FOCUS online vom 21.02.2016 Autor: Seite: Weblink: Julian Rohrer Gattung: Online-Quelle online http://www.focus.de/politik/deutschland/gerold-reichenbach-im-interview-spd-politiker-ueber-fluechtlinge-und-afd-wir-erlebengerade-die-nachkriegsluege_id_5300684.html Gerold Reichenbach im Interview SPD-Politiker über Flüchtlinge und AfD: "Wir erleben gerade die Nachkriegslüge" Wenn der SPD-Politiker Gerold Reichenbach in seinen Wahlkreis im Taunus zurückkehrt, wird er mit sehr unterschiedlichen Standpunkten zur Flüchtlingskrise konfrontiert. Rassismus macht ihn wütend. Dass immer mehr Menschen extreme Positionen einnehmen, geht seiner Meinung nach auf das Konto von AfD und Pegida, aber auch auf das von Spitzenpolitikern. FOCUS Online: Herr Reichenbach, wenn Sie in Ihren Wahlkreis in Südhessen kommen, mit welchen Erwartungen werden Sie konfrontiert? Gerold Reichenbach: Es gibt drei Gruppen. Jene, die sagen, dass wir alle aufnehmen sollen - die sind aber auch die ersten, wenn es darum geht, ein Flüchtlingsheim in der eigenen Straße abzulehnen. Die überwiegende Mehrzahl sagt, dass man zwar helfen müsse aber nur, so lange die Zahlen auch bewältigbar sind. Der dritte Teil sind jene, die schon immer xenophob waren und sich freuen, das jetzt öffentlich sagen zu können. Die überzeugen Sie nicht. FOCUS Online: Dennoch darf man doch auch bei diesen Menschen nicht aufgeben, oder? Reichenbach: Man muss den Menschen eine Perspektive geben, indem man zeigt, dass man an einer Verbesserung der Lage arbeitet. Viele Menschen sind sehr verunsichert und haben das Gefühl, dass die Politiker in Berlin nichts machen. Diese Angst kann man nur schwer nehmen. Den anderen muss man klipp und klar sagen: Nein, ihr seid nicht der Mainstream. Ihr seid eine kleine Minderheit von nationalistischen Kriegshetzern. FOCUS Online: Woher kommt dieses Gefühl, Xenophobie wieder nach außen tragen zu können? Reichenbach: Wir erleben gerade die Nachkriegslüge: Demnach habe es im Dritten Reich ein paar ganz schlimme Nazi-Verbrecher gegeben und der Rest der Bevölkerung hatte nichts damit zu tun oder war nur Mitläufer. Es heißt immer, bei Pegida laufen normale Bürger aus der Mitte der Gesellschaft mit. Dazu kann ich nur sagen: Auch die Nazis waren vielfach normale Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. Normale Bürger, die vielleicht nicht Juden deportiert haben, aber mitgeklatscht und denunziert haben. Das kommt jetzt wieder und wir wundern uns darüber. Das muss man offen ansprechen: Josef Goebbels war nicht anders als Tatjana Festerling. "Pegida- und AfD-Mitläufer aus der Gesellschaft auszugrenzen"FOCUS Online: Wie kann die Gesellschaft Ihrer Meinung nach darauf reagieren? Reichenbach: Der Mainstream muss diesen Menschen sagen: Das ist nicht der Mehrheitswille. Wer mit so einer Forderung an die Öffentlichkeit tritt, schießt sich selbst ins Abseits. Ich bin dafür, die Pegida- und AfD-Mitläufer aus der Gesellschaft auszugrenzen. FOCUS Online: Tut denn die Politik genug dafür, die Ränder der Gesellschaft wieder einzufangen? Reichenbach: Das Problem ist, dass die Signale aus der Spitze der politischen Eliten nicht eindeutig sind. Horst Seehofer oder Julia Klöckner, beide fischen am rechten Rand und formulieren etwas feiner, was die AfD-Politiker auch fordern. Nehmen Sie als Beispiel die von Klöckner geforderte Integrationsverpflichtung: Das suggeriert ja, dass sich die Flüchtlinge nicht integrieren wollen, sonst bräuchte man keine Pflicht. Das spielt der AfD natürlich in die Karten, die immer wieder die Andersartigkeit dieser Menschen hervorhebt. FOCUS Online: Was können Sie als Politiker machen? Reichenbach: Man muss doppelt agieren: Auf gar keinen Fall dürfen bestimmte Phänomene wie Ausländerkriminalität verschwiegen werden. Aber gleichzeitig dürfen wir rassistischen Vorurteilen keinen Vorschub leisten. Wir brauchen eine klare Stopplinie für das, was wir in der Gesellschaft als Meinung akzeptieren und was darüber hinaus und damit zu weit geht. Hier müssen sich gerade auch Spitzenpolitiker im Wahlkampf fragen, wo sie ihre persönliche Grenze ziehen. Im Video: Fremdenfeindlicher Mob verängstigt Flüchtlinge in Sachsen PUSH - Sie rufen "Wir sind das Volk" - Fremdenfeindlicher Mob verängstigt Flüchtlinge in Sachsen FOCUS Online: Es warten ja auch neue Herausforderungen auf die Gesellschaft: Was macht die Fluchtbewegung im 21. Jahrhundert aus? Reichenbach: Wir erleben die Flüchtlingswelle 2.0 - und wir wissen relativ wenig über die Auswirkungen dieser digitalen Welt. Was hier als Abschreckung gedacht wird - also beispielsweise die Debatte über den Familiennachzug - kann durch die sozialen Netzwerke zum gegenteiligen Effekt führen und sogar eine Sogwirkung entfalten. Wir müssten viel genauer schauen, wie und über was kommuniziert wird. FOCUS Online: Welche Rolle spielen Smartphones im Alltag von Flüchtlingen? Reichenbach: Die meisten Flüchtlinge nutzen untereinander Kommunikationskanäle. Whatsapp, SMS - man infor- miert sich gegenseitig. Früher war das so: In einem Landkreis kommunizierten Asylbewerber und blieben dabei unter sich. Wenn heute jemand beispielsweise in Berlin Vorteile ausmacht, wird das über die Kanäle weitergetragen und führt zu Ansprüchen in anderen Regionen. Das kann skurrile Formen annehmen: Eine Witwe in meinem Wahlkreis hat einem Flüchtling den Führerschein gezahlt. Er twitterte das. kurz darauf standen Flüchtlinge deutschlandweit bei ihrer Asylbehörde und wünschten sich, dass ihr Führerschein übernommen wird. Das geht natürlich nicht. Gegen solche Gerüchte kann man aber nur schwer ankommen. "Internet und kostenloses WLAN in allen größeren Unterkünften"FOCUS Online: Kann man die Digitalisierung auch nutzen? Reichenbach: Frau Klöckner fordert ja eine Integrations- und Sprachkurspflicht. Die Praxis heute ist eine andere: Viele, die gerne Kurse machen würden, können nicht, weil sie nicht im Asylbewerberstatus sind. Für die anderen gibt es gar nicht genug Sprachkurse. Internet und kostenloses WLAN in allen größeren Unterkünften können da Abhilfe schaffen: Warum erstellt man nicht ein Programm mit der Fernuniversität Hagen zur Selbstinitiative? Sprachkurse als Fernlehrgang oder Berufseignungstests etwa. FOCUS Online: Wer könnte das finanzieren? Reichenbach: Der deutsche Industrie und Handelskammertag zum Beispiel. Oder die Telekom. Da sind verschiedene Modelle denkbar. Wörter: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH 1261 Im Video: Das Pressefoto des Jahres zeigt das ganze Ausmaß der FlüchtlingskriseFoto an Grenzzaun - Das Pressefoto des Jahres zeigt das ganze Ausmaß der FlüchtlingskriseKatastrophenschutz in der FlüchtlingskriseFOCUS Online: Halten Sie es für realistisch, dass so etwas schnell umgesetzt werden könnte? Reichenbach: Nein, die Mühlen mahlen viel zu langsam. Der Bundesinnenminister und sein Ressort reagieren nicht auf die Situation, sondern machen in ihrem Trott weiter, versuchen die Krise zu verwalten. Dabei gäbe es doch Ideen, mehr Struktur in die Krise zu bringen: Mein Landrat hat für seine Region den Gefahrenabwehrstab, also den Katastrophenschutz eingesetzt. Die Organisation hat reibungslos geklappt. FOCUS Online: Wäre das Modell auch für Gesamtdeutschland denkbar? Reichenbach: Der Bund hat ein gemeinsames Lagezentrum für Bund und Länder, eigentlich für Katastrophenfälle. Der Innenminister müsste sich nur mit den Ländern abstimmen, dann könnte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe einschreiten, auch ohne, dass man den Katastrophenfall ausruft. "... bis Sie die Todesstrafe auf Falschparken einführen"FOCUS Online: Warum halten Sie das für notwendig? Reichenbach: Das Auseinanderklaffen zwischen dem, was an Handeln suggeriert wird, und echtem Handeln ist ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schiebt einen riesigen Antragsstau vor sich her. Bamf-Leiter Frank-Jürgen Weise verkauft es als Erfolg, dass er die dringend benötigten Stellen zur Abarbeitung zur Hälfte besetzt hat. Aber die 3000 vorgesehenen Zusatzstellen reichen doch nie, um der Anträge Herr zu werden. Das ist so, als würden sie versuchen, in einer Stadt gegen Falschparker kämpfen wollen, aber zu wenige Politessen haben. Jetzt verschärfen Sie die Strafen immer weiter, bis Sie die Todesstrafe auf Falschparken einführen. Damit wären wir beim Asylpaket II: Wenn es nicht genug und nicht ausreichend starke und effiziente Organe gibt, ändert man mit neuen, schärferen Gesetzen am Problem nichts. FOCUS Online: Weise geht davon aus, mit seinem Stab bis zum Jahresende den Antragsstau abgebaut zu haben. Reichenbach: Wie realistisch ist es, dass 2016 nur 500.000 Menschen nach Deutschland kommen? Logisch wäre es doch zu sagen: Wir bereiten uns darauf vor, dass mehr kommen. Und sollte die Zahl von 500.000 tatsächlich stimmen umso besser, dann sind wir früher vor der Antragswelle. FOCUS Online: Warum hat die Abarbeitung der Anträge aus Ihrer Sicht Priorität? Reichenbach: Sie ist ein Integrationshemmnis. Denn diese Menschen sind über Monate in der Warteschleife. Erst nach einem Jahr haben sie dann eine Perspektive - und erst dann hat Integration Sinn. Österreichs Obergrenze für Flüchtlinge - "Deutschland macht das auch": Warum Mikl-Leitners Behauptung falsch ist
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