Beiträge zur Stadtentwicklung 38 Zu Fuß gehen in Wien Vertiefte Auswertung des Mobilitätsverhaltens der Wiener Bevölkerung für das zu Fuß gehen Mag.a Dr.in Astrid Klimmer-Pölleritzer, DI Hanns Schinner Zu Fuß gehen ist gesund, schont das Klima, fördert soziale Kontakte, belebt den öffentlichen Raum und stärkt den Einzelhandel. Die wiederholt gute Platzierung Wiens in Lebensqualitätsstudien (z.B. Mercer Index) ist nicht zuletzt auf die vorhandenen guten Bedingungen für das Zufußgehen zurückzuführen. Der Aktivverkehr (wie zu Fuß gehen und Radfahren) bringt positive Gesundheitseffekte, die Reduktion der Lärm- und Schadstoffbelastung und die Verringerung von Unfällen. Dieser gesellschaftliche Nutzen übersteigt die Kosten für den Ausbau der Fahrrad- und Fußgängerinfrastruktur bei weitem. Deswegen bekennt sich die Stadt Wien zur Förderung nachhaltiger Mobilität. Die vom Wiener Gemeinderat im Jahr 2014 beschlossene Grundsatzstrategie zur Förderung des Fußverkehrs sieht unter anderem die Erhöhung der Verkehrssicherheit, die Einrichtung von Flaniermeilen, die Verkehrsberuhigung und -entschleunigung, die Attraktivierung öffentlicher Räume sowie den Abbau von Barrieren und einer Reihe weiterer Maßnahmen vor. Mit diesem Grundsatzbeschluss wurde die Basis gelegt, um den bereits hohen Fußwegeanteil in Wien in den nächsten Jahren noch steigern zu können. Geschichtliche Entwicklung Wien ist in seiner Geschichte schon immer eine ausgeprägte Fußgängerstadt gewesen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert – der Blütezeit der Habsburgermonarchie in Wien – wurde die wachsende Stadt mangels Alternativen auf fußläufige Erreichbarkeit ausgerichtet. Über 2 Millionen Menschen lebten damals in der Stadt Wien. Aus dieser Zeit zeugen heute noch viele „Durchhäuser“: Abkürzungen zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen, die damals für Fußgängerinnen und Fußgänger beim Bau neuer Häuser vorgesehen wurden. Aufgrund der Hügellage einiger Stadtbezirke (vor allem der 6. und 9. Bezirk) wurden auch mehrere Fußgängertreppen wie z.B. die Strudlhofstiege errichtet. Die kompakte Stadtstruktur und die dadurch bedingte Nähe von Wohnen und Arbeiten haben zwei Weltkriege und das Bestreben nach der autogerechten Stadt in der Nachkriegszeit überdauert. Zufußgehen und der öffentliche Verkehr sind deswegen auch heute noch die prägenden Fortbewegungsmittel in Wien. Wienerinnen und Wiener gehen gerne zu Fuß Obwohl das heutige Stadtgebiet Wiens um einiges größer als noch im 19. Jahrhundert ist, legen die Wiener auch heute noch 26% ihrer Wege ausschließlich zu Fuß zurück. Berücksichtigt man noch die Wege, in denen wenigstens ein Teil der Strecke zu Fuß zurückgelegt wurde (z.B. der Fußweg zu einer Haltestelle des öffentlichen Verkehrs) erhöht sich der Anteil des Zufußgehens am Modal Split sogar Editorial Wien ist eine Stadt mit einer sehr hohen Lebensqualität. Dies liegt nicht zuletzt auch an den guten Bedingungen für das Zufußgehen. Zufußgehen fördert nicht nur die Gesundheit der Fußgänger, sondern belebt den öffentlichen Raum und schafft Gelegenheiten zur Interaktion und Kommunikation mit anderen. Gleichzeitig wird durch Zufußgehen die Lärm- und Schadstoffbelastung in der Stadt reduziert und verstopfte Straßen und überfüllte öffentliche Verkehrsmittel entlastet. Gerade auch unter dem Aspekt der aktuellen Bevölkerungsentwicklung ist die Förderung des Fußverkehrs ein wesentlicher Faktor, damit Wien auch in Zukunft eine attraktive Stadt zum Leben bleibt. DI Andreas Trisko, Abteilungsleiter Fortsetzung Seite 2 Abb. 1: Linkes Bild: Durchhaus, Sünnhof (Wien 3); Rechtes Bild: Strudlhofstiege (Wien 9) Fotos: Christian Fürtner 1 Beiträge zur Stadtentwicklung 26% 39% zu Fuß 7% Fahrrad MIV 28% ÖV auf 56%. In Wien gehen damit täglich mehr Menschen zu Fuß als, mit dem Auto fahren. Der hohe Fußwegeanteil soll in Zukunft noch gesteigert werden, was angesichts des Bevölkerungswachstums, insbesondere an den Stadträndern, eine große Herausforderung darstellt. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist es erforderlich, trotz des peripheren Wachstums eine gut durchmischte und kompakte Stadtstruktur zu erhalten, sodass auch in den 38 neuen Siedlungsgebieten viele Ziele zu Fuß erreicht werden können. Neben der fußläufigen Erreichbarkeit möglichst vieler Ziele spielt auch die Verkehrssicherheit, d.h. klare Wegeverbindungen mit guten Sichtbeziehungen und ausreichend breite Gehsteige sowie die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Straßenraum, das Vermeiden von Angsträumen und die NutzerInnenfreundlichkeit eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Fußverkehrs. Abb. 2: Modal Split in Wien 2014. Quelle: Omnitrend GmbH: Mobilitätsverhalten der Wiener Bevölkerung, 2014 Geschlechts- und altersspezifische Unterschiede Abb. 3: Genutzte Verkehrsmittel nach Geschlecht (2010-2014). 28% 25% 6% 7% 28% 33% 25% 38% 36% 40% Gesamt 19% 36% 6% 5% 28% 5% 19% 22% männlich 27% 8% Fahrrad MIV weiblich 36% 8% 33% 24% zu Fuß 5% ÖV Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 28% 30% 3% 32% 32% 39% 1% zu Fuß 20% Fahrrad MIV 57% 38% Gesamt 37% 35% 0-14 15-29 30-44 33% 29% 45-59 60-74 40% ÖV 75+ Wegezwecke Abb. 4: Genutzte Verkehrsmittel nach Alter (2010-2014). Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 6% 6% 8% 8% 36% 33% 5% 5% 38% Arbeit Ausbildung Versorgung Abb. 5: Wegzwecke auf Fußwegen nach Geschlecht (2010–2014). 42% Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 Auch wenn sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Mobilitätsverhalten in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angeglichen haben, gehen Frauen immer noch häufiger zu Fuß als Männer (Modal-Split-Anteil bei Frauen 30% im Vergleich zu 25% bei den Männern). Bei einer Betrachtung nach Altersgruppen zeigt sich, dass Jugendliche und junge Erwachsene den geringsten Anteil (19%) an reinen Fußwegen aufweisen. Dies liegt sowohl an außerhalb der Gehdistanz liegenden Schul- und Ausbildungsstätten als auch für diese Personengruppe besonders günstigen Jahreskarten der Wiener Linien. Auch für die Gruppe der 30- bis 44-Jährigen liegen die Arbeitsplätze meist außerhalb der Gehdistanz. Der reine Fußweganteil liegt in dieser Altersgruppe bei 22%, Wegezweck ist hier sehr häufig das Holen und Bringen von Personen. Die höchsten Anteile an reinen Fußwegen weisen Kinder und alte Menschen auf (reiner Fußweganteil zwischen 36% und 39%). Viele Alltagsziele sind für diese Gruppen zu Fuß erreichbar, und es ist in Wien durchaus noch üblich, den Weg zur Volksschule zu Fuß zurückzulegen. 42% 41% 8% 2% 7% 2% 9% 2% Gesamt männlich weiblich Freizeit Jemanden Holen/Bringen Sonstiges 42% aller Fußwege werden zu Freizeitzwecken wie Freunde treffen, Restaurantbesuche bzw. Kultureinrichtungen oder das Besuchen von Parks und Naherholungsgebieten zurückgelegt. 36% aller Fußwege gelten Versorgungszwecken (Einkauf, Dienstleistungen). Über die Hälfte der Einkäufe für den täglichen Bedarf werden zu Fuß erledigt. Wege zur Versorgung werden von Frauen zu 38% zu Fuß zurückgelegt, von Männern etwas geringer zu 33%. Dass man vor allem in den dichter besiedelten Gebieten Wiens immer noch sehr gut zu Fuß einkaufen kann, liegt an einer im europäischen Vergleich überdurchschnittlichen Lebensmittelgeschäftsdichte. 2 Beiträge zur Stadtentwicklung 38 Einfluss von PKW-Verfügbarkeit Personen in autofreien Haushalten legen rund ein Drittel ihrer Wege zu Fuß (und 55% mit ÖV) zurück. Bei einem Auto im Haushalt sinkt der zu-Fuß-Anteil an allen Wegen auf 27%, bei 2 oder mehr Autos reduziert sich der Modal-SplitAnteil des Zufußgehens sogar auf 17%. Entfernung und Dauer Entfernungen bis maximal 500 m werden fast ausschließlich zu Fuß zurückgelegt (die Entfernungsklasse umfasst 16% aller Wege). Auch bei Wegen zwischen 500 m bis 1 km dominiert das Zufußgehen mit 77%. Bei größeren Entfernungen bis zu 2 km werden immerhin noch ein Drittel aller Wege gegangen. Bei Entfernungen zwischen 2 und 3 km erreicht der Fußverkehr einen Anteil von 14% und ist sogar höher als der Radverkehr mit 9%. Die durchschnittliche Entfernung eines reinen Fußweges beträgt 800 m, die durchschnittliche Dauer für die meisten Wegzwecke beträgt zwischen 10 und 13 Minuten. Eine Ausnahme bilden Freizeitwege, die auch Spaziergänge, wandern und joggen beinhalten. Diese Wege machen einen Anteil von 38% an den Fußwegen aus und haben eine Durchschnittsdauer von 28 Minuten. Werden alle Entfernungen und die Dauer aller Fußwege eines Tages addiert, so gehen die Wienerinnen und Wiener im Durchschnitt täglich knapp 500 m zu Fuß und benötigen dafür 13 Minuten. Besonders viel gehen Seniorinnen und Senioren zwischen 60 und 74 Jahren (tägliche Gesamtfußlänge 600 m), während 15bis 29-Jährige mit insgesamt 350 m deutlich weniger zu Fuß zurücklegen. Junge Erwachsene sind zwar seltener zu Fuß unterwegs, legen aber im Falle eines Fußweges die größten Distanzen zurück (durchschnittlich 1 km pro Weg). Berücksichtigt man dazu noch alle Teilwege (d.h. z.B. zur nächsten ÖV-Haltestelle), so beläuft sich die zu Fuß zurückgelegte Strecke eines durchschnittlichen Wieners bzw. einer durchschnittlichen Wienerin auf 1,1 km und 26 Minuten am Tag. 14% 30% 32% 9% 6% 77% 24% 1% 4% 6% 7% 26% 30% 64% 63% 39% 27% 15% 99% zu Fuß 23% Fahrrad 60% MIV 50% 40% 8% 9% Gesamt 1% 6% bis 500 m >500 m bis 1 km ÖV 30% >1 km bis 2 km >2 km bis 3 km >3 km bis 5 km >5 km bis 8 km >8 km Abb. 6: Genutzte Verkehrsmittel nach Entfernungsklassen (2010-2014). Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 Entfernung pro Fußweg Gesamtlänge aller Fußwege pro Person und Tag 1005 787 772 762 795 731 745 709 705 601 479 512 523 506 444 522 442 353 Gesamt männlich weiblich 0-14 15-29 30-44 45-59 60-74 75+ Abb. 7: Durchschnittsentfernung pro Fußweg und Gesamtlänge der Fußwege pro Tag (2010-2014). Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 Fußverkehr nach Bezirken und Siedlungsstruktur Personen, die im Innenstadtbereich (Bezirke 1-9, 20) wohnen, gehen überdurchschnittlich oft zu Fuß (33% Fußwegeanteil). In den westlichen Bezirken entspricht der Fußwe- geanteil ungefähr dem Wiener Durchschnitt (28%). Am niedrigsten ist der Fußwegeanteil im Nordosten Wiens (23%) sowie im Süden und Fortsetzung Seite 4 3 Beiträge zur Stadtentwicklung Südosten (je 24%) (siehe Abb. 8). Entscheidenden Einfluss auf den FußgängerInnenverkehr hat offenbar die Siedlungsstruktur, insbesondere die Bebauungsdichte und die fußläufige erreichbare Infrastruktur 28% 33% 28% 23% 24% 24% 5% 4% 3% 38% 39% 5% 6% 9% 28% 17% 28% 33% zu Fuß Fahrrad 38% 41% 39% Gesamt Innen (1-9,20) West (14-19) Abb. 8: Genutzte Verkehrsmittel nach Wohnort der Befragten - Fußwegeanteil nach Lage im Stadtgebiet (2010-2014). Quelle: Omnitrend GmbH, Zu Fuß gehen in Wien, 2015 34% 33% Nordost (21, 22) Süd (12, 13, 23) 40% MIV ÖV Südost (10, 11) 38 im Wohnumfeld. So legen Bewohnerinnen und Bewohner der zentral liegenden Gründerzeitgebiete mit sehr guter und guter Wohnungsqualität im Schnitt 36% bzw. 38% aller Wege zu Fuß zurück. In den dicht bebauten Gründerzeitgebieten außerhalb des Gürtels ist der reine Fußwegeanteil der Bevölkerung mit 29 % bereits geringer. In den Gebieten mit großformatigen Wohnhausanlagen ab 1960 und in Neubaugebieten bis 1960 entfallen auf Fußwege nur 26% bzw. 27%. In Neubauten (d.h. nach 1960) sinkt der Zu-Fuß-Anteil auf 23% und in Einfamilienhaus- und Kleingartengebieten in Stadtrandlage gar auf 21 %. Am wenigsten wird in gewerblich dominierten Mischgebieten zu Fuß gegangen. Hier lebt aber auch nur ein geringer Teil der Bevölkerung. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der, wer im Grünen wohnt, weniger zu Fuß geht. Fußverkehr-Infrastruktur In den 1990er-Jahren wurden erstmals Minimalanforderungen für Fußwege festgelegt. Seit dieser Zeit ist jeder neu errichtete Gehsteig in Wien zumindest 2 m breit. Bei Kreuzungen wurden Vorkehrungen getroffen, die die Verkehrssicherheit erhöhen und das Queren für FußgängerInnen erleichtern, z.B. wird durch Gehsteigvorziehungen einerseits die Querungslänge reduziert, das Parken im Kreuzungsbereich verhindert und andererseits die Sichtbeziehungen verbessert. In den 1970er-Jahren wurde in Wien damit begonnen, vom motori- sierten Individualverkehr dominierte Straßen in FußgängerInnenzonen umzugestalten. Die Zahl und die Fläche dieser FußgängerInnenzonen sind seitdem bis heute kontinuierlich gestiegen – von 13.000 m² im Jahr 1974 zu 298.800 m² im Jahr 2015. Die jüngste Umgestaltung fand auf der „Mariahilfer Straße“ statt, der größten Einkaufsstraße von Wien. Das Konzept beinhaltet dabei eine Mischung aus Fußgängerzone und Begegnungszone, welche in dieser Form zum ersten Mal in Wien umgesetzt wurde. Weitere Begegnungszonen sind geplant und werden folgen. Resümee Der Endbericht „Zu Fuß gehen in Wien“ steht unter www.stadtentwicklung. wien.at/studien/b008453.html gratis als Download zur Verfügung. Impressum: Medieninhaber und Herausgeber: MA 18, Stadtentwicklung und Stadtplanung 1082, Rathausstraße 14–16 www.stadtentwicklung.wien.at Für den Inhalt verantwortlich: Mag.a Dr.in Astrid Klimmer-Pölleritzer, DI Hanns Schinner Foto Editorial: © Foto Wilke Grafik: Typisch Beton Grafik Design OG © MA 18 - Stadtentwicklung und Stadtplanung, November 2015 Erklärtes Ziel der Stadt Wien ist es, den Fußwegeanteil auf hohem Niveau (2014: 26%) zu halten bzw. in Zukunft noch zu steigern. Dies kann nur durch die Verbesserung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, der Erhöhung der Verkehrssicherheit sowie den Ausbau der FußgängerInneninfrastruktur erreicht werden. Je größer die Zufriedenheit mit der Infrastruktur im Wohnumfeld ist, umso häufiger wird auch zu Fuß gegangen. Durchgehend frei begehbare Gehsteigbreiten von 2 m, Verweilmöglichkeiten und alltagstaugliches, witterungsbeständiges Stadtmobiliar sind ebenso wichtig wie ausreichende und gut situierte Sitzgelegenheiten, Schattenspender, Bepflanzungen, Trinkbrunnen etc. Besonders wird auf eine gute Durchwegung der Grätzel – insbesondere auf die Wiener Tradition der Durchhäuser – geachtet, möglichst direkte Wege und die fußläufige Erreichbarkeit von Einrichtungen des täglichen Bedarfs wird von zentraler Bedeutung. Auch in den Stadtentwicklungsgebieten muss durch eine kompakte Siedlungsstruktur sowie eine Durchmischung der Nutzungsarten sichergestellt werden, dass die fußläufige Erreichbarkeit möglichst vieler Ziele gegeben ist. 4
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