NP - Medizinische Hochschule Hannover

Mittwoch, 9. März 2016
Hannover
Nr. 58
Neue Presse
13
Ein Großteil ihres Gesichts wurde durch den brutalen Säureangriff ihres Ex-Freundes (32) in Leinhausen zerstört: Doch kaum aus dem Koma erwacht,
entscheidet sich Vanessa M. (27), tapfer und mit Optimismus in die Zukunft zu schauen. Die junge Kosmetikerin will sich nicht verstecken; sie sagt: „Egal,
was zukünftig kommt, das ist Teil meines Lebens.“ Ihr Anwalt sagt über die Attacke des Ex-Freundes: „Das war versuchter Mord.“
„Lasse mir mein Leben nicht zerstören“
VoN ANDREAS KöRLiN
HANNOVER. Dies ist die Ge-
schichte einer sehr, sehr tapferen jungen Frau: Zwölf Tage
lag Vanessa M. (27) im Koma.
Anschließend dauerte es sechs
Tage, bis das opfer des Säureanschlags von Leinhausen sein
Bewusstsein komplett wiedererlangt hatte. Donnerstag
wurde die 27-Jährige von der
intensiv- auf eine Normalstation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) verlegt.
Seit Freitag ist Vanessa M.
ansprechbar. Seit Freitag weiß
sie, dass die brutale Attacke
ihres Ex-Freundes vom 15. Februar ihr Leben und das ihrer
Familie und Freunde entscheidend verändert hat – für immer.
„Vanessa wachte sehr langsam
aus dem Koma auf“, erinnert
sich ihr Vater Martin M. (58).
Es habe viele Stunden gedauert, bis sie realisiert habe, wie
schwer ihre Verletzungen sind.
„Aber als gelernte Kosmetikerin kennt sie sich mit Hautproblemen sehr gut aus“, ergänzt
der Gastronom.
Auf der MHH-intensivstation
habe es zwar keine Spiegel
gegeben, aber seine Tochter
habe sich dort bereits schemenhaft in reflektierenden
oberflächen von Einrichtungsgegenständen betrachtet.
Vanessas ehemaliger Partner (32) hatte der 27-Jährigen frühmorgens, als sie drei
Tage nach ihrem Geburtstag
auf dem Weg zur Arbeit war,
eine stark ätzende Flüssigkeit
ins Gesicht geschüttet. „Es war
wohl doch keine Batteriesäure,
sondern eine extrem schwefelhaltige Säure. Die kriminal-
technischen Untersuchungen
laufen noch“, sagt Vanessa M.s
Anwalt Matthias Waldraff.
Dann fügt der 63-Jährige mit
leiser Stimme hinzu: „Vanessa
hat das gesamte Wochenende mit Eltern und Psychologen überlegt, wie sie mit ihrer
Situation weiter umgehen will.
ihr Entschluss war: ich lasse
mir mein zukünftiges Leben
nicht zerstören. ich gehe offensiv damit um, und ich muss lernen, jeden Tag damit umzugehen, wenn ich in den Spiegel
Das war keine
Körperverletzung,
sondern
versuchter Mord.
Martin M. (58),
Vater von Vanessa
schaue. ich will mich nicht verstecken.“
Am Montagvormittag sei
seine Mandantin erstmals von
zwei Kripo-Beamten ausführlich befragt worden, erklärt
Waldraff. Sie habe eine Erinnerung an das gesamte Geschehen und habe den Ablauf schildern können. Details nennt
der hannoversche Rechtsanwalt nicht. Sein Fazit aber lautet: „ich gehe davon aus, dass
er als Täter feststeht. Er wird
sich vor dem Landgericht verantworten müssen.“ Die vom
Anwalt des mutmaßlichen
Täters erwähnte mögliche Schuldunfähigkeit
sieht Waldraff nicht:
„Der gesamte Ablauf spricht
gegen eine Schuldunfähigkeit.“
Zum möglichen Strafmaß
im Falle einer Verurteilung
äußert sich der Anwalt nicht. Er
betont aber: „Das war versuchter Mord.“ Der Hildesheimer
habe die Tat eindeutig geplant
und heimtückisch gehandelt,
indem er die Säure völlig überraschend ins Gesicht seiner ExFreundin geschüttet habe.
Vanessa M.s Vater pflichtet dem Anwalt bei: „Das war
keine Körperverletzung, sondern versuchter Mord.“ Wenn
die Rettungskräfte nicht bereits rund vier Minuten nach
dem Anschlag am Einsatzort
gewesen wären und so schnell
geholfen hätten, „wäre sie vermutlich gestorben“.
Doch jetzt will Vanessa M.
kämpfen.„Sie hat eine unglaublich starke Persönlichkeit“, sagt
Waldraff und zitiert das opfer:
„Egal, was zukünftig kommt,
das ist Teil meines Lebens.“
Vanessa wolle beispielsweise
ohne Kopftuch oder Maske mit
ihren Eltern essen gehen. Sie
sage: „ich will mein Gesicht
nicht verstecken, ich will keinen Schleier tragen.“ „Sie war
schon immer sehr stark“, sagt
der Vater, der seine Tochter
täglich besucht und stets mehrere Stunden mit ihr spricht.
„Vanessa
nimmt
einen
Kampf auf“, betont Waldraff,
„sie ist opfer von Stalking –
das passiert 100-mal am Tag
in Deutschland – und sie zeigt
allen anderen opfern: Nur so
kann man damit umgehen.“
Dabei helfen der 27-Jährigen, die zuletzt an einer
Tankstelle
gearbeitet
hat, ihre Familie und ihre
Freunde. „ihre Schwester
ist ihre beste Freundin“,
sagt der Vater. Und natürlich sei auch Vanessas
Freundeskreis eine wichtige Hilfe: „Bisher hatte sie
niemanden an sich rangelassen, doch jetzt lässt sie
sich auch von ihren Freundinnen besuchen.“
Und vielleicht darf
bald endlich ein
weiterer treuer
Begleiter der
jungen
Frau
einen
Krankenbesuch
machen:
Beagle-Hündin Kylie wird
von Vanessa
schmerzlich
vermisst.
KURZ VOR EINER WEITEREN OP:
Vanessa M. (27) gestern Morgen
in ihrem Krankenhausbett in der
Medizinischen Hochschule.
Fotos: Surrey/Elsner
Verletzte muss noch 15-mal operiert werden
VoN ANDREAS KöRLiN
TATORT: Spurensicherung kurz nach dem Anschlag vom 15. Februar am
Cuxhavener Hof (Leinhausen). Das Säuregefäß wurde sichergestellt.
HANNOVER. Gestern Vormittag
wurde Vanessa M. (27) in der
Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) erneut operiert –
am Hals. „Die transplantierte Haut
zieht ihren Kopf immer wieder
nach unten“, erklärt Vater Martin
M. Durch den Säureanschlag sei
die gesamte linke Gesichtshälfte
seiner Tochter schwer geschädigt
worden. „Es sind starke Verbrennungen“, sagt der 58-jährige Gastronom leise, „ihr linkes ohr wird
rekonstruiert werden müssen.“
Auch das linke Auge seiner
Tochter sei schwerst verletzt worden. immerhin gebe es nach Angaben der Mediziner eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit, dass
Vanessa mit dem verletzten Auge
wieder wird sehen können.
Etwa 15 weitere operationen an
Gesicht und Hals der 27-Jährigen
seien bereits angedacht, jeder Eingriff werde vermutlich etwa 8000
bis 10 000 Euro kosten. Dann fügt
Martin M. nachdenklich hinzu: „Es
gibt einen ähnlichen Fall im internet; da musste das opfer des Säureanschlags in den acht Jahren
nach der Tat rund 100-mal operiert werden.“
Noch zwei, drei Wochen werde
Vanessa M. in der MHH bleiben
müssen, dann „wird sie in eine
lange Reha gehen“. Doch zunächst
sei sie „hier in der Medizinischen
Hochschule in den Händen der
Besten der Besten“, lobt der Vater
die medizinische Betreuung seiner Tochter in Groß-Buchholz.
Die Kosten für die medizinische
Erstversorgung trage die Krankenkasse. Doch was in den nächsten Jahren die dringend notwendigen Eingriffe durch plastische
Paranoider Jäger: Freiheit oder Haft?
Auf Beamten geschossen: Staatsanwalt fordert viereinhalb Jahre, Verteidigung Freispruch
VoN THoMAS NAGEL
HANNOVER. Helgo P. (51)
sitzt in seinem schwarzen
Kapuzenanorak seitlich an
der Anklagebank. Den rechten Ellenbogen hat er auf
dem Tisch abgestützt. Er
zeigt Staatsanwalt Wolfgang
Scholz im wahrsten Sinne die
kalte Schulter. Nach dem Plädoyer hat Helgo P. auch allen
Grund dazu. Scholz forderte
wegen versuchten Totschlags
und Bedrohung vier Jahre und
sechs Monate Haft für den
gebrechlichen Angeklagten.
Helgo P. sitzt seit fünf Monaten in Untersuchungshaft.
Zum ersten Mal in seinem
Leben ist der Jäger mit dem
Gesetz in Konflikt geraten.
obwohl die Adresse des Querulanten der Polizei in Lehrte
ein Begriff war.
Am Abend des 9. oktober
2015 überschritt der Angeklagte eine Grenze. Als ein Pärchen vor seinem Haus parkte,
schoss er mit seinem Gewehr
in die Luft und rief: „Erste und
letzte Warnung.“ Die jungen
Leute flohen zum Nachbarn.
„Doch der Nachbar wollte die
Polizei gar nicht rufen“, so der
Staatsanwalt. Zu oft hatte dieser erlebt, dass auch die Polizei machtlos gegen Helgo P. ist.
in der Nacht rückte dann doch
das SEK an. „Es war bekannt,
dass der Angeklagte mehrere
Schusswaffen besaß“, sagt
Scholz. Als die Polizisten zwei
Türen auframmten, schoss
Helgo P. mit einem Gewehr
durch die Tür. Nur knapp verfehlte das Geschoss einen
SEK-Mann.
Psychiater Tobias Bellin
bezeichnete den Angeklagten
als einen Mann mit paranoiden Zügen und einem übersteigerten Misstrauen. Eine
verminderte Schuldfähigkeit
sieht der Gutachter aber nicht.
Die Angst vor Einbrechern,die
Helgo P. als Motiv nannte, kauft
der Staatsanwalt ihm nicht
ab. „Während die Mutter des
Angeklagten einen verwirrten
Eindruck machte, war er klar
und bei Verstand.“ Die Mutter
(73) hatte bei einem Polizisten
nach der Waffe gegriffen und
gerufen: „Wann kommt endlich
die richtige Polizei?“ Der Angeklagte sei sauer gewesen, dass
die Polizei ihm zwei Türen zerstört hatte. Die Tatwaffe hatte
er nach dem Schuss in einem
Müllhaufen an der Haustreppe
versteckt.
Anwalt Dimitrios Kotios
stimmt im Tatgeschehen mit
dem Staatsanwalt überein.
Doch aus Angst um seine
Mutter und wegen seiner
paranoiden Züge habe P. die
Lage nicht realisiert. „Es ist
nicht widerlegt, dass er die
Rufe der Polizei nicht verstanden hat“, so der Anwalt.
Außerdem habe er überhaupt
nicht mit einem Polizeieinsatz mitten in der
Nacht
rechnen
können. Deshalb fordert der
Anwalt Freispruch. Die geforderte Strafe des Staatsanwalts kommentierte Kotios
lakonisch: „Gut, wir befinden
uns in Hildesheim.“ Das dortige Landgericht ist bekannt
für seine harten Urteile.
Urteil 14. März
ANGEKLAGT: Helgo P. mit seinem Anwalt
Dimitrios Kotios – P. soll in seinem
Wohnhaus auf Beamte geschossen haben.
Fotos: Kutter
Chirurgen angehe, sei die Familie auf Hilfe angewiesen, da diese
teilweise sehr hohen Kosten nicht
immer von der Krankenkasse
übernommen würden.
Deshalb bittet die Familie von
Vanessa M. um finanzielle Unterstützung. Der Vater: „Jeder Betrag
– und sei er noch so klein – würde
das Leben meiner Tochter ein
Stück weit leichter machen. Bitte
helft Vanessa!“
Wer helfen möchte, findet alle
weiteren informationen dazu
unter
www.welovevanessa.de
VATER MIT ANWALT: Martin M. (58, links) mit Matthias Waldraff (63) im Flur einer MHH-Station.
Risiko Gelber Sack: Nächste
Ausschreibung läuft schon!
HANNOVER. Empörung bei
Tierschützern, Unverständnis
in der Entsorgerbranche: Während die Debatte um die
Abfallsäcke mit für viele Tiere
gefährlichen Verschlussbändchen anläuft, hat Entsorger
aha die nächste Ausschreibung für den Gelben Sack für
die Landeshauptstadt gestartet – dabei wird für die Jahre
2017 bis 2019 weiter auf den
50-Liter-Typ mit dem blassroten Fadenbändchen gesetzt.
Anneliese
Wallat
vom
Arbeitskreis Tierschutz in der
SPD hatte aha vor einem
Monat auf das Problem angesprochen. Sie ist entsetzt, da
weder Brief noch Gespräch
etwas bewirkt haben und nicht
gesagt wurde, dass die nächste
Ausschreibung anstehe: „Es
kann nicht sein, dass der Tierschutz immer hinten runterfällt. Da müssen wir wohl den
politischen Weg nehmen, wir
wollen das stoppen!“ Das Problem mit Zahlen zu belegen,
wie aha fordert, sei unmöglich:
„Das meiste geschieht verborgen – das ist ein Leid, das
kriegt kaum jemand mit.“
Die Ausschreibung für die
Gelber-Sack-Abfuhr in der
Stadt Hannover organisiert die
Firma Reclay Systems, Köln
(im Umland ist das Duale System Deutschland, DSD, zuständig). Regionalchef Lutz Müller
ist es ein Rätsel, warum man
hier diese Art Säcke will: „Das
ist die absolute Ausnahme,
machen in Deutschland keine
fünf Kommunen so.“ Standard
seien die 90-Liter-Säcke mit
Zugband. Die Ausnahmesäcke seien schlechter handhabbar und führten
zu höheren Kosten,
die letztlich der Verbraucher zahle –
über die Preise beim
Einkaufen.
Aha erklärt, das Ausschreibungsverfahren
sei „letzte Woche“ eröffnet worden. Man hätte die
Bedingungen „im gegenseitigen Einvernehmen“ vorher
ändern können. Aha (nimmt
selbst an der Ausschreibung
teil) will aber eine Gegenleistung, etwa mehr wöchentliche
Abfuhren in gewissen Stadtgebieten, weil das „ein Vorteil für die Bürger“ wäre. DSD
und Reclay hätten das abgelehnt. Noch sei Zeit zum Handeln, widerspricht Müller von
Reclay: „Wenn man etwas
ändern wollte, dann ginge das
noch!“ Die Registrierung für
die Ausschreibungsteilnehmer
beginne erst Anfang April. rahü