss’ Weg in diesem Punkt jenem von Fritz Busch in Deutschland: Beide,
der Dresdner Generalmusikdirektor (der 1933 den Nazis widerstand und
gehen musste) und der österreichische Staatsoperndirektor (der den Nazis
nicht widerstand und von Hitler protegiert wurde), betrieben aktiv die
Wiederentdeckung des Meisters aus Busseto. Hier, im Wiener Haus am Ring,
hieß das: 1930 Neuproduktion von Simon Boccanegra in der Übersetzung
von Franz Werfel (nachdem das Stück 47 Jahre nicht gespielt worden
war), 1931 Neuproduktion von La traviata, 1932 Erstaufführung von Don
Carlo (in der Übersetzung von Franz Werfel) sowie Neuproduktionen von
Aida, Maskenball und Rigoletto, 1933 Erstaufführung von Macbeth, 1934
Neuproduktion von Falstaff. Am 11. Mai 1932 resümierte Julius Korngold:
„Es wird nachgerade keine vergessene Verdi-Oper mehr geben. Ein
Triumph des Genies, aber auch die Niederlage einer sterilen Gegenwart.
114
Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng
In kürzester Frist sind in Wien allein Die Macht des Schicksals, Simone
Boccanegra und Don Carlos aus dem Archiv geholt worden; deutsche
Opernbühnen haben auch nach den Räubern, nach Macbeth, nach der
Sizilianischen Vesper gegriffen, ja, in Wiesbaden hat man sich kürzlich um
die ganz verstaubten Beiden Foscari bemüht“. Rund ein Jahr später legte
Korngold anlässlich der Macbeth-Erstaufführung noch mit den Worten
nach: „Erstaunlich unter allen Umständen, welche ungeahnten Kräfte diese
halbverschollenen Verdi-Opern noch immer enthüllen … einmal aus dem
Grabe erstanden, leben sie von selber weiter und decken in ihrem Schöpfer
weit über den italienischen Opernkomponisten hinaus das in jeder seiner
Schaffensperioden aufleuchtende internationale dramatische Genie auf.“
Tatsächlich lebten, „einmal aus dem Grabe entstanden“, die genannten
Werke fortan, zum Teil sogar als wesentliche Repertoirestützen, an der
Wiener Staatsoper weiter – allerdings kamen vorerst keine weiteren Stücke
dazu, denn mit dem Abgang Clemens Krauss’ riss vorerst auch die Phase
der Verdi-Neuentdeckungen ab. (Übrigens ziemlich zeitgleich zu jener in
Deutschland, die de facto mit der Machtergreifung der Nazis ein Ende fand.)
Der nächste Schub an Erstaufführungen beziehungsweise Verdi-Land­
gewinnen im Haus am Ring folgte erst ab der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts: Luisa Miller (1974), Attila (1980), Jérusalem (1995), Stiffelio
(1996), Nabucco (ganz überraschend erst 2001) und schließlich die originale französische Version von Don Carlos (2004). Ursache für diese zweite
Welle, die auch einige Neuproduktionen länger nicht gespielter Werke
wie Ernani umfasste, – man könnte sie, wenn man möchte, als zweite
Wiener Verdi-Renaissance bezeichnen – war, vor allem ab 1991, die gezielte
Verbreiterung des allgemeinen Repertoires.
Keinen Anteil an den Verdi-Renaissancen hatten übrigens die Wiener
Volksoper und das Theater an der Wien. Im Haus am Gürtel spielte man
seit der Umwidmung der Spielstätte in ein Musiktheater regelmäßig die
gerade populären Verdi-Stücke, aber zu keiner Zeit gehäuft. Immerhin
hatte die Volksoper, wie ja auch gelegentlich im Falle von Puccini und
Strauss, gegenüber der Wiener Staatsoper in Bezug auf Erstaufführungen
einige Male die Nase vorn: So konnten die Wiener den Nabucco an der
115
Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng
Volksoper 44 Jahre früher erleben (1957) als im Haus am Ring, und die
beiden Österreichischen Erstaufführungen der Räuber respektive I masnadieri (1963) und König für einen Tag respektive Un giorno di regno
(1995) haben an der Wiener Staatsoper bislang überhaupt noch keine
Entsprechung gefunden.
Am Theater an der Wien war Verdi für viele Jahre praktisch ein unbeschriebenes Blatt – die ersten Vorstellungen fanden hier überhaupt erst 1860
statt (Rigoletto, Traviata, Trovatore), dann passierte mehr als ein halbes
Jahrhundert lang gar nichts, 1904 folgte noch eine Aida und hernach überließ man die Verdi-Pflege den anderen Wiener Bühnen.
Um abschließend noch einmal auf die Wiener Staatsoper zurückzukommen:
Den Weg auf die erste Musiktheaterbühne des Landes fanden bislang 18 der
Bühnenwerke Verdis, die übrigen, also Oberto, Conte di San Bonifacio,
Un giorno di regno, I Lombardi, I due Foscari, Giovanna d’Arco, Alzira,
I masnadieri, Il corsaro, La battaglia di legnano und Aroldo warten nach
wie vor auf ihre Entdeckung durch das Staatsopernpublikum.
116
George Petean als Macbeth, Wiener Staatsoper 2015
117
Jinxu Xiahou als Malcolm, Wiener Staatsoper 2015
118
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
AUFSTIEG UND FALL
Ich kann nicht sagen, ihn besonders gut gekannt zu haben. Doch aufgrund
der Ereignisse, die sich vor einiger Zeit abgespielt haben und der zahl­
reichen Mutmaßungen über ihn möchte ich das Wenige, was ich weiß, den
eintönigen Kommentaren, die uns derzeit umgeben, hinzufügen. Nicht,
weil sie ertragreicher wären als jene, sondern weil ich bereits jetzt, gerade
jetzt, wo keiner ihn als Freund gehabt haben wollte und doch alle alles zu
wissen scheinen, eine gewisse Mythologisierung seiner Person erkennen
kann. Und diese halte ich für gefährlich.
Ich weiß über ihn nur das, was alle wissen. Seine Eltern starben früh und
hinterließen ihm ein kleines Vermögen, das ein zumindest bescheidenes
Auskommen ermöglichte. Er wurde Soldat, weil er als Soldat etwas taugte
und er im geordneten Reglement gewandt seinen Weg machte. Die tägliche
Routine schien ihm Freude zu bereiten oder störte ihn zumindest nicht,
und er erledigte sein Tagwerk mit Sicherheit und Verlässlichkeit. Seine Akte
war sauber bis auf einen einschränkenden Hinweis, den er später, aus unerfindlichen Gründen, nicht hatte tilgen lassen. Es scheint, so lässt sich der
Vermerk lesen, dass er fallweise Halluzinationen hatte und Stimmen hörte
und sich seinem Vorgesetzten anvertraut hatte. Worin diese Einbildungen
bestanden hatten, geht aus den Akten nicht hervor; er scheint auch nie
wieder darüber gesprochen zu haben.
I
Zum Zeitpunkt unseres ersten Treffens, es waren in Summe nur drei, war
er nicht mehr ganz jung. Er hatte einen recht hohen Rang erreicht, und
man war sich insgeheim einig, dass er karrieretechnisch an einer Grenze
angelangt sei. Abgesehen davon war er in einem Alter, in dem die meisten
Männer allmählich erschlaffen und ihre Energie weniger darauf verwenden,
weiter zu steigen, als die Aufsteigenden kritisch zu beäugen. Ich traf ihn an
einem Regentag im Frühsommer, er war nicht in Uniform, sondern hatte
Ausgang; er trug einen etwas zu modischen Anzug und versuchte, den
Eindruck einer Nonchalance zu erwecken, was ihm, wie den meisten, die
119
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
hauptsächlich Uniform tragen, nicht gelang. Natürlich wusste er, dass Farbe
und Schnitt des Stoffes der letzte Schrei waren, doch bemühte er sich, den
Eindruck zu erwecken, dass er nur ganz zufällig diesen Anzug gewählt habe,
da er sich nicht um Mode kümmerte. So stakste er ein wenig steif durch
den Regen und als er unabsichtlich in ein Schlammloch trat, merkte man,
wie sehr ihn das störte. Er besah den verdreckten Schuh und zuckte mit
den Schultern, als wolle er sagen: Ach, es ist ja nur ein Schuh, und doch
spürte man seinen Ärger über die Ungeschicklichkeit und die Tatsache,
dass er nun einen Abend lang mit einem kotigen Schuh beim Empfang sein
müsse. Ich kann mich an die Veranstaltung, die wir besuchten, nicht erinnern; ich weiß nur noch, dass er sich um eine junge Frau bemühte und indigniert wegdrehte, als ein anderer, im Übrigen noch älterer, Herr sich ins
Gespräch mischte. Später sah ich ihn bei der Tür stehen, er ließ die Augen
forschend über die Gesellschaft gleiten oder, wie ich vermutete, spielte
einen, der die Augen forschend über die Gesellschaft gleiten ließ. Es lag ein
Anflug von Verachtung in seinem Blick. Beim Verabschieden zog er seine
Brieftasche hervor, reichte mir eine Karte. Er fing meinen Blick auf, der die
eine Spur zu nachdrücklich in dem ersten Fach steckende Fotografie seiner
Frau registrierte. Und ebenso eine Spur zu jovial sagte er in Hinblick auf das
Bild „Meine Gute!“ und blinzelte mir zu.
II
Ich hätte dieses belanglose Zusammentreffen vollkommen vergessen,
wenn sein Leben nicht die unerwartete Wendung genommen hätte, die es
nahm. Als ich Monate später eine Einladung zu einer seiner berüchtigten
Gesellschaften erhielt, fühlte ich mich verunsichert, ob ich sie annehmen
sollte. Aber was tun? Durch undurchsichtige Umstände hatte er die besagte
Grenze durchstoßen und war nun unumschränkter Regent über die Insel
geworden, und selbst für mich, der ja eine Art Narrenfreiheit besaß, war
es ratsam, seine Höflichkeit nicht abzulehnen. Also traf ich am besagten
Abend in der Villa ein, schritt zwischen den unbewegten Gesichtern der
Sicherheitsbeamten durch. Diesmal war ich es, der sich im Raum umsah.
Die meisten Anwesenden kannte ich und ich glaube nicht, dass sich auch
120
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
nur einer in der Runde wohlfühlte. An den Wänden des großen Saals
hingen Gemälde, die ich glaubte, bisher im staatlichen Museum gesehen
zu haben; der Raum war hell ausgeleuchtet und teuer dekoriert und mir
fiel das gleißende Licht auf, das jeden Schatten ausmerzte. Ich kann nicht
sagen, dass die Villa auch nur in einem der Räume, die ich zu Gesicht
bekommen hatte, stilvoll eingerichtet gewesen wäre; und während ich
durch die Zimmerfluchten schlenderte (man hatte das untere Stockwerk
geöffnet), fiel mir wieder sein Anzug ein, der eben eine Spur zu auffällig
gewesen war. Meine Neugierde zwang mich, verstohlen eine verschlossene
Tür zu öffnen. Dahinter ein Raum, in dem ausgesonderte Gegenstände,
Bilder und Möbelstücke gelagert wurden, wild durcheinander geschoben
und gestapelt – und strotzend vor Abscheulichkeit. Ein mächtiger, golden
verschnörkelter Spiegel, ein obszöner Frauenakt, eine überkandidelte
Anrichte, entsetzliche Nippesfiguren, ein mit schillernden Silberfäden
durchzogener Teppich, ein mächtiger Tiger aus Porzellan. Doch so gnadenlos die Auswahl auch war, lag doch eine Weichheit in dem wilden
Sammelsurium, das offenbar seinem wahren Geschmack entsprach. Ich
kann nicht behaupten, dass mir zu diesem Zeitpunkt noch irgendetwas
sympathisch an ihm war, doch wenn, dann wäre es dieses Geheimnis seiner
ehrlichen Geschmacklosigkeit gewesen.
Als ich in den großen Saal zurückkehrte, begegnete ich endlich dem
Gastgeber. Hatte ich Angst? Ich denke, es war wieder eine Art Neugierde,
die mich trieb und die in mir den Wunsch nährte, mit ihm ins Gespräch zu
kommen. Er trug Uniform, die ihm besser stand, und gab sich so freundlich, als kannten wir einander schon seit langen Jahren. Seine Frau hakte
sich zwitschernd unter und führte mich herum; trinken Sie, trinken Sie, rief
sie ein wenig zu laut, und wie um der Sache Nachdruck zu verleihen, sagte
sie: Schrecklich, diese Zeiten, aber heute wollen wir das alles vergessen.
Trinken Sie! Ich trank. Erst jetzt bemerkte ich, dass in der einen Ecke des
Raumes eine gewaltige bronzene Moses-Büste stand, ein Mann, kniend, den
Blick zum Himmel gerichtet. Mir fielen seine Erscheinungen in der Jugend
ein und insgeheim fragte ich mich, was er damals zu sehen gemeint hatte
und ob er diesen Moses ausstellte, um seine eigenen Schauungen zu legi-
121
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
timieren? Später begegnete ich ihm noch einmal bei der Party, er lauschte
aufmerksam den Ausführungen des Bischofs, der über Vorbestimmung
und den unabänderlichen Plan Gottes sprach. Ich erinnere mich, wie seine
Augen angestrengt auf den Mund des Mannes gerichtet waren, als fürchte
er, ein Wort zu verpassen. Glaubte er zu diesem Zeitpunkt allen Ernstes,
dass sein Schicksal feststand und seine Taten durch ein vorbestimmtes
Schicksal legitimiert waren?
Wenig später verließ ich das Haus, und wenn es ein Schicksal gibt, dann
meinte es dieses gut mit mir. Noch am selben Abend brach sein altes
Leiden wieder aus und zitternd fiel er vor den Erscheinungen, die er sah,
auf die Knie, gestand seine Taten und weinte wie ein Kind. Die meisten, die
Zeuge dieses Dramas waren, wurden wenig später, so sie nicht Hals über
Kopf das Land verließen, verhaftet und verschwanden in den zahlreichen
Gefängnissen der Insel.
III
Wieder vergingen Monate und die Revolution brach aus. Der Sturz des
Regimes stand unmittelbar bevor und die Befreiungstruppen durchkämmten die Stadt nach den Anhängern des einstigen Machthabers. Seine Frau
hatte den Verstand verloren und sich das Leben genommen, er selbst hatte
sich mit Getreuen zurückgezogen, um einen Gegenschlag vorzubereiten.
Inmitten der zerstörten Straßen, zwischen rauchenden Autowracks und
Ruinen traf ich ihn zum letzten Mal. Wirr blickte er mich an, die blanke
Waffe in der Hand, mit fahrigen Bewegungen schien er Gegner zu suchen.
Und doch war die Unsicherheit, die in all seinem Gehabe gewesen war,
verschwunden. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass mir zu allererst
der Gedanke durch den Kopf schoss, dass er nun über die unpassend modischen Anzüge hinweg war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Und dann: „Stellen Sie sich“. Er schaute verwundert, als hätte er an diese
Möglichkeit nie gedacht. Schließlich antwortete er mit unerwarteter
Klarheit, unsäglicher Trauer: „Was habe ich noch zu erwarten? Achtung?
122
Aufstieg und Fall | Oliver Láng
Gnade?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich spürte es von Anfang an. Sie hatten es
mir gesagt, nur hatte ich es nicht verstanden.“
Ich wagte nicht zu fragen.
„Glauben Sie an das Schicksal? Ich sage Ihnen: Tun Sie es nicht. Es ist nicht
mehr als ein Würfelspiel.“ Er lachte grimmig. „Erzählt von einem Narren“,
zitierte er, jetzt fast heiter. „Kommen Sie, wir bringen es zu Ende.“
Und als ich mich nicht bewegte und nur die Augen senkte, wandte er
sich ab und machte sich auf den Weg. Ich hörte Geschützfeuer und das
Herannahen der Truppen, dachte an die Büste, an das überdeutliche Bild
seiner Frau, deren Ehrgeiz man im Nachhinein die Schuld gab, und an das
geheime Zimmer mit dem Plunder. Und als ich wieder aufblickte, war er
schnellen Schrittes am Ende der Straße angelangt; wohin er ging, war allerdings nicht mehr zu erkennen.
123
Ferruccio Furlanetto als Banquo und Jongmin Park als Spion, Wiener Staatsoper 2015
124
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
ÜBER GIUSEPPE VERDIS MACBETH
Man stößt als Komponist auf ein starkes, fesselndes, überzeitliches und tief
bewegendes literarisches Meisterwerk. Man trägt sich jahrelang mit dem
anfangs unbewussten und später immer dringlicheren Wunsch, dieses zur
Grundlage eines musikdramatischen Werkes zu machen.
Nur, wie geht man nun vor? Wie legt man ein solches Werk dramaturgisch
an und wo emanzipiert man sich von der Vorlage? Muss man sich überhaupt von der Vorlage emanzipieren? Und wie psychologisiert man die
Figuren musikalisch – so man sie überhaupt psychologisieren möchte?
Wo ab­strahiert man? Auf welche Szenen legt man sein Hauptaugenmerk?
Welche Striche erscheinen unumgänglich? Und wo inspiriert die Vorlage zu
eigenem Weiterspinnen? Welchen musikalischen Grundton legt man dem
Werk zugrunde? Wo muss man an seine Grenzen gehen, etwas wagen, was
man in seinem bisherigen Œuvre noch nicht probiert hat? Und vor allem:
mit welchem Librettisten, welcher Librettistin arbeitet man zusammen?
Also Fragen über Fragen, die sich seit Verdis Zeiten für heutige Komponisten
nicht wesentlich geändert haben. Natürlich ist die große, ungebrochen
erzählte Literaturoper – seit Alban Bergs Wozzeck als großem Höhe-, Zielund Wendepunkt – heute nicht mehr unhinterfragt. Die Zeitläufte des 20.
und beginnenden 21. Jahrhunderts sowie die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften und Strömungen der letzten Jahrzehnte
legen natürlich gebrochenere, multiperspektivischere, auch durch filmische Zugänge inspirierte musiktheatralische Zugänge nahe. Dennoch werden Texte wie William Shakespeares Macbeth nicht aufhören, Komponisten
von heute zu fesseln. Die politische Aktualität dieses Stoffes: ein immer
skrupellos werdender, paranoider, machthungriger Diktator und seine
blutrünstige Frau, die im Verfolgungswahn einen faschistischen Polizeistaat
aufbauen und auch vor dem Mord an ehemals engsten Freunden und
deren Familien nicht zurückschrecken, geht uns heute nach wie vor unter
die Haut. Es sei hier auch auf Salvatore Sciarrinos 2002 uraufgeführte
Oper Macbeth hingewiesen – ein leise flirrendes, delikates Meisterwerk,
125
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
das durchaus als postfreudianische, tiefenpsychologische Studie über
Machtmissbrauch und Skrupellosigkeit zu lesen ist. Ein Werk, das dennoch
ohne Verdis Vorbild nicht denkbar wäre.
Verdi war 34, als Macbeth 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Macbeth
ist zugleich des Komponisten erste Shakespeare-Oper, noch lange vor
seinen späten Meisterwerken Otello und Falstaff. Es ist sein bis dahin
avanciertestes, wildestes, klanglich wirklich Neuland beschreibendes
Werk; eine dunkle, ambitionierte, alle Register ziehende Partitur. Man
spürt in jedem Takt: hier ist ein Komponist, der aufs Ganze geht – einer,
der seine Begeisterung für und seine Erschütterung durch diesen Stoff in
mitreißende, gespenstische Musik gießen will. Die 1865 in Paris uraufgeführte redivierte Neufassung schärft durch die gewachsene Erfahrung des
Komponisten auch noch einmal die schroffen Konturen der Oper, auch
wenn Verdi an das Pariser Publikum einige Zugeständnisse gemacht hat
(machen musste?), wie der völlig revidierte Dritte Akt mit dem großen
Ballett zeigt.
Giuseppe Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Andrea
Maffei haben natürlich im Wissen, dass sie Shakespeares Werk an Qualität
nicht übertreffen werden können, viele Umstellungen und Striche vorgenommen. So werden aus fünf Akten bei Shakespeare nun vier in der Oper.
König Duncan tritt anders als in der Vorlage nur stumm auf – ein Umstand,
der eine ganz neue Dramaturgie nahelegt. Aus drei Hexen wird ein Chor
der Hexen, aus drei Mördern ein Chor von Mördern. Nebenfiguren wie
Duncans zweiter Sohn Donalbain oder die schottischen Adeligen Lenox,
Rosse oder Angus wurden gestrichen. Dafür wurden Lady Macbeth sowie
Banquo massiv aufgewertet, ebenso wie Macduff.
Diese Vereinfachung ist sicher im Sinne einer Dramatisierung für den
Geschmack des 19. Jahrhunderts zu sehen. Zu bedauern ist allerdings,
dass Verdi bei Macbeth noch kein kongenialer Librettist wie Arrigo
Boito zur Seite stand. Shakespeares Sprache wird bis auf wenige Zitate
völlig über den Haufen geworfen, es wurde bedauerlicherweise von den
126
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
Librettisten neu gedichtet. Die sprachliche Wucht Shakespeares wird
oft bis zur Banalität und Holzschnittartigkeit vereinfacht und verflacht.
Die Rolle der psychologischen Tiefenschärfe, der kleinen, bedeutsamen
Nuancierungen kommt nun eindeutig und allein der Musik zu. Dass
Verdis Oper trotz der unübersehbaren Schwäche des Librettos eine so
unglaubliche Wirkung zu erschaffen vermag, zeugt einmal mehr von der
Qualität dieser Partitur.
Natürlich hellt auch Verdi seine Partitur im Vergleich zur Vorlage da und
dort auf – der düsterste aller Shakespeare-Stoffe wird durchaus in die
Konventionen der Belcanto-Oper eingepasst. Für Verdi scheint das Prinzip
zu gelten: Düsternis wirkt überzeugender nach Helligkeit und Heiterkeit.
Wenn etwa Lady Macbeth im ersten Akt noch vor der Mordtat arios die
Hölle beschwört („Or tutti sorgete, ministri infernali...“) geschieht dies
in hellstem E-Dur. Oder wenn im 4. Akt die eigentlich bösen Hexen im
zarten, harfengeschwängerten Reigen Macbeth wieder Kraft zufächeln
wollen, ist dies nicht nur ein grober Eingriff gegenüber Shakespeares
Vorlage, sondern auch für heutige Ohren stimmungsmäßig nicht mehr
ganz nachvollziehbar. Auch das Finale des 2. Aktes, die Bankett-Szene mit
der Erscheinung des toten Banquo ist bei Shakespeare düsterer, gewaltsamer und niederschmetternder. Verdi hellt durch das gewichtige und
musikalisch großartige Brindisi – das Trinklied war damals durchaus eine
Opernkonvention – die Atmosphäre so sehr auf, dass der sich abzeichnende Wahnsinn von Macbeth, das völlige Implodieren der Party nicht mehr so
berührend-fatal wirkt wie in Shakespeares Drama. Übrigens dominiert auch
hier wieder das emphatisch auftrumpfende E-Dur. Vielleicht wollte Verdi
durch die Verwendung der „Sonnentonart“ an solch exponierten Stellen
ja doch ein ironisches Augenzwinkern setzen. Die ganze Oper ist ja mehrheitlich in düsteren b-Moll-Tonarten wie f-Moll oder b-Moll bzw. weichen
B-Durtonarten wie B-Dur, Es-Dur oder Des-Dur komponiert.
Auch die Figur des Malcolm wird von Verdi und seinen Librettisten brav zu
einem einfachen Heldentenor zusammengestutzt. Eine der spannendsten Szenen in Shakespeares Vorlage ist ja die, in der Malcolm, als er von
127
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
Macduff zum Eingreifen gegen Macbeth überredet werden will, anfangs
massive Selbstzweifel äußert und die in ihm schlummernde Grausamkeit
und Lüsternheit anspricht. Er will es nicht ausschließen, dass unter ihm
als Herrscher nicht alles noch viel schlimmer werden könnte als unter
Macbeth. Die spannende Komplexität dieser Shakespeare-Figur kommt
in der Oper leider völlig unter die Räder, was schade ist, denn Verdi hätte
zweifelsohne die Mittel gehabt, dies zu komponieren.
Dennoch ist die Vielfalt dieser Oper und die gefährliche Schönheit einiger
Szenen auch bei häufigem Wiederhören ein Faszinosum.
Schon im Preludio und in der Introduktion des ersten Aktes wird alles
bedeutungsschwanger angerissen: die dunkle, unisono geführte f-MollMelodie im 6/8-Takt, die ständig wiederkehrenden, bohrenden marschhaften Punktierungen im Blech, das Holzbläser-geprägte Hexengelächter, die
bedrohlich wiederholte abwärtsführende 32tel-Figur in den Streichern, die
in der Mordszene wieder auftauchen wird, sowie Lady Macbeths elegische
Schlafwandlermelodie. Man spürt, dass die Hexenstimmung Verdi hier
zu etwas außerordentlich Stimmungsvollem inspiriert hat, auch von der
unglaublich kolorierten, wirklich innovativen Orchestration her. Szenen
wie das Finale des 3. Aktes, als Macbeth seiner Frau von der 2. Weissagung
der Hexen erzählt und sie sich gemeinsam in einen Blutrausch hineinsteigern, bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Auch die
berühmte Schlafwandelszene der Lady Macbeth sowie der Beginn des vierten Aktes mit dem klagenden Opferchor und der Arie des Macduff, in der er
den grausamen Mord an seiner Familie betrauert, sind unglaublich berührend. (Bei Verdi wird übrigens dieser Mord im Unterschied zu Shakespeare
nicht gezeigt. Dies war eine gute Entscheidung der Librettisten.)
Verdi gelingt es zudem, die innere Kohärenz der Oper durch kleinste motivische Sprenkel, die in unterschiedlichen Szenen wiederkehren, zu erhöhen. Das Werk ist etwa von martialisch-punktierten und doppelpunktierten
Rhythmen durchzogen. Auch das hexenhaft-oktavierte Tremolo in Flöte
und Piccolo ist so ein Beispiel. Es kommt immer wieder, auch wenn die
Hexen nicht auf der Bühne stehen, Macbeth aber unter dem Einfluss ihrer
Prophezeiungen handelt – etwa vor dem Mord an Duncan im 1. Akt. Man
128
Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud
beachte z.B. auch die wiederkehrende absteigende Lamento-Sekund (ein
Todesmotiv!) im Englischhorn in der Schlafwandelszene im 3. Akt oder in
der Oboe, als man im 4. Akt erfährt, dass Lady Macbeth gestorben ist. Durch
eine Unzahl solcher Klammern gelingt es Verdi, eine enorme Sogwirkung zu
erzeugen und die psychologische Tiefenwirkung von Szenen zu erhöhen.
All diese Dinge, diese kleinen und großen Kniffs, die handwerkliche
Präzision und Klarheit, mit denen Verdi eine Oper wie Macbeth zu einem
lebendigen, kohärenten und so überaus faszinierenden Organismus zu
gestalten vermag – und dies trotz der Schwächen des Librettos – sind
natürlich für einen Komponisten von heute nicht nur höchst interessant zu
beobachten, sondern auch lehrreich und inspirierend für eigenes Schaffen.
Auch wenn sich die musikalische Sprache in den letzten knapp 170 Jahren
doch wesentlich verändert hat: gewisse Dinge wie die musikalisch-motivische Ökonomie Verdis, die mit einer unglaublichen Erfindungsgabe im
melodischen Bereich einhergeht, seine instrumentatorische Klarheit im
Zusammenspiel des Orchesters mit den Sängern und sein untrüglicher
Sinn für das Aufbauen einer werkspezifischen, dramaturgisch konzisen
Binnenspannung, faszinieren heute wie damals.
Und Fragen, ob ein Verbrecher, der völlig am Ende ist wie Macbeth im 4.
Akt („Pietà, rispetto, amore...“) in der Realität wirklich so schön artifiziell
und zu Tränen rührend singen würde, sind wirklich hinfällig angesichts der
Kraft und Qualität dieser Musik.
Johannes Maria Staud, geboren in Innsbruck, 1994-2001 Kompositionsstudium
an der Wiener Musikhochschule bei Michael Jarrell, Dieter Kaufmann, Iván
Eröd und bei Hanspeter Kyburz an der „Hanns Eisler-Hochschule für Musik“ in
Berlin. Meisterkurse u.a. bei Brian Ferneyhough und Alois Pinos. Mitbegründer
der Komponistengruppe Gegenklang in Wien. Aufführungen bei den Wiener
Festwochen, im Wiener Konzerthaus, Wiener Musikverein, bei den Salzburger
Festspielen, den Bregenzer Festspielen sowie in zahlreichen in- und außereuropäischen Staaten. Aufführende Orchester u.a. Wiener Philharmoniker, Berliner
Philharmoniker, BBC Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra sowie alle namhaften Ensembles Neuer Musik.
129
Eugène Grasset, Trois femmes et trois loups, 1892
130
Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
PEEPSHOW MIT LADY MACBETH
Wo ist mein Anteil, Herr, am Licht?
Ich will doch auch nach Hause kommen!
Mein Blindenstock ist weggeschwommen
unzeitig sank das Mondgesicht
Bergrücken wachsen mächtig.
Längst bin ich übernächtig
und überreif vor Müdigkeit
sooft der Atem in mir schreit
könnt ich den Tod gebären.
Lass das nicht ewig währen!
Verschaffe mir mein Heimweglicht
auch wenn es grell den Traumstar sticht
und mein Gedächtnis peinigt.
Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus
zeig mir das Obdach einer Maus
bevor der Tag mich steinigt.
(Christine Lavant)
Solange ich am Wort bin, lasst mich dichten. Bogdan Mornar war ein
Freund, wie man im Leben nur einen trifft. Wenige Wochen bevor er
seine lange Reise antrat, es sollte unsere letzte Begegnung sein, zog er
eine Kunstpostkarte aus seiner Manteltasche und gab sie mir. Auf der
Adressseite standen in seiner kleinen, steilen Handschrift, die die eines
Knaben geblieben war, die letzten drei Zeilen eines Gedichts von Christine
Lavant: Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus / zeig mir das Obdach
einer Maus / bevor der Tag mich steinigt. Das Motiv auf der Bildseite hielt
mich nicht an. Zwischen Bäumen mit ornamental gemusterten Stämmen
waren drei Frauen zu sehen, die in geringer Höhe über drei am Waldboden
sitzenden schwarzen Wölfen schwebten, totenblass, mager und in transparente, weiße Tücher gehüllt, die Beine angewinkelt, die überkreuzten
Hände eng an die Brust gedrückt. Die Dunkelhaarige im Vordergrund des
Bilds – das Gesicht dem Betrachter zugewandt, die Augen weit aufgerissen,
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Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
den Blick scheinbar ins Leere gerichtet. Die anderen beiden, eine blond,
die andere schlohweiß, sah man nur von der Seite und doch war auch
ihren Gesichtern ein Unbehagen anzusehen. War es Furcht? Oder Zorn? Ich
nahm Mornars Karte, steckte sie in meine Jackentasche, warf ihm hin, dass
er mir schreiben solle, und dass mir Briefe lieber wären als Ansichtskarten
(und er daraufhin, scherzhaft: Wer alles will, steht am Ende mit nichts da).
Als ich die Karte ein paar Tage später aus der Tasche hervorholen wollte,
war sie verschwunden und blieb es bis zum heutigen Tag. Wie Mornar.
Während der Arbeit an den ersten Notizen zu diesem Text stieß ich zum
zweiten Mal auf die Abbildung der drei fliegenden Frauen – inmitten eines
Bündels von Kopien, das neben anderen Beiträgen zu Verdi, Shakespeare
und Macbeth einen Ausschnitt aus August Wilhelm Schlegels Vorlesungen
über dramatische Kunst und Literatur enthielt. Da war das Bild wieder,
Drei Frauen mit drei Wölfen von Eugène Grasset, ein Anspielen auf die
Künderinnen, auf deren doppelzüngige Wahrsagungen – Wie trügerisch
das Weiberherz! Verdammt, wer denen glaubt! – der Held hereinfällt,
ja hereinfallen muss. Ich entdeckte das Bild auf Seite 88, wieder im
Postkartenformat, diesmal eine Schwarzweißablichtung von schlechter
Qualität; und doch: welch wunderbares Fundstück, schicksalhaft! Mit
einem Mal schien jedes Detail erheblich und keine Frage überflüssig: Was
führen die drei Frauen im Schilde? Was ist der Grund ihres Entsetzens?
Was hat es mit den Wölfen auf sich – und mit dem Jagdhorn, das da liegt,
zwischen Gräsern und Farnen? Und mit einem Mal bereute ich mein Briefe
sind mir lieber als Ansichtskarten, denn was gäbe ich jetzt für die eine!
Und wie hatte Mornar recht: Wer alles will, steht am Ende mit nichts da.
Solang ich bei Verstand bin, lasst mich sagen: Im Anfang war kein Wort. Wir hörten nicht auf Namen, hatten nicht Eltern noch Geschwister, tranken an fremden
Brüsten, träumten wach. Das erste Wort hieß Schuld. Es machte uns heucheln,
wissend, dass man uns für Narren hielte, würden wir bleiben, wer wir waren:
Erdgebundene längst, doch immer noch die Arme zum Flug gebreitet.
Alles scheint gesagt und aller guten Dinge drei. Doch wiegt sich wer
132
Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
in Sicherheit, und weiß er’s, weil er’s glaubt? Was gebt Ihr auf die
Schicksalsschwestern und jene vierte, Macbeths wesenhafte Femme fatale,
die denkbar Schuldigste am Königsmord? Die: mit allen Hunden gehetzt,
mit allen Wassern gewaschen, auf ewig befleckt. Ihr Eifern und Blecken,
wie sie ihn bei der Mannesehre packt, Schwächling!, Memme!, als er zögert
und schwankt – nicht minder grausam als das Blutvergießen, denn blass die
Orgien handgreiflichen Frevels neben den inneren Kämpfen eines Finsteren
im Bühnenlicht, neben der Selbstentblößung einer Hemmungslosen. Alles,
alles scheint gesagt. Doch wer fragt nach den Briefen, in Umnachtung
geschrieben, in den schwachen Stunden zwischen Schlaf und Wahn, kurz
vor ihrem Tod? Sind die nicht spannender als Ansichtskarten?
Manntje, Manntje, Timpe Te. Sie kriegt den Hals nicht voll, sagt Ihr. Wie
eng ist’s ihr in seinem dünnen Schatten! War da ein Schuldgefühl, ein
Anflug von Gewissen? Mein Herz, so weiß, ein Herz aus Styropor. Und
immer schwimmt es obenauf, dies Herz. War da ein weiteres Begehren?
Manntje, Manntje, Timpe Te, wen schert’s?
Mitwisser, Augenzeugen, die Ihr an Hexen glaubt und unbefleckte Mütter,
nehmt Euch in Acht vor Eurem blinden Fleck! Traut den Scheinwerfern
nicht, die Eure Blicke lenken! Den Königsmörder wollt Ihr als Opfer dunkler
Mächte, die Anstifterin aber nicht als Dulderin, sondern als Verkörperung des
Bösen, als ließe es sich an ihr dingfest machen, als würdet Ihr dem Guten so
gerecht. Solang ich noch am Wort bin, lasst mich fragen: Was Bühnenkunst
gegen den Blick durch ein Loch? Münze in den Schlitz und peep. Nicht zu fassen ist das Böse, nicht in Fleisch und Blut. Wenn ihr es greift, zerfällt es, vermehrt sich selbstbefruchtend, bildet Kapseln, deren Häutchen platzen und
neue Keime streuen, Unheilsmetastasen. Und doppeldeutig alle Prophetie.
Die Frau ist nicht der Teufel, ist selbst gelenkt von jener Kraft, die alles will
und nur das Böse schafft. Seht selbst: Wie sie sich begeistert, sich gefangen
nimmt: Kommt, Geister, die ihr lauscht auf Mordgedanken!
Schwächling!, Zärtling!, Weichei!
Nur hinter seinem Rücken trägt sie Trauer, trägt schwer daran seit jener
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Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
einen Nacht, in der er grußlos ging. Seht selbst: Wie sie sich in sein noch
warmes Leintuch hüllt, die Arme fest um die Beine geschlungen, übernächtig, leichenblass in diesem weißen Tuch, die überkreuzten Hände an die
Brust gedrückt, das Gesicht dem Betrachter zugewandt, die Augen aufgerissen, der Blick ins Leere – wie die eine auf Bogdan Mornars Kunstpostkarte.
Groschen rein, Licht an! Wie sie Macbeths Briefe an sich drückt, jetzt, da er
fort ist, seht! Steht da, in seiner kleinen, steilen Handschrift, die die eines
Knaben geblieben ist, ihr Name? Alles, alles scheint gesagt, doch keiner da,
der ihren Namen weiß?
Kommt, Zeugen ihrer Seelennot, seht, wie sie den Verstand verliert, und
richtet sie zum Tod! Zur Einsamkeit vor Publikum! Euch, die im Dunkel,
sieht sie nicht. Kommt, Schöffen, die Ihr reinen Herzens seid, besiegelt
ihre Bosheit, dünkt Euch gut! Sei Böses mit Bösem vergolten? Peep! Seht,
wie ihr nun recht geschieht! Sie träumt mit offenen Augen, ruft den, der
ohne Stachel war, sein Wollen anzuspornen, und erst durch sie zum Mann
geworden ist: Zu Bett, zu Bett, mein lieber Herzensguter! Dann verlässt sie
die Schlafstatt, irrt umher, schließt ihren Schreibtisch auf und schreibt. In
diesen Nächten, Liebster, bin ich mir nur zu Besuch. Licht an, wo so viel
Schatten! Was alle Macht, was Reichtum ohne Dich?
Wollt Ihr weinen? Weint! Doch wisset: Ihr weint um Euch selbst!
Sie zieht die Lippen zwischen die Zähne, Nur mit den Narren ist gut
Kirschen essen, befühlt ihre Finger, riecht daran, streicht sich über den
Mund. Die Toten essen mit, mein lieber Herr. Und wie sie sich die Hände
reibt, in Reimen spricht – Schneider, Schneider, Mac, Mac, Mac! Wo sind
die süßen ungebor’nen Söhne, die wunden Pünktchen unsrer Leiblichkeit?
Und wie sie sich jetzt in die leere Wiege neben ihrem Bett zwängt, sich da
zusammenkauert, sich nach dem Unterleib greift! Was gäb’ ich auf ein
Schicksal, das mir hold!
Seht, Ihr Zu- und Aufseher: Sie legt den Kopf ins Genick und starrt zum
Fenster hinaus, als wollte sie zum Mond heulen. Wo ist mein Anteil, Herr,
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Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar
am Licht? und Licht mit Schatten aufzuwiegen – wem gelingt’s? Dann
öffnet sie die Lade ihres Spinds und nimmt daraus die Krone aus Stanniol:
O Wollust des Throns, o Zepter, endlich bist du mein! Ihr wollt sie nackt?
Peep, peep, schaut, schaut! Die Kleider reißt sie sich vom Leib, stürzt,
kriecht auf allen Vieren, erkennt sich nicht im Spiegel, bricht ins Lachen –
die Krone rutscht ihr ins Gesicht.
Was ist die Herrschaft ohne dich, Mac, Mac?
Ein Schattenspiel im Dunkel ist’s, sonst nichts!
Sie wirft den Spiegel zu Boden.
Sieh doch, die Blumen, Herr, in Scherben!
Doch keiner wirft den ersten Stein nach mir.
Sie werfen mir nur Münzen in den Hut! Licht, Licht! Ich kann Euch nicht
sehen! Ihr, die Ihr lauscht auf Reueworte, wollt endlich Ihr den Mord von
eigener Hand?
Lichtblind und taumelnd blickt sie jetzt ins Publikum.
Wo sind die Henkersknechte, wo die Schergen?
Muss ich mich selber richten, hält mich nichts?
Hat sie uns doch bemerkt?
Seht zu, dass Ihr fortkommt, schnell!
Anna Baar: Schriftstellerin und Autorin. Geboren 1973 in Zagreb, Kindheit und
Jugend in Wien, Kärnten und Dalmatien. Studium der Publizistik, Slawistik und
Theaterwissenschaft in Wien und Klagenfurt. Schrieb zunächst für Zeitschriften
und Agenturen, später für Auftraggeber aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst.
Anna Baars Roman „Die Farbe des Granatapfels“ ist 2015 im Wallstein Verlag
erschienen.
135
Alain Altinoglu
136
Interview
VERDI HAT DAS THEATER GELIEBT
Premierendirigent Alain Altinoglu im Gespräch mit Andreas Láng
Worin liegt das Neuartige, das oft beschworene Stil-Experiment, in Verdis
Macbeth im Vergleich zu seinen früheren Opern?
Alain Altinoglu: Um die Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einmal
die beiden Versionen dieser Oper unterscheiden, die frühere aus dem Jahr
1847 und die spätere – die wir hier an der Wiener Staatsoper zeigen – von
1865. Diese beiden Fassungen liegen fast 20 Jahre auseinander und dokumentieren jeweils den kompositorischen Reifegrad von Giuseppe Verdi: Der
1847er-Macbeth entstand noch vor der berühmten Trias Traviata-RigolettoTrovatore, der 1865er-Macbeth deutlich danach beziehungsweise knapp vor
Don Carlos. Die Unterschiede liegen klar auf der Hand: Die frühere Fassung
weist eine ähnliche Orchestrierung auf wie jene der Bellini- und DonizettiOpern und zeigt eine Reihe von handwerklichen Konventionen. Wenn beispielsweise etwas handlungsmäßig geschwind abläuft, erhält diese Passage
auch eine schnelle Musik und umgekehrt – das sind noch sehr traditionelle
Muster. Ganz anders in der zweiten Fassung: Die Holzbläser werden da passagenweise kontrapunktisch geführt, es erklingen neuartige Instrumentenverbindungen wie etwa eine Trompete zusammen mit Streicherpizzicati, das
Metrum, die Agogik ist insgesamt flexibler und die gesamte musikalische
Dramaturgie ist weniger schematisch.
Für die aktuelle Produktion wurde also die zweite Version gewählt, weil
sie unterm Strich besser ist?
Alain Altinoglu: Ich finde, dass erste oder frühere Fassungen zwar vom
musikhistorischen Standpunkt aus gesehen durchaus interessant sein
können, aber nicht zwingend aufgeführt werden müssen. Wenn jemand
mit 25 oder 30 etwas komponiert und dann 20 Jahre später merkt, dass
einiges verbesserungswürdig ist, und er manches korrigiert, so geschieht
dies im Allgemeinen zurecht. Warum sollte man dann auf die frühere
Version, mit zum Teil handwerklichen Schwächen und Fehlern zu­
rückgreifen?
137
Interview
Weist die Partitur der zweiten Fassung nicht gewisse Brüche auf – wenn
also Teile der ersten Version auf Teile der zweiten stoßen?
Alain Altinoglu: Ja, diese Brüche gibt es, aber niemals innerhalb einer Nummer.
Wenn Verdi also beispielsweise in einer Arie oder einem Duett etwas verändert
hat, dann immer behutsam und dem früheren Stil angepasst. Wenn er allerdings gleich eine ganze Nummer erneuert oder eingefügt hat, dann kommt es
schon vor, dass zwei Stile aufeinandertreffen.
Warum wurde das große Ballett in dieser Produktion gestrichen?
Alain Altinoglu: Zum einen war es der Wunsch unseres Regisseurs Christian
Räth. Zum anderen besteht auch musik-dramaturgisch keine Notwendigkeit
es innerhalb der Oper aufzuführen. Verdi hat das Ballett nur geschrieben, weil
es die Pariser Theatervorschrift von ihm verlangte und das dortige Publikum
Balletteinlagen liebte.
Wo liegen die Herausforderungen für den Macbeth-Dirigenten?
Alain Altinoglu: Zum einen sind es die, mit anderen Verdi-Opern verglichen,
schweren Chorstellen. Zum anderen muss der Dirigent Acht geben, dass die
noch verbliebenen konventionellen Teile nicht auffallen und den Gesamteindruck verderben.
Könnten Sie ein Beispiel so eines konventionellen Teiles nennen?
Alain Altinoglu: Der Auftritt des Dieners in der Cavatina der Lady bzw. vor
dem Duett Macbeth-Lady Macbeth im ersten Akt. Die diesen Auftritt begleitende Musik ist spritzig und fröhlich und passt nicht zur Dramatik der Situation.
Wenn man nur diese Musik hört, ohne zu wissen, was passiert, könnte man
keinen Rückschluss auf den Inhalt zielen.
Was kann der Dirigent in diesem Fall machen?
Alain Altinoglu: Ich spiele die Stelle schnell und ganz leise, geradezu
­misterioso.
Vom instrumentalen Marsch im ersten Akt, der die Ankunft König Duncans
ankündigt, wird gelegentlich behauptet, dass sie schlechte Musik sei …
138
Interview
Alain Altinoglu: Wirklich? Das finde ich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil.
Diese prosaische Es-Dur Musik ist sogar sehr gut, weil sie auf perfekte Weise
die protokollarisch-nüchterne Atmosphäre wiedergibt, die zu diesem Zeitpunkt
gerade stattfindet: Der König kommt an. Es ist ein schöner Kontrast zu dem
Davor und Danach.
Verdi spricht immer wieder von der Tinta, also quasi der Grundfarbe
einer Szene, eines Stückes. Wie sieht diese Tinta der Oper Macbeth aus?
Alain Altinoglu: Ganz einfach: dunkel.
Bekanntlich hat Verdi sinngemäß angemerkt, dass die Sängerin der Lady
Macbeth keine schöne Stimme haben muss oder soll. Was macht man als
Dirigent mit so einer Aussage?
Alain Altinoglu: Verdi hat Ähnliches oft gesagt – zum Beispiel im Zusammenhang mit der Interpretin der Quickly in Falstaff. Ihm ging es bei den Aufführungen seiner Stücke nämlich sehr stark um den theatralen Ausdruck, um das
Schauspielerische. Es gibt ja auch heute genügend Sänger, die trotz einer nicht
sehr schönen Stimme zu großen Publikumslieblingen im ersten Fach avanciert
sind, weil sie ein tolles Charisma haben. Und genau diese dramatische Ausstrahlung verlangte Verdi von den Darstellern, insbesondere in Macbeth. Mit
Marianna Barbieri-Nini, der Uraufführungs-Lady Macbeth, arbeitete Verdi ganze
drei Monate lang an der Sonnambulismo-Szene – so lange bis sie imstande war
die ganze Passage ohne Mund- und Augenbewegungen zu singen.
Kann man in diesem Zusammenhang von einem Proto-Verismo oder
einem Proto-Expressionismus sprechen?
Alain Altinoglu: Nein, Verdi ging es einfach um wahres, lebendiges Theater,
für ihn war bloßer Schöngesang sinnlos. Wenn man die Macbeth-Partitur ansieht, merkt man, dass Verdi nahezu in jedem Takt ganz genau vorschreibt, in
welcher Art und Weise interpretiert werden muss, und je älter er wurde, desto
präziser notierte er seine Wünsche, auch in Bezug auf die Dynamik.
Haben sich Interpreten heute noch ganz exakt an diese präzisen
Anweisungen zu halten, zum Beispiel im dynamischen Bereich, oder hat
139
Interview
man diesbezügliche doch einige Freiheiten?
Alain Altinoglu: Man muss hier relativieren – sowohl was die dynamischen
Anweisungen betrifft als auch was die Tempovorgaben anbelangt. Alles um uns
herum hat sich verändert, alles ist schneller, hektischer und zum Teil lauter
geworden und somit auch unser Feeling hinsichtlich eines langsamen oder
schnellen Tempos. Und wenn Verdi für die Sänger in einem a cappella-Abschnitt
ein vierfaches Piano vorschreibt, aber die Kühlgebläse der Scheinwerfer auf
der Bühne gleichzeitig im Mezzoforte summen, dann ist diese Anweisung in
heutigen Opernhäusern nicht mehr eins zu eins durchführbar. Das, was also
stimmen sollte, sind die Proportionen, denn dann agieren wir dem Sinne nach
werktreu, wenn auch nicht buchstabentreu.
Bei Shakespeare trifft Macbeth drei Hexen, hier bei Verdi gleich einen
­ganzen Chor an Hexen. Warum geschah diese Vervielfältigung?
Alain Altinoglu: Wird ein Stück zu einem Werk des Musiktheaters verarbeitet, passiert das in den seltensten Fällen ohne Veränderungen. Auch Prosper
Mérimées Novelle Carmen ist beispielsweise um einiges brutaler als die
Oper von Georges Bizet. Im aktuellen Fall glaube ich, dass Verdi die Anzahl
der Hexen aus einem dramaturgischen Grund so drastisch vergrößert hat:
Wenn Macbeth einer größeren Schar gegenübersteht, fokussiert der Zuseher
stärker auf ihn, als wenn er nur drei Hexen vor sich hat, das ist geradezu
filmisch gemacht.
Gibt es in Macbeth typische Tonarten, Tonartenfolgen oder Motive?
Alain Altinoglu: Die Partitur ist reich an unterschiedlichen Tonarten. Das,
wenn Sie wollen, Typische ist, dass Verdi viele Nummern einer bogenförmigen
Dreiteilung unterwirft und hier wiederum Teil eins und Teil drei meist dieselbe
Tonart aufweist, wohingegen er im Mittelteil sehr oft in eine Molltonart ausweicht. Was die Motive betrifft? Nun, einerseits kommen bestimmte, in der
Musikliteratur oft verwendete rhythmische Pattern oder symbolhafte Tonfolgen
vor, wie etwa der Halbtonschritt, der auf Tod und Blut hinweist. Andererseits
verwendet Verdi in Macbeth immer wieder bestimmte Motive, die er auch
gerne kontrastierend gegenüberstellt, zum Beispiel in der Ouvertüre das
­Hexenmotiv und das Sonnambulismo-Motiv.
140
Interview
Gelegentlich wird angemerkt, dass erst die Beschäftigung mit Shakespeare
im Zuge der Komposition von Macbeth die Stiländerung bei Verdi ausgelöst hat.
Alain Altinoglu: Das würde ich so nicht ohne weiteres unterstreichen. Wahrscheinlich war einfach die Zeit reif für die stilistische Weiterentwicklung und
da ist zum richtigen Zeitpunkt Shakespeare als Auslöser aufgetaucht. Es ist
müßig, darüber nachzudenken, aber vermutlich hätte Verdi diesen Entwicklungssprung früher oder später auch ohne die Beschäftigung mit Shakespeare
vollzogen.
Woran mag es liegen, dass Macbeth nicht ganz so beliebt ist wie Rigoletto
oder Traviata?
Alain Altinoglu: Vielleicht weisen Rigoletto und Traviata mehr Melodien auf,
die leicht nachzusingen sind, vielleicht schreckt manche auch die dunkle Atmosphäre des Macbeth etwas ab. Darüber hinaus ist die Beliebtheit von Werken überall auf der Welt Modeströmungen unterworfen – manches, was früher
häufig gespielt wurde, ist heute nahezu vergessen und umgekehrt. Ich finde
aber gar nicht, dass Macbeth in puncto Popularität so schlecht davonkommt,
Falstaff beispielsweise hat da einen viel schwereren Stand.
Gibt es Elemente, die sich wie ein roter Faden durch alle Verdi-Opern
ziehen?
Alain Altinoglu: Mit Ausnahme von Falstaff, wo die Chromatik Eingang gefunden hat, bleibt Verdi im Großen und Ganzen seinen Harmonien treu. Bei
Wagner sind die Unterschiede von Oper zu Oper klarer: Die ganz spezielle
Harmonik im Tristan, die Kontrapunktik in den Meistersingern, im Holländer haben wir wieder eine ganz andere musikalische Welt. Auch Puccini ist
in seiner Harmonik nach und nach kühner geworden. Das ist das eine. Das
zweite, was sich tatsächlich in allen Verdi-Opern zeigt, ist seine Liebe zum
Theater an sich.
141
Christian Räth
142
Interview
DIE ZENTRALE FRAGE NACH DEM BÖSEN
Regisseur Christian Räth im Gespräch mit Oliver Láng
Giuseppe Verdi hat in einem Brief davon gesprochen, dass es in dieser
Oper drei Hauptrollen gibt: Macbeth, Lady Macbeth und die Hexen.
Christian Räth: Ich habe während der Vorbereitung für die Inszenierung
viel über diesen Aspekt nachgedacht. Für mich haben die Hexen tatsächlich
eine zentrale Position, wobei diese sich weniger in einem eigenständigen
Leben ausdrückt. Die Bedeutung der Hexen lässt sich für mich nur in
Relation zu Macbeth und Lady Macbeth verstehen. Sie sind so etwas wie
die Dämonen, die Verführungen, der Ehrgeiz in den Köpfen der Macbeths,
die Personifizierung der bewussten oder unbewussten Gedanken und
Triebe, die in den Köpfen der Protagonisten wirksam werden; oder auch die
inneren Kräfte, die sie zu ihren Handlungen treiben.
Hexen sind auf einer Bühne besonders schwer darzustellen. Wenn man
das Ganze nicht in einer Fantasy-Umgebung oder einer historischen Welt
spielen lässt, wirken sie oft deplatziert. Wie lösen Sie das?
Christian Räth: Auch darüber habe ich mit dem Bühnenbildner Gary
McCann lange diskutiert und wir haben viele Ansätze angedacht – und
wieder verworfen. Letztlich sind wir zu der Überlegung gekommen, dass
die Hexen die Verbindung von Macbeth und Lady Macbeth darstellen
und die Grundzüge der beiden Protagonisten vereinen und reflektieren
sollten. Sie verbinden die „männliche“, militärische Welt von Macbeth
und die „weibliche“ Gefühlswelt von Lady Macbeth und lassen daraus ein
optisches Amalgam entstehen. Wobei die Kategorien des „Männlichen“ und
des „Weiblichen“ in Hinblick auf Macbeth und Lady Macbeth ja ohnehin
oft ins Gegenteil verkehrt zu sein scheinen. Was für uns auch sehr wichtig
war, ist, dass diese Hexen, obwohl sie nur von Macbeth und von Banquo
gesehen werden, dennoch eine sehr starke Verbindung zu Lady Macbeth
haben, ja mehr noch: in gewisser Weise eine Vervielfältigung der Figur der
Lady Macbeth sind, so dass sich eine optische und spirituelle Verbindung
zwischen den Figuren ergibt.
143
Interview
Oft wird darauf hingewiesen, dass Macbeth (anfangs) schwach scheint
und Lady Macbeth die (zunächst) treibende Kraft ist. Wie gestalten Sie das
Verhältnis zwischen den beiden?
Christian Räth: Auf einer ersten, leicht einsehbaren Ebene ist das Verhältnis
klar gezeigt: Er ist ein erfolgreicher Feldherr und sie die Ehefrau, die – wie
das in manchen Beziehungen ist – mehr will als der Ehemann selbst oder
es zumindest offener ausspricht. Schaut man aber genauer hin, untersucht
man die psychologischen Konstruktionen der Figuren von Shakespeare
und Verdi, dann merkt man bald, dass diese beiden Figuren eigentlich
untrennbar sind. Der eine hat das, was dem anderen fehlt. Lady Macbeth
hat diese unglaubliche Ambition, die Willenskraft, hat aber möglicherweise
nicht die körperlichen Mittel ihre Wünsche durchzusetzen noch hat sie im
Machtgefüge der sie umgebenden Gesellschaft die entsprechende Position.
Und Macbeth hat zwar auch den Ehrgeiz, ist gleichzeitig zögerlicher,
schreckt davor zurück, die Pläne zu verwirklichen. Aber während es am
Anfang so scheint, dass Lady Macbeth die Kalte und Berechnende ist, wird
sie gegen Ende das Opfer ihrer eigenen Untaten, die sie im Unterbewussten
verfolgen und gewissermaßen von innen her zerstören.
Wenn man die schottische Geschichte des 11./12. Jahrhunderts überblickt,
wird erkennbar, dass praktisch kein König nicht ermordet wurde. Sind
Macbeth und Lady Macbeth in diesem historischen Kontext wirklich so
außergewöhnlich böse oder waren es die Umstände, die sie dazu gebracht
haben?
Christian Räth: Ich glaube, dass man zwischen den historischen Figuren
und den Theater-Figuren unterscheiden muss. Drama und Oper sind viel
mehr als eine historische Erzählung, und was mich an diesen Stücken
besonders interessiert, ist die innere Dimension der Figuren, sind die
psychologischen Aspekte. Die Oper erzählt vielleicht eine Geschichte, die
früher wie heute alltäglich war/ist, dies aber in einer erhöhenden Weise,
sodass Macbeth fast zu einem mythologischen Stoff wird. Darin liegt auch
der moderne Gehalt dieser Oper, dass sich nämlich – so traurig es ist –
Geschichte immer wiederholt und von Zyklus zu Zyklus neue Macbeths
nachkommen.
144
Interview
In der Oper gibt es kein positives Liebespaar, überhaupt sehr wenig Helles.
Existiert irgendetwas Positives, das man dem Publikum mitgeben kann?
Christian Räth: Natürlich ist das Negative überwiegend. Ihre Frage
beleuchtet im Hinblick auf das Ende der Oper die Frage nach der Utopie,
dass das Verbrechen ausgetilgt wurde und nun das neue System besser wird.
Gehen wir also in eine bessere Welt? und vor allem: Wird sie so bleiben?
Wenn ich mich umschaue und jeden Tag Zeitung lese, muss der Befund
eher lauten, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat und dass die Dinge,
trotz aller Anstrengungen, nicht besser laufen, sondern womöglich und
erschreckenderweise sogar schlechter. Insofern stellt das Stück für mich
einen Zyklus dar: Lady Macbeth und Macbeth steigen zur Macht empor,
haben das Blut des vorherigen Königs an ihren Händen, arbeiten sich bis
zur Spitze hinauf – und sobald sie oben sind, beginnt ihr Fall. Genau jene,
die von ihnen misshandelt und verfolgt wurden, lehnen sich auf, Macbeth
wird gestürzt (bei uns nicht nur von Macduff, sondern von einer von ihm
angeführten Gruppe von Flüchtlingen). Das Ende ist, dass sich ein neues
System etabliert und dass Malcolm, der Sohn des ehemaligen Königs, der
neue Machthaber wird, dazu Macduff die Nummer zwei. Für mich sieht es
so aus, als ob dies der Beginn eines neuen Zyklus ist, es werden eigentlich
nur die Namen ausgetauscht, das Regime bleibt gleich. Es endet mit einem
Fragezeichen: Jeder soll für sich selbst beantworten, ob’s wohl besser wird
oder nicht.
Verdi und Shakespeare haben die Fakten dargestellt und persönlich nicht
gewertet. Wie machen Sie das in der Inszenierung? Stellen Sie Macbeth und
Lady Macbeth besonders böse dar oder sind es einfach nur Personen, die
etwas Böses tun?
Christian Räth: Die Frage nach dem Bösen ist ja eine der zentralen Fragen,
nicht nur in diesem Stück, sondern überhaupt im Leben, in unserer
Gesellschaft, quer durch die Geschichte. Für mich ist das immer eine Sache,
die schwer zu verorten ist: Ist das Böse etwas, was von außen auf uns einwirkt,
oder etwas, das in uns drinnen ist? Ich persönlich glaube, dass es eher etwas
ist, was in uns ist und sich bahnbricht, je nachdem, wie die Verhältnisse
sind. Das heißt, wenn man das Glück hat, in einer geschichtlichen Situation,
145
Interview
in einer Gesellschaft zu leben, die friedlich ist, dann wird das Böse vielleicht
in Bann gehalten. Wenn man allerdings die Möglichkeit sieht, durch etwas
Böses mehr zu erreichen, weiterzukommen, sich zu profilieren, dann ist das
eine Verlockung, die viele für nachgebungswürdig halten. Und einer solchen
Verlockung zu folgen, ist, fürchte ich, für mehr Menschen im Rahmen des
Möglichen, als man vielleicht meint. Mehr noch: Ich glaube (auch wenn man
das nicht verallgemeinern kann), dass ein Sensorium für die Verlockungen
und ein entsprechender Ehrgeiz grundsätzlich in jedem vorhanden ist, ein
Grundpotenzial, so wie auch das Gute in jedem Menschen angelegt ist.
Von daher würde ich sagen, geht es nicht um eine moralische Wertung,
sondern um so etwas wie ein „Naturgesetz“, gehört also zum Menschsein
dazu. Folglich kann es für mich nicht bedeutsam sein zu sagen: Macbeth
und Lady Macbeth sind wirklich die bösesten Leute, die man sich vorstellen
kann, denn viele andere, die wir heutzutage für gut halten, zeigen uns eine
gute Fassade hinter der womöglich etwas lauert, was alles andere als gut ist.
Einer der großartigen Ansätze bei Shakespeare und Verdi ist, dass wir es mit
zwei negativen Helden zu tun haben, die aber eine Faszination ausüben,
weil wir in das Innere der Figuren schauen können und diese nach außen
hin bösen Charaktere wirklich unsere Identifikationsfiguren werden; dieser
Mechanismus, den die Musik und das ganze Stück ausmachen, dreht unsere
ganzen Wertvollstellungen kopfüber. Das ist es auch, was die Hexen in dem
Shakespeare-Drama sagen, „fair is foul and foul is fair“. Das Böse ist das
Gute und das Gute ist das Böse, es kommt immer drauf an, was man im
Sinn hat. Von daher ist diese psychologische Innenschau der Figuren das
Interessanteste an Macbeth.
Bei Ihnen spielt die Oper in einem zeitgenössischen Bühnenraum. Haben
Sie versucht, das Stück zu aktualisieren, oder geht es Ihnen um die
Zeitlosigkeit des Themas?
Christian Räth: Wir haben uns bemüht, das Stück in dem Sinne zu
aktualisieren, dass wir es an unsere Welt, an unsere Gegenwart heranholen,
ohne konkret zu sagen, in welchem Land, zu welcher Zeit es genau spielt. Für
uns ist wichtig, einen modernen Zugang zu finden und das Geschehen nicht
nur zu bebildern, sondern es psychologisch zu untersuchen. Historische
146
Interview
oder historisierende Kostüme und ein entsprechendes Dekor erzeugen
oftmals eine Distanz zum Heute, die in der Musik nicht vorhanden ist. Denn
in Macbeth agieren moderne Figuren, erstaunlich moderne Figuren, die
man ohne Weiteres in unserer Zeit, in unserem Kontext zeigen kann, ohne
dass man sie mit Gewalt verbiegen müsste. Auch soll das Bühnenbild kein
lebloser Raum sein, sondern in einer gewissen Weise auch ein Mitspieler,
ein eigenständiger Charakter, der die Geschicke der Personen, die sich
in ihm bewegen, gewissermaßen beeinflusst. Es ist wie ein Labyrinth, das
immer komplexer wird, das sein eigenes Leben führt und in dem sich
die Figuren am Schluss verlieren und von ihm beinahe zerstört werden.
Es geht also nicht um eine moderne Dekoration, sondern um Räume, die
zwischen Illusion und Realität wechseln, eine Eigendynamik entwickeln
und gleichzeitig auch eine Spiegelung der Innenwelten der Figuren bieten.
Gibt es etwas, das Sie als Regisseur dem Publikum mitgeben wollen? Die
Aussage, dass in den meisten von uns ein bisschen etwas von Macbeth
steckt oder stecken könnte?
Christian Räth: Ich glaube, was für mich am Bedeutendsten ist, ist die
erwähnte Innenschau in die Figuren und auch, dass man das ganze
Geschehen durch die Augen dieser Hauptfiguren sieht und wir das Stück
nicht von außen anschauen. Für mich ist es zu einfach zu sagen: Da
sind Macbeth und Lady Macbeth, das sind die Bösen und die machen all
dieses Böse und die kreieren eine Welt, in der keiner mehr atmen und
leben kann. Viel spannender finde ich die Frage, wie alles in ihren Köpfen
aussieht und wie sie die Welt sehen. Und faszinierend im Macbeth von
Shakespeare und noch mehr bei Verdi ist die Verzahnung von Realität und
Fantastischem. Wenn man die Oper hört, gibt es fast keine Szene, in der
es nur die Realität gibt. Das beginnt in der ersten Szene, in der Macbeth
die Hexen trifft, und intensiviert sich im Laufe des Stücks: Immer mehr
schwankt es zwischen Realität und Vision. Im Grunde sind wir nie in
einer klar definierten, realistischen Welt, sondern springen immer in die
Innenwelt von Macbeth.
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Impressum
Wiener Staatsoper – Spielzeit 2015/2016 – Direktion Dominique Meyer,
Giuseppe Verdi, Macbeth
Premiere am 4. Oktober 2015
Konzept und Gesamtredaktion des Programmheftes:
Andreas Láng, Oliver Láng
Graphische Konzeption und Gestaltung:
Irene Neubert
Lektorat:
Inga Herrmann
Vera Blum
Textnachweise:
Alle Artikel, mit Ausnahme jener von Verdi, Barbieri-Nini und Freud sind Originalbeiträge für dieses
Programmheft. Die Texte Getötet … getötet und Erfüllung des Gesagten entstammen dem MacbethProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2009. Der Texte Ans Herz gewachsen und die Zeitleiste
entstammen ebendiesem Programmheft und wurden erweitert.
Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie.
Bildnachweise:
Michael Pöhn (Cover, S.4, 8, 45, 50, 51, 58, 67, 106,110, 111, 117, 124) , Privatarchiv Erich Wirl
(S. 76-98), Axel Zeininger (S. 99-101), Österreichisches Theatermuseum (S. 112), Les Arts Décoratifs
(S. 130), alle übrigen Archiv der Wiener Staatsoper bzw. unbezeichnet.
Urheber/innen bzw. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren,
werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Medieninhaber – Herausgeber:
Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien
Hersteller:
Druckerei Walla GmbH
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Oper bewegt.
Wir bewegen Oper.
Als Generalsponsor.
Als integriertes, internationales Öl- und Gasunternehmen
ist die OMV weltweit aktiv. Kultur ist uns ein Anliegen. Deshalb
unterstützen wir die Wiener Staatsoper als Generalsponsor und
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