5 4 a 4 a e 2 f d a a a 4 8 0 7 9 e a 8 6 9 2 d 2 5 d e d 5 6 7 - p r i n t - p r i n t . p d f ; S e i t e : 5 ; D a t u m : 1 0 . 1 1 . 2 0 1 5 1 0 : 5 8 : 5 7 NETZWERK Der Geist in der Pädagogik – oder der Geist der Pädagogen? © Andrey Arkusha – Fotolia Wess’ Geistes Kind wirkt denn nun in „der“ Pädagogik? Warum haben wir eigentlich diesen „antiquierten“ und wissenschaftlich kaum zu fassenden Begriff als Schwerpunktthema von dieses Heftes gewählt? Weil – in der eigeAlbert Horbach nen Praxis, in zahlreichen Fortbildungen für Erzieher/-innen und Kita-Teams in Konzept- und Konfliktberatungen – immer wieder spürbar wurde, dass nicht nur Kinder, sondern auch Eltern und Pädagogen „ganzheitlich“ wahrnehmen und wirken. Und „Geist“ ist so ein ganzheitliches Konstrukt, verwandt mit Einstellung, Haltung, Menschenbild … Wie ist denn die Qualität des ersten Eindruckes, wie ernst gemeint ist die gerne heute genannte „Willkommenskultur“? Nur in den ersten Kontakten oder kontinuierlich und verlässlich? Fühle ich mich als Vater oder Mutter ernst genommen, wenn über meine Wünsche, Vorstellungen, Möglichkeiten und Grenzen in den ersten Gesprächen gesprochen wird? Welcher „Geist des Hauses“ weht mir da entgegen? Sehr wahrscheinlich haben wir bis jetzt noch gar nicht über Konzeptionelles und Methodisches gesprochen. Das interessiert mein Kind sowieso nicht, aber wohl, ob es sich wohlfühlt, angenommen, gemocht, bestärkt, ermutigt. Und spüre ich später etwas von dem vielbeschworenen, aber eher seltenen, weil schwer zu erreichendem „Teamgeist“ – oder wirken die Erzieher/-innen uneins, konkurrierend, illoyal? Wess’ Geistes Kind sind sie, welche ideelle oder persönliche Pädagogikvorstellungen leiten sie und übertragen sie auf mein Kind? Der Geist der Pädagogik P ädagogik hat eine Doppelrolle. Als Reflexionswissenschaft will sie Bildungs- und Erziehungszusammenhänge erforschen. Als Handlungswissenschaft will sie Vorschläge machen, wie die Bildungs- und Erziehungspraxis möglichst optimal kinderleicht 6/15 V i v a N W P - S e r v i c e ( C ) V i v a V e r t r i e b ; V e r s i o n : 8 . 0 . 0 . 72 51 40 2 m m x 2 9 7 m m ( P D F ) 7 5 4 a 4 a e 2 f d a a a 4 8 0 7 9 e a 8 6 9 2 d 2 5 d e d 5 6 7 - p r i n t - p r i n t . p d f ; S e i t e : 6 ; D a t u m : 1 0 . 1 1 . 2 0 1 5 1 0 : 5 8 : 5 9 NETZWERK gestaltet werden kann, inzwischen mit einer ganzheitlichen Perspektive von lebenslanger Bildung. Zeit-Geist und Pädagogik Malte Hagen Olbertz Das Wort Pädagogik hat altgriechische Ursprünge und meint in etwa, „das Kind führen, leiten, erziehen und unterweisen.“ „Pädagogen“ waren nicht so sehr ausgebildete Erzieher, sondern Sklaven, die Knaben beaufsichtigten. Von Pädagogik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin spricht man erst seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorher wirkten Philosophie und Theologie stark hinein. ten, auch als Folge der Landflucht. Väter gingen früh zur Arbeit in die Fabriken, Kohlegruben, Werften etc. und kehrten spät heim, Mütter waren nicht mehr wie in der vorindustriellen Zeit in der Lage, sich tagsüber um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Die Hilfe der dörflichen Großfamilien fehlte. Aus gesellschaftlich bedingter Hilflosigkeit der Eltern verwahrlosten viele Kinder und wurden zu desorientierten Straßenkindern und bildeten oft kriminelle Banden. Don Bosco, ein italienischer katholischer Priester (1816–1888), erkannte, dass die Erziehung der Jugendlichen durch ihre Vernachlässigung gefährdet war, dass diese und nicht charakterliche Bosheit oder Schlechtigkeit Hauptursache des Fehlverhaltens war – entgegen den Auffassungen seiner Zeit. Dazu sorgte Don Bosco u.a. für Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Sauberkeit der Jungen, indem er sie in einer offenen Herberge wohnen ließ – ein Haus zum Leben, zum Spielen, zum Lernen und zum Einüben des christlichen Glaubens. Außerdem unterrichtete er sie schulmäßig, wobei er immer wieder auf Prinzipien des hilfsbereiten und friedvollen Umgangs Wert legte. Seine Erziehungsprinzipien waren Liebe, Vernunft und Glauben. Janusz Korczak und die Pädagogik der Achtung Mehr noch als von diesen dürfte die Pädagogik allerdings immer schon von der jeweiligen Zeit (mit all ihren politischen und ökonomischen Kennzeichen) und ihrem Zeitgeist beeinflusst worden sein. Einige Beispiele mögen dies erläutern. Don Boscos Präventivpädagogik Im beginnenden Zeitalter der Industrialisierung verringerte sich der erzieherische Einfluss vieler Eltern, vor allem in den Städ- 8 Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit (geboren am 22. Juli 1878 oder 1879 in Warschau; gestorben nach dem 5. August 1942 vermutlich im Vernichtungslager Treblinka), engagierte sich für arme und verwahrloste Kinder und gab seinen Arztberuf auf, als er die Leitung eines nach seinen Plänen neu errichteten jüdischen Waisenhauses übernahm. Die Kinder seines Waisenhauses begleitete er während des Naziterrors beim Abtransport in ein Vernichtungslager. Dies bedeutete auch für ihn selbst den Tod. Obwohl er mehrere Angebote zu seiner persönlichen Rettung erhielt, lehnte er ab, die Kinder im Stich zu lassen. Janusz Korczak nimmt auch eine Vorreiterrolle in der Kinderrechtsdiskussion ein. Bevor die internationale Gemeinschaft mit der Genfer Erklärung 1924 eine erste Deklaration über die Rechte der Kinder verabschiedete, appellierte er in seinen Schriften an die Erwachsenen, Kinder als vollwertige Menschen zu achten. Er formulierte Grundrechte für Kinder und setzte diese in seiner pädagogischen Praxis um. Sein Erziehungsprogramm, seine Pädagogik basiert auf dem Recht des Kindes auf Achtung und Liebe: „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits.“ Pädagogik und Politik Die Beispiele von Don Bosco und Janusz Korczak zeigen, wie in einer bestimmten Zeit Menschen mit Herz und Verstand eine Pädagogik „entwickelt“ haben, die zu dieser Zeit nicht selbstverständlich war, aber von einem guten, menschenliebenden Geist erfüllt und geformt wurde. Und es ließen sich noch viele andere nennen, Johann Hinrich Wichern, Pestalozzi, Fröbel, Montessori, Alexander S. Neill, die, beeinflusst von ihrer Zeit, die Pädagogik mit Geist erfüllten, einem guten Geist, der noch bis heute wirkt. Damals gab es noch keine UN-Kinderrechtskonvention. Dieser hochwillkommene Standard bleibt aber auch heute wirkungslos, wenn historische und politische Verhältnisse dagegenstehen. Die Taliban in Afghanistan z.B. werden Mädchen das Recht auf Bildung und Ausbildung, auf Gleichbehandlung unabhängig vom Geschlecht, auf Freizeit, Sport und Spiel wohl kaum zugestehen – welche Pädagogik ist unter solchen Umständen möglich? Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) ist von fast allen Staaten weltweit ratifiziert worden. Die meisten islamischen Länder haben jedoch zahlreiche Vorbehalte angebracht bzw. den Vorrang des islamischen Rechts reklamiert, so etwa der Iran. Auch wenn die Zulässigkeit solch genereller Vorbehalte höchst umstritten ist, zeigt sich damit klar der Unwillen einiger Staaten, Kinderrechte zu garantieren, die über das islamische Recht hinausgehen. Von Mohammed, dem Propheten und Gesandten Gottes, wird überliefert, dass er ein kleines Mädchen namens „Umama“ auf dem Arm hielt, während er betete. Sobald er sich niederwarf, legte er das Kind vorsichtig hin und wenn er wieder aufstand, nahm er sie wieder auf. Der Prophet durchbricht zugunsten der guten Behandlung eines Kindes den Ablauf eines der wichtigsten Gebote im Islam – das ri- kinderleicht 6/15 V i v a N W P - S e r v i c e ( C ) V i v a V e r t r i e b ; V e r s i o n : 8 . 0 . 0 . 72 51 40 2 m m x 2 9 7 m m ( P D F ) 5 4 a 4 a e 2 f d a a a 4 8 0 7 9 e a 8 6 9 2 d 2 5 d e d 5 6 7 - p r i n t - p r i n t . p d f ; S e i t e : 7 ; D a t u m : 1 0 . 1 1 . 2 0 1 5 1 0 : 5 9 : 0 1 NETZWERK tuelle Gebet. Normalerweise sollen sich Muslime hier durch nichts stören lassen! Es gibt wohl kaum eine größere Geste. Leider bleiben in der realen islamischen Welt noch weitere traditionelle Hemmnisse, die die Situation von Kindern erschweren. Uneheliche Kinder gelten als rechtlos, eine staatlich anerkannte Identität wird verweigert, in diesen Fällen sind sie auch von den Bildungseinrichtungen und dem Gesundheitswesen ausgeschlossen. Kinderheiraten kommen regelmäßig vor. Bei Straftaten sind Minderjährige nach islamischem Recht oftmals gleich harten Strafen unterstellt wie Erwachsene. Im Iran etwa werden Jugendliche auch zum Tode verur- nern: Wir hatten und haben vielleicht immer (in den USA) noch die sog. Kadettenanstalten respektive Kadettenschulen, Hitlerjugend, Schwarze Pädagogik und „Tigermütter“. Kadettenanstalten gab es seit Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich und auch in anderen Ländern, selbstverständlich auch in Preußen – weiterführende Schulen bis zum Abitur, die in der Regel der Vorbereitung auf eine militärische Karriere dienten oder für eine zukünftige militärische Karriere förderlich waren. Wie im kaiserlichen Deutschland vorwiegend die Söhne von Beamten und Offizie- Maria Montessori teilt. Doch jenseits der rigiden gesellschaftlichen Normen wandeln sich die Alltagspraxis und das Bewusstsein. Vor allem in den Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien wurden in den vergangenen Jahren Unterstützungsangebote für ledige Mütter geschaffen – ein Tabu scheint zu bröckeln. Wer nun aber meint, Pädagogik sei immer gut und nur in unseren westlichen Kulturen möglich, der möge sich besinnen und erin- ren die Kadettenanstalten besuchten, schicken heute noch viele US-Militärs ihre Söhne auf private Soldatenschulen. Diese werben sehr intensiv mit Vorbereitung auf das Leben (nicht auf den Krieg), einem Erfolg versprechenden Studium und einer ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit (den ganzen Mann entwickeln). Es gibt diese Militärakademien auch in kirchlicher Trägerschaft (z.B. die kath. Cardinal Farley Military Academy, die methodistische „Randolph Macon Academy“). Kadetten sollen hier in der besten amerikanischen Tradition mit dem Geist der Religion und moralischen Werten erfüllt werden. Die Schwarze Pädagogik (Katharina Rutschky, Soziologin) ist ein negativ wertender Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung als Mittel enthalten. (auch bei Alice Miller in „Am Anfang war Erziehung“ (1980) und „Du sollst nicht merken“ (1981)) Die „Schwarze Pädagogik“ zielt u.a. auf Abhärtung, umfassende Überwachung (Körperkontrolle, strenger Verhaltenskodex, Forderung unbedingten Gehorsams), Ordnungsdrill, der Versagung grundlegender Bedürfnisse und auf die Tabuisierung von Berührung. Elemente dieser Schwarzen Pädagogik wurden bis ins 20. Jahrhundert in der Heimerziehung, auch in von kirchlichen Orden geführten Einrichtungen praktiziert. Das katholische Ideal des Gehorsams begünstigte möglicherweise körperliche Strafen in Heimen, um den Willen von Kindern (die böse Kindsnatur) und jungen Erwachsenen zu brechen. Lasset die Kinder zu mir kommen!? Dieser unselige Geist in der Pädagogik hat zahllose Kinderseelen geschädigt, die Träger dieser Einrichtungen haben sich aber sehr schwergetan, die skandalösen Zustände und deren seelische Folgen einzugestehen und Verantwortung und Wiedergutmachung zu übernehmen, z.B. Therapiekosten. Noch 1954 wurde das Züchtigungsrecht im Rahmen der Heimerziehung als Bestandteil des Erziehungsrechtes des Heimes juristisch bestätigt. Erst 1970 kam es dann zur sogenannten Heimreform. Übrigens: „In der Deutschen Demokratischen Republik wurde das Schlagen von Kindern in Schulen 1949 verboten, in der Bundesrepublik Deutschland 1973. Erst im Jahr 2000 wurde durch eine Gesetzesänderung das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft“ (Quelle: wikipedia.de) In ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung (1980)“ belegt Alice Miller die Möglichkeit schwerer Schäden bei Kindern durch jedwede Form körperlicher (wie auch psychischer) Gewalt. Unter der „Schwarzen Pädagogik“ versteht Alice Miller eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mithilfe der offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen. kinderleicht 6/15 V i v a N W P - S e r v i c e ( C ) V i v a V e r t r i e b ; V e r s i o n : 8 . 0 . 0 . 72 51 40 2 m m x 2 9 7 m m ( P D F ) 9 5 4 a 4 a e 2 f d a a a 4 8 0 7 9 e a 8 6 9 2 d 2 5 d e d 5 6 7 - p r i n t - p r i n t . p d f ; S e i t e : 8 ; D a t u m : 1 0 . 1 1 . 2 0 1 5 1 0 : 5 9 : 0 4 NETZWERK In der sog. „Schwarzen Pädagogik“ wirkte der lange Schatten der NS–Pädagogik nach, die sehr ähnliche Erziehungsziele und -methoden verwendet hat. U.a. mit Lagerfeuerromantik verführt, wurde die Hitlerjugend gestählt und hart gemacht, Mitgefühl und Empathie waren nicht gefragt, sondern soldatische Tugenden. Stalingrad brauchte schließlich ganze Kerle. Hinterfragt und verworfen wurde derartiger Ungeist in der Erziehung der Nachkriegszeit lange nicht. Johanna Haarer, eine österreichisch-deutsche Ärztin und Autorin von auflagenstarken Erziehungsratgebern, die eng an die Ideologie des Nationalsozialismus angelehnt waren, konnte ihre Erziehungsratgeber in der Bundesrepublik Deutschland bis 1996 verbreiten. Auch Don Bosco wollte, dass seine Zöglinge anstrebten „tüchtige Bürger“ zu werden, damit die kommende Generation besseren Zeiten entgegensehen konnte. Aber brauchen Kinder „Tigermütter“, um in der Welt bestehen zu können? Der Begriff meint im chinesischen allgemein eine positive, kraftvolle Mutter. Er ist aber durch Amy Chua (chinesischstämmige, amerikanische Hochschullehrerin, Juristin und Publizistin) und ihre fragwürdigen Ansichten über Erziehung ambivalent besetzt. „Chinesische Frauen sind die besseren Mütter“ – mit dieser These empörte Amy Chua bereits 2011. Jetzt veröffentlicht die Juraprofessorin „Alle Menschen sind gleich – erfolgreiche nicht: Die verblüffenden kulturellen Ursachen von Erfolg“ (The Triple Package) und polarisiert mit rassistischen Argumenten. Juden, Inder, Chinesen, Iraner, amerikanische Libanesen, Nigerianer, Exil-Kubaner und Mormonen gehören zu den „überlegenen Gruppen, die in Amerika erfolgreich sein können, weil sie von Natur aus „besser als andere“ sind. Dazwischen schrieb sie ihr provozierendes Buch „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“. (Originaltitel: Battle Hymn of the Tiger Mother). Für mich erschreckend, welche teilweise positive Reaktionen dieses Buch hervorrief! Der Erfolg schien zu faszinieren – für mich allerdings nicht nachvollziehbar, dass es offensichtlich noch genug Menschen gibt, die glauben, Kinder so erziehen zu müssen. Nicht nachvollziehbar vor allem auch, wenn man weitere Reaktionen der Autorin zur Kenntnis nimmt: Ihr Buch sei kein Er- 10 ziehungsratgeber, sondern die selbstironische Beschreibung ihrer Erfahrungen als Mutter. Zuletzt habe sie viele Prinzipien aufgeben müssen, weil die jüngere Tochter mit 13 rebellierte. Auf ihrer eigenen Website gibt sie an, das Buch in einer Krise geschrieben zu haben: „Es war wie Familientherapie“. Was bei der einen Tochter funktioniert, ist bei der anderen zum Scheitern verurteilt. Lulu, die Jüngere der Schwestern, sträubte sich gegen den mütterlichen Drill. „Spaß macht gar nichts, solange man nicht gut darin ist; chinesische Eltern wissen das.“ Und dann: „Jedes Individuum muss sich seinen Weg selbst suchen“, resümiert Amy Chua am Ende ihres autobiografischen Buches. Wie passt das zusammen? „Wissen Sie, in diesem Haus wird viel gelacht! Meine Töchter finden mich sehr lustig, und auch das Buch ist lustig! Ich meine, da erzählt eine wahnsinnige Person von lauter verrückten Dingen. Niemals würde ich die Stofftiere meiner Kinder verbrennen – das war ein Stilmittel, eine Übertreibung. Ich habe viele Situationen zugespitzt, um meine Position klarzumachen“ (in einem Interview auf Zeit online: 10 März 2011) Was soll ich von dieser „Tigermutter“ halten? Eine liebevolle Mutter, eine Profilneurotikerin, eine Egomanin, die ins Rampenlicht will – und das auch mit ihrer Provokationsmasche ganz erfolgreich geschafft hat? „Du bist eine schreckliche Mutter. Du bist egoistisch“ – so ihre zweite Tochter Lulu. Amy Chua erklärt den chinesischen Erziehungsstil, mit dem sie selbst aufgewachsen ist. Mit dessen Härte wollte sie ihre Kinder zu Erfolg und letztlich zum Glücklichsein erziehen. Auswendiglernen, Bestnoten, Pauken bis zum Umfallen – so funktioniert die schulische Erziehung in China. Zum Bildungsstress kommen Familienstreit und Konkurrenzdruck – mögliche Ursachen, warum sich 250.000 Menschen in China jährlich das Leben nehmen – Suizid ist die häufigste Todesursache unter jungen Chinesen. Vor allem Studenten, die auf den strengen Elitehochschulen in Depressionen verfallen, sind gefährdet, denn der Konkurrenzdruck in Chinas Schulsystem ist immens. Chinas Schüler und Studenten sind so hoffnungslos überlastet mit Lernstoff, dass ihnen die Zeit für andere wichtige Dinge kinderleicht 6/15 V i v a N W P - S e r v i c e ( C ) V i v a V e r t r i e b ; V e r s i o n : 8 . 0 . 0 . 72 51 40 2 m m x 2 9 7 m m ( P D F ) 5 4 a 4 a e 2 f d a a a 4 8 0 7 9 e a 8 6 9 2 d 2 5 d e d 5 6 7 - p r i n t - p r i n t . p d f ; S e i t e : 9 ; D a t u m : 1 0 . 1 1 . 2 0 1 5 1 0 : 5 9 : 0 7 NETZWERK fehlt. Bereits in der Grundschule wird für Aufnahmeprüfungen an den weitergehenden Schulen gepaukt, denn nur die Besten kommen durch die nationale Aufnahmeprüfung für die Universitäten, die nur jeder Zweite besteht. Zwei bis vier Stunden Hausaufgaben waren für chinesische Schulkinder bislang die Regel. Nun will selbst das Erziehungsministerium zumindest jüngeren Schülern die exzessive Nachbereitung erlassen. Auch Prüfungen soll es in den unteren Klassen künftig nicht mehr geben. Das freut die Kinder – nicht aber deren Eltern und das ist das eigentliche Problem. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich irgendwann auch durch den hartnäckigen Widerstand der Fachwelt humanere und wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse umsetzen, aber das muss in den Köpfen von Eltern und Lehrern passieren, deren Aufgabe es ist, ohne unnötige Medikation mit Ritalin u.Ä. Kinder ins Leben zu führen und zwar in ihr eigenes und nicht in die Wunschprojektion ihrer Eltern und Erzieher. Tigermütter, so ist auch die Erfahrung von Pater Anselm Grün, gibt es nicht nur in China – auch hier gibt es „Eislaufmütter“ und „Akademisierungswahn“ (lesen Sie da- zu das Interview mit ihm in diesem Heft). Bücher wie das von Pater Anselm Grün und Hsin–Ju Wu, einer katholischen Chinesin, die in Taiwan lebt, laden auf eher sanfte Art dazu ein, sich Gedanken zu machen über das Ausfüllen der Elternrolle. Diese Rolle ist eine uralte Dilemma-Rolle, es gibt Polaritäten wie „Chinesischer Drill gegen westliche Selbstbestimmung“ oder Individualität versus Funktionieren in der Gemeinschaft, ein Ringen zwischen Fordern und Fördern, Behüten und Lassen. Zwischen Tigermüttern und Helikoptereltern gibt es sicher für Kinder und Eltern noch andere, bessere Möglichkeiten. Genug der Beispiele über den Geist der Pädagogen (oder solcher, die sich dafür halten), die im Rahmen dieses Artikels in Anbetracht ihrer inhaltlichen Tiefe nur mehr oder weniger angerissen werden können. Ziele der Pädagogik oder wohin die Knaben führen? Es scheint innerhalb der Disziplin kein Konsens über die Ziele der Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu geben. Weitverbreitet ist z.B. die Auffassung, Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei die wissenschaftliche Beobachtung und Analyse der pädagogischen Wirklichkeit. Was aber ist die pädagogische Wirklichkeit? Wie die Beispiele zeigen wollen: die Zeit und ihr Menschenbild, die sozioökonomischen Verhältnisse, politische Dimensionen, Ideologien, Religionen? Sollen die Eltern die Kinder auf den Kindergarten vorbereiten, die Kita die Kinder auf die Schule, die Schule auf die nächsthöheren Schulen, die Schulen auf den Beruf – also Zweckpädagogik für diese und die nächste Sozialisierungsstufe – die gesellschaftliche Perspektive. Oder soll Pädagogik bei den von ihr Betroffenen, Kindern wie Erwachsenen, in Anlehnung an Emanuel Kant Mündigkeit und Selbstbestimmung und Moralität fördern – die individuelle Perspektive. Der Geist in der alltäglichen Pädagogik wird in erster Linie ein sehr persönlicher sein: Wie professionell und respektvoll, wie menschlich, wie erfahren und reflektiert, wie motiviert und engagiert, wie souverän und selbstbewusst, wie nachdenklich und wertschätzend, wie einla- dend, wie ermutigend begegnen Erzieher/-innen den Menschen, die ihrer Pädagogik teilhaftig werden wollen oder müssen. Eine hohe Verantwortung, eine wertvolle Aufgabe. Am Ende noch mal Teamgeist Und wie sieht es im Team aus? Ich kann Prof. Gerald Hüther in seinem Artikel: „Welcher „Geist“ prägt Ihre Kita? Die besondere Bedeutung von Geist und Haltung für die pädagogische Arbeit“ (Kindergarten heute/Das Leitungsheft 2/2009) aus pragmatischer Sicht durchaus beistimmen, wenn er argumentiert, dass starke, authentische Leitungspersönlichkeiten gebraucht werden, um den Geist einer Kita zu bestimmen. „Aufgrund ihrer besonderen Stellung, ihrer langen Erfahrung, ihrer Persönlichkeit und ihrer bewusst zum Ausdruck gebrachten Haltungen müssten sie am ehesten in der Lage sein, andere Teammitglieder einzuladen, zu inspirieren und zu ermutigen …“ „Supporting Leadership“ als geistige Haltung, als Führungsethik – schön und gut als Pädagogik für die Pädagogen, aber mir persönlich fehlt da die Mitverantwortung der Teammitglieder für den „team spirit“. Ich hoffe, liebe Pädagogen/-innen, sie sind jetzt nicht völlig entgeistert – vielleicht etwas nachdenklicher und bescheidener, wenn Sie sich in Zukunft als Fachfrau/mann für Pädagogik definieren? „Immer Mensch bleiben. Das lohnt sich.“ (Jürgen von Manger) n MEDIENTIPPS „Du bist Mozart“. Operation Wunderkind. Wie Eltern den Erfolg ihrer Töchter erzwingen Spiegel Nr. 41, 2.10.2015, S. 40–46 Über Johanna Haarer: Ein erschütterndes Interview mit ihrer Tochter. Erziehung durch Härte WDR Fernsehen: http://www1.wdr.de/ fernsehen/information/frautv/sendungen/erziehungsideale100.html AUTOR Albert Horbach ist Diplom-Psychologe, selbstständig tätig in Beratung, Fortbildung und Training von Menschen und Organisationen und natürlich ein Teil der „kinderleicht!?-Redaktion. kinderleicht 6/15 V i v a N W P - S e r v i c e ( C ) V i v a V e r t r i e b ; V e r s i o n : 8 . 0 . 0 . 72 51 40 2 m m x 2 9 7 m m ( P D F ) 11
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