Living the fairytale - Fairytales and Fantasies

IRIS MÖBIUS
LIVING THE FAIRYTALE
„Meine Mutter hat mich als Kind immer auf dem Dachboden eingeschlossen, wenn ich frech war;
und das kam ziemlich oft vor. Und wenn ich da oben war habe ich gedacht, dass ich eine Prinzessin
bin, die von einer bösen Königin gefangen gehalten wird. Und plötzlich kommt ein Ritter
angaloppiert, auf einem weißen Pferd, mit wehenden Fahnen. Und er reitet auf den Turm zu und
zieht dann sein Schwert. Ich winke ihm zu; er springt vom Pferd. Mein Ritter klettert den Turm
nach oben und rettet mich.
Ja, genauso hab ich es oft geträumt.“
Wer kennt sie nicht, diese vielleicht kitschigsten und klischeebehaftetsten Zeilen auf dem Kultfilm
„Pretty Woman“, und von Julia Roberts doch so emotional und überzeugend gespielt, dass man
nicht einmal auf die Idee kommt ihr oder dem Film das übel zu nehmen. Vivian beschreibt hier eine
Fantasie, deren kindliche Naivität deutlich herauszuhören ist und auch nicht zu vertuschen versucht
wird. Es ist ihr persönliches Märchen, dass keinem der bekannten Grimmmärchen wirklich
entspricht, und sich doch in fast alles wiederfinden lässt. Es ist die wohl Älteste aller Geschichten,
in denen eine Prinzessin von bösen Hexen, Stiefmüttern oder anderen widrigen Umständen in die
Enge getrieben wird und sich aus diesen nicht mehr selbst befreien kann. Hilflos und hilfesuchend
wartet sie auf den edlen Ritter, der sofort herbeigeeilt kommt, um sie unter der Bedrohung seines
eigenen Lebens zu retten.
Dieses Thema wurde über Hunderte von Jahren immer wieder in Büchern und Geschichten
aufgegriffen, wurde zum Leitfaden mindestens jedes zweiten Hollywoodfilmes, mal offensichtlicher,
mal weniger, wenn auch in kaum einem so oft auf den Punkt gebracht wie in „Pretty Woman“.
Vielleicht macht auch gerade das den besonderen Reiz dieses Filmes aus: dass er nicht versucht zu
verstecken, was für eine Geschichte ihm zu Grunde liegt, dass er ein modernes Märchen erzählt.
Und dass er auch nicht leugnet dass Dinge wie die Geschichte der Vivian Ward eben nicht im
wirklichen Leben passieren, sondern nur im Film, oder im Märchen.
„Denn wann passiert so was schon?“, fragt Julia Roberts irgendwann. „Da fällt mir nur
Schneewittchen ein.“, lautet die eindeutige Antwort der Freundin.
Dennoch stellen viele Menschen die Frage, warum wir uns so etwas immer und immer wieder
ansehen oder lesen, denn so was passiert doch nicht, und Filme sollen doch lieben etwas darstellen
das auch im Leben passiert, oder am besten wirklich passiert ist.
Nun, vielleicht wäre das besser, vielleicht würde es dazu führen, dass wir nicht am Ende eines jeden
Filmes oder Buches seufzend da sitzen und uns fragen, warum das Leben so ungerecht ist, warum
uns so etwas nicht passiert, warum es heute keine heldenhaften Ritter mehr gibt, die geradezu
danach lechzen uns zu retten und zu erobern, wenn es sie im Mittelalter doch noch gab. Und
warum, ja warum verdammt noch mal, das Schicksal nicht bei uns eine Ausnahme machen kann und
wir dem letzten überlebenden Ritter begegnen. Wir verlassen dann den Kinosaal um ein paar Ideen,
auf welche Art wir gerettet werden könnten, reicher, und mit der wieder aufgekeimten Hoffnung,
dass es ja vielleicht doch noch passieren könnte, irgendwann.
Die Antwort ist die: weil dieses Gefühl einfach viel zu schön ist, und wir uns auch über das Glück des
jungen Mädchens freuen können, dass dieses Prinzen gefunden hat, oder besser gesagt, von ihm
gefunden wurde. Wenn auch nur im Film, nehmen wir jede Gelegenheit war, in solchen Märchen zu
versinken.
Warum?
Weil wir – der weibliche Teil der Bevölkerung – im Grunde alle eins mit Vivian gemeinsam haben.
Wir alle träumen als Kinder dieses Märchen der unterdrückten Prinzessin, die von einem starken
Prinzen gerettet wird. Wenn wir älter werden, wenn wir sehen wie das wirkliche Leben aussieht,
wie Menschen – vielleicht sogar die eigenen Eltern – geschieden werden, wie Beziehungen von
Freunden in die Brüche gehen, oder wie die Männer plötzlich die sind, die von uns Frauen gerettet
werden wollen, begreifen wir, dass unsere Kindheitsträume wirklich nichts weiter als Märchen
waren, und dass es sich nicht lohnt einer unerreichbaren Illusion hinterher zu jagen.
Wir verdrängen es also und vergessen darum.
Dennoch bleibt es ein Teil unserer selbst. Irgendwie, und wenn nur in den Tiefen unseres
Unterbewusstsein, wünscht sich jede Frau, oder jedenfalls fast jede, gerettet zu werden. Natürlich
nicht wirklich von einem Ritter auf einem weißen Pferd, mit wehenden Fahnen. Aber dennoch.
Wir möchten einen Mann, der uns erobert, und nicht selbst die Eroberin sein („Er muss
zurückrufen!“). Wir möchten, dass er genau fühlt, wann es uns schlecht geht, egal wie groß die
Distanz auch sein mag, er alle Mühen auf sich nimmt, zu uns eilt, nur um uns einen Moment in den
Arm zu nehmen und uns das Gefühl zu geben, wichtig zu sein. Wir möchten, dass er für uns
einsteht, in jeder Situation, uns auffängt, wenn wir fallen, und ja, es auch mit einem Drachen
aufnimmt, wenn es nötig ist.
Und dieser Traum hat sich über Jahrhunderte erhalten und sich in seinen Grundzügen kaum
verändert.
Wie kann das sein? Müsste nicht ein Leben, geschweige denn ganze Generationen. Ausreichen, um
zu merken, dass Märchen wie dieses genauso wenig wahr werden, wie das vom gestiefelten Kater?
Und müsste die Enttäuschung nicht irgendwann groß genug sein, diesen Traum aus unseren Köpfen
zu verbannen und mit weniger mindestens genauso glücklich zu sein?
Aber genau darin liegt möglicherweise der Haken.
Wir alle erleben Phasen, in denen alles glatt geht, in denen unser Leben wirklich perfekt ist. Dann
gibt es – wenn auch nur für einen beschränkten, vielleicht sehr kurzen Zeitraum – auf mal einen
Mann, der uns wie der lang herbeigesehnte Ritter erscheint, auch wenn er vielleicht nur zufällig zur
rechten Zeit am rechten Ort war. Und innerhalb kürzester Zeit gewöhnen wir uns viel zu sehr an
dieses Hochgefühl, und fallen in ein wahnsinnig tiefes Loch, wenn dann mal nicht mehr alles so gut
läuft.
Und alles das, was vorher gereicht hat, um uns glücklich zu machen, ist plötzlich nicht mehr gut
genug. Weil wir erlebt haben, wie viel besser alles sein könnte.
Uns jetzt wieder mit weniger abzufinden, mehr noch, damit so glücklich zu sein, wie zuvor, fällt
wahnsinnig schwer.
„Ich will mehr, mein Märchen soll wahr werden.“
Und jetzt kommen wir an den Punkt, wo die Märchen gar nicht mehr so unwahrscheinlich
erscheinen, wo wir plötzlich wieder zur Prinzessin im Turm werden, die auf ihren Ritter wartet. Und
solange wir warten, versüßen wir und die Zeit mit Liebesfilmen und Liebesromanen, die vorleben
wie perfekt das alles klappen kann, und die sicher nicht dazu beitragen unsere Ansprüche an Glück
zu senken.
Bleibt die Frage, wir aus diesem Schlamassel herauskommen, wie wir selbst zu den kühnen Rittern
werden, wie wir uns selbst aus dem Turm befreien.
Und die Antwort darauf kann eigentlich nur lauten: zu springen. Wir müssen all unseren Mut
zusammennehmen und mit weit geöffneten Augen aus dem Turm springen, mitten hinein in das
Ungewisse.
Und wer weiß, vielleicht wartet er da ja schon, auf einem weißen Pferd, mit wehenden Fahnen...