leipzignoir 1914

Jan Decker
LEIPZIGNOIR 1914
Hörspiel als Libretto
Personen
RUNHILT FÖRSTER
GERD VON DEN HEIDEN
HELMUT FROBENIUS
GERHILT FÖRSTER
ALBERT BORSO
ANTON WATZKE
ARTHUR VON LIEBWITZ
PI LING
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Wir sind 17 Jahre alt und haben gerade unser Abitur
gemacht. Es ist der vierte August 1914. Wir gehen von der Schule in
den Krieg.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Vor zwei Tagen in Frankreich
Mobilmachung. Die Deutschen marschieren in Belgien ein.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Sich als Verteidiger
europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das
Recht, die der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen
und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.
RUNHILT Helmut ist für den Krieg, Gerd ist dagegen. Meine
Schwester Gerhilt und ich warten ab. Seit vier Tagen führen wir
Kriegstagebücher.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Draußen werden neue
Geschütze ausprobiert. Der Lärm ist so groß, dass die Leute glauben,
das Völkerschlachtdenkmal sei zusammengestürzt.
RUNHILT Leipzig ist heiß und leer. Wir gehen in das Hotel Astoria, in
dessen Halle es kühl und still ist. Noch sind wir zu dritt. Helmut ist an
die Ostsee gefahren.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Im Lichtspieltheater am
Strand sah ich gestern Die Film-Primadonna mit Asta Nielsen. Ich
habe Geschenke für euch dabei: Knall-Attrappen in Form von
Zeppelinen.
RUNHILT Der Krieg ist noch nicht da. Die seelische Spannung steigt.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Auf dem Kilimandscharo
weht die Reichsflagge. Der höchste Berg Afrikas heißt seit 1889
Kaiser-Wilhelm-Spitze. Ein gutes Verhältnis zu England sollte uns
wichtiger sein als 20 Sumpfkolonien in Afrika.
RUNHILT Im Deutsch-Abitur mussten wir einen Aufsatz zum Thema
„Einigkeit macht stark“ schreiben. Mit Mühe rangen wir uns die
Worte ab: Vereint werden wir in den Kampf ziehen, vereint werden
wir siegen.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Wir blicken glorreichen
Zeiten entgegen. Im Jahr 2000 wird Leipzig 1,5 Millionen Einwohner
haben.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: In Europa gehen die Lichter
aus. Wir werden sie in unserem Leben nicht mehr leuchten sehen.
RUNHILT Am liebsten streifen wir durch die Ostvorstadt. Das Ostbad,
das ein Sägewerksbesitzer auf eigenem Grund und Boden errichtete.
Die Kleinturnhalle. Ausflugslokale an Straßen und Eisenbahnlinien.
RUNHILT
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schreibt in sein Kriegstagebuch: Zur Weltausstellung 1915
gehört ein Flugzeugrennen rund um den Globus. Die Siegprämie:
2000 Britische Pfund!
RUNHILT Gerd will den Verleger Karl Amboss kennenlernen, der die
bedeutendsten Autoren der Stunde druckt, die Expressionisten.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Er soll gesagt haben: Andere
halten sich Rennpferde, ich halte mir eine Handschriftenabteilung.
RUNHILT Ich weiß nicht, wohin wir steuern. Wir sitzen in einem
Eisenbahnzug von hoher Geschwindigkeit, sind aber im Zweifel, ob
die nächste Weiche richtig gestellt ist.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Vielleicht fing das 20.
Jahrhundert vor vier Tagen an, als Kaiser Wilhelm auf dem Balkon
des Schlosses in Berlin erschien und verkündete: Ich kenne keine
Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.
RUNHILT Wir sind vor allem eines: nervös.
HELMUT
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schreibt in ihr Kriegstagebuch: Fünfter August 1914.
Helmut ist zurück.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Alle sind sich klar darüber,
dass dieser Krieg Deutschland die Weltherrschaft oder den Untergang
bringen wird.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Gerd schreibt in allen
literarischen Formen gegen den Krieg an.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Der Weltkrieg! Der Weltruin!
Ungeheure Nachrichten!
Man glaubt zu träumen!
Alle Menschen sind ratlos!
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Die Deutschen
bombardieren Lüttich. Wir haben uns kleine Beutel genäht, um unser
Geld immer an der Brust zu tragen.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Was wird nach den
Sommerferien sein? Wir werden für die Soldaten stricken statt lernen.
Feldgraue Wolle statt Universität.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Gestern gingen wieder
ungeheure Kolonnen von Munition und Proviant auf allen Straßen
Leipzigs nach Westen. Japan hat Deutschland ein Ultimatum gestellt.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Das Werk Englands,
zweifellos.
RUNHILT
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schreibt in sein Kriegstagebuch: Horst Schneider, der beliebte
Leipziger Varietésänger, hat sich nach einer Vorstellung erhängt,
während das Publikum noch klatschte.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Die Brote sind auf einmal so
groß wie Kindersärge.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Die Sicherheit, dass es in
den Krieg geht, hat alle gefestigt.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Deutschland hat Russland den
Krieg erklärt. Nachmittags gehen wir in das Ostbad.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Wir liegen im Gras,
schlafen, plaudern, rauchen.
Rückblende. Wiese am Ostbad.
HELMUT Zeppeline können höher und weiter als Propellerflugzeuge
fliegen. Zudem können sie größere Lasten transportieren. Sie sollen
Bomben über Warschau und Paris abwerfen, weit hinter der Front.
Ein Militärzeppelin hat den ersten Luftangriff des Krieges über
Lüttich verübt.
GERHILT gähnt: Wie spannend...
HELMUT Ich habe eine grandiose Idee. Ein Flughafen auf dem Dach
des Leipziger Hauptbahnhofs. Man müsste die Start- und Landebahn
nur über die längste Diagonale auf dem Dach legen.
GERHILT Das Leipziger Bürgertum hat 1907 eine Kolonialausstellung
im Rosental finanziert.
GERD Ein Hererodorf mit echten Negern. Schauerlich. Erinnert ihr
euch?
Ende der Rückblende.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Wir übernachten im Freien.
Wachen manchmal vor Kälte auf. Helmut kann nicht schlafen.
Rückblende. Wiese am Ostbad, Nacht.
HELMUT deklamiert: Diese Erlebnisse sind so riesengroß, den ganzen
Menschen umgestaltend, dass man sie kaum verarbeiten kann.
Läuterung von Egoismus, Verweichlichung und Erwerbsgier ist das
Ziel. Ein rauschendes Fest, das den faulen Frieden beseitigt.
GERHILT murmelt im Schlaf: Ruhe...
Ende der Rückblende.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Im Morgengrauen kommen
wir an einer Pferdemusterung vorbei. Man sieht rassige Edelpferde
neben Ackergäulen stehen. Am elften August beginnt die Schule
wieder. Wir sind ihr entkommen. In der Geschichtsstunde wird den
Schülern ein Aufruf des Kaisers diktiert werden. Man wird die
GERD
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Ansicht hören, dass der Krieg nur kurz dauern wird. Wir glauben das
nicht.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Runhilt und ich werden
Schwesternkleider für das Rote Kreuz nähen.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Wir sind kein Kanonenfutter.
Nur aus Angst, als Deserteur oder Feigling zu gelten, sollen wir
mitmarschieren? Nein! Dann lieber vaterlandslose Gesellen!
Rückblende. Augustusplatz.
RUNHILT Still, Gerd. Die Leute drehen sich nach uns um. Sollen wir
verhaftet werden?
GERD Unsere armen Rekruten. Mit Hurraschreien werden sie auf
gegnerische Stellungen zupreschen und in das Dauerfeuer der
Maschinengewehre laufen. Ein zermürbender Stellungskrieg in
Schützengräben wird kommen.
HELMUT Schwachkopf.
GERD Mein Gedichtband wird sie aufwecken. Ein Weltgefühl, vom
Eindruck der Liebe bestimmt. Er zitiert aus seinem Gedichtband: Ich
trage einen Gott in meiner Brust...
HELMUT lacht: Allein dafür sollte man dich verhaften.
GERD Wir brauchen ein Neu-Leipzig auf den Samoa-Inseln.
HELMUT Und da schicken wir dich dann hin.
Ende der Rückblende.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Am sechsten Mai wurde die
Bugra eröffnet. Die Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und
Graphik Leipzig 1914. Sie ist jetzt schon weltberühmt. Eine
Leistungsschau der auf Texte gegründeten Kulturleistungen aller
Zeiten und Völker. 16 Staaten haben Delegierte geschickt, fünf
Länder mit erheblichem Aufwand eigene Pavillons errichtet. Jeder
zehnte Arbeiter hier ist im Buchgewerbe beschäftigt. Bis zu ihrer
Schließung im Oktober soll sie die Weltverbrüderung im Zeichen der
Literatur einleiten. Oder sie wird mit einer Bauchlandung enden.
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Hotel Astoria, Halle.
GERD MS Poesia. Ich träume von dir. Ein gewaltiges Ozeanschiff, auf
das ich beim Schreiben blicken kann.
HELMUT Wir haben die Ehre, am Tisch des Lyrikers Wilhelm Klemm
zu sitzen.
GERD Er kämpft an der Front.
RUNHILT flüstert: Da drüben sitzt der Leipziger Baumeister Anton
Watzke.
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GERHILT Und bei ihm?
HELMUT Arthur von Liebwitz. Ein genialer Wissenschaftler.
BORSO kommt heran: Gefährlich, gefährlich. Das geheime Treiben
auf dem Gelände der Bugra. Schnell errichtete Bauhütten neben der
großen Messehalle. In den Bauhütten werden Kriegswaffen
hergestellt, von honorigen Leipziger Bürgern finanziert. Freimaurer!
HELMUT Was Sie nicht sagen.
BORSO Watzke kam gegen zehn Uhr herein und setzte sich
unauffällig an den Tisch. Dann flüsterte er...
Rückblende. Hotel Astoria, Halle.
WATZKE Italien neutral! Der Bundesgenosse lässt uns im Stich.
LIEBWITZ Haben Sie eine Waffe?
WATZKE Außer dem Schlafzimmerpistölchen, das ich seit Ewigkeiten
habe? Nein.
LIEBWITZ Dieser Krieg ist so schön. Dieses wunderliche Uhrwerk.
Wie bewundernd die Räder ineinandergreifen! Sehen Sie die
Volksbegeisterung. Alles, was Sie nur aus der Lektüre über den Krieg
kennen, tritt jetzt ein.
WATZKE Gehört dazu auch, mit Verlaub, das Standrecht für
Kriegssabotage?
LIEBWITZ Wartet nur, bis ihr die ersten Toten und Verwundeten seht.
Die roten Flecken auf den weißen Binden. Die Schreie der
Amputierten. Für jemanden wie Sie, der regelmäßig in der „Gelben
Sau“ verkehrt, muss das furchtbar sein. Diese sogenannte Destille für
Andersdenkende ist nichts als der Brutort von Lügen und Intrigen!
Was leisten Sie für das Vaterland?
WATZKE Ich wüsste nicht, wie wir nicht siegen sollen. Als Erstes wird
Lüttich eingenommen. Von oben wirft der Zeppelin Dynamitbomben
ab. Die so entstehende Panik und Verwüstung nutzen die Truppen.
Ende der Rückblende.
GERHILT Watzke und von Liebwitz stehen auf.
GERD Wie finster dieser Wissenschaftler schaut!
HELMUT Er hat ein Auge auf Runhilt geworfen.
RUNHILT Unsinn.
HELMUT So fest, dass das Auge an ihrer Backe klebt. Ih!
BORSO Neuigkeiten von draußen? Drei Aeronauten aus Bitterfeld, die
mit ihrem Heißluftballon im russischen Perm gelandet sind, wurden
als Spione festgehalten. 12.500 Goldmark wurden für ihre
Freilassung gezahlt. Und wisst ihr was? Für euch würde ich keinen
Pfennig zahlen. Ab.
GERD Na endlich.
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Wenn Borso nicht im Militär dienen oder als Deserteur
sterben will, muss er sich verstecken.
HELMUT Ein Kriegsdienstverweigerer? Das passt zu ihm.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Ich tastete mich dicht an
Watzke und von Liebwitz heran, die vor dem Hotel Astoria standen.
Rückblende. Vor dem Hotel Astoria.
LIEBWITZ leise: Bewache mir die Bauhütten gut, Watzke. Und fall
mir nicht in die Badewanne voll Zink. Er lacht.
WATZKE leise: Wenigstens kann ich in Leipzig bleiben. Wegen
Kurzsichtigkeit für untauglich erklärt.
LIEBWITZ leise: Sie sind mein Mann bei diesem Experiment.
Ende der Rückblende.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Mich überkam eine düstere
Ahnung. Doch ich behielt sie für mich, da ich Gerhilt mit meinen
Ahnungen nerve, seit ich denken kann. Manche meinen, ich besäße
die Gabe, zu sehen. Dabei ist es nur Scheu. Schon der Gedanke,
meinen Körper einem Mann preiszugeben, ist entsetzlich für mich.
Gerhilt hat dagegen schon oft die freie Liebe genossen.
GERHILT
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Chinesischer Pavillon auf der Bugra.
GERD zieht an einer Wasserpfeife: Pi Ling sagt, es gebe Falken und
Tauben. Und wir sollten darauf achten, wer in unser Haus fliegt.
HELMUT Gebt die Wasserpfeife her!
GERD zieht an der Wasserpfeife: Pi Ling sagt, in keinem Land seien
so viele Menschen gegen den Krieg auf die Straße gegangen wie in
Deutschland.
HELMUT Die Wasserpfeife!
GERD zieht an der Wasserpfeife: Pi Ling sagt, dass der Krieg die
negativen Dinge zum Verschwinden bringen wird: Materialismus,
Macht des Geldes, Auflösung der sozialen Gemeinschaften.
HELMUT Geht es noch? Die Wasserpfeife!
GERHILT zieht an der Wasserpfeife: Warum sagt Pi Ling so wenig?
Sie kichert.
GERD zieht an der Wasserpfeife: Pi Ling sagt, womöglich werde der
Krieg aber das Negative verstärken.
HELMUT Es reicht, Gerd!
LIEBWITZ in der Ecke sitzend: Und was wäre so falsch daran?
HELMUT zieht an der Wasserpfeife: Den haben wir wohl übersehen.
RUNHILT Er soll seinen Blick von mir nehmen.
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Herr von Liebwitz haben besonderes Aufenthaltsrecht hier.
Ein großer Freund der Chinesen, nicht wahr?
LIEBWITZ Besonders in Exportangelegenheiten.
GERD zieht an der Wasserpfeife: Was lesen Sie da?
LIEBWITZ Ein Buch der Madame Blavatsky. Theosophie. Manche
nennen diese Lehre rassistisch. Ich lasse mich von ihren Gedanken
auf eine höhere Ebene tragen.
HELMUT Da sind Sie dann ziemlich allein, oder?
LIEBWITZ Habt ihr nicht auch ein Medium in euren Reihen?
GERHILT zieht an der Wasserpfeife: Ein Medium?
HELMUT Lasst uns gehen.
RUNHILT Es ist in Ordnung. Schaut einfach nicht auf meine Augen.
LIEBWITZ Dabei könntest du so stark sein. Die Ermordung des
österreichischen Thronfolgers in Sarajevo hast du vorausgesehen.
RUNHILT schwach: Ja...
PI LING Muss jetzt schließen Gelehrtenhaus. Bitte alle gehen.
LIEBWITZ Was hast du noch gesehen? Er hypnotisiert Runhilt. Sag es.
RUNHILT mechanisch: Die Wissenschaftliche Gesellschaft für
Luftfahrt tagt in Dresden. Sie prüft Hunderte flugtechnischer
Erfindungen, die eingereicht wurden. Doch nur eine davon wird
anerkannt werden. Die AVL1.
HELMUT Gerhilt, Gerd. Wacht auf. Runhilt. Ihr schlaft ja alle. Was ist
los?
LIEBWITZ lacht: Hypnotisiert. Du auch? Los, erzähl mir was. Er
hypnotisiert Helmut.
HELMUT mechanisch: Erlernen Sie das automatische Zeichnen und
setzen Sie unbewusste Kräfte frei! Wer hat die Mona Lisa aus dem
Louvre gestohlen? Es waren nicht deutsche Geheimagenten, sondern
es war ein stadtbekannter Pariser Anarchist.
GERD wacht auf: Was zeichnet Runhilt da? Paris. Sie zeichnet ganz
Paris auf dieses Blatt Papier. Hör auf, Runhilt!
GERHILT wacht auf: Lass sie. Dort ist irgendetwas, das sie gerade
sieht. Sie ist jetzt nicht ansprechbar.
RUNHILT zeichnet mechanisch ein Kreuz auf das Papier: Hier...
LIEBWITZ Danke! Ich werde die Zeichnung mitnehmen. Vielleicht
finden wir die Mona Lisa genau dort, wo sie das Kreuz gemacht hat.
GERD Nur ein wertloses Blatt Papier.
HELMUT wacht auf: Wo bin ich?
PI LING Müssen jetzt wirklich gehen!
PI LING
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Kürzlich testete Kaiser Wilhelm die neu eröffnete
Funkverbindung zwischen dem Deutschen Kaiserreich und den USA.
Welche Depesche sollte er Präsident Wilson durchgeben, Runhilt?
RUNHILT mechanisch: Sie werden 1945 unser Land besetzen. Danach
werden Sie Kriege in Korea, Vietnam... Ich kann nichts mehr sehen.
HELMUT Was redet sie da?
GERHILT Nur Visionen.
LIEBWITZ Gib uns einen Lagebericht!
GERD Das kann ich auch. Kleinere Gefechte an der russischen Grenze.
Frankreich bricht das Völkerrecht, indem es bei Nürnberg Bomben
abwirft. Luxemburg ist von deutschen Truppen besetzt.
LIEBWITZ Bravo! Dass die deutschen Unterseeboote rings um
Englands Küste Minen legen, ist übrigens mein bescheidenes Werk.
HELMUT Gerd, du nimmst Gerhilt. Ich nehme Runhilt. Sie nehmen die
Schwestern auf ihre Schultern. Bis zum nächsten Mal, Pi Ling. Beide
ab.
Vor dem chinesischen Pavillon.
HELMUT Deutschland von den USA besetzt?
GERHILT 1945.
HELMUT Aber dann können wir dieses Unglück noch verhindern.
LIEBWITZ ruft: Ist sie nicht fantastisch?
GERD Pi Ling und von Liebwitz sind im Gelehrtenhaus
verschwunden.
HELMUT Lasst uns eine Depesche an Präsident Wilson schicken.
GERD Hast du nichts Besseres zu tun?
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Wir sind Kinder von
Kaufmannsfamilien. 1913 erwirtschafteten unsere Eltern 40 Prozent
des Leipziger Steueraufkommens. Unsere Spielzimmer waren die
prächtigen Pelzgeschäfte.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Albert Borso sagt, das Ziel
dieses Krieges sei es, die sozialistische Bewegung zum Stillstand zu
bringen. Für diesen Gedanken würde Kaiser Wilhelm alles opfern.
HELMUT schreibt in sein Kriegstagebuch: Einmal nicht mehr denken,
nur hingerissen sein. Das Durchbrechen der Instinkte aus dem
Urmenschlichen. Krieg!
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Ein russischer Agent hat
versucht, Cholerabazillen in die Leipziger Wasserleitungen zu setzen.
Mit einer solchen Menschenhorde führt man Krieg!
LIEBWITZ
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schreibt in ihr Kriegstagebuch: Heute Morgen haben Gerhilt
und ich in der Kaserne gesessen und geholfen, gelbe Binden für die
Dragoner zu nähen. Alle Damen des Regiments halfen. Dann sahen
wir das Regiment abziehen in den Kampf. Wie viele werden wohl
wiederkehren?
Auf der Bugra.
HELMUT Eben kam die Nachricht, dass die Festung Lüttich
eingenommen ist.
RUNHILT leise: Hurra...
HELMUT zu Gerhilt: Warum ist deine Schwester seit gestern so
verstockt?
GERHILT Ich komme gleich wieder. Ab.
HELMUT Wo geht sie hin? Merkwürdige Schwestern!
GERD Lasst uns den Plan durchgehen. Wir gründen eine
Geheimorganisation ohne Unterschiede zwischen den Menschen.
RUNHILT Halt...
HELMUT Und wie soll unsere hübsche Gemeinschaft heißen?
GERD Die Runde. Seine Stimme wird langsam ausgeblendet. Die
geistigen Schätze unserer Dichtung, wieder zugänglich gemacht. Das
Nibelungenlied. Poetische Flugblätter zur Stärkung des wahren
Deutschtums. Ich bin bereit, die poetische Leitung zu übernehmen.
Anton Watzke stellt Helmut ein Flugzeug zur Verfügung. Wir werden
unserem Volk dienen, da wir militärfrei sind. Mit der Feder und nach
literarischen Kriterien.
Auf der Bugra, bei den Bauhütten.
BORSO von Gerhilt belauscht: Den Sack vergrabe ich hier, bei den
Bauhütten. Kommt her, ihr Dynamitstangen. Jetzt buddeln und eine
Schnur herausführen. Wartet nur, bis ihr euch wieder an die Luft
recken und strecken könnt. Unser Kaiser macht mich nervös. Ach
was, die ganze Welt macht er nervös. Ein Anarchist muss es wieder
mal richten. Wenn die Welt erst nach dem Willen des feinen Herrn
von Liebwitz eingerichtet ist, wird sie den Chicagoer Schlachthöfen
gleichen. Dort werden die lebenden Schweine an einen Haken
gehängt, in kochendes Wasser geworfen, herausgeschaufelt,
entborstet, zerlegt und als Hälften ins Kühlhaus gebracht.
GERHILT stößt einen Schrei aus: Ih!
BORSO Was treibt ihr euch hier herum? Zu gefährlich. Noch nie einen
Anarchisten mit Dynamit unter dem Arm gesehen?
GERHILT Ich... Ich...
RUNHILT
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Du wolltest in eine Bauhütte spähen. Von Liebwitz bei der
Arbeit zusehen. Lass es sein. Wo sind deine Freunde? Lauern sie um
die Ecke?
GERHILT Nein... Nein...
BORSO Hilf mir, die Schnur zu verlegen!
GERHILT Nein... Nein...
BORSO Kannst du nur stammeln? Scheint dir diese Zeit nicht immer
fürchterlicher zu vereitern? Mich schüttelt der Ekel, wenn ich die
Lügen in den Zeitungen lese. Ich predige den Frieden. Mit der Hilfe
von Dynamit. Er zündet ein Streichholz an. Hat es dir die Sprache
verschlagen?
GERHILT Nein... Nein...
BORSO zündet sich eine Zigarette an: Noch einmal Atem holen, wo
alle so hektisch sind. Wenn das erste Opfer im Krieg die Wahrheit ist,
so ist ihr erster Sieger die Druckerpresse. Aber was ist diese
Schreibenergie gegen die Energie von Dynamit? Er hält die Zigarette
an die Schnur der Dynamitstange.
GERHILT Nicht die Schnur anzünden, nein.
Helmut, Gerd und Runhilt tauchen auf.
HELMUT nimmt Borso die Zigarette weg: Rauchen kann tödlich sein.
Er zieht an der Zigarette und tritt sie aus.
BORSO Ihr wollt immer noch Literaten werden? Jetzt kriegt eure
Kunst zu fressen. Oder wollt ihr Schwätzer und Klugscheißer
bleiben?
GERD Zunächst einmal wollen wir leben.
GERHILT Er hat Dynamit vergraben.
HELMUT Ach so? Er schaltet Borso mit einem Kinnhaken aus. Das ist
sicherer.
RUNHILT etwas abwesend: In der Bauhütte dort liegt ein toter Mann.
HELMUT Dann nichts wie rein.
GERD Moment. Gehört das zu unserem Programm? Also gut.
Bauhütte auf der Bugra.
GERD Alles dunkel.
GERHILT Fassen wir uns an den Händen.
HELMUT Hat niemand Streichhölzer dabei? Ärgert sich: Anfänger!
GERD zündet ein Streichholz an: Von wegen.
GERHILT stößt einen Schrei aus: Dort in der Badewanne. Der Mann.
Das ist Anton Watzke.
HELMUT schnüffelt an der Badewanne: Eine blassgraue Flüssigkeit.
Zink. Nicht anfassen, Streichholz aus.
BORSO
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bläst das Streichholz aus: Das war ein kurzer Blick auf das
Grauen.
HELMUT Der Flughafen auf dem Dach des Leipziger Hauptbahnhofs
ist jedenfalls gestorben.
LIEBWITZ steht hinter ihnen und macht eine Lampe an: Große Ideen
sterben nie. Menschen dagegen schon. Die Jugendlichen fahren
erschrocken herum. Faszinierend, nicht wahr? Wollt ihr wissen, was
die Auflösung mit ihm anstellen wird?
GERD Warum musste Watzke sterben? Was hat er Ihnen getan?
LIEBWITZ Sagen wir so: Er war mir zu dicht auf den Fersen.
HELMUT Superwaffen für den deutschen Sieg. Oder
Menschenversuche? Wir werden es herausfinden.
LIEBWITZ Es ist noch Platz in der Badewanne.
RUNHILT Sie werden einer der wenigen sein, die gewusst haben, was
für ein Elend da auf uns zukommt.
LIEBWITZ Im Gegenteil, Kinder. Es ist die Erlösung. Weil alles viel
schneller gehen wird. Nehmt Watzke. An seinen Fingerspitzen fängt
es schon an zu kribbeln. Molekül um Molekül verschwinden und
legen das Fleisch frei. Man könnte philosophisch werden!
RUNHILT In einem Tag werden Sie sterben.
LIEBWITZ Ich weiß es. Und ihr auch. Wir überlassen diesen Planeten
den Ratten. Nicht wahr, Runhilt? Ab.
GERD Die Tür.
GERHILT rüttelt an der Tür: Eingeschlossen.
RUNHILT In einem Tag.
GERD
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schreibt in sein Notizbuch: Runhilt hat mir ihr
Kriegstagebuch gegeben. Ich soll es in Sicherheit bringen. Die
Freunde sitzen in der Bauhütte. Ich bin im Freien.
Rückblende. Bauhütte auf der Bugra.
HELMUT biegt mit voller Kraft zwei Wandbretter auseinander: Wäre
doch gelacht, wenn wir in einer Badewanne voll Zink enden würden!
Er setzt entkräftet ab.
GERD Seid ruhig! Ich kann von Liebwitz hören.
LIEBWITZ deklamiert im Freien hinter der Bauhütte: Wir nennen uns
Nationalisten. Unser Ziel ist der Krieg. Was unsere Literaten darüber
sagen, ist ohne Belang. Wir wollen das, was das Schicksal will. Im
Schoß der Kampfgräben wird der Krieg ein neues Geschlecht zeugen!
HELMUT Er ist übergeschnappt.
HELMUT
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Er ist völlig übergeschnappt. Borso wacht jeden Moment
auf und zündet das Dynamit. Mit plötzlicher Übelkeit: Dieser tote
Baumeister stinkt.
HELMUT biegt mit voller Kraft zwei Wandbretter auseinander: Ich
habe es gleich geschafft. Dann können wir aus diesem Albtraum
schlüpfen.
GERHILT Runhilt, was denkst du?
RUNHILT Die Panzerkreuzer Göben und Breslau sind aus dem Hafen
von Algier entwischt. Sie haben an der Küste Verheerungen
angerichtet.
LIEBWITZ deklamiert im Freien hinter der Bauhütte: Dass wir nicht
nur Menschen, sondern auch Tiere sind, daraus erwachsen unsere
besten Werte! Wir wissen nur, dass wir siegen müssen.
GERD Applaus! Er klatscht.
HELMUT biegt mit voller Kraft zwei Wandbretter auseinander:
Gleich... Die Wandbretter brechen auseinander.
GERD Ein famoser Blick ins Freie! Danke, Helmut.
RUNHILT Und nun?
HELMUT Von Liebwitz ist verschwunden. Wir können hinausklettern.
GERD Wir können Schriftsteller oder Maler werden. Gerhilt, du wirst
meine Muse sein.
GERHILT schneidet mit einer Schere erst sich, dann Runhilt den Zopf
ab.
HELMUT Was machst du da?
GERHILT Ich habe Runhilt und mir die Zöpfe abgeschnitten. Ein
Hilfskomitee sucht Geschenke für die Soldaten an der Front.
HELMUT Du hast eine Schere dabei? Warum hast du das nicht früher
gesagt?
GERHILT Hättest du die Bretter auseinander schneiden wollen?
RUNHILT Seht nach, ob Watzke noch in der Badewanne liegt. Ich
bewache den Ausgang.
HELMUT geht zur Badewanne: Schläft wie eine Eins. Wenn
Griechenland gegen die Türkei kämpft, werde ich mich als
Freiwilliger melden. Wie Lord Byron. Deklamiert: Wir wollen das
kosmische Erlebnis, nicht die kosmische Zerstörung.
GERHILT Eine verrückte Zeit. Im Hagenbecker Tierpark wird das
Futter knapp. Die Tiere können wegen des Krieges nicht mehr
ausgeliefert werden. Es stapeln sich dort über 70 Löwen, Eisbären
und Elefanten.
LIEBWITZ deklamiert im Freien hinter der Bauhütte: Zivilisation.
Dieses Schimpfwort gilt es, auszumerzen.
GERHILT
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HELMUT Für wen übt er diese Rede eigentlich?
GERD deklamiert: Wir wollen den kulturellen Schock.
Negertänze auf
den Plätzen Leipzigs, Urwaldgebrüll, Dichtung und Eros gegen
Politik und Fluch. Ein Kreis von jungen Leuten, der so etwas wie eine
Kirche bildet. Die Runde. Zögert. Wo ist Helmut?
Ende der Rückblende.
HELMUT schreibt in sein Notizbuch: Zuerst sah ich nach Albert Borso
und dem Dynamit. Beide waren verschwunden. Dann beschloss ich,
nach Hause zu gehen und den Revolver zu holen, den mein Vater im
Nachtschrank versteckt hatte. Die Sonntagsruhe ist heute aufgehoben,
die Läden stehen offen. Es findet ein Sturm auf die
Lebensmittelgeschäfte statt. Zucker und Mehl sind schon nicht mehr
zu bekommen. Gestern wurden drei Russen wegen Umtrieben
erschossen.
7
Bauhütte auf der Bugra, Nacht.
HELMUT zwängt sich durch die Bretterlücke hinein: Nachrichten von
draußen? Unaufhörlich rasen Automobile mit Offizieren durch die
Straßen. Männergruppen in Uniform auf dem Augustusplatz. Bier
trinkend, Mundharmonika spielend, patriotische Lieder singend. Ein
verprügelter Russe im Rinnstein. Angeblich ein als Frau verkleideter
Spion.
GERHILT Hast du Streichhölzer mitgebracht?
HELMUT Ich halte es nach wie vor nicht für ratsam, neben einer
Badewanne voll Zink ein Streichholz anzumachen.
GERD Spielverderber. Hast du wenigstens etwas zu essen
mitgebracht?
HELMUT Nein, aber das hier. Fühlt. Er hält den Jugendlichen einen
Revolver hin.
GERHILT Kühl.
RUNHILT Glatt.
HELMUT Zu unserer Sicherheit.
GERHILT Wir haben die ganze Zeit überlegt, genauso wie du
hinauszuschlüpfen.
GERD Aber jetzt sind wir dem schönen Geheimnis des Herrn von
Liebwitz so dicht auf der Spur.
HELMUT An Schlaf ist sowieso nicht zu denken, bei dem
unausgesetzten Lärm der Soldaten auf den Straßen von früh bis spät.
BORSO zwängt sich durch die Bretterlücke hinein: Richtig.
Verschwindet, bevor alles in die Luft fliegt. Ab in eure Bettchen. Er
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zündet ein Streichholz an. Das ist doch der Baumeister Watzke. Er
nimmt ein entspannendes Bad.
HELMUT bläst das Streichholz aus: Nachrichten von draußen? Die
Flugzeuge haben jetzt als Erkennungszeichen ein schwarzes Kreuz
auf den Tragflächen, damit sie nicht von den eigenen Truppen
beschossen werden.
GERD Die Plauderstunde ist vorbei, Herr Borso. Verschwinden Sie.
BORSO zündet ein Streichholz an: Hier ist sie nicht, die Wunderwaffe
des Herrn von Liebwitz. Er liebt das Versteckspiel.
GERHILT Wir haben Hunger.
BORSO Das ist erst der Anfang. Im Winter wird die Heimatfront zur
Hungerfront werden. Steckrübenwinter.
GERD Sie sind ein Prophet. Wir wollen Herrn von Liebwitz den
Behörden übergeben.
BORSO Für Dynamit seid ihr euch wohl zu fein?
HELMUT Wir haben eine Geheimorganisation gegründet. Er entsichert
den Revolver. Und jetzt raus hier.
RUNHILT Von Liebwitz ist auf dem Weg hierher.
GERD Wir kämpfen für die Rückkehr nach Hellas. Unser Vorbild ist
Goethe.
BORSO lacht: Haben sie euch den Mist in der Schule eingetrichtert?
GERHILT Wir halten es mit den Franzosen: Klares Festhalten an
Maßstäben. Raus!
BORSO Klares Festhalten an Dynamitstäben. Er lacht.
HELMUT Hände hoch bis zur Bauhütte gegenüber.
BORSO Endlich eine Sprache, die ich verstehe. Er verschwindet durch
die Bretterlücke.
HELMUT sichert den Revolver: Nachrichten von draußen? Unser
Milchmann ist weg, unser Bäcker und sein Geselle auch. Alle
eingezogen. In den nächsten Tagen soll eine große
Kriegsentscheidung fallen. Der Name Arthur von Liebwitz wird
genannt.
RUNHILT flüstert: Die AVL1. Laut: Albert Borso hat das hier verloren.
Sie gibt Gerhilt eine Karte.
GERHILT Wenn wir nur Licht hätten! Sie entziffert mühsam:
Festbankett. Es laden ein: Der Tapisseriewaren-Manufakteur Tittel &
Krüger, der Kammgarnspinner Stöhr & Co., der
Drahtheftmaschinen-Hersteller Schelter & Giesecke, der
Handaufzug-Hersteller Unruh & Liebig, der Brauereibesitzer
Naumann, alle wohnhaft in Gohlis.
HELMUT Ob es sich um eine Firmengründung handelt?
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GERHILT Borso steckt mit ihnen unter einer Decke?
GERD Wohl kaum.
HELMUT Jedenfalls wissen wir jetzt, wofür Arthur von
Liebwitz seine
Rede geübt hat.
GERD Wann beginnt das Festbankett?
GERHILT Morgen um 16.52 Uhr.
GERD Merkwürdige Uhrzeit.
HELMUT Schauen wir uns schon mal um. Gerhilt, du und deine
Schwester bleibt hier. Er verschwindet mit Gerd durch die
Bretterlücke.
Messehalle auf der Bugra.
HELMUT leise: Was machst du?
GERD Ich notiere mir das Wichtigste. Er schreibt in sein
Kriegstagebuch: Die Messehalle wurde 1913 für die Internationale
Baufach-Ausstellung errichtet. Sie hat eine Stahlbetonkuppel und
einen Durchmesser von 30 Metern bei 750 Quadratmetern
Ausstellungsfläche.
HELMUT leise: Gerd...
GERD schreibt in sein Notizbuch: Entworfen wurde sie vom
Architekten und Freimaurer Wilhelm Kreis, der auch für das
Völkerschlachtdenkmal verantwortlich ist.
HELMUT Es sind schon Tische und Stühle für das Festbankett
aufgestellt. Und was haben wir hier? Er öffnet einige Kisten. Patronen,
Minen, Handgranaten, Kartuschen. Auf den Kisten ist etwas.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Eine Krähe auf der Spitze
einer schlanken Pappel.
HELMUT Das Zeichen von Arthur von Liebwitz. Mehrere Behälter
daneben. Er öffnet die Behälter.
GERD Wieder zumachen. Das stinkt bestialisch.
LIEBWITZ kommt herein und geht pfeifend umher.
GERD Da ist von Liebwitz.
HELMUT Verschwinden wir.
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Bauhütte auf der Bugra, Morgen.
GERHILT Warum beenden wir dieses Spiel nicht einfach?
HELMUT wacht auf: Was?
GERHILT Wir könnten jederzeit durch die Bretterlücke ins Freie
schlüpfen. Ins Ostbad gehen. Stattdessen warten wir auf irgendetwas.
RUNHILT murmelt: Die AVL1...
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Er lässt uns ohne Nahrung und Wasser hier vegetieren, mit
zwei Toten in der Badewanne.
HELMUT Zwei Tote?
GERHILT geht zur Badewanne: Gerd hat recht. Neben Anton Watzke
liegt Albert Borso.
HELMUT Ein schönes Gespann.
GERD In den Behältern in der Messehalle lagert flüssiges Chlor.
HELMUT Giftgas. Seit der Haager Friedenskonferenz von 1907
verboten.
GERD Außerdem Phosphor und Zink. Und ein Zeug namens
Kryptonit...
RUNHILT flüstert: Die AVL1...
GERHILT Alles stinkt hier nach Krieg.
HELMUT Falls seine Superwaffe scheitert, hat er immer noch ein
todsicheres Produkt anzubieten.
GERD Die Soldaten werden jämmerlich krepieren.
GERHILT Dieser Geruch. Diese Fäulnis.
LIEBWITZ betritt die Bauhütte lautlos: Dabei seid ihr der Wahrheit so
nah. Kryptonit, Phosphor und Zink ergeben den Treibstoff für meine
Superwaffe. Aber was könnt ihr gegen mich ausrichten? Hinter mir
steht ein mächtiger Mann. Der weiße Ninja.
GERD Denken Sie, wir zittern vor einem Hohenzollern?
RUNHILT Er ist kein Angehöriger der kaiserlichen Familie.
LIEBWITZ streicht Runhilt über die Wange: Richtig, mein Kind.
RUNHILT Fassen Sie mich nicht an!
LIEBWITZ Sag mir, ob du noch Jungfrau bist.
HELMUT Dieser Schmutzfink!
LIEBWITZ Ihr würdet freikommen, wenn Runhilt mich bei dem Ritus
zum Festbankett begleiten würde. Blondes Haar, aber ein
verschatteter Blick. Ist sie Halbjüdin?
GERD Sie Trottel! Wir lehnen Ihr Angebot ab.
GERHILT Ja, wir haben es uns hier gemütlich gemacht.
LIEBWITZ für sich: Eine preußische Jungfrau... Das wird dem weißen
Ninja gefallen... Laut: Der weiße Ninja wird heute in Leipzig sein.
Was sagt ihr nun?
GERD Wir wollen mit den Deutschen in ihrem degenerierten Zustand
nichts zu tun haben. Schauen Sie sich doch an!
HELMUT Was ist, wenn wir Ihre schönen Bauhütten samt der
Messehalle in die Luft jagen?
LIEBWITZ Denkt an unseren Freund Pi Ling!
GERD Ist er der weiße Ninja?
GERD
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zeigt auf Borso in der Badewanne: Außerdem hat er das mit
dem Dynamit auch versucht.
GERHILT Mir ist übel.
LIEBWITZ Schaut euch Runhilt an. Stille Ehrfurcht. Komm mit,
preußische Jungfrau.
HELMUT entsichert den Revolver: Finger weg von ihr, sofort. Und
jetzt raus aus dieser Hütte, Herr von Liebwitz. Sie nehmen uns auf Ihr
Festbankett mit, wir danken Ihnen dafür.
LIEBWITZ Ihr wollt Deutschland in Stücke reißen, weil es euch nicht
griechisch genug ist. Ist euch das griechisch genug? Er zündet ein
Streichholz an und wirft es in die Badewanne, das Zink brennt, Borso
und Watzke wimmern.
GERD Er hat die Badewanne angezündet.
GERHILT Borso und Watzke leben noch.
LIEBWITZ Im Grunde bin ich mir sicher, dass ihr einen Menschen
achtet, der für sein Land kämpft.
HELMUT Die wahren Deutschen würden wir achten. Machen Sie das
Feuer aus.
LIEBWITZ Nichts leichter als das. Er löscht das Feuer in der
Badewanne. Ich bin so wenig ein Freund von Leichen wie ihr.
Während ihr geschlafen habt, haben sich Borso und Watzke köstlich
unterhalten. Nicht wahr, meine beiden? Borso und Watzke geben
Laute von sich.
GERHILT Erschieße ihn!
LIEBWITZ Und jetzt aufstehen, Borso und Watzke. Borso und Watzke
steigen aus der Wanne.
GERD Sie stehen auf.
HELMUT Untote.
RUNHILT Passt auf, dass sie euch nicht berühren.
LIEBWITZ Meine Runhilt. So rein. So unangetastet.
GERD Borso und Watzke haben von Liebwitz mit der Zinkbrühe
berührt. Wie er sich vor Schmerz windet.
GERHILT Erschieße sie. Bitte!
HELMUT flüstert: Nein. Wir machen es wie der listige Odysseus. Wir
dringen in sein Lager ein und rauben alle Nachrichten, Pläne und
Waffen.
GERD flüstert: Wir müssen herausfinden, wer der weiße Ninja ist.
GERHILT entreißt Helmut den Revolver: Her damit! Er schießt auf
Liebwitz. Keine Patronen!
LIEBWITZ
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weihevoll: Alle Menschen sind Brüder, wenn sie sich im
Licht betrachten. Zwei Fackelträger werden euch zum Festbankett
bringen. Mitkommen, Borso, Watzke. Alle drei ab.
RUNHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Wir halten in der Bauhütte
Wache, während Gerhilt und Gerd in der Stadt sind. Das Festbankett
von Arthur von Liebwitz wird die Entscheidung bringen. Entweder
die AVL1 wird die Welt verwüsten, oder wir werden überleben.
Montenegro hat Österreich den Krieg erklärt. Der Kaiser hat dem
Führer der Truppen von Lüttich den Orden Pour le Mérite verliehen.
In Rom ist Papst Pius gestorben.
LIEBWITZ
9
Bauhütte auf der Bugra, Nachmittag.
HELMUT zu Gerhilt und Gerd, die durch die Bretterlücke
hineinkommen: Nachrichten von draußen?
GERD Der Hafen von Libau ist zerstört. Die serbische Armee
vollkommen geschlagen. 20.000 Gefangene einschließlich König und
Hof.
RUNHILT Es geht gleich los.
HELMUT Was?
RUNHILT Das Festbankett.
GERD Aber es ist noch heller Tag.
RUNHILT Merkt ihr nicht, wie es dunkler wird?
GERHILT Und die Hunde jaulen.
HELMUT Eine Sonnenfinsternis? Heute?
GERD Jetzt fügt sich alles zusammen. Die AVL1 soll mit einem Ritus
in die Welt gehoben werden. Alle Leipziger Industriellen sind mit
von der Partie. Die Stunde der Sonnenfinsternis ist auserkoren
worden. Der weiße Ninja wird sich mit der preußischen Jungfrau
vermählen.
GERHILT Nein. Das wird nicht passieren.
HELMUT Irgendwo muss die Abschussrampe für die Rakete sein.
GERHILT Da kommen Borso und Watzke. Die Fackelträger. Die
beiden sind nur noch Fleisch und Knochen.
GERD Ihre Fackeln leuchten grün.
HELMUT Phosphor. Nicht berühren.
Messehalle auf der Bugra. Die Gäste des Festbanketts treten ein.
LIEBWITZ Wie schön! Haben meine Zinkleichen gut auf euch
aufgepasst?
RUNHILT Sie werden bald selbst eine Leiche sein.
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Die Frage ist doch wirklich, was davor noch geschieht.
Jetzt werden euch Borso und Watzke erst einmal die Augen
verbinden. Borso und Watzke verbinden den Jugendlichen die Augen.
GERD Ihre Finger stinken.
HELMUT Nicht so fest, du Untoter!
GERD Damit wir den weißen Ninja nicht sehen?
LIEBWITZ Ein Jubeltag für die Deutschen.
GERD Sie stellen sich in Reih und Glied auf, nehmen die Hüte ab und
rufen Hurra?
LIEBWITZ Du wirst mir die Sonnenfinsternis nicht mit deinem
Geschwätz verderben. Er stopft Gerd einen Lappen in den Mund.
GERD beschwert sich unverständlich.
GERHILT Es ist ungerecht, dass wir reden können, aber er nicht.
LIEBWITZ Morgen werdet ihr feststellen, dass ein Volk, das aufsteht,
unbesiegbar ist. Ab.
GERD Siehst du den weißen Ninja, Runhilt?
RUNHILT Über eine hohe Galerie treten Menschen ein. Einige
zerschneiden eine französische Fahne. Sie werfen die Fetzen hinab.
GERHILT Diese Menschmaschinen haben uns gefesselt!
RUNHILT Arthur von Liebwitz geht mit einigen Männern in den
Keller. Sie zünden sich Zigarren an. Hinter ihnen ein Gegenstand auf
Eisenbahnschienen, die nach oben gerichtet sind.
HELMUT Die AVL1.
RUNHILT Die Menschen setzen sich an die Tische. Auf den
Platzkarten ist eine Krähe auf der Spitze einer schlanken Pappel
abgebildet.
HELMUT Das Zeichen von Arthur von Liebwitz.
RUNHILT Oben in der Kuppel weht eine große Reichsflagge. Die
AVL1 wird die Decke zerschlagen und durch die Kuppel nach
London fliegen. In 23 Minuten ist sie am Ziel.
HELMUT Eine technische Wundertat.
GERHILT Und wir sind alle tot.
GERD Hört! Überall wird gesungen. Hurrarufe.
HELMUT Es wird dunkler. Die Sonnenfinsternis.
GERHILT Ich bete. Sie flüstert ein Gebet.
RUNHILT Auf der Galerie kreuzen sie die Phosphorfackeln zur
Swastika.
GERD Das Hakenkreuz. Ein altindisches Symbol.
HELMUT Wohl eher ein völkisches Symbol. Die Überlegenheit der
arischen Rasse.
RUNHILT Sie rufen den Dritten Humanismus aus.
LIEBWITZ
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GERD Den was?
GERHILT Es reicht, Runhilt. Schone deine Kräfte.
RUNHILT Der Verleger Karl Amboss ist auch hier.
GERD Das kann nicht sein!
RUNHILT Mitglieder der Leipziger Hammerbünde und Thorzirkel.
GERHILT Völkische Spinner. Und wir sind Zeugen ihrer Vereinigung.
Bravo.
GERD Wenn ich das hier überlebe, werde ich den Kriegsdienst
verweigern.
HELMUT Zunächst gilt es, die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs
zu retten. Ich fürchte, das ist unsere Aufgabe.
RUNHILT Arthur von Liebwitz erscheint auf der Galerie. Er wird seine
Rede halten.
LIEBWITZ steht auf der Galerie und deklamiert: Deutsche! Es ist eine
große Zeit, und unser Volk ist ihr gewachsen. Jetzt, da die Sonne sich
verfinstert, sehen wir Licht und Schatten klar: Der weiße Ninja wird
uns erlösen! Überall ruhiger Ernst, überall selbstverständliche
Pflichterfüllung. Mit einem Schlag sind wir Brüder, wir alle!
GERD ruft: Sie haben die Schwestern vergessen, Herr von Liebwitz.
Gemurmel.
LIEBWITZ deklamiert: Vielleicht brauchen wir unsere letzten Kräfte.
17 Millionen werden gegeneinander kämpfen. Alle Theorie von der
Sinnlosigkeit des Krieges muss vor unserem Opfermut neu bemessen
werden! Hurrarufe.
BORSO torkelt zwischen den Jugendlichen herum und deklamiert mit
der Stimme eines Untoten: Es lebe der weiße Ninja!
GERHILT Igitt. Borso torkelt zwischen uns herum. Er hat mich
berührt.
HELMUT Kapiert ihr es nicht? Von Liebwitz ist der weiße Ninja!
LIEBWITZ deklamiert: Still, Borso. Die Dunkelheit ist vollkommen.
Lasst uns zum Ritus schreiten.
GERD Darf ich mich zur Verfügung stellen?
LIEBWITZ Bring ihn her, Borso. Borso führt Gerd auf die Galerie.
GERD Was ist eigentlich Ihr Ziel, Herr von Liebwitz? Mal
angenommen, Sie äschern uns mit Ihrer Rakete ein.
LIEBWITZ dämonisch: Die Weltherrschaft. Ein paar Auserwählte
werden diesen Tag überleben. Er nimmt Gerd die Augenbinde ab.
Sieh doch. 800 Leipziger. Alles, was Rang und Namen hat. Und du
Rotzlöffel willst uns Angst machen?
GERD Wir von der Runde wollen einen höheren Entwicklungsstand
der Menschheit. Ich fürchte, das geht mit Ihnen nicht.
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LIEBWITZ Wir sind die Fraternitas Germani. Die Runde ist aufgelöst.
RUNHILT wehrt sich gegen Watzke: Lass mich los, du Ungeheuer! Es
ist nicht recht, dass Sie Juden und Farbige als Äfflinge bezeichnen.
Den Tod predigen, wo wir das Leben vor uns haben.
LIEBWITZ Es geht uns nur um die Reinheit des deutschen Blutes. Sag,
was wir vorhaben, Runhilt.
RUNHILT Borso und Watzke werden mit gehörnten Helmen Wotans
Speer in die Luft recken. Anschließend werden sie meinen Schädel
vermessen.
LIEBWITZ Deinen. Nicht die deiner Freunde. Und anschließend wird
sich der weiße Ninja hier oben auf der Galerie mit der preußischen
Jungfrau vermählen.
GERD Nein! Er reißt Borso die Phosphorfackel aus der Hand und
beginnt einen Kampf mit Liebwitz.
HELMUT Runhilt, was passiert da?
RUNHILT Gerd hat Borso die Phosphorfackel aus der Hand gerissen.
Er kämpft mit von Liebwitz.
GERHILT 17 Meter über unseren Köpfen. Oh nein...
LIEBWITZ schreit: Ah...
HELMUT Was ist?
RUNHILT Von Liebwitz brennt. Gerd hat ihn erwischt. Er hält sich an
der Galerie fest, drückt Borso an sich, um die Phosphorfackeln mit
dessen Körper zu löschen. Ein Revolverschuss ist zu hören. Borso hat
von Liebwitz erschossen. Von Liebwitz fällt die Galerie herunter.
Liebwitz’ Körper landet vor den Jugendlichen.
HELMUT Unappetitlich.
BORSO steht auf der Galerie, brennt und deklamiert: So weit habt ihr
mich getrieben. So weit. Ein Spiel, damit wir leben. Zählt bis drei.
Eins, zwei... Er stürzt sich die Galerie herunter, da reißt eine
Dynamitexplosion alles in die Luft.
Im Freien auf der Bugra. Überall Staub und Feuer.
GERD hustet: Gerhilt? Runhilt? Lebt ihr?
HELMUT hustet: Hier. Unter der Rakete. Die AVL1 hat uns gerettet.
GERD Dann war sie ein Blindgänger.
HELMUT Das konnte Runhilt nicht wissen.
GERHILT hustet: Wo ist meine Schwester?
RUNHILT Hier bin ich.
GERHILT gibt Runhilt eine Ohrfeige: Uns wird nichts passieren. Von
wegen. Weint. Aber wir leben. Und alle anderen sind tot!
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23
Seit dem Kriegsausbruch ist ein Jahr vergangen. Es ist der
vierte August 1915. Gerd und Helmut sind zum Kriegsdienst
eingezogen worden. Sie kämpfen als Soldaten an der Front. Gerhilt
ist als Krankenschwester in einem Sanatorium für kriegsversehrte
Soldaten eingesetzt.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Die, die den Krieg besungen
haben, sind verstummt oder gefallen. Feldpost kommt seit Tagen
keine. Wir sind von allen Nachrichten abgeschnitten. Vor uns wütet
der Feind.
RUNHILT Die Versorgungslage hat sich verschlechtert. Es fehlen vor
allem Kleidung, Seife und Nahrung. Ich mache meinen täglichen
Dienst in der Kriegsspeisehalle, wo wir die hungernde Bevölkerung
durchfüttern. Für zehn Pfennige gibt es einen Eintopf. Das Essen ist
wenig schmackhaft, wir geben trotzdem jeden Tag Tausende
Portionen aus.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Unzählige Schützengräben,
unterirdische Befestigungen, Massengräber. Überall liegen
Uniformteile, Rangabzeichen, Schreibutensilien von Deutschen und
Franzosen. Unser Stollen ist gut eingerichtet. Tisch, Telefon,
elektrisches Licht. Im Nebenstollen wurden 21 Kameraden
verschüttet.
RUNHILT Seit wir Arthur von Liebwitz besiegt haben, hat sich alles
für uns verschlechtert. Uns stehen lächerliche Lebensmittelmengen
zur Verfügung. Die Zahl der Todesfälle ist merklich gestiegen.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Leitungswasser dürfen wir
wegen der Epidemiegefahr nicht trinken. Viele Soldaten schreien Tag
und Nacht, sie haben zu oft im Schützengraben übernachtet. Eine
kleine Stadt ist in den Boden hineingeschossen worden. Man sieht
nichts, obwohl der Feind 300 Meter vor uns liegt. Aber man hört
umso mehr. Vor uns ballert die Artillerie. Nur die Lerchen in den
Bäumen lassen sich nicht stören.
RUNHILT Die Westfront ist 800 Kilometer lang. Leipzig ist wie leer
gefegt. Nur mittags in den Kriegsspeisehallen herrscht für zwei
Stunden Lärm und Treiben wie ehedem.
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Wir liegen im Wald,
pflücken Heidelbeeren. Zwei Soldaten, deren Lungen bei Ypern
verätzt wurden, und ich. Ihr Röcheln erinnert mich an Watzke und
Borso. Über uns die Wolken, unverändert. In uns nichts als Leere.
Wir lauschen, was kommt.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: 800 Russen gefangen, ein Dorf
genommen. Schon 850.000 Menschen gestorben in einem Jahr. Wie
RUNHILT
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es in mir aussieht, ist kaum zu beschreiben. Das Schwere liegt hinter
mir. Jetzt handelt es sich nur noch um Pflichterfüllung.
RUNHILT Ich denke oft an meine Leipziger Freunde. Es passiert zu
viel, als dass ich sie sehen könnte. Ob Helmut und Gerd gute
Soldaten sind? Brüssel ist von der Luftflotte in Brand geschossen
worden. Meine Impfpusteln sind aufgegangen.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Gerade ging ein Brite über
Deckung. Vor mir Bombentrichter, Explosionen, totes Fleisch.
Helmut ist gestern gefallen. Ich konnte ihm nicht helfen. Man sagte
mir, dass er nicht lange kämpfen musste. Hoffentlich bleibt Leipzig
vom Krieg verschont.
RUNHILT Vor einem Jahr spazierten wir über die Bugra. Wir dachten
daran, wo wir heute sein würden. Unser kleiner Bruder hat sein
Deutsch-Abitur bestanden. Er zeigte mir gestern seinen Aufsatz:
„Worin besteht das Heldenhafte unserer Soldaten im jetzigen
Kriege?“ Ich musste die Tränen wegkämpfen. Wann wird er
eingezogen?
GERHILT schreibt in ihr Kriegstagebuch: Verwundetentransport. Die
Deutschen haben eine Stadt in Flammen geschossen. Wir kommen an
Pferdeleichen vorüber, an halb eingeäscherten Dörfern. Rückzug der
Franzosen auf Verdun.
GERD schreibt in sein Kriegstagebuch: Nach mehrtägiger
Verschüttung in einem Granattrichter bin ich wieder ganz gut
beieinander. Vor dem Krieg habe ich das Töten gehasst, jetzt will ich
alle töten. Die Tommys schießen einem Kameraden das Gesicht zu
Brei. Er ragt als Leiche über den Schützengraben heraus. Ich denke
nur eines: Wann hat dieser Scheißkrieg endlich ein Ende?
RUNHILT Die Todesmeldungen in den Zeitungen sind nicht zu
übersehen. Auch nicht das Leid der Zivilbevölkerung. Der Lohn
Gottes und der Stolz des Vaterlandes sind oft ein abgetrenntes Bein
und eine zersplitterte Seele. Wenn Gerd, Helmut und Gerhilt nicht
mehr leben, kann die Welt von mir aus untergehen.
Ende
© Jan Decker
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