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Der Geist in der
Pädagogik –
oder der Geist der
Pädagogen?
© Andrey Arkusha – Fotolia
Wess’ Geistes Kind wirkt denn nun in
„der“ Pädagogik?
Warum haben wir eigentlich diesen „antiquierten“ und wissenschaftlich kaum zu
fassenden Begriff als Schwerpunktthema
von
dieses Heftes gewählt? Weil – in der eigeAlbert Horbach
nen Praxis, in zahlreichen Fortbildungen
für Erzieher/-innen und Kita-Teams in Konzept- und
Konfliktberatungen – immer wieder spürbar wurde,
dass nicht nur Kinder, sondern auch Eltern und Pädagogen „ganzheitlich“ wahrnehmen und wirken.
Und „Geist“ ist so ein ganzheitliches Konstrukt, verwandt mit Einstellung, Haltung, Menschenbild …
Wie ist denn die Qualität des ersten Eindruckes, wie
ernst gemeint ist die gerne heute genannte „Willkommenskultur“? Nur in den ersten Kontakten oder
kontinuierlich und verlässlich?
Fühle ich mich als Vater oder Mutter ernst genommen, wenn über meine Wünsche, Vorstellungen,
Möglichkeiten und Grenzen in den ersten Gesprächen gesprochen wird? Welcher „Geist des Hauses“
weht mir da entgegen? Sehr wahrscheinlich haben
wir bis jetzt noch gar nicht über Konzeptionelles
und Methodisches gesprochen. Das interessiert
mein Kind sowieso nicht, aber wohl, ob es sich
wohlfühlt, angenommen, gemocht, bestärkt, ermutigt. Und spüre ich später etwas von dem vielbeschworenen, aber eher seltenen, weil schwer zu erreichendem „Teamgeist“ – oder wirken die
Erzieher/-innen uneins, konkurrierend, illoyal? Wess’
Geistes Kind sind sie, welche ideelle oder persönliche Pädagogikvorstellungen leiten sie und übertragen sie auf mein Kind?
Der Geist der Pädagogik
P
ädagogik hat eine Doppelrolle. Als Reflexionswissenschaft
will sie Bildungs- und Erziehungszusammenhänge erforschen. Als Handlungswissenschaft will sie Vorschläge machen, wie die Bildungs- und Erziehungspraxis möglichst optimal
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gestaltet werden kann, inzwischen mit einer ganzheitlichen Perspektive von lebenslanger Bildung.
Zeit-Geist und Pädagogik
Malte Hagen Olbertz
Das Wort Pädagogik hat altgriechische Ursprünge und meint in etwa, „das Kind führen, leiten, erziehen und unterweisen.“ „Pädagogen“ waren nicht so sehr
ausgebildete Erzieher, sondern Sklaven, die
Knaben beaufsichtigten. Von Pädagogik als
eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin
spricht man erst seit der 2. Hälfte des 18.
Jahrhunderts, vorher wirkten Philosophie
und Theologie stark hinein.
ten, auch als Folge der Landflucht. Väter
gingen früh zur Arbeit in die Fabriken,
Kohlegruben, Werften etc. und kehrten
spät heim, Mütter waren nicht mehr wie
in der vorindustriellen Zeit in der Lage, sich
tagsüber um die Erziehung der Kinder zu
kümmern. Die Hilfe der dörflichen Großfamilien fehlte. Aus gesellschaftlich bedingter
Hilflosigkeit der Eltern verwahrlosten viele
Kinder und wurden zu desorientierten Straßenkindern und bildeten oft kriminelle
Banden.
Don Bosco, ein italienischer katholischer
Priester (1816–1888), erkannte, dass die
Erziehung der Jugendlichen durch ihre Vernachlässigung gefährdet war, dass diese
und nicht charakterliche Bosheit oder
Schlechtigkeit Hauptursache des Fehlverhaltens war – entgegen den Auffassungen
seiner Zeit. Dazu sorgte Don Bosco u.a.
für Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und
Sauberkeit der Jungen, indem er sie in einer offenen Herberge wohnen ließ – ein
Haus zum Leben, zum Spielen, zum Lernen
und zum Einüben des christlichen Glaubens. Außerdem unterrichtete er sie schulmäßig, wobei er immer wieder auf Prinzipien des hilfsbereiten und friedvollen Umgangs Wert legte. Seine Erziehungsprinzipien waren Liebe, Vernunft und Glauben.
Janusz Korczak und die Pädagogik
der Achtung
Mehr noch als von diesen dürfte die Pädagogik allerdings immer schon von der jeweiligen Zeit (mit all ihren politischen und
ökonomischen Kennzeichen) und ihrem
Zeitgeist beeinflusst worden sein. Einige
Beispiele mögen dies erläutern.
Don Boscos Präventivpädagogik
Im beginnenden Zeitalter der Industrialisierung verringerte sich der erzieherische Einfluss vieler Eltern, vor allem in den Städ-
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Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit (geboren am 22. Juli 1878 oder
1879 in Warschau; gestorben nach dem 5.
August 1942 vermutlich im Vernichtungslager Treblinka), engagierte sich für arme
und verwahrloste Kinder und gab seinen
Arztberuf auf, als er die Leitung eines nach
seinen Plänen neu errichteten jüdischen
Waisenhauses übernahm. Die Kinder seines Waisenhauses begleitete er während
des Naziterrors beim Abtransport in ein
Vernichtungslager. Dies bedeutete auch
für ihn selbst den Tod. Obwohl er mehrere
Angebote zu seiner persönlichen Rettung
erhielt, lehnte er ab, die Kinder im Stich zu
lassen.
Janusz Korczak nimmt auch eine Vorreiterrolle in der Kinderrechtsdiskussion ein. Bevor die internationale Gemeinschaft mit
der Genfer Erklärung 1924 eine erste Deklaration über die Rechte der Kinder verabschiedete, appellierte er in seinen Schriften
an die Erwachsenen, Kinder als vollwertige
Menschen zu achten. Er formulierte
Grundrechte für Kinder und setzte diese in
seiner pädagogischen Praxis um. Sein Erziehungsprogramm, seine Pädagogik basiert auf dem Recht des Kindes auf Achtung und Liebe: „Kinder werden nicht erst
Menschen, sie sind es bereits.“
Pädagogik und Politik
Die Beispiele von Don Bosco und Janusz
Korczak zeigen, wie in einer bestimmten
Zeit Menschen mit Herz und Verstand eine Pädagogik „entwickelt“ haben, die zu
dieser Zeit nicht selbstverständlich war,
aber von einem guten, menschenliebenden
Geist erfüllt und geformt wurde. Und es
ließen sich noch viele andere nennen, Johann Hinrich Wichern, Pestalozzi, Fröbel,
Montessori, Alexander S. Neill, die, beeinflusst von ihrer Zeit, die Pädagogik mit
Geist erfüllten, einem guten Geist, der
noch bis heute wirkt.
Damals gab es noch keine UN-Kinderrechtskonvention. Dieser hochwillkommene Standard bleibt aber auch heute wirkungslos, wenn historische und politische
Verhältnisse dagegenstehen.
Die Taliban in Afghanistan z.B. werden
Mädchen das Recht auf Bildung und Ausbildung, auf Gleichbehandlung unabhängig
vom Geschlecht, auf Freizeit, Sport und
Spiel wohl kaum zugestehen – welche Pädagogik ist unter solchen Umständen möglich?
Das Übereinkommen über die Rechte des
Kindes (KRK) ist von fast allen Staaten
weltweit ratifiziert worden. Die meisten islamischen Länder haben jedoch zahlreiche
Vorbehalte angebracht bzw. den Vorrang
des islamischen Rechts reklamiert, so etwa
der Iran. Auch wenn die Zulässigkeit solch
genereller Vorbehalte höchst umstritten
ist, zeigt sich damit klar der Unwillen einiger Staaten, Kinderrechte zu garantieren,
die über das islamische Recht hinausgehen.
Von Mohammed, dem Propheten und Gesandten Gottes, wird überliefert, dass er
ein kleines Mädchen namens „Umama“
auf dem Arm hielt, während er betete. Sobald er sich niederwarf, legte er das Kind
vorsichtig hin und wenn er wieder aufstand, nahm er sie wieder auf. Der Prophet durchbricht zugunsten der guten Behandlung eines Kindes den Ablauf eines
der wichtigsten Gebote im Islam – das ri-
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tuelle Gebet. Normalerweise sollen sich
Muslime hier durch nichts stören lassen! Es
gibt wohl kaum eine größere Geste.
Leider bleiben in der realen islamischen
Welt noch weitere traditionelle Hemmnisse, die die Situation von Kindern erschweren. Uneheliche Kinder gelten als rechtlos,
eine staatlich anerkannte Identität wird
verweigert, in diesen Fällen sind sie auch
von den Bildungseinrichtungen und dem
Gesundheitswesen ausgeschlossen. Kinderheiraten kommen regelmäßig vor. Bei
Straftaten sind Minderjährige nach islamischem Recht oftmals gleich harten Strafen
unterstellt wie Erwachsene. Im Iran etwa
werden Jugendliche auch zum Tode verur-
nern: Wir hatten und haben vielleicht immer (in den USA) noch die sog. Kadettenanstalten respektive Kadettenschulen, Hitlerjugend, Schwarze Pädagogik und „Tigermütter“.
Kadettenanstalten gab es seit Ende des 17.
Jahrhunderts in Frankreich und auch in anderen Ländern, selbstverständlich auch in
Preußen – weiterführende Schulen bis zum
Abitur, die in der Regel der Vorbereitung
auf eine militärische Karriere dienten oder
für eine zukünftige militärische Karriere
förderlich waren.
Wie im kaiserlichen Deutschland vorwiegend die Söhne von Beamten und Offizie-
Maria Montessori
teilt. Doch jenseits der rigiden gesellschaftlichen Normen wandeln sich die Alltagspraxis und das Bewusstsein. Vor allem in den
Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und
Algerien wurden in den vergangenen Jahren Unterstützungsangebote für ledige
Mütter geschaffen – ein Tabu scheint zu
bröckeln.
Wer nun aber meint, Pädagogik sei immer
gut und nur in unseren westlichen Kulturen
möglich, der möge sich besinnen und erin-
ren die Kadettenanstalten besuchten, schicken heute noch viele US-Militärs ihre Söhne auf private Soldatenschulen. Diese werben sehr intensiv mit Vorbereitung auf das
Leben (nicht auf den Krieg), einem Erfolg
versprechenden Studium und einer ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit
(den ganzen Mann entwickeln). Es gibt
diese Militärakademien auch in kirchlicher
Trägerschaft (z.B. die kath. Cardinal Farley
Military Academy, die methodistische
„Randolph Macon Academy“). Kadetten
sollen hier in der besten amerikanischen
Tradition mit dem Geist der Religion und
moralischen Werten erfüllt werden.
Die Schwarze Pädagogik (Katharina
Rutschky, Soziologin) ist ein negativ wertender Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung
als Mittel enthalten. (auch bei Alice Miller
in „Am Anfang war Erziehung“ (1980) und
„Du sollst nicht merken“ (1981)) Die
„Schwarze Pädagogik“ zielt u.a. auf Abhärtung, umfassende Überwachung (Körperkontrolle, strenger Verhaltenskodex, Forderung unbedingten Gehorsams), Ordnungsdrill, der Versagung grundlegender Bedürfnisse und auf die Tabuisierung von
Berührung.
Elemente dieser Schwarzen Pädagogik wurden bis ins 20. Jahrhundert in der Heimerziehung, auch in von kirchlichen Orden geführten Einrichtungen praktiziert. Das katholische Ideal des Gehorsams begünstigte
möglicherweise körperliche Strafen in Heimen, um den Willen von Kindern (die böse Kindsnatur) und jungen Erwachsenen zu
brechen. Lasset die Kinder zu mir kommen!?
Dieser unselige Geist in der Pädagogik hat
zahllose Kinderseelen geschädigt, die Träger
dieser Einrichtungen haben sich aber sehr
schwergetan, die skandalösen Zustände und
deren seelische Folgen einzugestehen und
Verantwortung und Wiedergutmachung zu
übernehmen, z.B. Therapiekosten.
Noch 1954 wurde das Züchtigungsrecht
im Rahmen der Heimerziehung als
Bestandteil des Erziehungsrechtes des Heimes juristisch bestätigt. Erst 1970 kam es
dann zur sogenannten Heimreform.
Übrigens: „In der Deutschen Demokratischen Republik wurde das Schlagen von
Kindern in Schulen 1949 verboten, in der
Bundesrepublik Deutschland 1973. Erst im
Jahr 2000 wurde durch eine Gesetzesänderung das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft“ (Quelle: wikipedia.de)
In ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung
(1980)“ belegt Alice Miller die Möglichkeit
schwerer Schäden bei Kindern durch jedwede Form körperlicher (wie auch psychischer) Gewalt. Unter der „Schwarzen Pädagogik“ versteht Alice Miller eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mithilfe der
offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum
gehorsamen Untertan zu machen.
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In der sog. „Schwarzen Pädagogik“ wirkte
der lange Schatten der NS–Pädagogik
nach, die sehr ähnliche Erziehungsziele und
-methoden verwendet hat. U.a. mit Lagerfeuerromantik verführt, wurde die Hitlerjugend gestählt und hart gemacht, Mitgefühl
und Empathie waren nicht gefragt, sondern soldatische Tugenden. Stalingrad
brauchte schließlich ganze Kerle. Hinterfragt und verworfen wurde derartiger Ungeist in der Erziehung der Nachkriegszeit
lange nicht. Johanna Haarer, eine österreichisch-deutsche Ärztin und Autorin von
auflagenstarken Erziehungsratgebern, die
eng an die Ideologie des Nationalsozialismus angelehnt waren, konnte ihre Erziehungsratgeber in der Bundesrepublik
Deutschland bis 1996 verbreiten.
Auch Don Bosco wollte, dass seine Zöglinge anstrebten „tüchtige Bürger“ zu werden, damit die kommende Generation besseren Zeiten entgegensehen konnte. Aber
brauchen Kinder „Tigermütter“, um in der
Welt bestehen zu können? Der Begriff
meint im chinesischen allgemein eine positive, kraftvolle Mutter. Er ist aber durch
Amy Chua (chinesischstämmige, amerikanische Hochschullehrerin, Juristin und Publizistin) und ihre fragwürdigen Ansichten
über Erziehung ambivalent besetzt.
„Chinesische Frauen sind die besseren
Mütter“ – mit dieser These empörte Amy
Chua bereits 2011. Jetzt veröffentlicht die
Juraprofessorin „Alle Menschen sind
gleich – erfolgreiche nicht: Die verblüffenden kulturellen Ursachen von Erfolg“ (The
Triple Package) und polarisiert mit rassistischen Argumenten. Juden, Inder, Chinesen, Iraner, amerikanische Libanesen, Nigerianer, Exil-Kubaner und Mormonen gehören zu den „überlegenen Gruppen, die in
Amerika erfolgreich sein können, weil sie
von Natur aus „besser als andere“ sind.
Dazwischen schrieb sie ihr provozierendes
Buch „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“. (Originaltitel: Battle Hymn of the Tiger Mother).
Für mich erschreckend, welche teilweise positive Reaktionen dieses Buch hervorrief!
Der Erfolg schien zu faszinieren – für mich
allerdings nicht nachvollziehbar, dass es
offensichtlich noch genug Menschen gibt,
die glauben, Kinder so erziehen zu müssen.
Nicht nachvollziehbar vor allem auch,
wenn man weitere Reaktionen der Autorin
zur Kenntnis nimmt: Ihr Buch sei kein Er-
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ziehungsratgeber, sondern die selbstironische Beschreibung ihrer Erfahrungen als
Mutter. Zuletzt habe sie viele Prinzipien
aufgeben müssen, weil die jüngere Tochter
mit 13 rebellierte. Auf ihrer eigenen Website gibt sie an, das Buch in einer Krise geschrieben zu haben: „Es war wie Familientherapie“. Was bei der einen Tochter funktioniert, ist bei der anderen zum Scheitern
verurteilt. Lulu, die Jüngere der Schwestern, sträubte sich gegen den mütterlichen
Drill.
„Spaß macht gar nichts, solange man nicht
gut darin ist; chinesische Eltern wissen
das.“ Und dann: „Jedes Individuum muss
sich seinen Weg selbst suchen“, resümiert
Amy Chua am Ende ihres autobiografischen Buches. Wie passt das zusammen?
„Wissen Sie, in diesem Haus wird viel gelacht! Meine Töchter finden mich sehr lustig, und auch das Buch ist lustig! Ich meine, da erzählt eine wahnsinnige Person
von lauter verrückten Dingen. Niemals
würde ich die Stofftiere meiner Kinder verbrennen – das war ein Stilmittel, eine
Übertreibung. Ich habe viele Situationen
zugespitzt, um meine Position klarzumachen“ (in einem Interview auf Zeit online:
10 März 2011)
Was soll ich von dieser „Tigermutter“ halten? Eine liebevolle Mutter, eine Profilneurotikerin, eine Egomanin, die ins Rampenlicht will – und das auch mit ihrer Provokationsmasche ganz erfolgreich geschafft
hat?
„Du bist eine schreckliche Mutter. Du bist
egoistisch“ – so ihre zweite Tochter Lulu.
Amy Chua erklärt den chinesischen Erziehungsstil, mit dem sie selbst aufgewachsen
ist. Mit dessen Härte wollte sie ihre Kinder
zu Erfolg und letztlich zum Glücklichsein
erziehen.
Auswendiglernen, Bestnoten, Pauken bis
zum Umfallen – so funktioniert die schulische Erziehung in China. Zum Bildungsstress kommen Familienstreit und Konkurrenzdruck – mögliche Ursachen, warum
sich 250.000 Menschen in China jährlich
das Leben nehmen – Suizid ist die häufigste Todesursache unter jungen Chinesen.
Vor allem Studenten, die auf den strengen
Elitehochschulen in Depressionen verfallen, sind gefährdet, denn der Konkurrenzdruck in Chinas Schulsystem ist immens.
Chinas Schüler und Studenten sind so
hoffnungslos überlastet mit Lernstoff, dass
ihnen die Zeit für andere wichtige Dinge
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fehlt. Bereits in der Grundschule wird für
Aufnahmeprüfungen an den weitergehenden Schulen gepaukt, denn nur die Besten
kommen durch die nationale Aufnahmeprüfung für die Universitäten, die nur jeder Zweite besteht.
Zwei bis vier Stunden Hausaufgaben waren für chinesische Schulkinder bislang die
Regel. Nun will selbst das Erziehungsministerium zumindest jüngeren Schülern die
exzessive Nachbereitung erlassen. Auch
Prüfungen soll es in den unteren Klassen
künftig nicht mehr geben.
Das freut die Kinder – nicht aber deren Eltern und das ist das eigentliche Problem.
Es bleibt nur zu hoffen, dass sich irgendwann auch durch den hartnäckigen Widerstand der Fachwelt humanere und wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse umsetzen, aber das muss in den Köpfen von Eltern und Lehrern passieren, deren Aufgabe
es ist, ohne unnötige Medikation mit Ritalin u.Ä. Kinder ins Leben zu führen und
zwar in ihr eigenes und nicht in die
Wunschprojektion ihrer Eltern und Erzieher.
Tigermütter, so ist auch die Erfahrung von
Pater Anselm Grün, gibt es nicht nur in
China – auch hier gibt es „Eislaufmütter“
und „Akademisierungswahn“ (lesen Sie da-
zu das Interview mit ihm in diesem Heft).
Bücher wie das von Pater Anselm Grün
und Hsin–Ju Wu, einer katholischen Chinesin, die in Taiwan lebt, laden auf eher
sanfte Art dazu ein, sich Gedanken zu machen über das Ausfüllen der Elternrolle.
Diese Rolle ist eine uralte Dilemma-Rolle,
es gibt Polaritäten wie „Chinesischer Drill
gegen westliche Selbstbestimmung“ oder
Individualität versus Funktionieren in der
Gemeinschaft, ein Ringen zwischen Fordern und Fördern, Behüten und Lassen.
Zwischen Tigermüttern und Helikoptereltern gibt es sicher für Kinder und Eltern
noch andere, bessere Möglichkeiten.
Genug der Beispiele über den Geist der
Pädagogen (oder solcher, die sich dafür
halten), die im Rahmen dieses Artikels in
Anbetracht ihrer inhaltlichen Tiefe nur
mehr oder weniger angerissen werden
können.
Ziele der Pädagogik oder wohin die
Knaben führen?
Es scheint innerhalb der Disziplin kein Konsens über die Ziele der Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu geben. Weitverbreitet ist z.B. die Auffassung, Aufgabe der
Erziehungswissenschaft sei die wissenschaftliche Beobachtung und Analyse der
pädagogischen Wirklichkeit.
Was aber ist die pädagogische Wirklichkeit? Wie die Beispiele zeigen wollen: die
Zeit und ihr Menschenbild, die sozioökonomischen Verhältnisse, politische Dimensionen, Ideologien, Religionen?
Sollen die Eltern die Kinder auf den Kindergarten vorbereiten, die Kita die Kinder
auf die Schule, die Schule auf die nächsthöheren Schulen, die Schulen auf den Beruf – also Zweckpädagogik für diese und
die nächste Sozialisierungsstufe – die gesellschaftliche Perspektive.
Oder soll Pädagogik bei den von ihr Betroffenen, Kindern wie Erwachsenen, in
Anlehnung an Emanuel Kant Mündigkeit
und Selbstbestimmung und Moralität fördern – die individuelle Perspektive.
Der Geist in der alltäglichen Pädagogik
wird in erster Linie ein sehr persönlicher
sein: Wie professionell und respektvoll,
wie menschlich, wie erfahren und reflektiert, wie motiviert und engagiert, wie
souverän und selbstbewusst, wie nachdenklich und wertschätzend, wie einla-
dend, wie ermutigend begegnen Erzieher/-innen den Menschen, die ihrer Pädagogik teilhaftig werden wollen oder müssen. Eine hohe Verantwortung, eine
wertvolle Aufgabe.
Am Ende noch mal Teamgeist
Und wie sieht es im Team aus? Ich kann
Prof. Gerald Hüther in seinem Artikel:
„Welcher „Geist“ prägt Ihre Kita? Die besondere Bedeutung von Geist und Haltung
für die pädagogische Arbeit“
(Kindergarten heute/Das Leitungsheft
2/2009) aus pragmatischer Sicht durchaus
beistimmen, wenn er argumentiert, dass
starke, authentische Leitungspersönlichkeiten gebraucht werden, um den Geist einer
Kita zu bestimmen.
„Aufgrund ihrer besonderen Stellung, ihrer
langen Erfahrung, ihrer Persönlichkeit und
ihrer bewusst zum Ausdruck gebrachten
Haltungen müssten sie am ehesten in der
Lage sein, andere Teammitglieder einzuladen, zu inspirieren und zu ermutigen …“
„Supporting Leadership“ als geistige Haltung, als Führungsethik – schön und gut
als Pädagogik für die Pädagogen, aber mir
persönlich fehlt da die Mitverantwortung
der Teammitglieder für den „team spirit“.
Ich hoffe, liebe Pädagogen/-innen, sie sind
jetzt nicht völlig entgeistert – vielleicht etwas nachdenklicher und bescheidener,
wenn Sie sich in Zukunft als Fachfrau/mann für Pädagogik definieren?
„Immer Mensch bleiben. Das lohnt
sich.“ (Jürgen von Manger) n
MEDIENTIPPS
„Du bist Mozart“. Operation Wunderkind. Wie Eltern den Erfolg ihrer Töchter
erzwingen
Spiegel Nr. 41, 2.10.2015, S. 40–46
Über Johanna Haarer: Ein erschütterndes
Interview mit ihrer Tochter. Erziehung
durch Härte
WDR Fernsehen: http://www1.wdr.de/
fernsehen/information/frautv/sendungen/erziehungsideale100.html
AUTOR
Albert Horbach ist Diplom-Psychologe,
selbstständig tätig in Beratung, Fortbildung und Training von Menschen und
Organisationen und natürlich ein Teil der
„kinderleicht!?-Redaktion.
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