Presseinformationen Stand: 15.03.2016 »Tod und Amüsement« Thomas Mann: »Der Zauberberg« Eine Ausstellung des Literaturhauses München Vom 16.3. bis zum 26.6.2016 Team Leitung: Reinhard G. Wittmann Kuratorinnen: Karin Becker & Karolina Kühn Gestaltung: unodue{ münchen (Costanza Puglisi & Florian Wenz) Lesung der Audiobegleitung: Helmut Becker Ausstellungsort Literaturhaus München, Galerie (EG) Salvatorplatz 1, 80333 München U-Bahnen U 3/6, U 4/5 bis Odeonsplatz www.literaturhaus-muenchen.de Ausstellungszeiten / -eintritt Mo-Fr 11-19 Uhr, Sa/So/Feiertage 10-18 Uhr Eintritt: Euro 5.- / 3.- (inkl. Audiobegleitung) Studierende zahlen montags nur 2.- Euro! HEFT zur Ausstellung Herausgegeben vom Literaturhaus München, erhältlich im Literaturhaus für Euro 6.- Pressekontakt Stiftung Literaturhaus, Marion Bösker Salvatorplatz 1, 80333 München Tel. 089-29 19 34-11 / Fax -19 [email protected] www.literaturhaus-muenchen.de/presse 1 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 »[D]ie Erzählung nun, die ich plante – und die sofort den Titel ›Der Zauberberg‹ erhielt –, sollte nichts weiter sein als ein humoristisches Gegenstück zum ›Tod in Venedig‹, ein Gegenstück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas ausgedehnte short story. Sie war gedacht als ein Satyrspiel zu der tragischen Novelle, die ich eben beendete. Ihre Atmosphäre sollte die Mischung von Tod und Amüsement sein, die ich an dem sonderbaren Ort hier oben erprobt hatte. […] Ein simpler Held, der komische Konflikt zwischen makabern Abenteuern und bürgerlicher Ehrbarkeit, soweit ging mein Vorsatz. Der Ausgang war ungewiß, würde sich aber finden; das Ganze schien leicht und unterhaltsam zu machen und würde nicht viel Raum einnehmen.« (Thomas Mann: »Einführung in den ›Zauberberg‹«, 1939) Entstehung Im Frühsommer 1912 besuchte Thomas Mann seine Frau Katia in Davos, die sich wegen eines Lungenspitzenkatarrhs dorthin in Kur begeben hatte. Thomas Mann erlebte den Alltag im Sanatorium und war fasziniert von der Atmosphäre des Ortes. Aus seinen Eindrücken und den Briefen seiner Frau entstand die erste Idee zu einer Novelle. Im Juli 1913 begann die Arbeit an »Der Zauberberg«, der zunächst als »humoristisches Gegenstück« zum »Tod in Venedig« gedacht war. Bald stellte sich heraus, dass der Stoff sehr viel mehr Raum und Zeit in Anspruch nehmen würde als gedacht. Die Novelle, die »short story«, wuchs sich zum Roman aus. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stockte die Arbeit und pausierte bald endgültig. Erst Ende 1918 nahm Thomas Mann die gedankliche Beschäftigung mit dem »Zauberberg« wieder auf und begann 1919 mit einer intensiven Umarbeitung. Das Werk wurde zum über tausend Seiten langen Zeitroman. Am 28. November 1924 erschien »Der Zauberberg« in zwei Bänden bei S. Fischer in Berlin. Roman Der 24-jährige angehende Hamburger Schiffsbauingenieur Hans Castorp, »ein einfacher junger Mensch«, fährt ins Schweizer Hochgebirge. Vor Antritt seiner ersten festen Stelle möchte er seinen Vetter Joachim Ziemßen in einem Lungensanatorium »auf drei Wochen« besuchen. Die Fahrt Hans Castorps zu Beginn des Romans mit der Rhätischen Bahn ins Hochgebirge wird dabei zum Übertritt in eine andere, eine zeitlose Welt – unterlegt ist zugleich der Mythos der Hadesfahrt. »Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen«, begrüßt Lodovico Settembrini, einer der Bewohner des Berghofs, Hans Castorp nach der Ankunft. Als sich Hans Castorp aufgrund einer Erkältung untersuchen lässt, diagnostiziert Hofrat Behrens, der Leiter des Sanatoriums, prompt auch in seiner Lunge eine tuberkulöse Stelle und rät Castorp zu einer stationären Behandlung. Aus dem geplanten dreiwöchigen Besuch werden schließlich – halb freiwillig – sieben Jahre Aufenthalt. 2 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Station I: »Wir hier oben« Liegekur – Das Leben in der Horizontalen Roman »Was, ihr liegt noch bei Nacht und Nebel auf dem Balkon?« fragt Hans Castorp seinen Vetter am ersten Tag erstaunt. Die Liegekur gehört zum strengen Tagesablauf der Patienten des Berghofs. Bald lernt Castorp »die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften des Liegestuhles« zu schätzen. Das korrekte Einwickeln des eigenen Körpers in Decken wird für ihn zum Inbegriff der traumverlorenen Welt derer »hier oben«, die Erschlaffung in der Horizontalen zum Gegenbild der Ordnung und Disziplin des Flachlandes. In der Liegekur denkt Castorp auch über seine Begegnungen im Umfeld des Sanatoriums nach. Manche Patienten scheinen dabei eher der Welt der Pflicht und Vernunft zugetan, so zum Beispiel Hans Castorps Vetter Joachim Ziemßen, der seinen Dienst beim Militär wieder antreten möchte, oder der italienische Literat und selbsternannte Mentor Castorps Lodovico Settembrini. Der Aufklärer vertritt im Roman die Werte der Ratio und Tätigkeit. Andere Sanatoriumsbewohner gehören eher zu der für Castorp faszinierenden Welt des krankheitsbedingten Müßiggangs. Entstehung Das historische Davos hat Weltruhm in der Tuberkulosebehandlung erlangt, besonders nach Einführung der disziplinierten Liegekur. Diesem Ruf folgend kam auch Katia Mann in Begleitung ihrer Mutter Hedwig Pringsheim hierher. Die Milieuschilderungen der Briefe Katia Manns an ihren Gatten sind in den Roman eingeflossen, jedoch mit dem Manuskript verloren gegangen. Einen Eindruck der amüsant-detaillierten Berichte über die Begegnungen mit der Kurgesellschaft und die »pikante Todesingredienz« der Erholungsstätten geben das Tagebuch Hedwig Pringsheims von 1912 sowie Katia Manns Briefe von späteren Kuraufenthalten. Hinzu kamen die Erfahrungen, die Thomas Mann selbst an anderen Kurorten gemacht hatte. Den direktesten Eindruck gewann Thomas Mann jedoch bei seinem ersten eigenen Besuch in Davos vom 14. Mai bis 12. Juni 1912. Als er sich dort einen Katarrh zugezogen hatte, schlug der leitende Arzt Friedrich Jessen ihm vor, seinen Aufenthalt zu verlängern. Im Gegensatz zu seinem Romanhelden Hans Castorp ließ Thomas Mann sich darauf jedoch nicht ein. 3 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Station II: »Flirt und Temperatur« Salon – Ausschweifungen auf dem »Zauberberg« Roman In den Gesellschaftsräumen des Berghofs lernt Hans Castorp die international-illustre Patientenschaft und ihre Zerstreuungen kennen. Manche Patienten gehen nicht mit seinem Bild der Tuberkulose als einer vergeistigenden Künstlerkrankheit einher: »Das ist so sonderbar, – krank und dumm«, bemerkt er beispielsweise über die taktlose Musikergattin Karoline Stöhr. Andere haben es ihm jedoch besonders angetan, vor allem die Russin Clawdia Chauchat. Sie bestrickt Hans Castorp mit ihren rücksichtslosen Auftritten im Speisesaal, die sie mit einem nachlässigen Türenknallen einleitet. Er bewundert ihre erotische Ausstrahlung sowie ihr Röntgenbild und verfällt ihr endgültig im Faschingstreiben der »Walpurgisnacht«. Mynheer Pieter Peeperkorn, ein vitaler holländischer Kaffeepflanzer, imponiert Hans Castorp durch seine Lebens- und Genusskraft. Auch die teils skurrilen Zerstreuungen, welche die vor sich hinlebende und -sterbende Berghof-Gesellschaft die Zeit vergessen lassen, gefallen Castorp. Vergnügungen vom Konzert über Kinobesuche bis zur Faschingsveranstaltung mit »Schweinchenzeichnen mit geschlossenen Augen« finden statt, begleitet von Zigaretten- und Alkoholgenuss sowie heimlichen Flirts. Eine besondere Rolle spielt ein Grammophon, das im Gesellschaftsraum aufgestellt wird und vor dem sich Hans Castorp mit geöffnetem Mund, geröteten Augen und zur Seite geneigtem Kopf vom »Wohllaut« seiner »Vorzugsplatten« ergreifen lässt. Entstehung Thomas Mann griff für die Darstellung der »Zauberberg«-Gesellschaft auf viele reale Vorbilder zurück, die er dann literarisierte. Bei der Gestaltung der pathetischen und zugleich komisch anmutenden Kraftgestalt von Mynheer Peeperkorn ließ er sich beispielsweise durch eine Begegnung mit Gerhart Hauptmann inspirieren, der sich prompt im Roman wiedererkannte und schwer beleidigt fühlte. Darüber hinaus flossen verschiedene Themenkomplexe der Zeit in die Figurengestaltung ein. So konterkariert die ungebildete Karoline Stöhr die zeitgenössische Vorstellung von der Tuberkulose als einer Krankheit, die mit einer geistigen und künstlerischen Veredelung des Menschen einhergehe. Einiges davon, was im Salon und den Gesellschaftsräumen des Berghofs passiert, trifft zentrale Lebensthemen des Autors: Die Musik, die im Roman in Form des Grammophons einen großen Auftritt hat, liebte Thomas Mann leidenschaftlich – für ihn war sie das »Paradigma aller Kunst«. Castorps Liebe zu Clawdia Chauchat wird im Roman eng verbunden mit seiner Zuneigung zu einem früheren Schulkameraden, Pribislav Hippe, und erhält dadurch homophile Züge, die deutlich autobiografischen Charakter haben. 4 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Station III: »Zweikampf auf Messer und Knochensäge« Operationssaal und Röntgenlaboratorium Roman Zu Beginn seines Aufenthalts im Sanatorium bezeichnet sich Hans Castorp unvorsichtigerweise als gesund – und ist damit ein Außenseiter, »eine höchst studierenswerte Erscheinung«. Krankheit und Tod beherrschen diesen Ort und beginnen schnell, ihn zu faszinieren. Blickt er anfangs noch eher befremdet auf Phänomene wie den »Verein Halbe Lunge«, wird sein Interesse am kranken Körper bald ernsthafter: In der Liegekur studiert er medizinische Schriften und sogar seine französische Liebeserklärung an Clawdia Chauchat versieht er mit gewonnenen Einsichten über den menschlichen Körper. Auf die medizinischen Herrscher des Sanatoriums blickt Hans Castorp mit Bewunderung – auf Hofrat Behrens, der recht salopp von teils tödlichen operativen Eingriffen schwadroniert, und auf seinen Assistenten Doktor Krokowski, der Vorträge über »Seelenzergliederung« hält. Als Wächter des Totenreichs, Minos und Radamanth, bezeichnet, liegen ihre Behandlungsräume in der Unterwelt, »in dem gut belichteten Kellergeschoß des Anstaltsgebäudes«. Dorthin hinabgestiegen wird Hans Castorp auch zu einem der Kranken erklärt und macht im Halbdunkel des Röntgenraums eine Erfahrung, die ihn erschaudern lässt: Er erblickt das Gerippe seiner eigenen Hand – und sieht damit etwas, »wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab«. Entstehung Für Thomas Mann war es bezeichnend, dass er sich nichtliterarische Wissensbereiche aneignete. Im »Zauberberg« greift er auf Musik, Philosophie und Mythologie, aber auch auf Naturwissenschaften zurück. Er beriet sich mit Ärzten und las Fachbücher, aus denen er seinen Figuren Passagen stellenweise fast wörtlich in den Mund legte. Auch ließ er sich medizinische Entwicklungen wie das neu entdeckte Verfahren des Röntgens zeigen. Im Münchner Klinikum Links der Isar (heute Universitätsklinikum) warf er – wie sein Protagonist im »Zauberberg« – einen Blick auf das Skelett seiner Hand. Dank des Röntgens wurde es möglich, Tuberkulose erstmals eindeutig zu diagnostizieren. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es neben der Liegekur auch weniger sanfte Behandlungsmethoden, die der Roman ebenfalls aufgreift. Eine davon war das Einfüllen von Gas zwischen Lungen- und Rippenfell mit einer Nadel, das Anlegen eines Pneumothorax. Im »Zauberberg« begegnet Hans Castorp der Figur der Hermine Kleefeld, die mit ihrem Pneumothorax sogar pfeifen kann. Eine andere Methode war das Entfernen von Rippen bei lokaler Betäubung, die so genannte Rippenresektion. Dass Thomas Mann sie als quälerische Geldmacherei empfand, wird auch im Roman deutlich. 5 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Station IV (Bergwelt): »dem Tode keine Herrschaft einräumen« Gedankenexperimente im Hochgebirge Roman Die Welt des Hochgebirges empfindet Hans Castorp »als passenden Schauplatz für das Austragen seiner Gedankenkomplexe«. Denn der schlichte Held strebt in den sieben Jahren seines Aufenthalts nach geistigen Einblicken. Er trifft immer wieder auf seine beiden »Erzieher« Lodovico Settembrini und Leo Naphta – der eine ein Humanist, Republikaner und Freimaurer, der andere ein katholischer Jesuit jüdischer Herkunft, der mittelalterliche und kommunistische Ideen zu einem radikalen Programm der Gewalt verbindet. Nach erbitterten Rededuellen mit Settembrini erschießt sich Naphta in einem echten Duell der beiden schließlich selbst. Die Auseinandersetzungen der zwei Widersacher führen bei Hans Castorp zur »großen Konfusion«. Bei einer Schneewanderung verliert er die Orientierung im undurchdringlichen Weiß und versinkt in Träume aus visionären Bildern. Dabei gelingt es ihm, sich über die gegensätzlichen Positionen seiner beiden Lehrmeister zu erheben: »Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? […] Nein, […] in der Mitte ist des homo Dei Stand«. Die Absage an die »Sympathie mit dem Tode« hat allerdings keinen Bestand: »Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht.« Entstehung In den Diskussionen und Gedankenexperimenten, die Hans Castorp erlebt und anstellt, finden sich Kontroversen der Entstehungszeit, die zugleich Thomas Mann persönlich betrafen, wieder. Ab 1915 unterbrach Thomas Mann die Arbeit am »Zauberberg« und schrieb die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, in denen der Schriftsteller den Krieg als »das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur« bezeichnete. Die Streitschrift führte zum Zerwürfnis mit seinem Bruder Heinrich, der eine antinationalistische Position vertrat und sich als »Zivilisationsliterat« verunglimpft sah. Später nannte Thomas Mann die »Betrachtungen« eine »Entlastung«, ohne die die Weiterarbeit am »Zauberberg« nicht möglich gewesen wäre. Zugleich finden sich viele dieser Kontroversen im Roman wieder, insbesondere bei Hans Castorps »Erziehern« Settembrini und Naphta, die um Castorps Haltung zu Staat, Tod und Leben ringen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs stellte Thomas Mann der romantischen Todesfaszination seines Protagonisten zunehmend eine Lebensbejahung gegenüber. Diese Entwicklung spiegelt sich im »Schnee«-Kapitel des »Zauberbergs«, das Thomas Mann rückblickend gern an den Schluss des Romans gesetzt hätte. 6 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Epilog Nach sieben Jahren der »Abenteuer im Fleische und Geist«, in denen es Hans Castorp nicht gelang, sich aus dem Sanatoriumsbann zu lösen, ist er schließlich so krank oder gesund wie zuvor. Es ist der »Donnerschlag« des Ersten Weltkriegs, der das Treiben auf dem »Zauberberg« beendet. Auf dem Schlachtfeld verliert der Erzähler seinen Helden »aus den Augen«. Der symbolischen Fahrt ins Totenreich zu Beginn des Romans steht der tatsächliche Untergang in der Anonymität des Massensterbens gegenüber. Auf den Lippen hat Hans Castorp das Lied vom »Lindenbaum« von Franz Schubert, ein Lied der romantischen Todessehnsucht, das er schon auf dem Grammophon des Berghofs andächtig gehört hatte. 7 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Gestaltung Schon mit dem ersten Betreten der Galerie tauchen die Besucher in die Davoser Gebirgswelt des Zauberbergs. Der Blick aus den Fenstern schweift über Gipfel, ein weites, nicht endendes Bergpanorama. Vorbei an den Fenstern des Eisenbahnabteils gleitet die Hochgebirgslandschaft. Dann ist man oben, das Sanatorium wartet. Hier durchwandert man vier große Räume, Türen öffnen sich, jede gewährt Zutritt in eine neue Themenwelt: die Liegekur, der Salon, das Behandlungszimmer und das alles umgebende winterliche Schneegestöber. In jedem Raum erwartet den Besucher aufs Neue eine inszenierte Collage aus Originaltext (Audiobegleitung!), Bildern, Exponaten und Geräuschen, die den Roman zitieren und zusammengenommen ein atmosphärisches Bild des Zauberbergs zeichnen. Als Gegenseite zur Fiktion des Romans finden sich die historischen Hintergründe, der Schreib- und Entstehungsprozess, der Blick über die Schulter des Zauberers: von den großen Themen und Vorahnungen des Ersten Weltkriegs, über die Vorbilder der Hauptfiguren bis hin zu Thomas Manns regem Austausch mit seiner Frau Katia, deren erster Besuch im zauberhaften Davos ihm eine wichtige Inspirationsquelle auf dem Weg zum »Zauberberg« war. Am Ende der Ausstellung und des Buchs führt der Weg durch den Schnee und das Gebirge erneut vorbei an den Themen – fern, verschleiert, doch immer wiederkehrend. Filme Zu sehen sind je ein Bericht von Frau Katia und Tochter Erika, die spannende, weil familiäre Perspektiven auf Thomas Mann und seine Arbeitsweise vermitteln. Wie haben Familienmitglieder die als Vorlagen benutzten Personen erlebt? Was hat Katia Mann ihrem Mann aus Davos berichtet? Ausschnitte aus dem Stummfilm »Sumurun« von Ernst Lubitsch werden gezeigt, da dieser Film deutlich Vorlage für die Kino-Szene im »Zauberberg« war. Dazu werden Szenen aus der Verfilmung des Romans von Geissendörfer gezeigt, die die vergnügungssüchtige und lasterhafte Gesellschaft atmosphärisch andeuten sollen. An drei Orten in der Ausstellung laufen aktuell in Davos gedrehte Film-Impressionen im Loup, die die vielen historischen Fotos der Ausstellung um ein lebendiges »Reenactment« wichtiger Schauplätze der Entstehungsgeschichte und des Romans ergänzen. Der Besucher erlebt über die Filme die Fahrt nach Davos auf derselben Strecke, die damals Thomas Mann erlebt und für seinen Romanauftakt verwendet hat, und er genießt den Ausblick aus dem damaligen Waldsanatorium (heute Waldhotel) wie damals Katia Mann und unzählige weitere Lungenkranke in der Liegekur. Im letzten Raum verliert sich das Bewegtbild mit dem Besucher im Schneetreiben. 8 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Statt eines »Rundgangs«: die Audiotexte zur Ausstellung Die Audiobegleitung hat in den Ausstellungen des Literaturhauses München die Funktion, den Primärtext gleichsam »mitlaufen« zu lassen. Auf diese Weise wird eine weitere Assoziationsebene ermöglicht: Die Besucher der Ausstellung hören Passagen aus dem Werk, welches in der Ausstellung thematisiert wird, und sehen dazu Quellen, Exponate und Installationen, die den jeweiligen Auszügen zugeordnet sind. Wir haben Ihnen die Texte, die Sie in der Audiobegleitung hören, hier zusammengestellt; auf diese Weise können Sie den Gang durch die Ausstellung gleichsam nachlesen. Die Leihgeber einiger besonderer Exponate sind hier speziell ausgewiesen, die vollständige Leihgeber-Liste finden Sie im Anhang des Dokuments. Raum 1 Raumaudios 1 Audio Nummer 1 zum Film »Fahrt in die Höhe« Dieses Emporgehobenwerden in Regionen, wo er noch nie geatmet und wo, wie er wußte, völlig ungewohnte, eigentümlich dünne und spärliche Lebensbedingungen herrschten, – es fing an, ihn zu erregen, ihn mit einer gewissen Ängstlichkeit zu erfüllen. Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsachlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde. Vielleicht war es unklug und unzuträglich, daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich plötzlich in diese extremen Gegenden befördern ließ, ohne wenigstens einige Tage an einem Platze von mittlerer Lage verweilt zu haben? Er wünschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, würde man leben wie überall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Sphären man sich befand. Er sah hinaus: […] Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubbaume unter sich gelassen habe, auch die der Singvogel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 9 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Audio Nummer 2 zum Davoser Liegestuhl [Heimatmuseum] Wie sonderbar übrigens, daß er bei all der Feuchtigkeit immer noch so trockenhitzige Backen hatte, als säße er in einem überheizten Zimmer. Auch fühlte er sich lächerlich angegriffen von den Übungen mit den Decken, – wahrhaftig, »Ocean steamships« zitterte ihm in den Händen, sobald er es vor die Augen führte. So überaus gesund war er doch eben auch nicht, – total anämisch, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und deswegen neigte er wohl auch so zum Froste. Die unangenehmen Empfindungen jedoch wurden aufgewogen durch die große Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften des Liegestuhles, die Hans Castorp beim ersten Versuche schon mit höchstem Beifall empfunden hatte, und die sich wieder und wieder aufs glücklichste bewährten. Lag es an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Rückenlehne, der passenden Höhe und Breite der Armstützen oder auch nur der zweckmäßigen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte für das Wohlsein ruhender Glieder überhaupt nicht humaner gesorgt sein, als durch diesen vorzüglichen Liegestuhl. Und so war denn Zufriedenheit in Hans Castorps Herzen darüber, daß zwei leere und sicher gefriedete Stunden vor ihm lagen, diese durch die Hausordnung geheiligten Stunden der Hauptliegekur, die er, obgleich nur zu Gaste hier oben, als eine ihm ganz gemäße Einrichtung empfand. Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne Beschäftigung wohl bestehen und liebte, wie wir uns erinnern, die freie Zeit, die von betäubender Tätigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und verscheucht wird. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 3 zum Buch »Ocean Steamships« Neben ihm auf der Bank lag ein broschiertes Buch namens »Ocean steamships«, worin er zu Anfang der Reise bisweilen studiert hatte; jetzt aber lag es vernachlässigt da, indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpartikeln verunreinigte. Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; […] (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 10 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Audio Nummer 4 zu den Decken [MedMuseum] Als sie vom Essen wieder heraufkamen, lag das Paket mit den Decken schon in Hans Castorps Zimmer auf einem Stuhl, und zum erstenmal machte er an diesem Tage Gebrauch davon, – der geübte Joachim erteilte ihm Unterricht in der Kunst, sich einzupacken, wie es alle hier oben machten und jeder Neuling es gleich erlernen mußte. Man breitete die Decken, eine und dann die andere, über das Stuhllager, so daß sie am Fußende ein reichliches Stück auf den Boden hingen. Dann nahm man Platz und begann, die innere um sich zu schlagen: zuerst der Länge nach bis unter die Achsel, hierauf von unten über die Füße, wobei man sich sitzend bücken und das gefaltete Ende doppelt fassen mußte, und dann von der anderen Seite, wobei der doppelte Fußzipfel gut an den Längsrand zu passen war, wenn die größtmögliche Glätte und Ebenmäßigkeit erzielt werden sollte. Danach beobachtete man genau dasselbe Verfahren bei der äußeren Decke, – ihre Handhabung war etwas schwieriger, und Hans Castorp, als Stümper und Anfänger, ächzte nicht wenig, indem er, sich bückend und wieder ausstreckend, die Griffe übte, die man ihn lehrte. Nur einige wenige Altgediente, sagte Joachim, konnten beide Decken gleichzeitig mit drei sicheren Bewegungen um sich schleudern, aber das sei eine seltene und geneidete Fertigkeit, zu der nicht nur langjährige Übung, sondern auch eine natürliche Anlage gehöre. Über dies Wort mußte Hans Castorp lachen, während er mit schmerzendem Rükken sich zurückfallen ließ, und Joachim, der nicht gleich verstand, was hier komisch war, sah ihn unsicher an, lachte dann aber auch. »So,« sagte er, als Hans Castorp ungegliedert und walzenförmig, die nachgiebige Rolle im Nacken und erschöpft von all der Gymnastik im Stuhle lag, »wenn es nun zwanzig Grad Kälte hätte, so könnte dir auch nichts passieren.« Und dann ging er hinter die Glaswand, um sich ebenfalls einzupacken. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 5 zum Fieberthermometer Er ward nicht unmittelbar klug aus seiner Angabe, der Glanz des Quecksilbers fiel mit dem Lichtreflex des flachrunden Glasmantels zusammen, die Säule schien bald ganz hoch oben zu stehen, bald überhaupt nicht vorhanden zu sein, er führte das Instrument nahe vor die Augen, drehte es hin und her und erkannte nichts. Endlich, nach einer glücklichen Wendung, wurde das Bild ihm deutlich, er hielt es fest und bearbeitete es hastig mit dem Verstande. In der Tat, Merkurius hatte sich ausgedehnt, er hatte sich stark ausgedehnt, die Säule war ziemlich hoch gestiegen, sie stand mehrere Zehntelstriche über der Grenze normaler Blutwärme, Hans Castorp hatte 37,6. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 11 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Audio Nummer 6 zum Foto von Alyke von Tümpling »Das war nun die Oberin von Mylendonk«, dachte er. »Settembrini mag sie nicht, und wahr ist es, sie hat ihre Unannehmlichkeiten. Das Gerstenkorn ist nicht schön, übrigens hat sie es ja wohl nicht immer. Aber warum nennt sie mich immer ›Menschenskind‹, noch dazu mit einem s in der Mitte? Es ist burschikos und sonderbar. Und da hat sie mir nun ein Thermometer verkauft, sie hat immer ein paar in der Tasche. Es soll ja hier überall welche geben, in allen Läden, auch da, wo man es gar nicht erwarten sollte, Joachim sagte es. Aber ich habe mich nicht zu bemühen brauchen, es ist mir von selbst in den Schoß gefallen.« Er nahm das zierliche Gerät aus dem Futteral, betrachtete es und ging dann mehrmals in Unruhe damit durch das Zimmer. Sein Herz klopfte rasch und stark. Er sah sich nach der offenen Balkontür um und machte eine Bewegung gegen die Zimmertür, aus dem Antriebe, Joachim aufzusuchen, unterließ es aber dann und blieb wieder am Tische stehen, indem er sich räusperte, um die Dumpfheit seiner Stimme zu prüfen. Hierauf hustete er. »Ja, ich muß nun sehn, ob ich Schnupfenfieber habe«, sagte er und führte rasch das Thermometer in den Mund, die Quecksilberspitze unter die Zunge, so daß das Instrument ihm schräg aufwärts zwischen den Lippen hervorragte, die er fest darum schloß, um keine Außenluft zuzulassen. Dann sah er nach seiner Armbanduhr: es war sechs Minuten nach halb zehn. Und er begann, auf den Ablauf von sieben Minuten zu warten. (…) Die Zeit schlich, die Frist schien endlos. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Stationsaudios 1 Audio Nummer 7 zum Tagebuchdokument von Hedwig Pringsheim [TMA] 12/3 Stralend heller Tag, leuchtende Winterlandschaft. Nach dem Tee geschrieben, mit Katja spaziert und um 11 zur Untersuchung zu Turban: Turban auf Wochen verreist! für Wochen kein Unterkommen im Sanatorium! (außer in einem miserabel-ungesunden Zimmer, das man uns aus Gnade einräumen wollte) an Untersuchung vor 2 Ruhetagen nicht zu denken! Katja, da sie Temperaturen hat, sofort ins Bett stecken! Dies getan, an ihrem Bett schlecht geluncht. Brief an Mim u. Karte an Alfred beendet, deprimirt Pläne geschmiedet. Ging dann ins »Waldsanatorium Jessen«, das hochherrlich, aber ebenfalls vor 2-3 Wochen kein Platz. Zum Tee nach Villa Drywa zur Spengler, die bettlägerig, mich von Schwester Regenhard empfangen ließ, Tee am Bett von deren kranker Tochter, mit Frau Prof. Fuchs, Assistentin u. leidenschaftliche Verfechterin von Spengler »I.K.« Beide Damen heftig von Turban ab-, zu Jessen eventuell zugeredet. Zuhaus dann mit Katja beschlossen, Jessen persönlich anzurufen, der 12 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 sich bereit erklärte, morgen zur Untersuchung zu kommen, Katja im Splendid-Hôtel einstweilen zu behandeln. Nach dem miserabeln Diner Brief an Turbans Dr. Beer, mit definitiver Absage. – Katja aus Rundschau vorgelesen, früh u. müde ins Bett. Audio Nummer 8 zum Brief von Hedwig Pringsheim an Maximilian Harden [Bundesarchiv] So sitze ich denn in einem abgelegten Kleid von Katja, von unten dringen die Klänge von WagnerMusik, die Klaus dem Klavier entlockt, zu mir; auf dem Nebenbalkon links nimmt die hübsche lungenkranke Griechin italienische Stunde und auf dem Nebenbalkon rechts hustet der Regierungsrat aus Kassel. Abends unterhalten wir uns mit dem allerliebsten Fräulein aus Hamburg mit dem Blutsturz und dem vollbusigen Fräulein aus Köln, und alle machen sie Witze über ihre schreckliche Krankheit. Das Fräulein mit dem Pneumo-Thorax lässt ihn pfeifen und erzählt, der Arzt habe ihr geraten, sie könne sich ja während der Zeit, da sie ihn trägt, als Orchester engagieren lassen (!); und man vergißt zeitweilig ganz und gar, dass man sich im Haus und im Tal der Torgeweihten befindet. Seit 10 Tagen bin hier zum Besuch von Katja, und Klaus verbringt seine Ferien, teils zu Katjas Erheiterung, teils aber auch zu der eigenen, dringend notwendigen Erholung hier im Sanatorium. Sie wollten ihn natürlich – wie jedem, der so unvorsichtig ist, sich in Davos untersuchen lassen – eine Tuberkulose in die Lunge schwätzen: aber, gottlob, die Röntgenphotographie ergab alsbald den Irrtum und man mußte ihn contre cœr für gesund erklären. Katja fand ich sehr gebessert, wettergebräunt und gut aussehend, stärker geworden und munter im Wesen. Auch sei der Befund wesentlich zurückgegangen, wenn sie auch leider keinesweg ganz entgiftet ist. Doch wird sie immerhin Ende September nachhaus gehen; ob geheilt? Ich bin skeptisch. Ich bin überhaupt skeptisch gegen Davos, wo sie jeden, der sich einmal in ihr Klauen begeben, mit eisernen Klammern festhalten. […] Unter uns, mein Freund: ich halte Davos für einen Schwindel. Selbstverständlich ist es gesund und bekömmlich, täglich 6 Stunden in Freien in der köstlichen Luft auf einem Liegestul zu verbringen, 5 Malzeiten, viel Milch, keine Sorgen und Dienstmädchen, in absoluter Ruhe. Es braucht kein weiser Mediziner vom Himmel zu steigen, um einem das zu sagen. Ich bin überzeugt, wenn Katia in ihrem Tölzer Landhaus one Tommy, one die 4 Bamsen und one dies abscheuliche Dienstbotengezücht 5 Monate so lebte wie hier, wäre sie grade so weit. Nur, daß sie das eben nicht kann. Ende September will sie unter allen Umständen fort, und ich kanns ihr nicht verdenken. Ich könnte die herrlichsten Berichte über meinen Aufenthalt im Sanatorium schreiben, aber ich will dem Schwiegertommy nicht ins Handwerk pfuschen, der ja auch 4 Wochen hier war, und der ja, sozusagen, nur ‹Material› lebt. Professor Jessen wird sich nächstens sein blaues Wunder erschauen! 13 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Raum 2 Raumaudios 2 Audio Nummer 9 zu den Zigarren (Maria Mancini) Die Vettern hatten ein Tischchen für sich, etwas abseits von den übrigen, denn Hans Castorp rauchte zu seinem schwarzen Bier, das er vom Frühstück mit herausgenommen hatte, und von Zeit zu Zeit schmeckte ihm seine Zigarre ein wenig. Benommen vom Biere und von der Musik, die wie immer bewirkte, daß sein Mund sich öffnete und sein Kopf sich auf die Seite legte, betrachtete er mit geröteten Augen das sorglose Badeleben ringsumher, wobei das Bewußtsein ihn durchaus nicht störte, sondern im Gegenteil dem Ganzen eine erhöhte Merkwürdigkeit, einen gewissen geistigen Reiz verlieh, daß alle diese Leute in ihrem Inneren von einem schwer aufzuhaltenden Zerfall ergriffen waren und daß die meisten von ihnen in leichtem Fieber standen … Man trank perlende Kunstlimonade an den Tischchen, und auf der Freitreppe wurde photographiert. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 10 zur Weinflasche Während der kurzen Abendgeselligkeit hielten die Reisegefährten sich in dem kleinen Salon: Auf dem Sofa saßen sie nebeneinander, im Kreise ihrer Tischgenossen, und Peeperkorn, dessen großartiges Angesicht hochgerötet gegen die Weiße seines flammenden Haars und seines Kinnbartes abstach, trank die Flasche Rotwein zu Ende, die er sich zum Diner hatte geben lassen. Zu jeder Hauptmahlzeit trank er eine, auch anderthalb oder zwei, zu schweigen von dem »Brote«, mit dem er schon beim ersten Frühstück begann. Offenbar war der königliche Mann der Labung in ungewöhnlichem Grade bedürftig. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 11 zum »Schweine-Album« Eine Gruppe um den Rundtisch mit der Bowle sah dem Hofrat zu, der den Anführer zu einem Gesellschaftsspiel machte. Er zeichnete mit geschlossenen Augen, im Stehen, über den Tisch gebückt, dabei aber zurückgelegten Kopfes, damit alle sehen konnten, daß er die Augen geschlossen hielt, zeichnete auf die Rückseite einer Visitenkarte mit Bleistift blindlings eine Figur, – es waren die Umrisse eines Schweinchens, die seine riesige Hand ohne Zuhilfenahme der Augen hinmalte, eines Schweinchens im Profil, – etwas einfach und mehr ideell als lebenswahr, aber es war unverkennbar die Grundgestalt eines Schweinchens, die er unter so erschwerenden Bedingungen zusammenzog. Das war 14 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 ein Kunststück, und er konnte es. […] Man rief »Ah!« als das Werk getan, und drängte sich zu dem Versuch, von Ehrgeiz ergriffen, es dem Meister gleichzutun. […] Trügerisches Selbstvertrauen trieb jeden zum Wettstreit. Die Karte, obgleich geräumig, war rasch auf beiden Seiten überfüllt, sodaß die verfehlten Figuren sich überschnitten. […] Man brachte Menükarten aus dem Speisesaal herzu, – so konnten nun mehrere Personen, Damen und Herren, auf einmal zeichnen, und jeder Konkurrierende hatte seine Aufpasser und Zuschauer, von denen wiederum ein jeder Anwärter auf den Stift war, der eben gehandhabt wurde. Es waren drei Bleistifte da, die man sich aus den Händen riß. […] Hans Castorp, im Gedränge, sah über Joachims Schulter einem Zeichnenden zu, indem er sich mit dem Ellbogen auf diese Schulter stützte, sein Kinn mit allen fünf Fingern erfaßt hielt und die andere Hand in die Hüfte stemmte. Er redete und lachte. Er wollte ebenfalls zeichnen, verlangte laut danach und erhielt den Bleistift, ein schon ganz kurzes Ding, man konnte ihn nur noch mit Daumen und Zeigefinger führen. Er schimpfte auf den Stummel, das blinde Gesicht zur Decke erhoben, schimpfte laut und verfluchte die Undienlichkeit des Stiftes, in dem er mit fliegender Hand einen gräulichen Unsinn auf den Karton warf, schließlich sogar diesen verfehlte und auf das Tischtuch geriet. "Das gilt nicht!" rief er in das verdiente Gelachter hinein. »Wie soll man mit einem solchen – zum Teufel damit!« Und er warf den beschuldigten Stummel in die Punschbowle. "Wer hat einen vernünftigen Bleistift? Wer leiht mir einen? Ich muß noch einmal zeichnen! Einen Bleistift, einen Bleistift! Wer hat noch einen?“ rief er nach beiden Seiten aus, den linken Unterarm noch auf die Tischplatte gestützt und die rechte Hand hoch in der Luft schüttelnd. Er bekam keinen. Da wandte er sich um und ging ins Zimmer hinein, indem er zu rufen fortfuhr, – ging gerade auf Clawdia Chauchat zu, die, wie er gewußt hatte, nicht weit von der Portiere zum kleinen Salon stand und von hier aus dem Treiben am Bowlentisch lächelnd zugesehen hatte. Hinter sich hörte er rufen, wohllautende ausländische Worte: »Eh! Ingegnere! Aspetti! Che cosa fa! Ingegnere! Un po’ diragione, sa! Ma e` matto questo ragazzo!« Aber er übertönte diese Stimme mit der seinen, und so sah man Herrn Settembrini, eine Hand mit gespreiztem Arm über den Kopf geworfen – eine in seiner Heimat übliche Gebärde, deren Sinn nicht leicht auf ein Wort zu bringen wäre, und die von einem langgezogenen »Ehh –!« begleitet war – die Fastnachtsgeselligkeit verlassen. – Hans Castorp aber stand auf dem Klinkerhof, blickte aus nächster Nähe in die blau-grau-grünen Epicanthus-Augen über den vortretenden Backenknochen und sprach: »Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 15 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Audio Nummer 12 zum Bleistift Hans Castorp aber stand auf dem Klinkerhof, blickte aus nächster Nähe in die blau-grau-grünen Epicanthus-Augen über den vortretenden Backenknochen und sprach: »Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?« Er war totenbleich, so bleich wie damals […]. Die im Papierdreispitz betrachtete ihn von oben bis unten mit einem Lächeln, worin keinerlei Mitleid, keinerlei Besorgnis angesichts der Verwüstung seines Äußeren zu erkennen war. Dies Geschlecht kennt ein solches Mitleid und eine solche Besorgnis überhaupt nicht vor den Schrecken der Leidenschaft, – eines Elementes, ihm offenbar viel vertrauter, als dem Mann, der von Natur keineswegs darin zu Hause ist und den es nie ohne Spott und Schadenfreude darin begrüßt. Übrigens würde er sich für Mitleid und Besorgnis ja freilich auch bedanken. »Ich?« antwortete die bloßarmige Kranke auf das »Du« … »Ja, vielleicht«. Und allenfalls war in ihrem Lächeln und ihrer Stimme etwas von der Erregung, die auftritt, wenn nach langem, stummem Verhältnis die erste Anrede fällt, – einer listigen Erregung, die alles Vorangegangene in den Augenblick heimlich einbezieht. »Du bist sehr ehrgeizig … Du bist sehr … eifrig«, fuhr sie in ihrer exotischen Aussprache mit fremdem r und fremdem, zu offenem e zu spotten fort, wobei ihre leicht verschleierte, angenehm heisere Stimme das Wort »ehrgeizig« auch noch auf der zweiten Silbe betonte, so daß es völlig fremdsprachig klang, – und kramte in ihrem Ledertäschchen, blickte suchend hinein und zog unter einem Taschentuch, das sie zuerst zutage gefördert, ein kleines silbernes Crayon hervor, dünn und zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu ernsthafter Tätigkeit kaum zu gebrauchen. Der Bleistift von damals, der erste, war handlich-rechtschaffener gewesen. »Voilà«, sagte sie und hielt ihm das Stiftchen vor die Augen, indem sie es zwischen Daumen und Zeigefinger an der Spitze hielt und leicht hin und her schlenkerte. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 13 zum Sessel aus dem Waldsanatorium [Waldhotel] Er schwieg. Er saß noch immer wie anfangs, die verschlungenen Füße tief unter seinem knisternden Stuhl, vorgeneigt gegen die Liegende im Papierdreispitz, ihr Crayon zwischen den Fingern, und blickte aus Hans Lorenz Castorps blauen Augen von unten in das Zimmer, das leer geworden war. Zerstoben die Gästeschaft. Das Klavier, in der schräg gegenüberliegenden Ecke, tönte nur noch leise und abgebrochen, gespielt mit einer Hand von dem mannheimischen Kranken, an dessen Seite die Lehrerin saß und in einem Notenbuch blätterte, das sie auf den Knien hielt. Als das Gespräch zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat verstummte, hörte der Pianist vollends zu spielen auf und legte auch die Hand, mit der er die Tasten leicht gerührt hatte, in den Schoß […]. »Tout le monde se retire«, sagte Frau Chauchat. »C’e´taient les derniers; il se fait tard. Eh bien, la feˆte de carnaval est finie.« Und 16 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 sie hob die Arme, um mit beiden Händen die Papiermütze von ihrem rötlichen Haar zu nehmen, dessen Zopf als Kranz um den Kopf geschlungen war. »Vous connaissez les conséquences, monsieur.« Aber Hans Castorp verneinte mit geschlossenen Augen, ohne im übrigen seine Stellung zu verändern. (…) Seine Zähne schlugen aufeinander. Er hatte den einen Fuß unter seinem knisternden Stuhl hervorgezogen, während er phantasierte, und indem er ihn vorschob, diesen Fuß, berührte er mit dem anderen Knie schon den Boden, so daß er denn also neben ihr kniete, gebeugten Kopfes und am ganzen Körper zitternd. »Je t’aime,« lallte er ,»je t’ai aimé de tout temps, car tu es le Toi de ma vie, mon reˆve, mon sort, mon envie, mon éternel désir . . .« […] Sie streichelte ihm leicht mit der Hand das kurzgeschorene Haar am Hinterkopf. »Petit bourgeois!« sagte sie. »Joli bourgeois à la petite tache humide. Est-ce vrai que tu m’aimes tant?« Und begeistert von ihrer Berührung, nun auf beiden Knien, den Kopf im Nacken und mit geschlossenen Augen fuhr er zu sprechen fort: »Oh, l’amour, tu sais . . . Le corps, l’amour, la mort, ces trois ne font qu’un. Car le corps, c’est la maladie et la volupté, et c’est lui qui fait lamort, oui, ils sont charnels tous deux, l’amour et la mort, et voilà leur terreur et leur grande magie!« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 14 zum Grammophon Es handelte sich um eine Vermehrung der Unterhaltungsgeräte des Hauptgesellschaftsraumes, aus nie rastender Fürsorge ersonnen und beschlossen im Verwaltungsgremium des Hauses, beschafft mit einem Kostenaufwand, den wir nicht berechnen wollen, den wir aber großzügig müssen nennen dürfen, von der Oberleitung dieses unbedingt zu empfehlenden Instituts. Ein sinnreiches Spielzeug also von der Art des stereoskopischen Guckkastens, des fernrohrförmigen Kaleidoskops und der kinematographischen Trommel? Allerdings – und auch wieder durchaus nicht. Denn erstens war das keine optische Veranstaltung, die man eines Abends – und man schlug die Hände teils über dem Kopf, teils in gebückter Haltung vorm Schoße zusammen – im Klaviersalon aufgebaut fand, sondern eine akustische; und ferner waren jene leichten Attraktionen nach Klasse, Rang und Wert überhaupt nicht mit ihr zu vergleichen. Das war kein kindliches und einförmiges Gaukelwerk, dessen man überdrüssig war, und das man nicht mehr anrührte, sobald man auch nur drei Wochen auf dem Buckel hatte. Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren künstlerischen Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon. […] »Es ist das neueste Modell«, sagte der Hofrat, der mit eingetreten war. »Letzte Errungenschaft, Kinder, Ia, ff, was Besseres gibt es nicht in dem Janger.« Er sprach das Wort urkomischunmöglich aus, wie etwa ein minder gebildeter Verkäufer es anpreisend getan haben würde. »Das ist kein Apparat und keine 17 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Maschine,« fuhr er fort, indem er aus einem der auf dem Tischchen angeordneten buntfarbigen Blechbüchschen eine Nadel nahm und sie befestigte, »das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang!« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 15 zu den Schellackplatten [Hofrat Behrens] senkte den Deckel darüber, und in demselben Augenblick brach durch die offene Flügeltür, zwischen den Spalten der Jalousie hervor, nein, aus dem ganzen Körper der Truhe Instrumentaltrubel, eine lustig lärmende und drängende Melodie, die ersten gliederwerfenden Takte einer Ouvertüre von Offenbach. Man lauschte mit offenen Mündern lächelnd. […] Und es gab mehr. Ein Waldhorn vollführte mit schöner Vorsicht Variationen über ein Volkslied. Eine Sopranistin schmetterte, stakkierte und trillerte eine Arie aus »La Traviata« mit der lieblichsten Kühle und Genauigkeit. […] Hans Castorp sichtete das, ordnete das, übergab es, einsam hantierend, zu einem kleinen Teile dem Instrument, das es zu tönendem Leben weckte. Er ging mit heißem Kopfe zu ähnlich vorgerückter Stunde schlafen, wie nach dem ersten Gelage mit Pieter Peeperkorn majestätischduzbrüderlichen Angedenkens, und träumte von zwei bis sieben von dem Zauberkasten. […] Er war am Morgen zeitig wieder im Salon, schon vor dem Frühstück, und ließ, mit gefalteten Händen in einem Sessel sitzend, einen herrlichen Bariton aus dem Schreine zur Harfe singen: »Blick’ ich umher in diesem edlen Kreise –«. Die Harfe klang vollkommen natürlich, es war unverfälschtes und unvermindertes Harfenspiel, was der Schrein außer der schwellenden, hauchenden, artikulierenden menschlichen Stimme aus sich entließ – durchaus zum Erstaunen. Und Zärtlicheres gab es auf Erden nicht, als den Zwiegesang aus einer modernen italienischen Oper, den Hans Castorp darauf folgen ließ, – als diese bescheidene und innige Gefühlsannäherung zwischen der weltberühmten Tenorstimme, die so vielfach in den Alben vertreten war, und einem glashell-süßen kleinen Sopran, – als sein »Da mi il braccio, mia piccina« und die simple, süße, gedrängt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab… (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 16 zum stereoskopischen Guckkasten [Kaiser-Panoramen] Selbst ins Bioskop-Theater von »Platz« führten sie Karen Karstedt eines Nachmittags, da sie das alles so sehr genoß. In der schlechten Luft, die alle drei physisch stark befremdete, da sie nur das Reinste gewohnt waren, sich ihnen schwer auf die Brust legte und einen trüben Nebel in ihren Köpfen 18 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 erzeugte, flirrte eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und wegzuckender Unruhe, zu einer kleinen Musik, die ihre gegenwärtige Zeitgliederung auf die Erscheinungsflucht der Vergangenheit anwandte und bei beschränkten Mitteln alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und girrenden Sinnlichkeit zu ziehen wußte, auf der Leinwand vor ihren schmerzenden Augen vorüber. Es war eine aufgeregte Liebes und Mordgeschichte, die sie sahen, stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, gejagte Vorgänge voll Pracht und Nacktheit, voll Herrscherbrunst und religiöser Wut der Unterwürfigkeit, voll Grausamkeit, Begierde, tödlicher Lust und von verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt, – kurz, hergestellt aus sympathetischer Vertrautheit mit den geheimen Wünschen der zuschauenden internationalen Zivilisation. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Stationsaudios 2 Audio Nummer 17 zum Brief von Thomas Mann an Joseph Chapiro [TMA] Heute schreibe ich Ihnen nun einen recht eigennützigen Brief, – indem ich Sie nämlich bitten möchte, mir in der französischen Sprache ein wenig behülflich zu sein. Sie wundern sich … Es hat sich sonderbarer Weise so gefügt, daß ich in meinem Roman ein Gespräch (zwischen einem Deutschen und einer Russin) auf französisch zu führen hatte, d. h. zum großen Teil real in dieser Sprache. Bei passender Gelegenheit werde ich Ihnen dieses Kapitel einmal zu lesen geben, damit Sie mir Schnitzer ankreiden. Vorläufig bitte ich, meiner Unwissenheit in ein paar Einzelheiten auszuhelfen. I.) »Du zu jemandem sagen« - kann man das ausdrücklich mit »Dire ›toi‹ à qualqu´un«, wenn man das Wort ›tutoyer‹ einmal vermeiden will? 2.) Wie heißt »hier oben«? Kann man sagen »Ici haut« oder »Ici en haut«? 3.) »Das Zittern meiner Glieder« - welches franz. Wort steht da für »Glieder«? »Le tramblement de mesmebres«? 4.) Wie heißt auf französisch »Kapsel« in der anatomischen Verbindung »Gelenk-Kapsel«? 5.) endlich: Wie würden Sie, wiederum anatomisch korrekt, das innere Ellbogen- und das Kniegelenk auf französisch bezeichnen? Mit ersterem meine ich also nicht den aeßeren Ellbogen, sondern die Ellbeuge. Noch einmal, würden Sie sich die Mühe machen, mir diese Zweifelsfragen zu beantworten? Ich richte diese Zeilen noch nach Traunkirchen, obgleich ich bei Ihrem Wandervogel-Dasein keineswegs sicher bin, ob Sie noch dort sind. Hoffentlich finden sie den Weg zu Ihnen. Ihr sehr ergebener Thomas Mann. 19 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Film Audio Nr. 18: »Katia Mann im Gespräch mit Elisabeth Plessen« [Blackwood Films] Film Audio Nr.19: »›Der Zauberberg‹. Entschieden ein außerordentlicher Fall‹« Erika Mann erzählt [SFB/RBB] Audio Nummer 20 zum Brief von Gerhart Hauptmann an Samuel Fischer [DLA] [Thomas Mann] ist mir nach Hiddensee nachgereist, wo wir ja, wie du weisst, im Sommer meist den ersten Stock im sogenannten „Haus am Meer“ innehaben. Dort ist er mit Max von Schillings, dem Regierungspräsidenten Haussmann und einigen Schriftstellern, Malern und Musikern öfter unser Gast gewesen. Am nächsten Tag war er dann wohl jeweilen so glücklich, als pflichtgetreuer Lumpensammler, einen Sack voll frischer Lumpen und Flicken für seine Peeperkorn-Puppe zur Hand zu haben. Er hockte dann den Morgen über versteckt im oberen Stock, und man hörte den Braven förmlich sticheln. Aus einer solchen sehr angeregten Abend-Bowlen-Gesellschaft wird dann eine unmotivierte, sinnlose Orgie Peeperkorns mit den mediocren Gästen eines Davoser Sanatoriums. Kurz: einem Holländer, einem Säufer, einem Giftmischer, einem Selbstmörder, einer intellektuellen Ruine, von einem Luderleben zerstört, behaftet mit Goldsäcken und Quartanfieber, zieht Thomas Mann meine Kleider an. Der Golem lässt Sätze unvollendet, wie es zuweilen meine Unart ist. Wie ich, wiederholt er oft die Worte „erledigt“ und „absolut“. Ich bin sechzig Jahre alt, er auch. Ich trage, wie Peeperkorn, Wollhemden, Gehrock, eine Weste, die bis zum Hals geschlossen ist. In dem herrlichen Hiddenseer Klima hatten sich meine Fingernägel beinahe zu Teufelskrallen entwickelt, wie Peeperkorns. Meine Augen sind klein und blass und werden nicht grösser, wenn ich auch, wie Peeperkorn, nach Kräften versuche, die Augenbrauen heraufzuziehen. Ich bin oft von Bildhauern porträtiert worden und weiß also, dass die verstohlenen Fingerabtastungen meiner Stirn und Schläfen durch Thomas Mann bei Peeperkorn ins Panoptikale umgesetzt worden sind. Thomas Mann legt seinem Hans Castorp die Schilderung des Holländers in den Mund, nennt sie selbst zutreffend, knappst ihm aber mit den Worten etwas ab: „allerdings war sein Beobachtungsposten der günstigste gewesen.“ Das ist es: Thomas Mann hat seine Annäherung an mich als Besitznahme eines Beobachtungsposten aufgefasst, und als er in einem Kreise von Gentleman, die sich nichts Übles von ihm versahen, Gast in meinem Hause war, –,“war“, um mit dem schlechten Deutsch von Thomas Mann zu reden,“ sein Beobachtungsposten der günstigste gewesen. Lieber Freund, man kann sich die Sache überlegen, wie man will, der Peeperkorn weist auf meine Person und involviert die Tatsache einer Herabwürdigung. Ich will sogar an Freud´sche Komplexe 20 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 glauben. Thomas Mann hat mich einmal auf seine Verantwortung den „ungekrönten König der Republik“ genannt. Daraus ist ein Kaffeekönig geworden. Und wenn Peeperkorn eine „sommersprossige Kapitänshand“ zeigt, so ist es zu erwägen, dass Kapitän eben auf deutsch Hauptmann heisst. Zu sagen ist: seit langem wieder einmal hatte einem Menschen gegenüber mein Herz gesprochen. Im Falle Mann war dies eine Lächerlichkeit, ich habe meine Lehre verdient. Damit schliesse ich ein für allemal die Akten Peeperkorn, dieser Puppe, die in Wahrheit die Züge Thomas Manns und nicht die meinen zeigt. Die Thomas-Mann-Akten lege ich hinzu und beide miteinander ins Feuer. Audio Nummer 21: Mein Wunschkonzert. Thomas Mann spricht über Musik, die er gerne hört und liest aus der »Fülle des Wohllauts« [SWR] Raum 3 Raumaudios 3 Audio Nummer 22 zum Pneumothorax-Gerät [MedMuseum] »So komm doch weiter!« sagte Joachim. »Ich kann es dir doch auch im Gehen erklären. Du bist ja wie angewurzelt! Es ist etwas aus der Chirurgie, wie du dir denken kannst, eine Operation, die hier oben häufig ausgeführt wird. Behrens hat große Übung darin … Wenn eine Lunge sehr mitgenommen ist, verstehst du, die andere aber gesund oder vergleichsweise gesund, so wird die kranke mal einige Zeit von ihrer Tätigkeit dispensiert, um sie zu schonen … Das heißt: man wird hier aufgeschnitten, hier irgendwo seitwärts, – ich kenne die Stelle ja nicht genau, aber Behrens hat es großartig los. Und dann wird Gas in einen hineingelassen, Stickstoff, weißt du, und so der verkäste Lungenflügel außer Betrieb gesetzt. Das Gas hält natürlich nicht lange vor, halbmonatlich etwa muß es erneuert werden, – man wird gleichsam aufgefüllt, so mußt du dirs vorstellen. Und wenn das ein Jahr lang geschieht oder länger, und alles geht gut, so kann die Lunge durch Ruhe zur Heilung kommen. Nicht immer, versteht sich, es ist wohl sogar eine gewagte Sache. Aber es sollen schon schöne Erfolge mit dem Pneumothorax erzielt worden sein. Alle haben ihn, die du da eben sahst. Frau Iltis war auch dabei – die mit den Leberflecken – und Fräulein Levi, die magere, du erinnerst dich, – sie hat so lange zu Bett gelegen. Sie haben sich zusammengefunden, denn so etwas wie der Pneumothorax verbindet die Menschen natürlich, und nennen sich ›Verein Halbe Lunge‹, unter diesem Namen sind sie bekannt. Aber der Stolz des Vereins ist Hermine Kleefeld, weil sie mit dem Pneumothorax pfeifen kann, – das ist eine Gabe von 21 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 ihr, es kann es durchaus nicht jeder. Wie sie es fertig bringt, das kann ich dir auch nicht sagen, sie selbst kann es nicht deutlich beschreiben. Aber wenn sie rasch gegangen ist, dann kann sie aus ihrem Inneren pfeifen, und das benutzt sie natürlich, um die Leute zu erschrecken, besonders die neuangekommenen Kranken. Ich glaube übrigens, daß sie Stickstoff dabei verschwendet, denn alle acht Tage muß sie aufgefüllt werden.« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 23 zum Operationsbesteck zur Rippenentfernung [MedMuseum] Behrens kam aus dem Vorbau, lang und hochnackig, einen steifen Hut auf dem Hinterkopf und eine Zigarre im Munde, blaubackig und quelläugig, so recht im Zuge der Tätigkeit, im Begriffe, seiner Privatpraxis nachzugehen, Besuche im Ort zu machen, nachdem er soeben im Operationssaal am Werke gewesen, wie er erklärte. »Mahlzeit, die Herren!« sagte er. »Immer auf der Walze? War wohl fein in der großen Welt? Ich komme gerade von einem ungleichen Zweikampf auf Messer und Knochensäge, – große Sache, wissen Sie, Rippenresektion. Früher blieben fünfzig Prozent dabei auf dem Tisch des Hauses. Jetzt haben wirs besser raus, aber öfters muß man doch mortis causa vorzeitig einpakken. Na, der von heute konnte ja Spaß verstehen, blieb für den Augenblick ganz stramm bei der Stange . . . Doll, so ein Menschenthorax, der keiner mehr ist. Weichteil, wissen Sie, unkleidsam, leichte Trübung der Idee, sozusagen. Na, und Sie? Was macht die werte Befindität? Ist wohl ein fidelerer Lebenswandel zu zweien, was, Ziemßen, alter Schlauberger? Warum weinen Sie denn, Sie Vergnügungsreisender?« wandte er sich auf einmal an Hans Castorp. «Öffentliches Weinen ist hier nicht erlaubt. […]« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 24 zur Röntgenwand Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett. »Sehr interessant«, sagte Hans Castorp. »Das ist allerdings interessant!« erwiderte der Hofrat. »Nützlicher Anschauungsunterricht für junge Leute. Lichtanatomie, verstehen Sie, Triumph der Neuzeit. Das ist ein Frauenarm, Sie ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie einen beim Schäferstündchen, verstehen Sie.« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 22 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Audio Nummer 25 zum Röntgengerät [Siemens Museum] Man hörte das Umlegen eines Hebels. Ein Motor sprang auf und sang wütend in die Höhe, wurde aber durch einen neuen Handgriff zur Stetigkeit gebändigt. Der Fußboden bebte gleichmäßig. Das rote Lichtlein, länglich und senkrecht, blickte mit stillem Drohen herüber. Irgendwo knisterte ein Blitz. Und langsam, mit milchigem Schein, ein sich erhellendes Fenster, trat aus dem Dunkel das bleiche Viereck des Leuchtschirms hervor, vor welchem Hofrat Behrens auf seinem Schusterschemel ritt, die Schenkel gespreizt, die Fäuste daraufgestemmt, die Stumpfnase dicht an der Scheibe, die Einblick in eines Menschen organisches Inneres gewährte. »Sehen Sie, Jüngling?« fragte er . . . Hans Castorp beugte sich über seine Schulter, hob aber noch einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte: »Du erlaubst doch?« »Bitte, bitte«, antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schüttern des Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Kräfte spähte Hans Castorp gebückt durch das bleiche Fenster, spähte durch Joachim Ziemßens leeres Gebein. […] »Klares Bild«, sagte der Hofrat. »Das ist die anständige Magerkeit, die militärische Jugend. Ich habe hier Wänste gehabt, – undurchdringlich, beinahe nichts zu erkennen. Die Strahlen müßte man erst mal entdecken, die durch so eine Fettschicht gehen . . . Dies hier ist saubere Arbeit. Sehen Sie das Zwerchfell?« sagte er und wies mit dem Finger auf den dunklen Bogen, der sich unten im Fenster hob und senkte . . . […] Aber Hans Castorps Aufmerksamkeit war in Anspruch genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme Sichtbarem, und zwar größerenteils zur Rechten, vom Beschauer aus gesehen, – das sich gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle. »Sehen Sie sein Herz?« fragte der Hofrat, indem er abermals die riesige Hand vom Schenkel löste und mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehänge wies . . . Großer Gott, es war das Herz, Joachims ehrliebendes Herz, was Hans Castorp sah! »Ich sehe dein Herz!« sagte er mit gepreßter Stimme. »Bitte, bitte«, antwortete Joachim wieder, und wahrscheinlich lächelte er ergeben dort oben im Dunklen. Aber der Hofrat gebot ihnen, zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen. Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekräusel im inneren Brustraum, während auch sein Mitspäher nicht müde wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten, dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento. Andacht und Schrecken erfüllten ihn. »Jawohl, jawohl, ich sehe«, sagte er mehrmals. »Mein Gott, ich sehe!« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 23 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Stationsaudios 3 Audio Nummer 26 zum Brief von Katia Mann an Thomas Mann [TMA] Clavadel, 11. Februar 1924. Lieber Lämmlein: Neunzehn Jahre sind wir heute verheiratet! Ach, wir armen Pilze! Deine Karten aus Heidelberg und Frankfurt habe ich bekommen. […] Es fällt mir auf, daß du mir garnicht den Empfang meines zweiten langen Briefes bestätigt hast, worin ich dir von dem günstigen Resultat der Untersuchung berichtete. Durch die Offi weiß ich ja, daß du ihn bekommen hast, aber du hättest doch schreiben müssen: „Siehst du wohl, mein Herzchen...“ und so. Ob etwas verloren gegangen ist? […] Mit dem Wetter habe ich Glück bis jetzt: bis auf zwei Tage „Schnee“ in der höchsten Potenz fast immer blauer Himmel, und eben scheint die Sonne so heftig, daß es mir in der dünnen Bluse hinter dem aufgespannten Schirm zu warm ist. Neulich abend war ich, um mir doch auch etwas anzutun, im Konzert. Im Sanatorium finden ab und zu solche Veranstaltungen statt, zu denen man geht, diesmal war es ein sich groß an Ansehen erfreuender Schweizer Volkssänger, der Volkslieder zur Laute singt. Obgleich er vierschrötig und vollkommen gesund war, übertraf der Eindruck an Groteskität doch das Konzert mit der schwindsüchtigen Sängerin und dem blinden Pianisten bei weitem, und zwar durch das Publikum. Schon so wie man hereinkommt, umfängt einen in dieser Volksheilstätte im Gegensatz zu den gepflegten Sanatorien eine spezifische Krankenhausluft (…) In den vorderen Reihen sitzen die Lungensträflinge, zum Teil gräulich hustend – ich habe überhaupt noch nie soviel häßlich husten hören, wie, hier (…). Zum Schluß, nach zwei Zugaben, hielt der Sänger noch eine kleine Ansprache, in der er den Patienten Genesung wünschte und sagte, er freue sich, wenn er sie etwas zerstreut und abgelenkt habe. Das Ganze machte wirklich einen merkwürdigen Eindruck und man muß bei so einer Heilstätte unbedingt an ein Lungenzuchthaus denken. Sie sagen auch alle, es sei sehr gut, aber sehr streng. – Neben mir saß ein besonders gut aussehender brünetter, nicht mehr ganz junger Mann, der mich fragte, ob ich mich gut erhole und mit so großem Interesse habe er in der Neuen Züricher Zeitung den Hochstapler gelesen. Ich wunderte mich, wieso er mich kenne, aber er meinte, in so einem kleinen Ort erfahre man doch alles und ich hätte doch so einen bekannten Mann. Hat der Stern doch einmal seine Wirkung getan. Dieser sympathische, arme junge Mann, ein in Brüssel lebender Schweizer, war hier in ganz gutem Zustand mit einem Pneumothorax nachhause entlassen worden, von den unwissenden belgischen Ärzten aber, die die Vorschriften von Dr. Staub nicht verstanden, unter doppelt zu starken Druck gesetzt worden, bekam infolgedessen in eitriges Exudat in der Pleura, und nun muß er noch jahrelang hier sitzen, wenn er überhaupt wieder wird; er wird wohl nicht. Auch er klagte über die mangelnde Freiheit. (…) 24 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Auch Frau Fischer schrieb mir eine Karte: sie halte sich in Davos ja nur eine Minute auf, sodaß ich keine Gelegenheit habe, sie zu sehen, und St. Moritz ist zu weit, um sie dort zu besuchen, man fährt doch drei Stunden. Nun will ich noch an Gertraut und die Kleinen schreiben, der Brief ist sowieso überlang. Brauchst ihn ja aber bekanntlich nicht zu lesen. Hast am Ende den vorigen auch nicht gelesen? Deine Häsin Raum 4 Raumaudios 4 Audio Nummer 27 zum Roman (Duell Naphta vs. Settembrini) Ob Naphtas Zuhörer wisse, was eine Tat sei? Eine Tat sei beispielsweise die Ermordung des Staatsrats Kotzebue durch den Burschenschaftler Sand gewesen. Was habe dem jungen Sand, kriminalistisch zu reden, »die Waffe in die Hand gedrückt«? Freiheitsbegeisterung, selbstverständlich. Sehe man jedoch näher hin, so sei es eigentlich nicht diese, es seien vielmehr Moralfanatismus und der Haß auf unvölkische Frivolität gewesen. (…) »Darf ich mir die Erkundigung erlauben, ob Sie mit Ihren Schlüpfrigkeiten bald zu Rande zu kommen gedenken?« Herr Settembrini hatte es gefragt und zwar mit Schärfe. Er hatte gesessen, mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und den Schnurrbart gedreht. Jetzt war es genug. Seine Geduld war zu Ende. Aufrecht saß er, mehr als aufrecht: – sehr bleich, hatte er sich sozusagen im Sitzen auf die Zehen gestellt, so daß nur noch seine Schenkel den Stuhlsitz berührten, und so begegnete er blitzenden schwarzen Auges dem Feinde, der sich mit geheucheltem Erstaunen nach ihm umgewandt hatte. »Wie beliebten Sie sich auszudrücken?« lautete Naphtas Gegenfrage… »Ich beliebte«, sagte der Italiener und schluckte hinunter, »– ich beliebe mich dahin auszudrücken, daß ich entschlossen bin, Sie daran zu hindern, eine ungeschützte Jugend noch länger mit Ihren Zweideutigkeiten zu behelligen!« »Mein Herr, ich fordere Sie auf, nach Ihren Worten zu sehen!« »Einer solchen Aufforderung, mein Herr, bedarf es nicht. Ich bin gewohnt, nach meinen Worten zu sehen, und mein Wort wird präzis den Tatsachen gerecht, wenn ich ausspreche, daß Ihre Art, die ohnehin schwanke Jugend geistig zu verstören, zu verführen und sittlich zu entkräften, eine Infamie und mit Worten nicht streng genug zu züchtigen ist . . .« Bei dem Wort »Infamie« schlug Settembrini mit der flachen Hand auf den Tisch und stand, seinen Stuhl zurückschiebend, nun vollends auf, – das Zeichen für alle übrigen, ein Gleiches zu tun. (…) »Infamie? Züchtigen? Werden die Tugendesel stößig? Haben wir die pädagogische Schutzmannschaft der Zivilisation so weit, daß sie blank zieht? Das nenne ich einen Erfolg, für den Anfang, – leicht erzielt, wie ich mit Geringschätzung hinzufüge, denn eine wie gelinde Neckerei hat hingereicht, den wachhabenden Tugendsinn in 25 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Harnisch zu jagen! Das Weitere wird sich finden, mein Herr. Auch die ›Züchtigung‹, auch diese. Ich hoffe, daß Ihre zivilen Grundsätze Sie nicht hindern, zu wissen, was Sie mir schuldig sind, sonst wäre ich gezwungen, diese Grundsätze durch Mittel auf die Probe zu stellen, die –« Eine steile Bewegung Herrn Settembrinis ließ ihn fortfahren: »Ah, ich sehe, das wird nicht nötig sein. Ich bin Ihnen im Wege, Sie sind es mir, – gut denn, wir werden den Austrag dieser kleinen Differenz an den gehörigen Ort verlegen. Für den Augenblick nur eines. Ihre frömmelnde Angst um den scholastischen Begriffsstaat der Jakobiner-Revolution sieht in meiner Art, die Jugend zweifeln zu lassen, die Kategorien über den Haufen zu werfen und die Ideen ihrer akademischen Tugendwürde zu berauben, ein pädagogisches Verbrechen. Diese Angst ist nur allzu berechtigt, denn es ist geschehen um Ihre Humanität, seien Sie dessen versichert, – geschehen und getan. (…) Das Weitere steht auf einem anderen Blatt. Sie werden von mir hören.« »Sie werden Gehör finden, mein Herr!« rief Settembrini ihm nach, der den Tisch verließ und zum Kleiderständer eilte, um sich seines Pelzwerks zu bemächtigen. Dann ließ der Freimaurer sich hart auf seinen Stuhl zurücksinken und preßte sein Herz mit den Händen. »Distruttore! Cane arrabbiato! Bisogna ammazzarlo!« stieß er kurzen Atems hervor. Die anderen standen noch immer am Tisch. Ferges Schnurrbart fuhr fort auf und ab zu wandern. Wehsal hatte den Unterkiefer schief gestellt. Hans Castorp ahmte die Kinnstütze seines Großvaters nach, denn ihm zitterte das Genick. Alle bedachten, wie wenig man sich bei der Ausfahrt solcher Dinge versehen habe. Alle, Herrn Settembrini nicht ausgenommen, bedachten gleichzeitig, welch ein Glück es sei, daß man in zwei Schlitten und nicht in einem gemeinsamen gekommen war. Dies erleichterte vorderhand einmal die Heimkehr. Aber was dann? »Er hat Sie gefordert«, sagte Hans Castorp beklommen. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 28 zur Diaprojektion »Schneegestöber im Hochgebirge« Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte es in dieser Richtung wahrhaftig nicht fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwächlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjährigen. Sie waren monströs und maßlos, erfüllten das Gemüt mit dem Bewußtsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizität dieser Sphäre. Es schneite Tag für Tag und die Nächte hindurch, dünn oder in dichtem Gestöber, aber es schneite. […] Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau. […] kein Gipfel, keine Gratlinie war sichtbar, es war das dunstige Nichts, gegen das Hans Castorp sich emporschob, und da auch hinter ihm die Welt, das bewohnte Menschental, sich sehr bald schloß und den Augen abhanden kam, auch kein Laut von dorther mehr zu ihm drang, so war denn seine Einsamkeit, ja Verlorenheit, 26 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 ehe er’s gedacht, so tief, wie er sie sich nur hatte wünschen können, tief bis zum Schrecken, der die Vorbedingung des Mutes ist. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Audio Nummer 29 zum Grabkreuz vom Waldfriedhof Davos [Heimatmuseum Davos] »Ich will es mit ihnen halten in meiner Seele und nicht mit Naphta – übrigens auch nicht mit Settembrini, sie sind beide Schwätzer. Der eine ist wollüstig und boshaft, und der andere bläst immer nur auf dem Vernunfthörnchen und bildet sich ein, sogar die Tollen ernüchtern zu können, das ist ja abgeschmackt. Es ist Philisterei und bloße Ethik, irreligiös, so viel ist ausgemacht. Doch will ich’s auch mit des kleinen Naphta Teil nicht halten, mit seiner Religion, die nur ein guazzabuglio von Gott und Teufel, Gut und Bose ist, eben recht, damit das Einzelwesen sich kopfüber hineinstürze, zwecks mystischen Unterganges im Allgemeinen. Die beiden Pädagogen! Ihr Streit und ihre Gegensätze sind selber nur ein guazzabuglio und ein verworrener Schlachtenlärm, wovon sich niemand betäuben läßt, der nur ein bißchen frei im Kopfe ist und fromm im Herzen. Mit ihrer aristokratischen Frage! Mit ihrer Vornehmheit! Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgängerei des Todes ist im Leben, es wäre nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des homo Dei Stand – inmitten zwischen Durchgängerei und Vernunft –wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. Das sehe ich von meiner Säule aus. In diesem Stande soll er fein galant und freundlich ehrerbietig mit sich selber verkehren, – denn er allein ist vornehm, und nicht die Gegensätze. Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen, – das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm für dieses, – das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen. Da habe ich einen Reim gemacht, ein Traumgedicht vom Menschen. Ich will dran denken. Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, – das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue 27 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, das Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach ich auf …« (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) Stationsaudios 4 Audio Nummer 30 zum Brief von Thomas Mann an Wolfgang Kühe [DLA] Daß Settembrini siegt, möchte ich nicht sagen. Es kommt Ihnen so vor, weil er menschlich so sehr viel sympathischer ist, als sein Gegner und echte pädagogische Liebe hat. Aber er siegt nicht bei Hans Castorp, der sich vieles gegen seine Welt »vorbehält«, und seine Ideen siegen im Kriege ja auch nur scheinbar, denn heute ist viel mehr »Naphta« in der Welt, als »Settembrini«. In dem Buche und in des kleinen Deutschen Traum und Ahnung ist aber etwas, was über sie beide hinausgeht, (vide »Schnee«, das Herzstück des Romans) ein Menschentum, – um nicht zu sagen: eine Humanität –, von dem es sich in Deutschland vielleicht noch immer am besten träumen läßt, das weder Liberalismus noch Faszismus und Bolschewismus ist, und worauf sich, wie wir hoffen mögen, Europa eines Tages besinnen wird. Ihr sehr ergebener Thomas Mann. Epilog Audio Nummer 31 zum Romanende Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen und Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet, von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt … […] Es ist das Flachland, es ist der Krieg. […] Sie müssen hindurch, die dreitausend fiebernden Knaben, sie müssen als Nachschub mit ihren Bajonetten den Sturm auf die Graben vor und hinter der Hügelzeile, auf die brennenden Dörfer entscheiden und helfen, ihn vorzutragen bis zu einem bestimmten Punkt, der bezeichnet ist in dem Befehl, den ihr Führer in seiner Tasche trägt. Sie sind dreitausend, damit sie noch ihrer zweitausend 28 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 sind, wenn sie bei den Hügeln, den Dörfern anlangen; das ist der Sinn ihrer Menge. Sie sind ein Körper, darauf berechnet, nach großen Ausfällen noch handeln und siegen, den Sieg noch immer mit tausendstimmigem Hurra begrüßen zu können, – ungeachtet derer, die sich vereinzelten, indem sie ausfielen. Manch einer schon hat sich vereinzelt, fiel aus beim Gewaltmarsch, für den er sich als zu jung und zart erwies. (Thomas Mann: »Der Zauberberg«) 29 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Leihgeber und Archive Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich [TMA] Medizinmuseum Davos [MedMuseum] Dokumentationsbibliothek Davos [DokBib] Deutsches Tuberkulose-Archiv an der Thoraxklinik Heidelberg [Tbc-Archiv] Siemens Unternehmensmuseum für Medizinische Technik, Erlangen [Siemens Museum] Heimatmuseum Davos [Heimatmuseum] Deutsches Röntgen-Museum [DRM] Reinhard Pabst, Bad Camberg [R. Pabst] Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek München. [Monacensia] Waldhotel Davos [Waldhotel] Hotel Schatzalp Davos [Schatzalp] Thomas-Mann-Forum München e. V. [TMF] Grammophonsammlung Geigle, Bad Urach [R. Geigle] Förderverein für Kaiser-Panoramen e.V., Celle, Karsten Hälbig, [Kaiser-Panoramen] Deutsches Museum, München [Deutsches Museum] Sammlung Benjamin Miller, Ittigen bei Bern [B. Miller] Stadtarchiv Lübeck [Stadtarchiv Lübeck] Deutsches Literaturarchiv Marbach [DLA] Staatsbibliothek München [BSB] Stadtarchiv Weimar [Stadtarchiv Weimar] Stadt Weimar, Stadtmuseum Weimar im Bertuchhaus [Stadtmuseum Weimar] Bundesarchiv Koblenz [Bundesarchiv] Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz [SBB SPK] Destination Davos Klosters Tourismuszentrum Deutsches Historisches Museum [DHM] StifterHaus Linz [StifterHaus] Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung [Murnau-Stiftung] Michael Blackwood Productions [Blackwood Films] RBB Media GmbH [SFB/RBB] Alle Zitate mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. 30 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Pressebilder zum Download: www.literaturhaus-muenchen.de/presse Bitte beachten Sie in jedem Fall das Copyright zu den Fotografien – das Bildmaterial ist ausschließlich im Zusammenhang mit einer Vor- oder Nachberichterstattung honorarfrei zu verwenden. Bitte beachten Sie auch, dass die Dateien für eine Online-Verwendung nur in niedriger Auflösung verwendet werden dürfen. Frischer Primärkomplex © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid Röntgenaufnahme, 1929 © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid Im Curhaus Davos Platz © Dokumentationsbibliothek Davos Die Davoser Kurkapelle war eine der vielen Zerstreuungen, die sich der Davoser Patientenschaft boten, um 1903 © Dokumentationsbibliothek Davos 31 Presseinformationen Stand: 15.03.2016 Liegekur im Schnee, um 1910 © Dokumentationsbibliothek Davos »Es fehlte nicht viel, daß Hans Castorp aufs neue vom Lachen überwältigt wurde. ›Was, ihr liegt noch bei Nacht und Nebel auf dem Balkon?‹ fragte er mit wankender Stimme …« (Thomas Mann: Der Zauberberg) Patientenzimmer im Waldsanatorium © Waldhotel Davos Im Waldsanatorium besuchte Thoas Mann 1912 seine Frau Katia, die sich dort für mehrere Monate in Kur befand. Sein Aufenthalt in Davos wurde Anstoß und reiche Quelle für den Roman, ebenso wie viele berichtende Briefe seiner Frau aus Kuraufenthalten. Liegekur, 1906 (Die Liegekur erstreckte sich über mehrere Stunden täglich und war Teil eines streng festgelegten, immer gleichen Tagesablaufs.) © Dokumentationsbibliothek Davos »Die unangenehmen Empfindungen jedoch wurden aufgewogen durch die große Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften des Liegestuhles, die Hans Castorp beim ersten Versuche schon mit höchstem Beifall empfunden hatte, und die sich wieder und wieder aufs glücklichste bewährten.« (Thomas Mann: Der Zauberberg) Sanatorium Valbella, um 1915 © Dokumentationsbibliothek Davos Dieses Sanatorium war in seinem äußeren Erscheinungsbild Vorlage für das Sanatorium Berghof im Roman. Röntgenaufnahme zweier Hände © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid »Lag es an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Rückenlehne, der passenden Höhe und Breite der Armstützen oder auch nur der zweckmäßigen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte für das Wohlsein ruhender Glieder überhaupt nicht humaner gesorgt sein, als durch diesen vorzüglichen Liegestuhl.« (Thomas Mann: Der Zauberberg) 32
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