Man glaubt es nicht

Leseprobe aus:
Heino Jaeger
Man glaubt es nicht
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Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
»Das ist ja enorm.«
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Unter Deutschlands Städten erfreut sich Hamburg besonderer Beliebtheit, fernab der See haben sich Generationen von Kaufleuten einen riesigen Hafen in die Elbläufe gegraben und so der Stadt das Flair einer
Seestadt gegeben. Kaufmannsgeist beherrscht die Stadt, Handel und
Wandel, wie man zu sagen pflegt, geht vor Bildung und Kunst. Kein Potentat, kein Landesfürst zwang der Stadt eine fürstliche Residenz auf oder
belastete die Bürger mit einer Universität, denn für den Kaffeehandel
bedurfte es keiner geisteswissenschaftlichen Höhenflüge. Wirtschaftliche
Expansion geht vor Tradition, Althergebrachtes wird beseitigt, wenn es
hemmend die Zukunft belastet. Es gibt wohl kaum eine Stadt, die so
rigoros Zeugnisse alter Baukultur eliminierte wie Hamburg. Welche Stadt
devastierte schon ihren mittelalterlichen Dom oder opferte ein vom Bombenhagel verschontes frühneuzeitliches Hafenquartier einer Durchgangsstraße? Für einen Museumsmann nicht gerade die Traumstadt, doch ein
verlockendes Angebot des Hamburger Helms-Museums, die Grundlagenforschung für ein Freilichtmuseum zu übernehmen, brachte mich in diese
Stadt. Das Helms-Museum lag im Stadtteil Harburg, der erst 1937 durch
das Großhamburg-Gesetz der Hansestadt einverleibt wurde. Zuvor war
Harburg eine hannoversche Industriestadt, geprägt von kleinbürgerlichem
Handel, größeren Fabrikanlagen und proletarischer Unterschicht. Der
Krieg hatte den Ort schwer verwüstet, der Rest alter Bausubstanz fiel der
zukunftsgeilen Stadtplanung der 60er Jahre zum Opfer, die auch hier den
sozialistischen Traum vom Mischen der Schichten zu verwirklichen trachtete. Das Gebäude des Helms-Museums war ein beredtes Zeugnis neuzeitlicher Baukultur. Im Volksmund »Coca-Cola-Abfüllstation« genannt,
glich dieser 50er-Jahre-Bau einer Industrieanlage. Tröstlich war der gegenüberliegende Torso des Deutschen Hauses, eines einstigen Sturmlokals der
SA. Von Bomben arg mitgenommen, war nur die Hälfte des Hauses erhalten, worin sich im Untergeschoß eine Kneipe befand, darüber lag die
Wohnung des Eigentümers, des Malers und Grafikers Karl Ihrke.
Der erste Arbeitstag in diesem Museum war der Erkundung des Umfeldes gewidmet. Nachmittags führte mich der Direktor durch das Haus,
machte mich mit den Mitarbeitern bekannt, der Hierarchie des Museums
entsprechend von den Obergeschossen mit dem Leitungspersonal bis hinunter in den Keller, wo die Handwerker und der Hausmeister zu begrüßen waren. In einem dieser Kellerräume, im Umkleideraum für das Reinigungspersonal, stand ein Tisch mit einer buntgeblümten Plastikdecke,
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darauf lag Zeichenmaterial. In Regalen standen Urnen, lagen Artefakte
aus Bronze und Eisen, von der Zeit im Erdreich verunstalteter Schmuck,
Waffen und Hausgerät. Am Tisch saß Heino Jaeger. »Herr Jaeger«, sagte
der Professor, »Sie müßten einander doch kennen, Herr Jaeger war doch
auch in Schleswig.« Jaeger murmelte etwas Unverständliches, schien aber
freudig überrascht, grinste auf unnachahmliche Weise, nickte grunzend,
als ich mich konversationsbemüht mit einem »Dann sehen wir uns ja häufiger« verabschiedete. Gegen Abend erschien er in meinem Büro, zeigte
auf das Telefon und fragte: »Mal telefonieren?« Jaeger blätterte in einem
zerfledderten Heftchen, suchte lange eine Telefonnummer und wählte
umständlich. Das folgende Gespräch verlief ungewöhnlich, ausgetauscht
wurden offensichtlich Erlebnisse der letzten Tage, es ging um einen Schloßpark im Holsteinschen, schließlich um eine altmodische Kneipe und eine
Villa aus der Gründerzeit.
Bestimmte Worte häuften sich, vor allem das Wort »enorm«, sowie
offensichtliche Geheimkürzel wie »m.g.e.n.«. Das Gespräch zog sich in die
Länge, eigentlich wollte ich das Haus verlassen, nutzte aber nun die Zeit,
meinen neuen Arbeitsplatz näher zu untersuchen. Schließlich fand ich
unter der grünen Linolschreibtischplatte einige Bleistiftzeichnungen: ein
Panzerspähwagen, die Karikatur des ehemaligen Direktors des Hauses
und eine akribisch genau gezeichnete Gründerzeitvilla. Jaeger sah die
Zeichnungen und zeigte sich interessiert, ja er beendete das Gespräch und
betrachtete sie eingehend. »Das ist ja enorm«, sagte er, »Knispel, die sind
von Knispel.« Ich erfuhr, daß dieser Knispel, Alexander, an meinem
Schreibtisch gesessen hatte, bis vor kurzem Zeichner für den ehemaligen
Direktor war und nun tot sei. Er war zu Besuch zu seiner Mutter nach
Coburg gereist und dort von einem Auto überfahren worden. Mit mehreren Freunden war Jaeger zur Beerdigung gefahren, sogar einen Kranz
hatte man im Kofferraum gehabt, doch sei man nicht in Coburg angekommen. Ein schwerer Unfall habe die Reise unterbrochen, nur einem
Wunder wäre es zu verdanken, daß man unbeschadet geblieben sei. Mit
dem Kranz im Kofferraum sei das Autowrack auf den Schrottplatz gebracht worden. Knispels Posten hatte Jaeger nun geerbt – Vorgeschichtsschrott und Scherben zeichnen für die Wissenschaft, natürlich auf
Honorarbasis, bloß nicht angestellt werden –, nach Schleswig eine grauenvolle Vorstellung.
»Irgendwie auch eklig!«
Der Volksmund tradiert einen reichen Schatz an Beamtenwitzen, pflegt
die Vorurteile gegen faule Staatsdiener, die, reich entlohnt und lebenslang
versorgt, den Arbeitstag ruhend verbringen. Ein Vorurteil, wenngleich das
Ritual eines Beamtenarbeitstages den Verdacht der Nutzlosigkeit dieser
Profession zu nähren scheint. Der verdauungsbefördernde morgendliche
Kaffee mit anschließendem Morgenschiß, die folgende Frühstückspause
und, schließlich, die am späten Vormittag einsetzende erwartungsvolle
Vorfreude auf das Mittagsmahl mit anschließender Kaffeerunde im Kollegenkreis bestimmen den Arbeitsalltag einer Behörde, der »öffentlichen
Hand«, die sich nicht heftig, doch kontinuierlich rührt. Auch die Museen
sind der »öffentlichen Hand« zugeordnet, und entsprechend verlief ein
ganz normaler Arbeitstag im Helms-Museum, meiner und Heino Jaegers
Arbeitsstätte. Frühaufsteher waren wir beide nicht, und so begann unsere
Tätigkeit für das Gemeinwohl erst am späten Vormittag, nicht selten erst
zu der Zeit, da auf den Gängen eine rege Bewegung auszumachen war,
»Mahlzeit«-Rufe zu hören waren und die Kollegen zum nahen Harburger
Rathaus strebten, in dessen Kellerräumen sich die Behördenkantine befand. Zuvor hatte man bereits den »Essensplan« studiert. Zuerst galt es den
aus den Kellerräumen aufsteigenden Geruch von Feudel und Dampfgekochtem zu überwinden, sich alsdann an der Essensausgabe einzureihen,
nach Abgabe einer Essensmarke von schwitzigen Frauen die Nahrung auf
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den Teller packen zu lassen und mit einem klebrigen Tablett einen Platz an
einem der großen Resopalplattentische zu suchen. Der wohlfeile Mittagstisch war mehr Qual denn Genuß, und wäre es nach mir gegangen, hätte
ich dieser Tortur entsagt, doch auf Jaeger übte diese Kantine eine magische Anziehungskraft aus, nicht um seinen Hunger zu stillen, sondern um
sich am kargen Ambiente dieser sozialen Betriebseinrichtung zu weiden.
Die Erbauer des gründerzeitlichen Rathauses hatten es nicht versäumt,
den Bürgern der Stadt einen Ratskeller im Stil der Neorenaissance zu stiften. Wandmalereien, Butzenscheiben, wuchtiges eichenes Meublement
und schmiedeeiserne Leuchter und Kandelaber schufen altdeutsches Flair.
Die Bomben hatten davon schon nicht viel übrig gelassen, doch den Rest
der Zerstörung übernahm das städtische Bauamt, das, hellen und freundlichen Räumen verpflichtet, den alten Plunder hinauswarf, mit hellgrünem Anstrich, Neonleuchten und pflegeleichten Tischen und Stühlen der
neuen Zeit huldigte, vor allem aber das sozialistische Anliegen unterstrich,
die hierarchische Schichtung durch Kargheit zu nivellieren. Merkwürdig,
daß Volkssouveränität und insbesondere sozialistische Herrschaft stets mit
einer schmuddeligen Unästhetik einhergehen.
Gewiß, die Besucher der Kantine harmonierten mit dem Ambiente
dieses gastronomischen Elends; Beamte und Angestellte in Sakko und
ausgebeulten Hosen, aber auch in Jeans und Pullover, die weibliche Variante in farbloser Tristesse, während die Schreibmädchen eine ordinäre
Sexualität versprachen, uns mit flüchtigem Blick streiften: Was sind das
für schräge Vögel, mochten sie wohl denken, ätzende Typen, um sich
sodann über die Wochenenderlebnisse ihrer Klitoris auszutauschen.
»Irgendwie auch eklig«, befand Jaeger, »diese wie abgepackt wirkenden
Ärsche.« Worauf ich ihm von einem Großonkel erzählte, der aus »ästhetischen Gründen« seine Ehe nie vollzogen hatte. »Enorm«, meinte Jaeger,
»ist ja auch blöd von der Schöpfung geregelt, die Lustorgane und die Ausscheidungsorgane so dicht zusammen.« – »Gucken«, raunte er mir zuweilen zu, wenn ein besonders schönes Exemplar deutscher Subalternität,
das Tablett wie ein Menetekel vor sich hertragend, einer Kollegenrunde
zustrebte oder gar ein Rudel Polizisten an der Essensausgabe ihr Menü
zusammenstellen ließen.
Hier unten im Keller hatten diese Leute etwas Animalisches, ja Rührendes, und doch war uns klar, daß sie nach dem Essen an ihre Schreibtische
zurückkehrten, um dort als Büttel der Staatsmacht Bürger zu drangsalieren: bedrohliche Bescheide verfassten, Zwangsgelder festlegten, subalterne
Macht zelebrierten. Vor allem versuchten wir Gespräche zu erhaschen, All-
tagsgeschichten, Berichte aus dem Dienstgeschehen und private Nachrichten aus Heim und Familie aufzunehmen. Berufsspezifische Formulierungen wurden hirngespeichert: Käme man sonst auf eine »Meldequittung«,
mit der ein »Unfall auf BAB mit Persscha« (für Personenschaden) bestätigt wurde. Meist schütteten wir den Gruselfraß in die an der Geschirrabgabe plazierte Tonne, in die hineinzuschauen nicht geraten war, widerlich der Nahrungsmatsch, der wie Erbrochenes roch. »Als Tatbestand«,
beschwichtigte Jaeger meinen Ekel, »ist diese Kantine unmöglich, aber als
Stimmung nicht übel.« Zum Ausgleich gingen wir anschließend zum Cafe
Vernimb, Kaffee trinken und womöglich »Schneemuß« essen, sahniges
»Eisgefrorenes«. Vernimb war nicht die Nobelklasse unter den Konditoreien, der übelproportionierte Raum, ein langer Schlauch, war nicht gerade gemütlich, aber meist gut besucht. Die Gesellschaft dieser Gäste zu
suchen lohnte sich, hier traf sich nämlich das typische Harburger Publikum, vornehmlich das Weibliche, die in allen Städten verschiedenen, spezifischen Kaffeetanten. In Flensburg waren es die sogenannten Betutanten, die sich in Sprache und Habit von der Café-Niederegger-Klientel in
Lübeck unterschieden. Ganz anders offerierte sich das Cafépublikum in
Kiel oder gar in Hamburg, und etwas ganz Besonderes schlapperte seinen
Kaffee im Harburger Café Vernimb. Frauen unbestimmbaren Alters überwogen, ihre Garderobe ein Mißverständnis des berühmten hanseatischen
Understatements, die harburgische Variante der teuren, aber verhaltenen
Eleganz, war von proletarischem Charme: Dezent gemustertes Wollzeug,
sonderbare Hosenanzüge, Silberschmuck, schlicht und häßlich, und als
Höhepunkt der Kopfschmuck – die von Jaeger »Berlinbombe« genannte,
möglichst weinrote Filzkappe, mit winzigem Schirm und einem auf dem
Ballon angebrachten kleinen filzigen Pimmel. Hier hörte man auch nicht
die leiseste Spur der von vornehmen hanseatischen Damen gepflegten
sogenannten Hasen-s-prache, sondern, wie in eine blecherne Röhre hineingeprustete Krächzlaute. Die Damen waren vom »Sand« mit seinen täglichen Marktständen gekommen, »nochmal ’n büschen rumschludern
mit Bekannte«. Obst und Gemüse aus dem ländlichen Umland hatten sie
gekauft, Karbonade und Mettwurst vom Landschlachter und Eier von
Schönecke. Fisch hatten sie bei Schrader geholt, nicht bei Mimi Kirchner: »Wenn der Fisch so nach Fisch riecht, das mach ich nich haben.«
Unsere Unterhaltung beschränkte sich auf das Wesentliche, mit Teleskopohren lauschten wir den Gesprächen, speicherten den Unsinn, der von
Jaeger dann auf dem Weg zum Museum rekapituliert, besser gesagt, fortgesetzt wurde.
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Die wenige Zeit, die wir im Museum arbeiteten, wurde durch Effizienz
ausgeglichen, Jaeger zeichnete den rostigen Schrott und die krümeligen
Gefäßreste mit unglaublicher Schnelligkeit, und meine Auswertungen
gelangen besser in den ruhigen Abendstunden. Wenn es dunkelte, kam
Werner, der Hausmeister, bastelte im »Sozialraum« an seinen Uhren: »Ja,
ja, Frau Krause, wenn Sie meinen, Ihr Mann kann’s besser.« Wenn Werner zum Feierabend drängte, fuhren wir bei schönem Wetter zur Majestätischen Aussicht, im Cafégarten Spiegelei mit Bratkartoffeln essen und
Brause trinken. Unten im Tal schrie ein Pfau, und aus dem Wald kroch
die Dunkelheit. Bei schlechtem Wetter ging es zu Wein-Fürst neben der
von den Bomben verschonten gründerzeitlichen Post. Jaeger, der Alkohol
nicht liebte, schüttete sich mit Kaffee zu, ich trank Rotwein, und nur
wenn es die Stimmung gebot, bestellte sich Jaeger einen lieblichen Weißen.
Die Weinstube genügte unseren gastronomischen Ansprüchen, hier hatten sich die 40er Jahre konserviert, und entsprechend waren die Gäste,
mittelständische Geschäftsleute und zuweilen ein Pärchen, auf die animierende Wirkung des Weines hoffend. Die Affinität Jaegers zu Harburg
wurde mir bald klar: Heino Erik Jaeger war »alter« Harburger, wie die
Urbewohner der Stadt zu sagen pflegten, geboren am 1. Januar 1938 in
Harburg-Wilhelmsburg, so stand es im Pass. Spätere Jahrgänge mußten
auf diesen Eintrag verzichten, sie waren einfach nur Hamburger.
Kindheitserfahrungen im Krieg
Unmittelbar am Helms-Museum begann die Marienstraße, hier hatte die
Familie Jaeger vor dem Krieg Wohnung genommen, eine triste lange,
stadtauswärts führende Straße mit kleinbürgerlichen Mietshäusern. Die
Kindheit war behütet, Heino war der Jüngste, Vater und Mutter und zwei
ältere Schwestern verwöhnten den Knaben. Auch die Spielfreundin war
älter, der Altersunterschied wurde durch eine geistige Behinderung ausgeglichen. »Mädchen, mach dir Locken, sonst bleibst du hocken«, rief
sie frühreif anderen Kindern nach. Auch in die Marienstraße rissen die
Bomben Lücken, das Geburtshaus wurde Ende des Krieges zerstört. Daß
knapp sechzig Jahre später schräg gegenüber arabische Terroristen den
Angriff auf die New Yorker Türme vorbereiteten, hätte Jaeger bemerkenswert befunden, denn brennende und einstürzende Häuser waren ab 1942
alltägliche Kindheitserfahrungen, die sich tief eingegraben hatten: Nachts
kamen die englischen Flugzeuge, und bei Tage bombten die Amerikaner
die Arbeiterquartiere der Stadt. Zuweilen suchte die Familie Schutz im
Schrebergarten des Großvaters außerhalb Harburgs. Von dort hatte man
einen herrlichen Rundblick über die Stadt, vor allem die Angriffe auf
die Erdöl- und Benzintanks von Shell boten ein imposantes Schauspiel:
Flammen loderten, blauschwarze Rauchpilze verdunkelten die Sonne und
veranlaßten Großvaters Hühner, sich zur Nachtruhe zu begeben. Während des Krieges wurde der Vater als Lichtbildner für Associated Press in
das kriegsferne Dresden versetzt, dort war man sicher, strategisch und
militärisch galt das Elbflorenz als unbedeutend, ein Glücksfall also für die
Familie.
Die abendlichen Dämmerschoppen bei Wein-Fürst, zelebriert nach
Altherrenart, animierten zum Austausch der kindlichen Kriegserlebnisse,
veteranenhafte Reminiszenzen an die von den Aufbruchmenschen des
Wirtschaftswunders verdrängte »schrecklich schöne Zeit«. Das nachkriegsprovisorische Ambiente der Weinstube mag der Grund für den sonderbaren Verlauf der Gespräche gewesen sein, denn eigentlich sprach unsere
Generation nicht über diese Zeit oder, besser gesagt, der durchlebte Schrekken fand kein sonderliches Interesse.
Ich begann zu erzählen, dass wir meinen Klassenkameraden Dieter
Jahn hänselten, weil er nur ein Ohr hatte. Seine Erklärung, daß ihm dies
auf der torpedierten »Wilhelm Gustloff« abgerissen worden sei, ließ uns unbeeindruckt. Karli Beyer hatte ein Auge verloren, und Schlonskes Schwe-
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ster war auf der Flucht umgekommen. Jahn, Becker und Schlonske waren
lustige Spielfreunde, keine Spur von traumatischen Störungen. Auch die
Pauker zeigten keinen fürsorglichen psychologischen Betreuungsbedarf,
im Gegenteil, gefallene oder kriegsgefangene Väter hatten die »gerechte«
Strafe empfangen. Und die Frauen, Mütter und Kinder? »Da kann ich nur
sagen«, meinte Lehrer Ehlers, »so was kommt von so was her, schließlich
haben wir ja auch den Krieg angefangen.« Das hatte ich freilich nicht gewußt, denn bei Kriegsausbruch war ich noch nicht gezeugt. Für unsere
Pauker in der DDR – ich kam 1955 aus der DDR – waren die Flüchtlinge Umsiedler, und in der westdeutschen Neuen Ordnung schrieb der
CDU-Dominikaner Laurentius Siemer, daß nicht von ungefähr »die Ostdeutschen hart gestraft um Aufnahme im alten Reich bitten müssten«,
schließlich sei der Protestantismus im Osten entstanden. Beim Aufrechnen der Toten kamen wir Deutschen schlecht weg, da war auch Mitleid
für Unschuldige nicht angebracht.
Jaeger hörte mir sichtlich gelangweilt zu. »Zu ernst«, kommentierte er
meine Rede, »denn es gibt keine Moral – Linke und Rechte haben jeweils
die Moral für sich gepachtet – der andere ist immer unmoralisch und daher
zu bekämpfen, je nach Möglichkeit mal mehr oder weniger grausam. Alle
Unterdrückungen, alle Mordtaten waren seitens der Mörder Rechtens.« –
»Und die Opfer?« fragte ich. »Die Menschen verehren ihre Peiniger und
vor allem die, die ihnen was wegnehmen: Die Kirche, Napoleon, unser
Addi, Churchill, oder als die Besatzer uns wie Arsch behandelten, als zum
Beispiel die Amerikaner nicht einmal mit Deutschen reden durften, verehrten wir die neuen Herren, kopierten sie, Swing, Coca-Cola, Nietenhosen, Parker – möglichst amerikanischer als die Amerikaner wollten wir sein.
Und nun, nach Empfang der Segnungen, wird gegen Amerika demonstriert, sind die Amerikaner die Nazis, Ho Chi Minh und Mao die neuen
Helden. Dabei kommt der Protest aus Amerika, selbst die Anti-VietnamDemonstrationen kopieren sie – natürlich nicht wie die amerikanische
Jugend mit Musik und witzigen Aktionen, sondern mit deutsch-kokeliger
Schwerenot.« Derartige kurze Lektionen waren frei von Besserwisserei, Jaeger haßte den Disput und dümmlichen Widerspruch von »Wir-Leuten«.
Menschen, die sich dem »Wir« des Zeitgeistes oder Weltanschauungen
unterworfen hatten, blieben unbeachtet, sie verärgerten ihn, also schwieg
er – oder er schlüpfte in die Rolle eines politisierenden Stammtischbruders, um sich mit dessen Worten an der Komik politischer Debatten zu
erfreuen. Dispute mit Weltanschauungsmenschen mied er, was nicht bedeutete, daß sie ihn nicht interessierten, er ihnen nicht zuhören mochte.