Ich fühle mich in Nepal fast mehr zuhause

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Brennpunkt
Bieler Tagblatt Dienstag, 12.01.2016
«Ich fühle mich in Nepal fast mehr zuhause»
Sutz Die Seeländerin Lara Rosi Widmer ist seit Jahren eng mit Nepal verbunden. Mittler
verheerenden Erdbeben des letzten Frühlings betroffen sind. Im Interview spricht sie von
weile engagiert sie sich mit Herzblut für die Menschen, die von den
Karma und dem unerschöpflichen Lebenswillen der Nepalesen.
Interview: Carmen Stalder
Fast dreiviertel Jahre sind seit den Erdbeben in Nepal vergangen. Dennoch leben noch
immer unzählige Menschen im Freien – wie hier in einer Zeltstadt in Kathmandu, der
Hauptstadt des Landes.
Lara Rosi Widmer unterstützt in Nepal verschiedene Projekte. Eines davon ist die
«Shree Baluwa Secondary School» mit ihren rund 500 Schülerinnen und Schülern
(oben). Ebenfalls unterstützt durch Schweizer Spenden wird das Musikprojekt «Ghorkali
Takma Band». Ehemalige Strassenkinder aus dem Kinderheim «Indreni Children» können dort Musik machen (Mitte). Auf den letzten beiden Nepal-Reisen wurde die Seeländerin von ihrer Tochter Laura Alejandra (17) begleitet (unten). Bilder: zvg
Lara Rosi Widmer aus Sutz ist im Jahr
2011 zum ersten Mal nach Nepal gereist.
Seither hat sie das asiatische Bergland
nicht mehr losgelassen. Auf vielen weiteren Reisen ist die 52-Jährige tief in die
Kultur Nepals eingetaucht. Dabei hat sie
viele tiefe Freundschaften geschlossen.
Nach den verheerenden Erdbeben im
Frühling des vergangenen Jahres hat sich
Lara Rosi Widmer dazu entschlossen, in
der Schweiz Geld zu sammeln und damit
verschiedene Projekte in Nepal zu unterstützen. Dank ihres Spendenaufrufs können aktuell drei soziale Projekte in Nepal
finanziell unterstützt werden. Begleitet
wurde sie auf den letzten Reisen von
ihrer 17-jährigen Tochter Laura Alejandra. Kurz vor Weihnachten sind die beiden aus Nepal zurückgekehrt.
Lara Rosi Widmer, Sie sind kürzlich
aus Nepal zurückgekehrt. Wie sieht
die Situation rund acht Monate nach
den starken Beben in Nepal aus?
Lara Rosi Widmer: Die Lage ist derzeit
katastrophal. Am 20. September hat Nepal eine neue Verfassung in Kraft gesetzt.
Da Indien mit verschiedenen Punkten
dieser Verfassung nicht einverstanden
ist, hat das Land alle Grenzen zu Nepal
geschlossen. Offiziell wird dies dementiert. Seit Ende September können jedoch keine Medikamente, kein Benzin
und kein Baumaterial mehr ins Land eingeführt werden. Für ein Land, in dem
nach dem Erdbeben der Wiederaufbau
stattfinden sollte, ist dies verheerend.
Welches sind die sichtbaren Auswirkungen dieses Boykotts?
Es gibt kilometerlange Schlangen von
Autos und Töffs, die tagelang für Benzin
anstehen. Weil es auch kein Gas mehr
gibt, kochen die Menschen auf Feuer. Das
sieht zwar romantisch aus, ist es aber
überhaupt nicht. Die Häuser der Nepalesen sind voller Rauch. Am schlimmsten
ist die Lage in den abgelegenen Dörfern
im Himalaya.
Dann ist aktuell die schlechte Versorgungslage die grösste Herausforderung für die Nepalesen?
Ja, das ist das grösste Problem, grösser
noch als das Erdbeben selber. Es wird befürchtet, dass Nepal zum ärmsten Land
in Südasien wird, noch vor Bangladesch
und Indien. Ein Nepalese verdient pro
Jahr durchschnittlich 700 Dollar. Das ist
unvorstellbar wenig.
Wie sieht es denn vor Ort betreffend
der Schäden durch die Erdbeben aus?
Im berühmten Shechen-Kloster in Kathmandu, zu dem ich enge Kontakte habe,
sind die Menschen jetzt wirklich am Aufbauen – mithilfe von Sponsoren aus dem
Westen. Auch in den Dörfern finden
Hilfsaktionen statt. Es sind vor allem die
Nepalesen selber, die sich um den Wiederaufbau kümmern. Viele meiner
Freunde gehen in die Dörfer, um Wasser,
Essen und Zeltblachen zu verteilen. Aber
das ist alles privates Engagement.
Sind die internationalen Hilfsorganisationen noch vor Ort?
Hilfswerke wie die Glückskette oder
Unicef machen nach wie vor sehr viel. Sie
kennen die Situation vor Ort und wissen,
dass man mit der korrupten Regierung
aufpassen muss. Der Wiederaufbau wird
jedoch Jahrzehnte dauern. Es ist erschütternd zu sehen, dass Menschen
mitten in Kathmandu immer noch in
Zelten leben.
In Nepal herrschen im Winter eisige
Temperaturen. Was hat dies für Auswirkungen auf das Leben der Menschen?
Laut Unicef sind über drei Millionen nepalesische Kinder in grosser Gefahr, wegen fehlenden Medikamenten und der
Kälte ernsthaft zu erkranken oder gar zu
sterben.
Und was wird gegen diesen Zustand
unternommen?
Die nepalesische Regierung ist zwar mit
Indien am Verhandeln, aber derzeit
bleibt es vor allem beim Reden.
Lara Rosi Widmer geht völlig auf in ihrem Engagement für die Menschen in Nepal.
Anita Vozza
Zur Person
• Geboren am 11. Oktober 1963.
• Ausgebildete Gymnasial- und Sekundarschullehrerin. Seit 2002 vollumfänglich als
Übersetzerin (Französisch und
Italienisch) in eigenem Büro tätig.
• Wohnt zusammen mit Tochter Laura
Alejandra (17) und Kater Aladin in Sutz. cst
Info: Wer Lara Rosi Widmer gerne unterstützen
möchte, kann ihr mit einer Geldspende, die
vollumfänglich den Projekten in Nepal zugute
kommt, helfen: Postkonto Rosmarie Widmer,
Nr. 31-690881-0, Vermerk «Nepal» und allfällige
Angabe, für welches der drei Projekte das Geld eingesetzt werden soll. Weitere Informationen auf
Nachfrage: [email protected]
Aktuelle Lage in Nepal
Nepal Fast dreiviertel Jahre nach den
Erdbeben in Nepal sind die Folgen
immer noch spür- und sichtbar. Eine
Handelsblockade an den indischen
Grenzübergängen verschärft die Lage
zusätzlich.
Im April und Mai 2015 erschütterten
mehrere Erdbeben bis zur Stärke 7,8 das
Land Nepal. Die Beben gelten als die
tödlichste Katastrophe in der Geschichte
des Landes: Insgesamt kamen mehr als
9000 Menschen ums Leben. Über
600 000 Häuser wurden vollständig zer-
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stört, Millionen Menschen wurden obdachlos.
Heute kämpft die Himalaya-Nation
nicht nur mit den Folgen des schlimmsten
Erdbebens seit acht Jahrzehnten. Das
Land leidet zudem unter einer inoffiziellen Handelsblockade: Seit vier Monaten
kommen kaum noch Güter über die indische Grenze nach Nepal. Hilfsflüge für die
Erdbebenopfer mussten mangels Treibstoff bereits gestoppt werden. Hilfsorganisationen können wegen des fehlenden
Benzins für ihre Fahrzeuge kaum Nahrungsmittel und Decken in die vom Erd-
beben betroffenen Gebiete ausliefern. Dabei hausen laut den Vereinten Nationen
noch immer etwa 200 000 Familien in
Notzelten in Höhen von über 1500 Metern, wo der Winter besonders hart ist.
Als Ursache für die geschlossenen indischen Grenzen gilt die neue Verfassung
Nepals, die im September in Kraft getreten ist. Die Madhesi, eine nepalesische
Volksgruppe mit engen Banden zu Indien, fühlen sich durch die Verfassung
politisch geschwächt. Aus Protest blockieren sie nun die Grenzübergänge –
teils auch mit Gewalt. cst
Lässt Sie diese Untätigkeit nicht ohnmächtig zurück?
Die schlimme Lage hat mich sehr betroffen gemacht. Diese Leute sind so arm, sie
haben einfach nichts. Ein riesiges Problem ist auch die Umweltverschmutzung.
Alle sind am Husten, ich selbst komme
nach jeder Reise mit einer leichten Bronchitis nach Hause. Immerhin überlege
ich mir deswegen nicht ernsthaft, in
Kathmandu zu leben. Ich würde krank
werden.
Sie haben mit dem Gedanken gespielt,
nach Nepal auszuwandern?
Ich habe mich des Öfteren gefragt, wieso
ich eigentlich hier in der Schweiz lebe.
Manchmal fühle ich mich in Nepal fast
mehr zuhause. Von hier aus kann ich aber
mit Sicherheit mehr bewirken.
Wie haben Sie geholfen, als Sie im Dezember vor Ort waren?
Mit meinen Freunden habe ich verschiedene Projekte besucht und das in der
Schweiz gesammelte Geld abgeliefert. Ich
habe extrem gute Kontakte zu Leuten,
denen ich vertrauen kann. Die stecken
sich das Geld nicht in den eigenen Sack,
wie das die Regierung versucht.
Sie haben also vor allem eine Kontrollfunktion?
Für mich hat sich eine ganz spannende
Funktion ergeben. Meine nepalesischen
Bekannten finden, dass ich inspirierend
auf sie wirke. Offensichtlich kann ich sie
begeistern und ihnen Hoffnung geben.
Und ich konnte dort Menschen zusammenbringen. Das ist ganz speziell: Eine
Schweizerin, die in Kathmandu Kontakte
unter den Nepalesen schafft.
Wie viel Geld konnten Sie bisher in
Nepal investieren?
Rund 15 000 Franken. Geld, das ich von
Leuten zusammenbekommen habe sowie meine private finanzielle Unterstützung. Das ist fast alles Ram Hari und seinem Kinderheim zugute gekommen, ein
weiterer Teil ging an das Musikprojekt
und an eine Schule (siehe Infobox «Die
Projekte von Lara Rosi Widmer»).
Warum engagieren Sie sich ausgerechnet in Nepal? Oder anders gesagt,
wie erklären Sie sich diese spezielle
Verbindung zu den Menschen dort?
Nach buddhistischer Auffassung ist dies
ganz klar Karma. Ich glaube an frühere
Leben und habe die starke Überzeugung,
früher in Nepal gelebt zu haben. Ich habe
dort so viele spezielle Sachen erlebt. Eine
hinduistische Familie hat mich in einem
herzergreifenden Ritual als ihre Tochter
aufgenommen. Bei ihr hatte ich das
Gefühl, zuhause zu sein. Eine wichtige
Rolle spielt auch meine Verbindung zum
Buddhismus.
Sind Sie Buddhistin?
Ich würde mich als Buddhistin bezeichnen, obwohl ich mittlerweile Mühe habe
mit jeglicher Etikette. Ich habe ganz klar
einen buddhistischen Hintergrund, aber
bei mir geht das über die Religion hinaus. Mir spielt es keine Rolle, ob jemand
Hindu oder Buddhist oder gar nichts ist.
Entscheidend ist, wie jemand lebt.
Wie zeigt sich der Buddhismus in
Ihrem Alltag?
Mein Leben hat sich mit dem Buddhismus extrem verändert. Ich meditiere jeden Tag. Ich habe einen persönlichen
Lama in Kathmandu, den ich auf jeder
Reise besuche. Und ich versuche für
mich, die Lehren des Buddhismus umzusetzen. Das Wichtigste ist für mich,
dass man bei sich hinschaut statt immer
bei den anderen. Die Welt ist unser Spiegel: Was wir hinausschicken, kommt zurück.
Was gibt Ihnen denn Ihr Engagement
in Nepal persönlich zurück?
Wenn ich zwei Wochen in Nepal bin,
dann bin ich zwei Wochen lang echt
glücklich. Wie die Nepalesen trotz allem
diese grosse Lebensfreude ausstrahlen,
finde ich beeindruckend. Sie leben aus
vollem Herzen. Wenn ich jeweils am
Flughafen in Kathmandu ankomme, laufen mir die Tränen hinunter. Es ist für
mich meine Herzensheimat.
Herrscht nach den Erdbeben nicht
auch Resignation in der Bevölkerung?
Das kommt auf die Leute und die persönlichen Umstände an. Die Nepalesen sagen, dass es für sie schon immer schwierig war und sie es deshalb auch dieses Mal
schaffen. Sie stehen wieder auf und
kämpfen weiter.
Können Sie diese positive Einstellung
auch für sich persönlich mitnehmen?
Am gleichen Tag, als das zweite grosse
Erdbeben stattfand, ist auch mein ExMann und der Vater meiner Tochter
Laura an Krebs gestorben. Das war für
uns eine ganz schlimme Zeit, in der mir
die Lebenseinstellung der Nepalesen geholfen hat. Unser Engagement in Nepal
machen wir jetzt auch in seinem Namen
weiter. Er hat es bewundert und toll gefunden, dass unsere Tochter mich unterstützt.
Was muss sich verändern, damit Nepal eine bessere Zukunft hat?
Das Wichtigste ist, dass die Situation in
Nepal weiterhin thematisiert wird, aktuell besonders dieser Boykott durch Indien. Viele haben das Gefühl, dass durch
die Spenden alles wieder gut und aufgebaut ist. Doch dem ist nicht so. Mein persönlicher Beitrag besteht darin, dass Nepal nicht vergessen geht.
Wie schaffen Sie es, die Leute von der
Wichtigkeit Ihrer Unterstützung in
Nepal zu überzeugen?
Ich möchte niemanden überzeugen – das
widerspricht meiner buddhistischen Lebensauffassung. Ich erzähle von Nepal
und zeige mit Fotos, was überhaupt los
ist. Viele meiner Bekannten verbinden
Nepal unterdessen mit meinem Namen.
Ich glaube, das genügt.
An Ostern reisen Sie erneut nach Nepal. Ihr Leben ist stark auf Ihr dortiges Engagement fokussiert. Leiden
darunter andere Aspekte in Ihrem
Alltag?
Das ist eine sehr zentrale Frage, ich muss
wirklich auf meine Energie schauen. Die
letzte Reise ist gesundheitlich extrem ans
Limit gegangen. Ich muss mir bewusst
machen, dass ich hier und nicht in Nepal
lebe.
Fällt es Ihnen schwer, Distanz zu wahren?
Ja, weil ich wirklich eine ganz enge Verbindung zu Nepal habe. Es ist schwierig,
mich da nicht hereinziehen zu lassen.
Ich muss mich inzwischen abgrenzen,
ich kann nicht auch noch das und das finanzieren. Ich kann nicht ganz Nepal
retten.
Die Projekte
von Lara Rosi Widmer
Die von Lara Rosi Widmer eingenommenen Spendengelder fliessen aktuell in
drei verschiedene Projekte in Nepal.
• Kinderheim «Indreni Children»
Der 35-jährige Nepalese Ram Hari ist ein
enger Freund der Seeländerin. Er leitet
zwei Kinderheime mit rund 50 Kindern.
Sie stammen aus schwierigen familiären
Verhältnissen oder lebten früher auf der
Strasse und waren drogenabhängig. Bei
den Erdbeben wurde glücklicherweise
niemand verletzt. Jedoch musste Ram
Hari eines der Kinderhäuser räumen, weil
der Besitzer einziehen wollte – dessen
Haus war durch das Beben zerstört worden. «Ich habe Ram Hari bei einem früheren Besuch versprochen, sein Projekt
zu unterstützen. Zwei Wochen später hat
die Erde gebebt – und es war an der Zeit,
mein Versprechen einzulösen», sagt
Widmer. Nun wird mithilfe der Spendengelder ein neues Kinderhaus gebaut.
• Musikprojekt «Ghorkali Takma Band»
Aazeet Dextor und sein Bruder Safic leiten zusammen die «Ghorkali Takma
Band». Lara Rosi Widmer hat die beiden
über Facebook kennengelernt und anschliessend mit Ram Hari bekannt gemacht. Daraus ist nun ein langfristiges
Musikprojekt entstanden: Mit finanzieller
Unterstützung aus der Schweiz konnten
viele neue Musikinstrumente angeschaffen werden. Einmal wöchentlich geben
nun die Musiker der Band den «Indreni
Children» Unterricht. «Dieses Projekt liegt
mir sehr am Herzen. Die Musik tut den
Kindern extrem gut», sagt Widmer.
• «Shree Baluwa Secondary School»
Die Schule befindet sich im Bezirk Kavre,
einer Region, die besonders stark von
den Erdbeben heimgesucht wurde. Ein
Schulgebäude wurde beschädigt und
muss nun neu aufgebaut werden. Nebst
einem Zaun, der die Schule vor wilden
Tieren und Dieben schützt, ist auch der
Bau von Toiletten dringend notwendig.
Aktuell stehen den 500 Kindern dafür nur
Löcher im Boden zur Verfügung. Die
Schülerinnen und Schüler stammen aus
den umliegenden Dörfern der Region
und sind 5 bis 18 Jahre alt. «Die Schule
möchte ich künftig gerne finanziell
unterstützen», sagt Widmer. cst