1 Bischof Dr. Dr. h. c. Markus Dröge , Evangelische Kirche Berlin

Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Bischof Dr. Dr. h. c. Markus Dröge , Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg --- Schlesische Oberlausitz
4. Sonntag n. Trinitatis, 28. Juni 2015, 10 Uhr
Predigt über Lukas 6,36-42
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
I.
„Maß aller Dinge!‘‘ So schallt es aus den riesigen Lautsprechern. Wenn einer der beliebtesten
zeitgenössischen deutschen Popmusiker mit seinem unnachahmlichen, volksnahen Ruhrgebietsstil und
seiner rauhen Stimme die Hallen füllt, dann reißt er die Menschen mit. Und so war es auch heute vor
einer Woche in der Waldbühne in Berlin, die mit über 20.000 Zuhörerinnen und Zuhörern voll besetzt
war, als Herbert Grönemeyer seine Deutschlandtournee beendete. Bei aller Rauheit hört man bei ihm
auch einfühlsame Texte über das Menschsein, über Hoffnungen und Irrtümer, über Scheitern und
Vergänglichkeit. Und man hört politische Botschaften:
„Maß aller Dinge! Es liegt ein Zittern in der Luft, deutlich zu spüren.
Es ist ein Klagen an die Welt, keiner will es hören. […] Weiße Überheblichkeit, Maß aller Dinge. Weiße
Überheblichkeit, Jeder Mensch ist gleich. Der Weiße ist gleicher. Maß aller Dinge!‘‘
Botschaften, die zur Achtung der Menschenrechte aufrufen, und die der Künstler auch gerne in die
kurzen Anmoderationen seiner Lieder einfügt.
So etwa mit diesen Sätzen:
„Seit zwei Jahren ist die Welt aus den Fugen geraten, Krieg und Gewalt machten sich breit.‘‘
Und das Publikum bestätigte diese kritische Weltsicht mit Beifall.
Beifall gab es allerdings auch für die Begründung, die der Künstler bot: Die Welt sei aus den Fugen
geraten, weil die Religionen das Sagen bekommen hätten.
Das macht nachdenklich. Wie viele Menschen werden auf den 28 Konzerten der Deutschlandtour des
Künstlers diese Sätze mit Beifall bedacht haben?
Macht sich diese Meinung wirklich schon so breit angesichts der vielen Meldungen über religiös
motivierte Gewalt --- wie nun wieder bei dem Terroranschlag in Tunesien?
Wir, die wir uns Christen nennen, die wir an einen Gott glauben, der barmherzig ist und mit seiner
Versöhnung Frieden in die Welt trägt, können solche Sätze nur mit Schmerz und Bedauern hören.
Ist es wirklich schon so weit dass Religion pauschal für die Gewalt der Gegenwart verantwortlich
gemacht wird? Jegliche Religion? Wird ohne Differenzierungen tatsächlich zunehmend Religion mit
Gewalt und Bedrohung identifiziert und kaum noch mit Nächstenliebe, Versöhnung und Friede? Davon
müssen sich Gläubige aller Religionen distanzieren und deutliche Kontrapunkte setzen.
II.
Der heutige Predigttext aus der Feldrede des Lukas, dem Pendant zur Bergpredigt, setzt hier einen
solchen deutlichen Kontrapunkt! Wir haben den Text in der Evangeliums-Lesung gehört. In ihm wird
deutlich, worin das „Maß aller Dinge‘‘ für glaubende Menschen bestehen sollte: in der Barmherzigkeit!
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.‘‘
Gott selbst ist der Barmherzige, der Vergebende, der Großmütige und Großzügige. Wenn wir
barmherzig sind, und nur dann, sind wir ganz nah bei Gott selbst.
Die Barmherzigkeit, das ist nach Lukas das volle, gedrückte und gerüttelte Maß, dass uns in den Schoß
gelegt ist. Sie ist Geschenk. Lukas akzentuiert das bewusst in Abgrenzung zu einer Ethik der Vernunft,
die er ein paar Verse vorher entwickelt hat. Dort hören wir die sogenannte Goldene Regel, das ethische
Glanzstück der Bibel, das bis heute Respekt bei vielen Menschen egal welcher Religion oder
Weltanschauung genießt. Sie ist so etwas wie der kleinste gemeinsame ethische Nenner, der
volkstümlich in folgende Form gegossen wurde:
„Was du nicht willst, was man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu.‘‘
Bei Lukas heißt das:
„Und wie ihr wollt, wie euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch.‘‘
1
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Diese Regel ist mit Vernunft nachvollziehbar.
Aber Lukas geht über diese Vernunft hinaus und überbietet die Vernunftregel mit der „Barmherzigkeit‘‘.
Barmherzigkeit geht weiter, denn sie löst sich aus der Abwägung des Verhaltens „Wie du mir, so ich
dir‘‘ heraus.
Die Barmherzigkeit fließt über sich selbst hinaus zum Nächsten. Um dies zu zeigen, verwendet Lukas
das Bild vom Markthandel. Der Händler, der das Korn abfüllt, schüttelt und rüttelt das Messgefäß, damit
ganz viel hineinpasst, und er füllt es bis zum Überlaufen. Dann wird es dem Käufer in eine Mulde seines
Gewandes (in den Schoß) gegossen, und er kann mit diesem übervollen Maß nach Hause gehen. So
überfließend, so freigiebig und so großzügig ist Gottes Barmherzigkeit.
Der Philosoph André Comte-Sponville, Professor an der Sorbonne und Schriftsteller, der zwar selbst
Atheist ist, aber viele christliche Haltungen für das gesellschaftliche Leben als wertvoll bewertet, hat
deutlich gemacht, dass Barmherzigkeit etwas anderes ist als Mitleid. Mitleid, so sagt er, ist ein
emotionaler Ausdruck, natürlich und spontan. Barmherzigkeit dagegen ist eine geistige Tugend, sie ist
reflektierter. Sie geht über das Gefühl des Mitleids hinaus. Daher fragt sie auch nach der Gerechtigkeit
und nach den gesellschaftlichen Bedingungen eines solidarischen Miteinanders und erschöpft sich nicht
im subjektiven Gefühl einer guten Gabe.
III.
Die überfließende Barmherzigkeit Gottes gilt nun aber nicht nur für den Dienst am Nächsten. Lukas
macht sehr plastisch deutlich, dass ich nur das, was mir selbst gut tut, auch anderen gönnen kann. Und
die erfreuliche Entdeckung dabei ist: Ich werde nicht mit dem Maßstab gemessen, den ich eigentlich
verdient hätte. Das Evangelium atmet durch diese Barmherzigkeit Gottes den Geist der Freiheit, in dem
es mir sagt:
„Du bist frei! Du bist den sozialen Bedingungen, unter denen Du lebst, nicht sklavisch ausgeliefert. Du
musst dich nicht dem fatalen Richtmaß abstrakter Richtlinien unterwerfen.‘‘
Barmherzigkeit wirkt belebend. Sie verlockt dazu, sich als Kind Gottes zu fühlen. Sie verschafft mir
Souveränität und gibt mir die Möglichkeit, aus den wechselseitigen Aufrechnungsmanövern, die so
beliebt sind in unserem mitmenschlichen Spiel, auszusteigen.
Barmherzigkeit ereignet sich da, wo wir von Herzen die Freiheit Gottes in uns spüren. Diese Freiheit ist
es, die uns überfließen lässt vor Glück und andere teilhaben lassen will an dem Glück des Lebens.
IV.
Eine solche Barmherzigkeit brauchen wir heute.
Lothar Zenetti hat das auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt:
"Es ist sicher, dass wir schneller fahren, höher fliegen und weiter sehen können als Menschen früherer
Zeiten. Es ist sicher, dass wir mehr abrufbares Wissen zur Verfügung haben als jemals Menschen vor
uns. Es ist sicher, dass Gott sein Wort niemals zu einer besser genährten, gekleideten und
bessergestellten Gemeinde sprach. Nicht sicher ist, wie wir bestehen werden vor seinem Blick.
Vielleicht haben wir mehr Barmherzigkeit nötig als alle, die vor uns waren.‘‘
Die Barmherzigkeit könnte nun gerade das sein, was uns mit anderen Religionen verbindet.
Barmherzigkeit als gelebter Ausdruck des Glaubens könnte so etwas wie eine Brücke zwischen den
Religionen bilden, die uns tragfähig miteinander verbindet, auch wenn wir im Glauben
unterschiedlicher Auffassung sind.
In der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, gibt sich Gott auf dem Berge Sinai dem
Mose zu erkennen als barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Gnade und Treue. „Barmherzig‘‘
ist Gott, weil er die Sünden zwar sieht, aber sie verzeiht.
In der christlichen Bergpredigt heißt es: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen.‘‘
Fast den gleichen Wortlaut finden wir im Koran: „Diejenigen, die nicht barmherzig sind,
werden keine Barmherzigkeit erlangen.‘‘ Und einer der häufigsten Bezeichnungen Allahs im Koran ist
„ar-rahman‘‘ --- Allerbarmer und „ar-rahim‘‘ Allbarmherziger. Beide Namen stammen von der gleichen
Wortwurzel ab und beschreiben die immerwährende Liebe Gottes.
2
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
In der Barmherzigkeit könnten die großen monotheistischen Religionen miteinander verbunden sein,
und sie könnten dies auch öffentlich gemeinsam bezeugen. Eine solche Barmherzigkeit, begründet in
den Wurzeln des Glaubens, brauchen wir heute.
Denn unsere Welt ist weithin von einer erschreckenden Unbarmherzigkeit, von einem gnadenlosen
Richtgeist und von mangelnder Großzügigkeit geprägt.
V.
Umso wichtiger ist es, die Sehnsucht nach der Barmherzigkeit wach zu halten, sie in uns selbst und in
dieser Welt groß zu machen, im Miteinander der Religionen und in der Gestaltung der Welt.
Wachzuhalten, dass der Glaube an Gott Menschen sensibilisieren will, für das, was die Menschlichkeit
des Menschen ausmacht.
Wir können jeden Tag neu Gottes Barmherzigkeit entdecken. Und seine Nähe erfahren, wenn wir leben,
was uns gesagt ist:
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.‘‘
Nicht als Pflichtübung, sondern aus der Freiheit des Glaubens heraus. Aus der Mitte des glaubenden
Herzens. Damit wir Gott spüren und das Entstehen seines Reich entdecken, überall dort, wo
Barmherzigkeit sich mitten in dieser Welt ereignet.
Ja, es mag sein, dass sich angesichts vieler bedrückender Nachrichten der Eindruck aufdrängt, die Welt
sei aus den Fugen geraten. Aber genau deswegen braucht diese Welt umso dringender die Religion im
eigentlichen Sinne: die religio, die Rückbindung an den einen wahrhaftigen Gott, der sich den
Menschen als der gütige Schöpfer der Welt und als ihr barmherziger Bewahrer vorgestellt hat.
„Komm in unsre laute Stadt, Herr, mit deines Schweigens Mitte, dass, wer keinen Mut mehr hat, sich
von dir die Kraft erbitte, für den Weg durch Lärm und Streit, hin zu deiner Ewigkeit.‘‘
Amen.
3