Berichte der Geologischen Bundesanstalt, ISSN 1017-8880, Band 113, Wien 2015 BEITRÄGE Über Kaltlöcher (Buche di ghiaccio, Ventarolen, Eiskeller usw.) im Ostalpenraum Wolfgang Punz Department für Ökogenomik und Systembiologie, Universität Wien, Althanstraße 14, A-1090 Wien; e-mail: [email protected] Von alters her finden in Berggebieten Höhlen und Spalten zur Kühlung für Lebensmittel bzw. Getränke Verwendung, vorzugsweise solche, welche lange Zeit oder dauerhaft Eis enthalten; hiefür existieren Bezeichnungen wie Buche di ghiaccio, Eiskeller, Eisloch, Grotti, Kaltkeller, Kantine und andere. Manche dieser Ausdrücke enthalten auch einen Hinweis auf Luftströmungen („Bewetterung“ in der bergmännischen Terminologie); man spricht von Ventarolen, Windlöchern, blowholes, Wetterlöchern, Windröhren oder ähnlichem. Mit dieser zweitgenannten Kategorie befasst sich der nachstehende Beitrag, der eine Fortsetzung von Punz et al. (2005) ist. Wie alt die Erkenntnis sein mag, dass manche „Eislöcher“ mit der Luftströmung in Zusammenhang stehen, ist unklar. Frühe Angaben stammen von Cysat (1661), ein weiterer Hinweis findet sich bei Scheuchzer (1723); erste wissenschaftliche Ansätze zur Erklärung des Phänomens formulierte De Saussure (1796). Seither bemüht sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern, eine Erklärung für die Entstehung des Eises (und den damit verbundenen abwärts gerichteten sommerlichen Kaltluftstrom) zu finden und die hierfür erforderlichen geomorphologischtopographischen Voraussetzungen zu verstehen, wobei ein Zusammenhang mit (Block-) Schutthalden als gesichert gilt. Das Spektrum der Untersuchungen reicht von episodischen Messungen in der Vergangenheit bis zu hochspezialisierten Arbeiten aus der Schweiz und jüngeren umfangreichen Datenerfassungen in der Steiermark. Ohne Anspruch auf eine im Detail letztgültige Erklärung zu erheben, steht nach wie vor der sogenannte Balch-Effekt (1900) in verschiedenen Modifikationen im Zentrum der aktuellen Hypothesen: „The cold air of winter … permeates the cave, and in course of time freezes up all the water which, in the shape of melting snow or cold winter rain or spring water, finds it way in.“ Erst im 20. Jahrhundert gelangten derartige Standorte ins Blickfeld der biologischen Disziplinen, vornehmlich dort, wo spektakuläre Erscheinungen zu beobachten waren („Hexenwäldli“/Schweiz: krüppel- und zwergwüchsige Bäume) oder dramatische Temperaturdifferenzen auf kleinstem Raum und daraus resultierende floristische Phänomene (Eppan/Südtirol: subalpine Rasen mitten im wärmeliebenden Hopfenbuchenwald) auftreten. Mittlerweile liegen etliche anatomischmorphologische, pflanzenökologische und floristisch-vegetationskundliche Befunde vor. Aus zoologischer Sicht sind Windröhren sowie wetterführende Schutt- und Blockhalden Sonderformen eines Lebensraumtyps, der heute als „shallow subterranean habitats" (früher "milieu souterrain superficiel"; vgl. Culver & Pipan, 2014) bezeichnet wird. Der Terminus verweist auf die Beziehung zur Höhlenfauna in den tiefen unterirdischen Lebensräumen. Ökologisch reizvoll ist der Umstand, dass die dynamische Bewetterung ein Eigenklima mit steilen Temperatur- und Feuchtegradienten zwischen Oberfläche und Haldenkörper ebenso wie im Inneren des Systems zwischen der Oberkante und dem Haldenfuß schafft; dadurch erhöhen Schutt- und Blockhalden die örtliche Biodiversität, weil hier wärme- und kälteliebende Tiere nebeneinander entsprechende Kleinlebensräume finden. Kaltstenotherme feuchteliebende Arten können am Fuß der Halden in weit vorgeschobenen Populationen auftreten („Glazialrelikte“). 14. Tagung der Arbeitsgruppe "Geschichte der Erdwissenschaften Österreichs" (4. Dezember 2015 in Wien) 99 Berichte der Geologischen Bundesanstalt, ISSN 1017-8880, Band 113, Wien 2015 BEITRÄGE Die Liste der dreiundvierzig in der früheren Arbeit aufgelisteten Standorte konnte nun durch Angaben über weitere 24 Lokalitäten ergänzt werden. Es sind dies: Antholz; Brixen; Dieslingsee; (Frain); Gleinkersee; Gollinghütte; Gosausee; Kojenkopf; Halltal; Kastelruth; Bärofen; Latsch; Petzen; Polsterlucke; (Rannatal); St. Johann/Tauern; Seewald/Fanès; Sulzbachtal; Taufers; Terenten; Val Genova/Brenta; Val Susauna; Völs; Wildalpen. (Es muss angemerkt werden, dass der zugehörige Informationsstand einstweilen noch unterschiedlich ist, d.h. im Einzelnen noch nicht entschieden werden kann, ob es sich bei allen Standorten um Windlöcher im klassischen Sinn handelt.) Ein Überblick über alle bisher erfassten Lokalitäten ist in der Karte (Abb. 1) wiedergegeben. Abb. 1: Verteilung der Vorkommen von Kaltlöchern im Ostalpenraum und nahem Umfeld Die früher zitierte, zehn Jahre alte Arbeit (Punz et al., 2005) schloss mit der Feststellung: „Der Überblick über die bekannten ostalpinen Kaltlochstandorte lässt geomorphologische, mikroklimatische, ökophysiologische, floristisch/vegetationskundliche und zoologische Forschungsdefizite erkennen. Vor allem aus evolutionsbiologischer und naturschutzfachlicher Sicht ist es geboten, das Phänomen der Kaltluftaustritte und die dadurch bedingten Veränderungen von Flora und Fauna gründlich zu untersuchen.“ An diesem Statement hat sich bis dato nichts Wesentliches geändert. Literatur: Balch, E.S. (1900): Glacieres or freezing caverns. Allen, Lane & Scott Philadelphia. Culver, D.C & Pipan, T. (2014): Exploring a Poorly Known Ecological Domain Shallow Subterranean Habitats. Ecology, Evolution, and Conservation. – Conservation Biology, 29 (6), Oxford. Cysat J.L. (1661): Beschreibung dess Berühmbten Lucerner- oder 4-Waldstättensees. – 256 S., Hautten Luzern. Punz, W., Sieghardt, H., Maier, R., Engenhart, M. & Christian, E. (2005): Kaltlöcher im Ostalpenraum. Verhandlungen der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft, 142, 27-45, Wien. www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/VZBG_142_0027-0045.pdf De Saussure, H.B. (1796): Voyage dans les Alpes. Bd. 3. Fauche Ncuchatcl. Scheuchzer, J.J. (1723): Aerographia Helvetica I. Tiguri, Officina Gesneriana. 14. Tagung der Arbeitsgruppe "Geschichte der Erdwissenschaften Österreichs" (4. Dezember 2015 in Wien) 100
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