Knospen springen auf 6.12.15 SZ

Bezirk Winterthur
Gottesdienst 2. Advent vom 6.12.15
Römer 8,24.25
Stefan Zolliker
„Alle Knospen springen auf“
Der Text für die heutige Predigt steht in Röm. 8, 24f: Denn wir sind gerettet, doch in der
Hoffnung. Hoffnung aber, die man erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf
etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren
wir aus in Geduld.
Liebe Gemeinde,
unser Leben verläuft manchmal spannungsvoll. Eine der Spannungen, die an uns zieht, ist
die Spannung zwischen dem schon jetzt – und noch nicht. Wir sind gerettet, schreibt
Paulus, schon jetzt. Wir dürfen das spüren. Doch im vollen Sinn des Wortes steht unsere
Rettung noch aus. Wir warten noch und hoffen darauf.
Draussen ist es kalt geworden. Die Bäume sind kahl. Die Blätter sind weg. Die Tage
werden kürzer. Schon um 16.45 h ist es beklemmend dunkel! Das macht mir zu Schaffen.
Die Schatten werden länger. Und der Gang von manchen wird schwer. Was wund ist, das
schmerzt. Besonders auf Weihnachten hin. Wieviele Menschen leben einsam, in sich
gekehrt, verkrümmt und verbarrikadiert.
Die Knospen, die Mitte November wegen des warmen Herbsts schon Anzeichen hatten,
aufblühen zu wollen, werden wohl bald erfrieren. Die Mauern zwischen verkrachten
Menschen sind mancherorts hoch und dick. Die Stummen versinken in ihrem Elend, weil
keiner es hört und versteht. Auf vielen lasten die langen Nächte, besonders, wenn sie den
Schlaf nicht finden.
Diesen Erfahrungen möchte ich den Text des Liedes von Wilhelm Willms entgegensetzen,
das viele Bilder der Erlösung, des Heilwerdens malt, wie das zu und hergeht, wenn das
Reich Gottes unter uns aufbricht. Wir haben dieses Lied vorhin gesungen:
1.) Alle Knospen springen auf,
fangen an zu blühen.
Alle Nächte werden hell,
fangen an zu glühen.
Knospen blühen.
Nächte glühen.
Augen sehen,
Lahme gehen,
Menschen teilen,
Wunden heilen,
Knospen blühen,
Nächte glühen.
2.) Alle Menschen auf der Welt
fangen an zu teilen,
alle Wunden nah und fern
fangen an zu heilen.
Menschen teilen,
Wunden heilen,
Knospen blühen,
Nächte glühen.
4.) Alle Stummen hier und da
fangen an zu grüßen.
Alle Mauern tot und hart
werden weich und fließen.
Stumme grüßen,
Mauern fließen,
Augen sehen,
Lahme gehen,
Menschen teilen,
Wunden heilen,
Knospen blühen,
Nächte glühen.
3.) Alle Augen springen auf,
fangen an zu sehen.
Alle Lahmen stehen auf,
fangen an zu gehen.
Wenn solche Hoffnungsworte auf schmerzhafte Erfahrungen prallen, so vergrössert sich
die Spannung. Eine Spannung, die manchmal kaum zum Aushalten ist. Eine Spannung,
die uns sticht, die uns aber auch herauslockt aus den trüben Gedanken.
Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung! Die Verheissungen Gottes ertönen mitten in
unsere defizitären Erfahrungen, in unsern Mangel an Licht und Heilung hinein! Und diese
Verheissungen wollen uns anstacheln, neu zu hoffen, zu glauben und zu beten.
Ja, es gibt viel Kälte, ja, da sind Mauern, da ist Erstarren und Stummsein, doch das ist
nicht das letzte. Gott ist mit uns noch nicht am Ziel. Er will uns berühren und heilen. Er
will uns verwandeln.
Denken wir an die Zweige im April, wenn sie blühen. Denken wir an die verschlossene
Knopse, die jetzt schon die Blüte in sich trägt, tief innen. Zusammengefaltet, eingerollt.
Schon jetzt bereit für die Tage des Frühlings. Denk an das Licht des Morgens, das jeder
finsteren Nacht folgt. Denk an die Tage der Genesung, wo nach einer Krankheitszeit die
Kräfte wieder zurückgekehrt sind. So will Gott an dir handeln.
Wilhelm Willms hat zwei Gedichte über den knospenden Zweig verfasst. Verspielte
Gedichte – Wortspielereien. Ich mag solche Spielereien. In gewissem Sinn sind sie erst
oder nur Spiel – aber wenn sie in uns etwas bewegen, eine Knospe der Hoffnung
pflanzen, dann wird es zu einem Spiel, das unsere Leben prägt.
ich sehe es kommen
ich sehe kommen
keimen knospen blühen
ich sehe leben
keimen knospen blühen
ich sehe das kommende leben
kommen
ich sehe leben
das übersteigt unser hoffen
und denken
unser träumen unsere phantasie
ich sehe das kommende leben
kommen
Das andere geht so:
Wir messen mit knospenden Zweigen die Zeit,
vom Knospen zum Blühen ist nicht mehr weit.
Wir hüten die Blüten in unserem Haus,
sie sagen im Winter den Frühling voraus.
Wir trauen dem Zeichen, dem Zweig und dem Kind,
wenn wir im Dunkeln beisammen sind.
Wir messen mit knospenden Zweigen die Zeit,
vom Knospen zum Blühen ist nicht mehr weit.
Wenn Gott uns berührt, so will er zuerst unseren Blick heilen. Gott will in unsere Hoffnung
heilen. Gott will uns wieder Hoffnungsbilder einpflanzen. So arbeitet er an unserer
Errettung. Wir sind schon errettet. Aber zugleich ist es erst der Anfang unserer Errettung,
er will uns noch mehr schenken.
Der Rabbiner Schalom Ben-Chorin hat einmal über die Hoffnung gesagt: "Aber muss man
nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in dieser Welt, und
den Glauben an Gott?“ Auch er hat ein Gedicht der Hoffnung geschrieben von Knospen,
die aufblühen. Es steht in unserem Gesangbuch bei der Nummer 363. Er schreibt in
Anlehnung an Jer. 1,11:
Freunde, dass der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt.
Dass das Leben nicht verging,
so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering,
in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg,
eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig
sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig,
wie das Leben siegt.
Der Mandelzweig ist solch ein Symbol der Natur, nicht nur im alten Israel der hebräischen
Bibel. 1942 mitten im Zweiten Weltkrieg schreibt er in Jerusalem sein Lied als "Zeichen
für des Lebens Sieg". "Obwohl - ein bisschen meschugge, ein bisschen verrückt ist das ja:
ein zarter Blütenzweig als Protest gegen den Druck von Hoffnungslosigkeit." So wird er
selbst Jahrzehnte später sagen.
Ob 1942 oder 2015, oder jeden Tag an jedem Ort der Welt. Es sind nicht nur die
grausamen Szenarien der Weltpolitik, der Rassen- und Religionsstreitigkeiten, der
Flüchtlingsströme und verbrecherischen Tötungen, die uns erschrecken. Ich denke jetzt
auch an die "kleinen Kriege" in den eigenen vier Wänden, in Beziehungen, in Familien, in
religiösen Gemeinschaften, in Schule und Beruf. Manchmal dünkt uns, die Welt sei an
einem toten Punkt angekommen.
"Aber muss man nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in
dieser Welt, und den Glauben an Gott?", so könnten wir mit Schalom Ben-Chorin fragen.
Doch vielleicht wäre das ja ganz gut, wenn wir uns alle etwas mehr von diesen
Verrücktheiten erlauben würden. Achten wir das Zeichen der Blüten-Knopsen nicht
gering. Freunde, dass der knospende Zweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein
Fingerzeig, wie das Leben siegt!
Ich möchte nun eine wahre Geschichte erzählen, wie Gott in Tagen äusserster Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung heilend an Menschen gehandelt hat! Wie er in das
Seelendunkel eines total verzweifelten Vaters eingegriffen hat und in seine Trauer wieder
eine Blüte der Hoffnung gepflanzt hat.
Es ist die Geschichte von Walt Everett, einem Methodistenpastor aus den USA und dem
Mann, der seinen Sohn getötet hat. Walt Everett sagte über seinen grossen Schmerz über
die Tötung seines Sohnes: „Meine Wut war daran, mich zu zerstören. Sie hielt mich davon
ab, Beziehungen mit anderen Leuten zu pflegen, wie ich sie sollte, und meine Arbeit zu
tun, und ich fing an, mich zu fragen, soll der Rest meines Lebens auch so verlaufen?“
Der Tiefpunkt dieses Dramas war der 26. Juli 1987, als sein Sohn Scott in seiner
Wohnung erschossen wurde. Mit 24 Jahren war Scott das älteste seiner drei Kinder. Scott
Everett wurde von einem Mann namens Mike Carlucci ermordet, der damals ein
Drogenhändler und selbst drogensüchtig war, jemand, der von sich selber sagte: „Ich war
derjenige, vor dem deine Mutter dich gewarnt hatte und den du keinesfalls mit nach
Hause bringen solltest.“
Die Samen der Versöhnung wurden bei der Urteilsverkündung von Carlucci gepflanzt.
Pfarrer Everett stand damals auf und beschrieb die Schmerzen, die er durch den Verlust
seines Sohnes erlitten hatte. Carlucci sagte, dass es ihm leid täte. Ein paar Wochen
später, schrieb Pfarrer Everett einen dreiseitigen Brief und schickte ihn an Mike Carlucci
im Gefängnis. Everett fing dabei an, das „extrem schwierige“ Jahr seit der Ermordung
seines Sohnes zu beschreiben. Dann schrieb Everett: „Ich nehme Deine Bitte um
Verzeihung an und - so schwierig diese Worte sind, zu schreiben - füge ich auch noch
hinzu‚ ‚ich vergebe Dir’.“
Pfarrer Everett erwartete eigentlich, dass sein Brief der letzte Kontakt mit dem Mann
gewesen wäre, der seinen Sohn umgebracht hatte. „Ich habe dies zunächst primär für
mich selbst getan,“ erzählte er. „Was Gott dann für Mike tat, war ein gewaltiger Bonus.“
Denn Mike Carlucci antwortete ihm, und die beiden schrieben einander einige Monate lang
Briefe. Dann geschah etwas Überraschendes für Pfarrer Everett. Carlucci bat ihn, ihn im
Gefängnis zu besuchen. Zunächst war Everett etwas besorgt über das Treffen, das mit
einem etwas belang-losen Gespräch über Carluccis Gewichtszunahme im Gefängnis
begann. Dann ging das Gespräch aber zum Glauben und ihren Leben über. „Ich stand auf
und fing an, Mike die Hand zu schütteln. Aber instinktiv hatte ich das Gefühl, das war
nicht das Richtige und wir umarmten uns,“ sagte Everett.
Die nächsten zwei Jahre besuchte Everett Carlucci im Gefängnis mindestens einmal
monatlich. Pfarrer Everett: „Ich sage Ihnen, das war nicht mehr derselbe Mann, der
damals ins Gefängnis ging. Gott hat gewaltige Veränderungen im Leben von Mike
durchgeführt!“ „Gott hat mir immer wieder einen Anstoss gegeben, bis ich ihm vergeben
konnte. Ich bin dankbar dafür. Diejenigen, die es nicht tun können, tun mir leid, weil sie
mit den Schmerzen für den Rest ihrer Lebens leben müssen,“ so Pfarrer Everett. Nach
Carluccis Entlassung wurde Walt Everett gar der Traupfarrer an seiner Hochzeit. Soweit
diese Begebenheiten.
Liebe Gemeinde, was für eine Geschichte!
Nicht alltäglich, beinahe unglaublich – und dabei zutiefst hoffnungsstiftend. Der Gott, der
so etwas möglich macht, der die Mauern der Verzweiflung gesprengt hat, der den Balsam
seiner Liebe auf die grossen seelischen Schmerzen Walt Everetts gelegt hat, der das kalte
Herzen eines Mörders berührt hat, der wird auch die Wüsten deiner Seele wieder zum
Blühen bringen! Unsere Rettung ist schon geschehen – durch Jesus Christus. Unser Leben
gehört ihm. Doch in der Schule der Hoffnung steht Gott mit uns erst am Anfang!
Ich
-
weiss nicht, welche ‚noch nicht‘ dir heute zu schaffen machen:
Die Sorge um einen kranken Angehörigen
Der Verlust deines Arbeitsplatzes oder die Angst davor.
Die Nachrichten rund um die Flüchtlingsströme, die nicht abreissen.
Das aufgeheizte politische Klima, wo Probleme statt erörert und gelöst, eher
schlachtrufartig bewirtschaftet werden.
Die Sorge junger Menschen, wie sie nur einen guten Weg in die Arbeitswelt finden,
der zu ihnen passt.
Die schlaflosen Nächte wegen Menschen, die dich missverstehen und an den Rand
drängen.
Halte dich an den Gott, der uns zusagt, ein Knospen-Gott zu sein. Er will mit seinen
aufblühenden Kräften mitten hineinkommen. Er segnet die, die ihre Hoffnung nicht
wegwerfen. Er, der Schöpfer, erneuert auch deine Kräfte, er legt in dir neue
Lebensknospen an. Du musst die Antwort auf die Frage gar noch nicht kennen – aber
überlass dich seiner Schöpferkraft.
Jemand hat seine Hoffnung in diese gestaltende, erneuernde Schöpferkraft so
beschrieben:
„Gott liebt uns wie wir sind –
aber er liebt uns zu fest,
um uns so zu lassen wie wir sind.“
Gott ist mit uns noch nicht am Ziel. Aber er nimmt uns an der Hand und legt einen Zweig
in unsere Hand. Und der Zweig deutet es an, ja verspricht es: Dieser Knospen wird
einmal aufspringen! Alle Knospen werden einmal aufspringen. Halleluja. Amen.