Unsere Politiker verteilen Schlaftabletten

Bericht | Text: Manuel Schumann | Foto: Jessica Wahl
Unsere Politiker verteilen Schlaftabletten
Interview mit dem Künstler Philipp Ruch
Der Künstler Philipp Ruch über den
aggressiven Humanismus, toxische
Ideen und Akte politischer Schönheit.
Philipp Ruch, 1981 in Dresden geboren,
lebt in Berlin und ist Gründer des „Zentrums für politische Schönheit“. Kürzlich
erschien sein Buch „Wenn nicht wir,
wer dann?“ Im Gespräch mit Manuel
Schumann erklärt Ruch, warum er die
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung
für gescheitert hält, was ihn an OnlinePetitionen und Lichterketten stört - und
weshalb es an der Zeit ist, Wahlenthaltungen persönlich zu nehmen.
~: Herr Ruch, gibt es einen Innenminister in Deutschland, dessen Rücktritt
Sie nicht fordern?
Nein, alle entlassen, und zwar sofort!
Und bitte ersetzen durch Syrer. Denn viele
derer, die aus ihrer Heimat geflüchtet
sind, haben alle fachlichen Qualitäten,
die man sich von einem humaneren
Innenministerium wünscht. Zum Beispiel
ein Bewusstsein für die Chancen der
Integration.
~: Sie sprechen stets von „den
Politikern“...
~: Weshalb differenzieren Sie dann
nicht?
Ruch: Das würde ich sehr gern tun,
aber leider geht das nicht. Die Realität
ist düster. Ich war kürzlich wieder im
Bundestag - das war grausam, ein
Armutszeugnis. Wer den Nährboden
für Kleingeistigkeit sucht, sollte genau
dorthin gehen. Die Mitglieder der Bundesregierung sind Verwalter des Status
Quo. Keiner von denen ist es gewohnt,
unkonventionell zu denken oder seine
Fantasie anzuschmeißen. Keiner von
denen hat eine Vorstellung davon, wie
unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen
könnte. Nicht ich provoziere, sondern die
derzeitige politische Führung ist die reinste Provokation. Diese Gleichgültigkeit im
Land ist grauenvoll und gefährlich.
~: Sie schreiben in Ihrem Buch,
die Macht von Visionen werde notorisch
unterschätzt.
Ruch: Ja, leider sehen wir zurzeit überall
staubtrockene Seelen, die uns Politik
vorspielen. Denken Sie an unseren Bundesinnenminister, der immer noch im
Amt ist. Ein echter Kinderschreck! Jedes
Kleinkind läuft weg, wenn es den Kerl
erblickt.
in die Illegalität. Wir treiben sie in überfüllte Schlauchboote. Sie sterben direkt
vor unseren Augen - und wir schauen
zu. Das ist unerträglich. Wir sollten den
Flüchtlingen gestatten, in Würde zu uns
zu kommen. Derzeit passiert leider das
Gegenteil, selbst Grünen-Politiker sprechen mittlerweile von „Begrenzungen“.
~: Sie meinen Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer?
Ruch: Ein Riesenproblem! Ähnlich wie
die traurigen Gestalten Göring-Eckhardt
und Özdemir, die der CDU seit Monaten
schöne Augen machen, um sich als
potenzielle Koalitionsbraut in Stellung zu
bringen. Das ist feige und schäbig. Diese
Schleim-Politik führt nicht zur Macht,
sondern in den Abgrund. Es bringt ihnen
nichts, wenn sie weiter versuchen, eine
bessere CDU zu imitieren. Würde die
grüne Parteiführung nicht ständig daran
arbeiten, mit nahezu allen Mitteln ihre
Macht zu sichern, wären wir einen Schritt
weiter. Nur nebenbei: Worin unterscheiden sich Katrin Göring-Eckhardt und
Angela Merkel? Die eine war zwar noch
auf Lesbos, aber so richtig betroffen sah
sie mir nicht aus. Jedenfalls tut sie nichts
gegen das Massensterben.
~: Frau Göring-Eckhardt sagte...
Ruch: Na klar!
~: Sie fordern Visionen- wie sehen
Ihre aus?
~: Und Sie beschimpfen sie gern.
Ruch: Unbedingt!
~: Trotzdem betonen Sie, Ihnen
gehe es nicht um Provokationen.
Ruch: Schlingensief sagte Veranstaltungen ab, wenn deren Organisatoren ihn
ankündigten mit: „Schlingensief, der
große Provokateur“. Diese blödsinnigen
Etiketten haben ihn unheimlich genervt.
Das kann ich gut verstehen.
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Ruch: Der wichtigste Schritt, um das
Verbrechen an unseren Außengrenzen
zu beenden ist, allen Menschen, die auf
der Flucht sind, den Kauf von Flugtickets
zu gestatten. Damit wären fast alle
Verbrechen, die wir als pseudozivilisierte Welt begehen, abgestellt. Es ist
doch ein Irrsinn, dass wir derart vielen
Menschen die Einreise verbieten. Währenddessen schwafeln unsere Politiker,
sie wollten die bösen Schlepperbanden
bekämpfen - wie passt das bitteschön
zusammen? Wir zwingen die Menschen
Ruch: ...werde ich jetzt womöglich doch
zum Göring-Eckhardt-Fan? (lacht)
~: Sie forderte zuletzt in einem
Gastkommentar in der Neuen Zürcher
Zeitung einen Neustart in der Flüchtlingspolitik - „Ich will nicht mehr an
einem steinigen Stück europäischer Küste
stehen und mich für ein Europa schämen
müssen, das nicht da ist, wenn wir es
brauchen“, schrieb sie.
Ruch: Das klingt toll. Es gehört in die
Kategorie der großen Sonntagsreden. Da
werden Humanität und Menschenrechte
- mal wieder - stolz beschworen und
Neustarts gefordert. Aber wo sind die
Taten? Dann soll Frau Göring-Eckhardt
doch mal den Farbbeutel mit in den
Bundestag nehmen und ihn auf den
Innenminister Thomas de Maiziere
werfen, wenn sie von der Dringlichkeit
der Mission eines „Neustarts“ überzeugt
wäre. Was genau tut die nette Katrin, um
für ihre Überzeugungen einzustehen?
~: Da passt ein Zitat von ihnen:
„Was in Syrien und den europäischen
Außengrenzen geschieht, das sind Ausnahmezustände der Humanität. Da kann
man nicht einfach in der Fußgängerzone
stehen und Prospekte verteilen.“ Herr
Ruch, man könnte den zweiten Satz
auch ersetzen durch: Da kann man nicht
einfach vor dem Bundestag stehen und
Bomben-Attrappen aufbauen.
Ruch: Ja, das waren die unbenutzten
Bomben, die wir nicht eingesetzt haben,
als in Srebrenica 40.000 Zivilisten vor
der Vernichtung standen. Wir haben die
Bomben dem Bundestag direkt vor die
Füße gelegt. Es gibt in Deutschland derart
viel Gratismut, da muss einem schlecht
werden: Mahnwachen, Lichterketten
bilden, Kerzen anzünden, dieser ganze
halbherzige Blödsinn. Wir müssen für
unsere Überzeugungen endlich wieder
einstehen und dafür einstehen, dass
es rote Linien gibt, die nicht übertreten
werden. Wenn pro Woche mehr Menschen an unseren Außengrenzen sterben
als in der gesamten Zeit des Kalten Krieges am Eisernen Vorhang, dann ist das
eine dieser roten Linien. Wir brauchen
einen aggressiven Humanismus.
~: Ohne Aggressivität geht es nicht?
Ruch: Ich erinnere an die Menschen, die
im Kampf gegen Hitler bereit waren, für
ihre Überzeugung zu sterben. Die Weiße
Rose wird heute gerne als urchristlicher
Verein hingestellt. Nur dass deren Sätze
nicht dazu passen: »Jetzt, da man die
Nationalsozialisten erkannt hat, muß
es die einzige und höchste Pflicht, ja
heiligste Pflicht eines jeden Deutschen
sein, diese Bestien zu vertilgen.« Wer
die Flugblätter auch nur oberflächlich
studiert, versteht sogleich, dass die
Lösung des Problems für die Verfasser
nicht darin bestand, lediglich kannibalistische Phantasien zu verbreiten. Heute
ist es das höchste der Gefühle, irgendwo
eine Online-Petition zu unterzeichnen.
Menschen glauben allen Ernstes, das
würde etwas ändern. Ein Brief an Putin
oder Assad ist zu wenig. Das können wir
uns echt schenken.
~: Hassen Sie die Menschen, die
sich nicht für Politik interessieren?
Ruch: Nein, ich interessiere mich sogar
verstärkt für sie. Ich selbst habe relativ
lange gebraucht, ehe ich auf die Intensivstation des politischen Bewusstseins
gefunden habe. Ich kenne das Wasserelement des Unpolitischen womöglich
besser als es sich selbst. Darin geht es
in meinem neuen Buch: Woran liegt es,
dass Menschen das Gefühl haben „Auf
mich kommt es ja eh nicht an, ich bin
da nicht wichtig, interessiert mich alles
nicht, sollen die da oben das doch
regeln.“
~: Wie lautet Ihre Erklärung?
Ruch: Die Vorstellungskrise, die viele
Menschen erst passiv und unpolitisch
macht und sie Tag für Tag aufs Neue
deprimieren, nenne ich „Toxische
Ideen“. Sie vergiften unsere Seelen. Mir
geht es darum, dem Menschen nicht
ständig die niedrigsten Beweggründe
Anzeige
„Was mich interessiert sind nicht bewegliche Körper,
sondern bewegliche Gehirne. Was mich interessiert
ist die Wiederherstellung der menschlichen Würde
in jeder einzelnen Form.“
Dr. Moshe Feldenkrais
Feldenkrais-Praxis Vera Lämmerzahl
Maximilianstraße 15 A
Tel.: 0251-796707
zu unterstellen, sondern Humanität als
eigenständigen Wert zu denken. Es ist
bezeichnend, dass der wirkmächtigste
Philosoph des 20. Jahrhunderts, Sigmund
Freud, an keiner Stelle seines Werkes den
Trieb nach Humanität, Mitmenschlichkeit
oder Mitgefühl als wirkmächtigen Faktor
in unser aller seelischen Geschehen
ansah.
~: Was kann das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) da bewirken?
Ruch: Zunächst einmal bringen wir
den aggressiven Humanismus näher.
Wir machen auf all die Freiheiten und
Privilegien aufmerksam, die wir hier in
Europa genießen. Schauen Sie sich den
Geschäftsführer von Pro Asyl an! Wenn er
in Talkshows redet, schläft man doch ein.
Er stellvertritt eigentlich die wichtigste
und dringlichste Angelegenheit des
Planeten. Aber man hört irgendwie nur
einem Verwaltungsangestellten zu, der
über technische Details zu reden scheint.
Dasselbe gilt für die größte Menschenrechtsorganisation der Welt – Amnesty
International. Sind die gegen die syrische
Apokalypse eingeschritten? Versuchen
sie, Assad umzubringen? Alle, die sich am
Widerstand gegen Hitler beteiligt hatten,
würden bei Amnesty International doch
sofort rausgeschmissen.
~: Was folgt daraus für Ihre Arbeit?
Ruch: Schaut man sich die Geschichte
der Menschheit an, findet man sehr, sehr
viele gute Taten, die alle eines gemeinsam haben: sie wurden von Einzelnen
begangen. Akte moralischer Schönheit
vermittelt die Politik leider nur selten
- ihr fehlt es elementar an Schönheit
und Visionen. Hinzu kommt, dass in den
meisten Medien beinahe wöchentlich
eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird.
Vier Wochen lang waren es die „faulen
Griechen“, dann kamen - plötzlich,
oho! - die Flüchtlinge, zwischendurch
der Terror und schon bald wird in den
Talkshows wieder mit demselben Eifer
die Autobahnmaut debattiert. Allesamt
abschreckende Rituale, die eine Bevölkerung eher entpolitisieren. Wie können
wir es jemandem übel nehmen, wenn
er sagt: „Ich will mit dem ganzen Kram
nichts zu tun haben. Ich kümmere mich
jetzt um mein eigenes Leben.“
~: Welche Fragen vermissen Sie in
der Debatte?
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zusteuerte zwischen dem Willen der
Zivilgesellschaft und dem der herrschenden Elite. Frau Merkel hat es Anfang
September sehr geschickt gemanagt,
das Szenario „Bornholmer Straße am 9.
November 1989“ für das Kanzleramt zu
vermeiden. Hätte sich die Bundeskanzlerin im September gegen die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft gestellt, wäre
sie von den geschichtlichen Ereignissen
schlicht überrannt worden. Der Willen
der Bevölkerung war das reinste Streben
nach Zivilität und Anstand. Selbst die
rückständigsten Gesellschaften der Erde
kennen das Gebot, Menschen zu helfen,
wenn sie in Not sind. Wenn jemand
versucht, das durch Abschottungspolitik zu torpedieren, kann er schnell zu
jenen Polizisten am Grenzübergang der
Bornholmer Straße am 9. November 1989
werden.
~: Weshalb gründen Sie keine
Partei?
Ruch: Wofür ist die Wirtschaftspolitik
überhaupt da? Was soll der ganze Reichtum, der ganze Krempel, wenn wir damit
nicht den Hunger bekämpfen? Wenn
wir damit nicht alles in unserer Macht
stehende tun, damit Menschen lebend
auf Lesbos ankommen. Wir müssen
Großes wagen. Diese Zeit benötigt nichts
dringender als einen Visionär vom Typus
Willy Brandt. Das ist unser Staat. Dies ist
unsere Politik. Und: es ist unsere Zeit. Wir
müssen uns nicht wundern, wenn sich
die Gleichgültigkeit gegenüber den Muslimen, die in Syrien vernichtet werden,
irgendwann rächt.
~: Können Sie das genauer erklären?
Ruch: Mit einer geschickten Propaganda
schafft es ein Terrornetzwerk, Menschen
davon zu überzeugen, in den Kampf zu
ziehen. Sie propagieren, dem Westen
seien die Muslime egal. Da ist sogar
etwas Wahres dran. Es ist für den „Islamistischen Staat“ relativ simpel, dieses
Argument zu drehen und für sich zu
nutzen. Wir haben uns geschworen: Nie
wieder Auschwitz. Wenn aber jetzt keine
Juden, sondern Araber sterben, schauen
wir weiter zu und betreiben Alibi-Politik.
Welzer. Ich gehöre zu den Intellektuellen, die noch wählen gehen. Mich ärgert
es vor jeder Wahl, wie leidenschaftslos
und pampig die Parteien uns ihre öden
Programme hinhalten. Diese politischen
Laiendarsteller sind die größte Gefahr
für unsere Demokratie, sie unterhöhlen
ihr Potenzial. Was ist denn so schwer
daran, Bürger für eine Idee zu begeistern
und ihnen das Gefühl zu geben, dass es
um etwas Bedeutsames geht? Wo ist das
größte Thema unserer Zeit: das Streben
nach Humanität? Noch nie hatten Gesellschaften so viele Mittel an der Hand, um
Menschenleben zu retten. Aber unsere
Politiker verteilen Schlaftabletten.
~: Bereuen Sie einen Satz wie „Das
Kanzleramt wird brennen, sollte es sich
gegen den Willen des Volkes wenden“?
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~: Herr Ruch, fühlen Sie sich nicht
ständig überfordert und haben ein
schlechtes Gewissen?
Ruch: Nein, wieso?
~: Das klingt bedrohlich und erinnert, mit Verlaub, an Pegida und Co.
Ruch: Naja, wir streben nach politischer
Schönheit, da gibt es keine Verwechslungsgefahr.
~: Worin besteht denn der Unterschied?
~: Sind Sie Nichtwähler?
Ruch: Nein, ich heiße nicht Harald
Ruch: Weil der geistige Urvater der
politischen Aktionskunst in Deutschland,
Christoph Schlingensief, etwas aufgestellt hat, an dem man nicht so leicht
vorbeikommt: die “Chance 2000“. Er
enttarnte politische Mechanismen, und
jedem, der ihm vorwarf, es handele sich
dabei um eine Spaßpartei, schmetterte
er entgegen, die wahren Spaßparteien
säßen im Bundestag. Er schaltete leere
Werbeanzeigen in den Zeitungen, über
denen stand „Tragen Sie die Forderungen
bitte selbst ein.“ Ein Meilenstein in der
Geschichte der Aktionskunst. Wir wagen
uns an dieses Erbe nur dann heran,
wenn wir eine Idee haben, die „Chance
2000“ übertreffen könnte. Kopieren ist
nicht so unsere Sache.
Ruch: Mit dem Satz meinte ich, dass
unsere Gesellschaft auf eine Eskalation
Ruch: Ich verstehe, was sie meinen: Es
brennt in so vielen Regionen, nicht nur
in Syrien. Da könnte man auch sagen:
„Warum tun Sie nichts für Nigeria oder
Somalia? Man kann sich nicht jedem
Problem widmen, sondern entwickelt
mit der Zeit Tunnelblicke. Wichtig ist,
dass man das, was man ausgewählt hat,
mit aller Konsequenz und Entschlossenheit angeht. Jeder muss seine Kräfte
bündeln. #