Hautfressende Blindwühlen - Naturwissenschaftliche Rundschau

Rundschau
ZOOLOGIE
Hautfressende
Blindwühlen
„Maternale Dermatophagie“ heißt eine
ungewöhnliche Form der Brutpflege, bei
der die Jungtiere die Haut des Muttertieres fressen. Sie wurde erst kürzlich
bei der Taita-Erdwühle Boulengerula taitanus in Kenia entdeckt. Deren Jungtiere
fressen mit einem spezialisierten Gebiss
die nährstoffreiche Haut der Mutter. Nun
wurde Vergleichbares bei einer zweiten
Blindwühlenart in Brasilien (Siphonops
Abb. 2. Unterkiefer einer jungen Ringelwühle (Siphonops annulatus) mit den Spezialzähnen (links)
und Zähne im Detail (rechts). [Photos Simon Loader und Alexander Kupfer]
annulatus) beobachtet. Auch hier besitzen die Jungen eine besondere Bezahnung, mit der sie die Mutter in regelmäßigen Abständen „häuten“ können.
Diese Entdeckung an zwei geographisch
weit getrennten Arten spricht dafür,
dass „Hautfressen“ eine weit verbreitete
Brutpflegestrategie ist. Sie dürfte eine
Voraussetzung zur Evolution von Viviparie bei Blindwühlen sein, die durch eine
lange Tragzeit gekennzeichnet ist, während der sich die Jungtiere von hypertrophiertem Eileitergewebe ernähren.
Die tropischen Blindwühlen (Gym­
nophionen) gehören wie die Frösche
und Salamander zu den Amphibien.
Aufgrund ihrer verborgenen Lebens­
weise zählen diese beinlosen, wurmar­
tigen Lurche zu den am wenigsten er­
forschten Wirbeltieren [1]. Die meisten
der 180 heute bekannten Arten leben
terrestrisch, einige sind wasserlebend.
Eine Besonderheit ist, dass wahr­
scheinlich alle Arten Brutpflege betrei­
ben, gleich ob sie eierlegend (ovipar)
oder lebendgebärend (vivipar) sind.
Abb. 1. Ringelwühle (Siphonops annulatus)
mit Jungen während der Brutpflege. [Photo
Alexander Kupfer]
Ursprüngliche Gymnophionen sind ei­
erlegend mit wasserlebenden Larven,
während vivipare Arten als abgeleitet
gelten.
Bei eierlegenden Gymnophionen
gibt es zwei unterschiedliche Lebens­
zyklen: Oviparie mit wasserlebenden
Larven und Oviparie mit Direktent­
wicklung. Bei letzteren findet die kom­
plette Embryonalentwicklung im Ei
statt, so dass vollentwickelte Jungtiere
schlüpfen.
Ovipare Blindwühlen betreiben
Brutpflege, bei der das Weibchen das
Gelege in einer Erdhöhle bis zum
Schlupf der Larven oder der Jungtiere
bewacht. Bei den viviparen Gymno­
phionen findet die gesamte Embryo­
nalentwicklung in den Eileitern (Ovi­
dukten) des Weibchens statt, in denen
auch die Befruchtung erfolgt. Die Eier
werden danach nicht abgelegt, sondern
zurückgehalten (embryonic retention),
bis der Embryo den Dottervorrat im
Ei aufgebraucht hat und im Eileiter
schlüpft. Danach wird er aber noch bis
zu 12 Monate vom Muttertier ausgetra­
gen. In dieser Zeit ernährt er sich mit
spezialisierten „fötalen“ Zähnen vom
nährstoffreichen
(hypertrophierten)
Oviduktepithel des Muttertieres. Das
„fötale“ Gebiss verlieren sie dann al­
lerdings, und es wird durch ein neues
ersetzt [1].
Lange Zeit glaubte man, der Zahn­
wechsel komme nur bei viviparen Arten
vor. Mit der Entdeckung der „fötalen“
Zähne bei der oviparen direktentwi­
ckelnden Blindwühle Boulengerula taitanus in Kenia stellte sich jedoch die
Frage nach der möglichen Funktion
des Gebisses während der Brutpflege.
Naturwissenschaftliche Rundschau | 61. Jahrgang, Heft 1, 2008
Bei der Aufzucht ließ sich direkt be­
obachten, dass die Jungen ihr Gebiss
in ähnlicher Weise wie die viviparen
Arten nutzen. Auch sie fressen nähr­
stoffreiches Gewebe der Mutter, nun
allerdings äußere Hautschichten [2].
Damit war eine vollkommen neue Art
der Brutpflege und Ernährungsweise
(maternale Dermatophagie) entdeckt.
Es steht wohl außer Frage, dass es
sich bei dem fötalen Gebiss der vivi­
paren und der oviparen Art um homo­
loge Strukturen handelt. Da Oviparie
ursprünglich ist, sollte das fötale Ge­
biss primär im Kontext mit der frühen
Ernährung außerhalb des Mutterleibes
entstanden sein. Nun wurde eine zwei­
te ovipare Blindwühlenart mit Direkt­
entwicklung gefunden, welche über
einen Zahnwechsel und maternale Der­
matophagie verfügt [3]. Brasilianische
Ringelwühlen (Siphonops annulatus)
bewachen ihre etwa 5 bis 16 Junge in
Erdnestern (Abb. 1). Junge besitzen ein
hochspezialisiertes Gebiss: Im Unter­
kiefer befinden sich ca. 22 nach hinten
gebogene Zähnchen mit zahlreichen
krallenartigen Krönchen (Abb. 2).
Ähnlich der kenianischen Boulengerula taitanus ist die Epidermis der
Siphonops annulatus-Weibchen stark
hypertrophiert, d. h. das Cytoplasma
der Epidermiszellen ist mit zahlreichen
Fetten angereichert. Junge Siphonops
annulatus reißen nun aktiv ihrer Mut­
ter die „Haut vom Leibe“. Eine kurze
Sequenz dieses Verhaltens kann man
online sehen (http://news.bbc.co.uk/2/
hi/science/nature/7235205.stm). Wäh­
rend dieser besonderen Brutfürsorge
wachsen die Jungen ca. 1 % pro Tag und
nehmen bis zu 2,3 % an Gewicht zu.
Rundschau
Zahnwechsel gibt es wahrscheinlich
noch bei vielen weiteren eierlegenden
Blindwühlenarten, daher könnten
hautfressende Blindwühlen weit häu­
figer sein als bisher bekannt. Ob es sich
um ein Grundmustermerkmal aller ovi­
paren Gymnophionen mit Direktent­
wicklung handelt, ist noch zu klären.
Das fötale Gebiss oviparer Arten und
die maternale Dermatophagie dürfen
als Prädispositionen für die Viviparie
bei Blindwühlen angesehen werden.
Mit dem Nachweis der maternalen
Dermatophagie bei einer afrikanischen
und einer südamerikanischen Art wer­
den auch Aussagen zur Entstehungs­
geschichte möglich: Rechnet man die
Zeit ein, in der sich beide Kontinente
voneinander getrennt haben, und be­
zieht die Zeiten mit ein, in der sich die
modernen heutigen Amphibien (sog.
Kronengruppe) entwickelt haben, so
könnte es hautfressende Blindwühlen
schon vor ca. 100 Millionen Jahren ge­
geben haben.
Die Fülle von Fortpflanzungsstra­
tegien mit unterschiedlichen Formen
von Brutpflege macht Blindwühlen für
die Evolutionsbiologie so interessant.
Sicherlich werden noch weitere merk­
würdige und außergewöhnliche Verhal­
tensweisen in dieser Amphibiengruppe
zu erwarten sein.
[1] W. Himstedt: Die Blindwühlen. WestarpWissenschaften. Magdeburg (1996). – [2] A.
Kupfer et al., Nature 440, 926 (2006). – [3] M.
Wilkinson et al., Biol. Letters 4, 358 (2008).
Dr. Alexander Kupfer, Jena
Naturwissenschaftliche Rundschau | 61. Jahrgang, Heft 1, 2008