Kanton Bern Täter- und Täterinnenberatung und Lernprogramm als kindesschutzrechtliche Massnahme Nationale Konferenz: Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt vom 19. November 2015 Parallelveranstaltung 11 Thomas Büchler, lic. iur., Fürsprecher Präsident Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Thun Kanton Bern Inhalt 1. Ausgangslage 2. Rechtliche Grundlagen im Kindesschutz für die Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt in Ehe, Partnerschaft und Familie 3. Verfahren / idealtypischer Ablauf 4. Zwei Fallbeispiele aus der Praxis der KESB Thun Kanton Bern Häusliche Gewalt / Kindswohlgefährdung Kindesschutz im Kontext häuslicher Gewalt gehört zum Arbeitsalltag der KESB In einer Vielzahl von betroffenen Familien kommt es zu wiederholter Anwendung von häuslicher Gewalt Das Miterleben von häuslicher Gewalt bedeutet für die betroffenen Kinder in jedem Fall eine Kindswohlgefährdung Die Kindseltern und Kindesschutzbehörden sind aufgefordert, dieser Kindswohlgefährdung durch geeignete Massnahmen entgegen zu wirken Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 1 Kanton Bern Gesetzliche Grundlagen Internationale Konventionen: - UNO-Pakt II über bürgerliche und politische Rechte - Europäische Menschenrechtskonvention - Kinderrechtskonvention Schweizerische Bundesverfassung: Art. 10 BV (Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit) Art. 11 BV (Besonderer Schutz von Kindern und Jugendlichen auf ihre Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung) Art. 307 ff. Zivilgesetzbuch (Kindesschutz) Kanton Bern Gesetzliche Grundlagen im Kindesschutz für die Anordnung eines Lernprogramms Weisung gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB Weisung gemäss Art. 273 Abs. 2 ZGB im Zusammenhang mit der Regelung des Besuchsrechtes Beispiel eines Entscheiddispositivs: 1. X wird gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB angewiesen, am Lernprogramm des Kantons Bern gegen Gewalt in der Ehe, Familie und Partnerschaft teilzunehmen und sich bis spätestens 30.11.2015 dafür anzumelden (Berner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt, Kramgasse 20, 3011 Bern, Tel. ..………) Kanton Bern Massnahmen bei Nichtbefolgung der Weisung Weisungen sind rechtlich verbindliche Anordnungen, welche mit der Androhung der Ungehorsamsstrafe nach Art. 292 StGB verbunden werden können (Art. 292 StGB: Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft.) Prüfung der Einreichung einer Strafanzeige bei Nichtbefolgung der Weisung Prüfung weitergehender Kindesschutzmassnahmen Im Kontext der Besuchsrechtsausübung sind Einschränkungen oder der Entzug/Verweigerung des Besuchsrechts zu prüfen Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 2 Kanton Bern Kindesschutzverfahren (Kanton Bern) KESB Sozialdienst Eingang (Polizei-)Meldung über häusliche Gewalt Eröffnung Verfahren erste Abklärungen/Anhörungen ev. Sofortmassnahmen Erteilung Abklärungsauftrag Abklärung Sachverhalt Freiwillige Massnahmen (Teilnahme Lernprogramm) Evtl. Entscheid: Weisung Lernprogramm Bericht / Empfehlungen Ev. Strafanzeige gem. Art. 292 StGB bei Nichtbefolgung und Prüfung weitergehender Kindesschutzmassnahmen Kanton Bern Praxisbeispiel I - 1 Die 17-jährige Jugendliche Y, gebürtige Irakerin und älteste von fünf Geschwistern, spricht am Freitagnachmittag mit zwei Begleitpersonen unangemeldet bei der KESB Thun vor und berichtet, von ihrem Vater massiv verprügelt worden zu sein. Die KESB ordnet eine umgehende ärztliche Untersuchung der erlittenen Verletzungen im Spital Thun an und holt beim Kantonsarztamt die Entbindung der zuständigen Ärzteschaft vom Berufsgeheimnis ein. Die ärztliche Untersuchung ergibt multiple Hämatome am Oberkörper und Oberschenkel links bei häuslicher Gewalt. Kanton Bern Praxisbeispiel I - 2 Die KESB verfügt superprovisorischen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes und platziert Y verdeckt in der Notaufnahmegruppe für Jugendliche in Bern. Der Entscheid wird den Eltern eröffnet, der Anhörungstermin wird auf Dienstagmorgen angesetzt. Am Montagmorgen meldet sich Y telefonisch bei der KESB und teilt mit, sie habe über das Wochenende mit den Eltern telefoniert. Der Vater habe sich entschuldigt und versprochen, dass er nicht mehr schlagen werde. Sie liebe ihre Eltern und wolle sofort wieder nach Hause. Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 3 Kanton Bern Praxisbeispiel I - 3 Anlässlich der Anhörung führen die Eltern aus, dass die Gewaltanwendung ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei. Die Tochter habe den Vater angelogen und habe sich regelmässig mit einem älteren Freund getroffen. Der Kindsvater sehe jedoch ein, dass er keine Gewalt anwenden dürfe und garantiere, dass dies nie mehr vorkommen werde. Es habe ein Gespräch mit der Tochter stattgefunden, es sei nun alles geklärt und gut. Die Familie brauche in dieser Situation keine externe Hilfe, insbesondere wolle der Vater das Lernprogramm gegen Gewalt in der Familie nicht absolvieren. Y bestätigt anlässlich der Anhörung, dass sie sich mit den Eltern ausgesprochen habe. Sie wolle unbedingt und umgehend wieder nach Hause. Kanton Bern Praxisbeispiel I - 4 Die KESB hebt den superprovisorisch verfügten Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes auf und weist den Kindsvater an, am Lernprogramm gegen Gewalt in der Ehe, Familie und Partnerschaft teilzunehmen. Dem zuständigen Sozialdienst wird ein Abklärungsauftrag zum Zweck der subsidiären Hilfestellung und Prüfung von Kindesschutzmassnahmen erteilt. Zwei Monate später reicht die Fachstelle Gewalt Bern einen Abschlussbericht über den Beratungsprozess ein und hält fest, der Kindsvater habe im Rahmen der Beratungsgespräch engagiert mitgearbeitet. Aufgrund der geführten Gespräche könne davon ausgegangen werden, dass häusliche Gewalt oder Gewalt in der Erziehung kein wiederkehrendes Thema in der Familie mehr sein werde. Kanton Bern Praxisbeispiel I - 5 Der Sozialdienst beantragt in seinem Sozialbericht den Abschluss des Verfahrens ohne Anordnung von Kindesschutzmassnahmen. Die KESB hebt die dem Kindsvater erteilte Weisung auf und schliesst das Verfahren ohne Anordnung von weiteren Kindesschutzmassnahmen ab. Seither sind bezüglich dieser Familie keine Meldungen über häusliche Gewalt mehr eingegangen. Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 4 Kanton Bern Praxisbeispiel II - 1 Eingang einer vom Sozialdienst eingereichten Gefährdungsmeldung betreffend die Kinder A., Jhrg. 2003, B., Jhrg. 2006 und C., Jhrg. 2009: Auf Empfehlung der Erziehungsberatung (Verhaltensauffälligkeiten von A.) sei eine sozialpädagogische Familienbegleitung installiert worden. In der Familie komme es zwischen den Kindseltern wiederholt zu schwerwiegenden elterlichen Konflikten mit häuslicher Gewalt gegenüber der Kindsmutter. Der Kindsvater sei zu keiner Zusammenarbeit mit der sozialpädagogischen Familienbegleitung bereit. Die Familie bleibt einem ersten von der KESB angesetzten Anhörungstermin unentschuldigt fern. Kanton Bern Praxisbeispiel II - 2 Die KESB erteilt dem zuständigen Sozialdienst einen Abklärungsauftrag zum Zweck der subsidiären Hilfestellung und Prüfung von Kindesschutzmassnahmen. Drei Wochen später teilt der Sozialdienst mit, es sei bis anhin nicht gelungen, mit dem Kindsvater in Kontakt zu treten. Mit den Kindern und der Kindsmutter seien bereits Gespräche erfolgt. Schriftliche Vorladung an den Kindsvater zur Anhörung durch die KESB unter Androhung der polizeilichen Zuführung im Falle des unentschuldigten Fernbleibens. Der Kindsvater erscheint nicht zum Anhörungstermin. Die Kindsmutter teilt telefonisch mit, sie habe wahrscheinlich vergessen, ihm die Einladung auszuhändigen. Kanton Bern Praxisbeispiel II - 3 Erneute schriftliche Vorladung an den Kindsvater zum Anhörungstermin. Der Kindsvater erscheint zur Anhörung. Er bestätigt, dass es gelegentlich zu elterlichen Konflikten komme. Er wende aber grundsätzlich keine Gewalt an. Er sei zur Zusammenarbeit bereit und habe nun auch mehr Zeit. Im Abklärungsbericht des Sozialdienstes wird beantragt, dem Kindsvater die Weisung zu erteilen, am Lernprogramm gegen Gewalt in der Ehe, Familie und Partnerschaft teilzunehmen. Zudem wird die Errichtung einer Erziehungsbeistandschaft empfohlen. Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 5 Kanton Bern Praxisbeispiel II - 4 Der Kindsvater bleibt dem Anhörungstermin zwecks Gewährung des rechtlichen Gehörs fern. Die Kindsmutter erklärt sich mit den empfohlenen Massnahmen einverstanden. Die KESB erteilt dem Kindsvater die Weisung zur Teilnahme am Lernprogramm gegen Gewalt in der Ehe, Familie und Partnerschaft unter Androhung der Ungehorsamsstrafe gemäss Art. 292 StGB im Widerhandlungsfall. Zudem wird für die drei Kinder der Familie eine Erziehungsbeistandschaft errichtet. Die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt teilt einen Monat später mit, der Kindsvater habe sich trotz schriftlicher Aufforderung zur Kontaktaufnahme nicht für das Lernprogramm angemeldet. Kanton Bern Praxisbeispiel II - 5 Die KESB erlässt eine «letzte» schriftliche Aufforderung an den Kindsvater zur Teilnahme am Lernprogramm gegen Gewalt in der Ehe, Familie und Partnerschaft. Nach unbenutztem Fristablauf reicht die KESB gegen den Kindsvater Strafanzeige gemäss Art. 292 StGB ein. Die KESB prüft gleichzeitig die Anordnung weitergehender Beweismassnahmen (z.B. Fachgutachten) und/oder Kindesschutzmassnahmen. Kanton Bern Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Nationale Konferenz Kindes- und Erwachsenenschutz bei häuslicher Gewalt 19. November 2015, Bern 6
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