Nr. 72 September 2015 www.muenchner-stadtgespraeche.de Münchner Stadtgespräche Ausgabe Münchner Klimaherbst KLIMAPOLITIK Kampf ums Klima MÜNCHEN Stadt und Klimawandel GLETSCHERSTERBEN Adieu, ihr Gletscher Klima im Wandel Wie die globale Erwärmung unser Leben verändert die seite zwei aus dem referat für gesundheit und umwelt Schnell und sicher ans Ziel: Der interaktive Radroutenplaner für München Erfolgreich Fahrt aufgenommen hat der MVV-Radroutenplaner. Nach einer Probephase ist er jetzt mit zahlreichen Verbesserungen in den Regelbetrieb überführt worden. I m April 2015 starteten das Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München (RGU) und der Münchner Verkehrsund Tarifverbund (MVV) den interaktiven Radroutenplaner, der auch in die MVV-Fahrplanauskunft integriert ist. Schon nach kurzer Zeit zeigt sich, dass er gut angenommen wird: Über 1000 Nutzer am Tag rufen ihn derzeit am PC oder über die dazugehörige App (Android und iOS) auf. Dabei wurden bislang über 400.000 Routenvorschläge berechnet und über eine Million Kilometer an Radrouten ausgegeben. Vorausgesetzt, alle Strecken wurden tatsächlich geradelt, konnten in den ersten zehn Wochen etwa 170 Tonnen CO2 eingespart werden. Besonders nachgefragt sind die Optionen „schnellste Route“ und „grüne Route“. Bewährt hat sich auch das Angebot, alle Radrouten jederzeit mit den Verkehrsmitteln im MVV verknüpfen zu können. Viele Nutzerinnen und Nutzer haben interessante und konstruktive Rückmeldungen gegeben. Bisher konnten davon mehr als 100 ausgewertet und viele in der Folge direkt umgesetzt werden. Der MVV-Radroutenplaner für PC und App wurde außerdem erfolgreich von der Betaversion in den Regelbetrieb überführt. Zahlreiche Verbesserungen Unter anderem wurden folgende Optimierungen vorgenommen: • Bei der Auswahl „Grüne Routen“ werden Parks, Wälder und Grünanlagen deutlich besser erkannt und in die Route integriert. • Die Routenkennzeichnung erfolgt in einer transparenten Farbe, sodass jetzt auch die Straßennamen lesbar bleiben. • Unter der Rubrik „Zeige in Karte“ gibt es nun auch Routenvor- • • • schläge für Berufspendlerinnen und -pendler im Grünen, die gemeinsam von ADFC, der IHK und der Europäischen Metropolregion München erarbeitet wurden („Grüne Routen RegioCity“). Den Nutzerinnen und Nutzern werden nicht nur die CO2-Einsparung, sondern auch die – nach erfolgreicher Radtour – verbrauchten Kalorien in Form von Schokoladenstückchen automatisch angezeigt. Wie die MVV-Auskunft kann auch der MVV-Radroutenplaner auf Wunsch die Schiffe der Bayerischen Seenschifffahrt am Ammersee und am Starnberger See berücksichtigen. Dabei wird auch angezeigt, ob eine Fahrradmitnahme möglich ist. Die Darstellung des Höhenprofils wurde optimiert. Verbesserungsvorschläge können auch weiterhin von den Nutzerinnen und Nutzern gemacht werden. Entstanden ist der MVV-Radroutenplaner in den letzten drei Jahren mit Fördermitteln der EU im Rahmen des Alpine-Space-Projektes PUMAS. Im Internet finden Sie den interaktiven MVV-Radroutenplaner unter www.mvv-muenchen.de/radroutenplaner sowie unter www.muenchen.de/radroutenplaner. TEXT FOTO Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU), Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) www.mvv-muenchen.de/radroutenplaner Münchner Stadtgespräche Nr. 72 09/2015 3 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, seit den 1970er Jahren hat sich in Deutschland die Zahl extremer Stürme, von Starkregen und anderen wetterbedingten Katastrophen mehr als verdreifacht. Mit markanten Hitzewellen starteten wir ins neue Jahrtausend, schwere Stürme wie Lothar 1999, Kyrill im Jahr 2007 oder Xaver in 2013 sind schon lange keine Ausnahmeerscheinungen mehr. 04 Das Klima wandelt sich – und wir werden uns daran gewöhnen müssen, wenn wir die globale Erwärmung nicht stoppen. Denn der Klimawandel ist menschengemacht und nur wir selbst sind in der Lage, ihn aufzuhalten. Kaum jemand setzt dabei noch auf die Wirkung der alljährlichen Klimakonferenzen, die 20 Jahre lang nahezu ergebnislos geblieben sind. 12 Doch es gibt für uns durchaus Möglichkeiten, sich zu engagieren: Eine neue Protestbewegung ist entstanden, die das Ende der fossilen Energiesysteme einfordert und dabei auch Aspekte der Klimagerechtigkeit mit einschließt (siehe Artikel auf Seite 9). Die „Divestment“-Bewegung fordert dazu auf, Investitionen aus klimaschädlichen Unternehmen abzuziehen (siehe Artikel auf Seite 22) und auch im Alltag können wir selbst aktiv zum Klimaschutz beitragen: beim täglichen Einkauf, im Beruf oder direkt vor unserer Haustüre (siehe Artikel auf Seite 7). Wir haben Geschichten gesammelt, die Mut machen – hoffentlich auch Ihnen. 14 Eine spannende Lektüre wünscht Joy Mann Inhalt 02 04 07 09 12 Schnell und sicher ans Ziel Der interaktive Radroutenplaner für München Kampf ums Klima Warum die Klimapolitik regelmäßig den Kürzeren zieht Jeden Tag das Klima schützen Umweltpsychologin Katharina Beyerl im Interview Stillstand der Diplomatie 20 Klimakonferenzen und kaum Fortschritte Stadt und Klimawandel Das kommt auf Großstädte wie München zu 14 16 18 20 22 Adieu, ihr Gletscher Ein Schweizer Fotograf dokumentiert das Gletschersterben Auf der Flucht Wetterextreme vernichten viele Existenzen Jährlich grüßt die Klimakonferenz Über die Neuorientierung der Klimabewegung Kein Klimaschutz ohne Agrarwende Industrielle Landwirtschaft befeuert den Klimawandel “Raus aus der Kohle!“ Ein Plädoyer für klimafreundliche Investitionen Umweltinstitut München e.V. 4 09/2015 Kampf ums Klima Statt weiter auf Verzögerungstaktiken zu setzen, muss die Klimapolitik endlich die wichtigsten Treiber der klimaschädlichen Emissionen in den Fokus nehmen: das ungebremste Wirtschaftswachstum und die fossile Energieindustrie. S ommer 2002 in Deutschland: Häuser stehen bis zum ersten Stock unter Wasser, Straßen werden zu Flüssen und Felder zu Seen, Boote zum städtischen Fortbewegungsmittel. Insgesamt 21 Menschen kommen zu Tode, zahlreiche weitere verlieren ihre Existenzgrundlage. Viele Krankenhäuser müssen evakuiert werden und historische Bauten wie die Semperoper und die Frauenkirche in Dresden drohen, ernsthaften Schaden zu nehmen. Die Elbeflut war eine „Jahrhundertflut“, der größte Einsatz in der Geschichte des Technischen Hilfswerks. Und schon ein Jahrzehnt später, im Jahr 2013, erlebte Deutschland die nächste Überschwemmung mit ähnlichen Ausmaßen. Für viele Menschen wurde hier erstmals deutlich: Existenzbedrohende Auswirkungen des Klimawandels sind auch in Deutschland spürbar. Extreme Wetterereignisse wie Hochwasser, Dürren und Wirbelstürme haben als Folge des Klimawandels in vielen Regionen der Welt zugenommen und werden in naher Zukunft wohl noch häufiger werden. Dabei sind die Länder des Südens schon jetzt wesentlich stärker bedroht als die Industrieländer, zumal hier die Ausgangsbedingungen meist viel prekärer sind. Intensive Dürreperioden, die etwa in Ostafrika seit eini- gen Jahren immer öfter auftreten, fordern Hunderttausende Tote durch Unterernährung, bringen den Verlust der Lebensgrundlagen Landwirtschaft und Viehzucht mit sich und treiben Menschen in die Flucht. „Wie viele Konferenzen brauchen wir noch?“ Nicht umsonst erklärte auf der UN-Klimakonferenz in Warschau 2013 auch Naderev Sano, der Delegierte der Philippinen, er werde so lange fasten, bis im Rahmen des Gipfels eine wirksame Vereinbarung für globalen Klimaschutz erzielt worden sei. Kurz zuvor hatte der Taifun „Haiyan“ in seiner Heimat riesige Zerstörung angerichtet, mindestens 6000 Menschen starben, Millionen haben alles verloren. „Mein Land weigert sich hinzunehmen, dass eine 30. oder 40. Klimakonferenz notwendig sein soll, um das Problem des Klimawandels zu lösen“, sagte der philippinische Delegierte Sano vor zwei Jahren. Damit sprach er an, was immer mehr Menschen frustriert, auch in den westlichen Industrieländern: Seit 20 Jahren verhandeln die Regierungen auf internationaler Ebene bei den jährlich stattfindenden UN-Klimakonferenzen, doch wirksame Instrumente für den globalen Klimaschutz haben sie bisher nicht beschlossen. Währenddessen steigen die globalen Münchner Stadtgespräche Nr. 72 Treibhausgasemissionen weiter und es wird immer unwahrscheinlicher, dass das Zwei-Grad-Ziel noch erreicht werden kann (siehe Artikel auf Seite 9). Auch der diesjährige G7-Gipfel in Elmau zeigte, dass die Politik häufig mehr um wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit als um Ergebnisse bemüht ist: „Klimakanzlerin“ Angela Merkel und ihre Gäste aus den übrigen G7-Ländern unterlegten das große Wort „Dekarbonisierung“ mit schönen Bildern von Staatschefs vor Alpenkulisse – mit Erfolg: Die Presse und auch einige Nichtregierungsorganisationen bejubelten die G7-Beschlüsse zum Klimaschutz als bahnbrechend. Die Gruppe der Sieben sprach sich für eine „Dekarbonisierung“ der globalen Wirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts aus. Gleichzeitig vereinbarten sie, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2050 um 40 bis 70 Prozent im Vergleich zu 2010 zu reduzieren. Das Zwei-Grad-Ziel wurde als Zielvorgabe der Klimapolitik anerkannt. 09/2015 5 bale Weltwirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts „dekarbonisiert“, also sehr kohlenstoffarm werden muss. Gleichzeitig ist „Dekarbonisierung“ aber ein dehnbarer Begriff, der – mit Sicherheit nicht zufällig – viel Raum für Interpretationen lässt. So wird dieser zwar meist mit der notwendigen vollständigen Abkehr von Kohlenwasserstoffen, also den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Gas, gleichgesetzt. Doch andere mögliche Deutungen schließen den Einsatz höchst umstrittener Techniken wie CCS (Carbon Capture and Storage), die Abscheidung und unterirdische Speicherung von CO2 und großtechnische Manipulationen der Stoffkreisläufe der Erde (Geoengineering) mit ein. Das größte Dilemma der Klimapolitik liegt darin, dass sie mit politischen Zielen und wirtschaftlichen Interessen konkurriert – und dabei regelmäßig den Kürzeren zieht. Doch die Wahrheit über diese Ziele ist: Weder sind sie wirklich ambitioniert, noch gehen sie über eine reine Absichtserklärung hinaus. Schon 2009 erklärten die G8, damals noch mit Russland, dass sie das ZweiGrad-Ziel anerkennen. Dieses ist auch seit der UN-Klimakonferenz in Cancún 2010 offiziell Grundlage der internationalen Klimaverhandlungen. Ebenfalls 2009 versprachen die acht Wirtschaftsmächte bereits, sich dafür stark zu machen, die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um 50 Prozent oder mehr zu reduzieren. Im Klartext: Die beschlossenen Klimaziele haben sich im Vergleich zu den vergangenen Jahren nicht entscheidend geändert. Zudem nützen alle hehren Ziele nichts, wenn die notwendigen politischen Maßnahmen weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene beschlossen werden. Genau das zeigt aber die Gipfel-Geschichte: Den Ankündigungen folgten keine Taten. Wolf im Schafspelz Die wichtigste Zielvorgabe fehlt zudem im G7-Beschluss: eine Mengenbegrenzung der fossilen Energien, die in den nächsten Jahrzehnten noch verbraucht werden dürfen. Denn nach wissenschaftlichen Erkenntnissen müssen vier Fünftel der fossilen Energiereserven in der Erde bleiben, um katastrophale Auswirkungen des Klimawandels zu verhindern. Bisher fehlt jedoch der politische Wille, diese Prämisse für das Erreichen der Klimaziele in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Ein Beispiel ist das Herumlavieren der deutschen Regierung um den dringend notwendigen Ausstieg aus der Kohlekraft. Das Ziel der „Dekarbonisierung“ entpuppt sich als Wolf im Schafspelz: Einerseits geben die langfristigen Klimaziele bereits vor, dass die glo- Beiden Techniken sind zwei fatale Eigenschaften gemeinsam. Zum einen sind ihre langfristigen Auswirkungen auf die Umwelt aufgrund erheblicher Wissensdefizite kaum abschätzbar, potenziell jedoch mit großen Risiken verbunden. Und zum anderen werden sie vor allem mit der Motivation diskutiert, Maßnahmen zur tatsächlichen Minderung der Treibhausgasemissionen zu vernachlässigen. Denn, so die Hoffnung, indem man ihre Klimaauswirkungen mit technischen Lösungen neutralisiert, kann es mit der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas immer weitergehen. Daher werden diese Instrumente, ähnlich wie die Atomkraft als angeblicher Klimaretter, auch stark von der industriellen Lobby propagiert. Diese hat kein Interesse daran, etwas an ihrer Wirtschaftsweise zu verändern. Wirtschaftswachstum vs. Klimaschutz Das wohl größte Dilemma der Klimapolitik liegt daher darin, dass sie mit anderen politischen Zielen und wirtschaftlichen Interessen konkurriert – und dabei regelmäßig den Kürzeren zieht. So bekräftigten auch die G7 wie in all den Jahren zuvor die Relevanz der Handelsliberalisierung. Bei Freihandelsabkommen wie TTIP und Co. machen die Regierungschefs Druck, um möglichst schnell zu Ergebnissen zu kommen. Schon seit den 1990er Jahren laufen die Klimaschutzbemühungen parallel zu einem zunehmenden Ausbau des internationalen Warenverkehrs. So trat zwei Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Rahmenkonvention über den Klimawandel 1992 auch das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft und die Welthandelsorganisation wurde gegründet. Interessant ist dabei, dass beide Prozesse völlig isoliert voneinander vorangetrieben werden, ohne die offensichtlichen Wechselwirkungen zu thematisieren. Denn die Liberalisierung des Handels dient dem globalen Wirtschaftswachstum. Dieses wiederum ist aber der Haupttreiber des kontinuierlichen Anstiegs der Treibhausgasemissionen. Die Förderung von Wachstum und wirksamer Klimaschutz schließen sich daher aus. Handelsliberalisierung bedeutet zudem immer auch erhöhter Wettbewerbsdruck und damit einhergehend eine Zentralisierung und Indus- 6 Umweltinstitut München e.V. trialisierung der Strukturen, wie etwa in der Landwirtschaft – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Umwelt und Klima (mehr im Artikel auf Seite 20). Es wäre dringend notwendig, diese massive Inkohärenz zu problematisieren, die in der internationalen wie in der nationalen Politik besteht. Mächtige Interessensgruppen wissen dies jedoch bislang zu verhindern. Dazu gehören zum Beispiel jene 90 Unternehmen, die für zwei Drittel der seit Beginn der Industrialisierung ausgestoßenen Emissionen verantwortlich sind. Viele dieser Konzerne, hauptsächlich aus der Öl- und Gasindustrie, nehmen starken Einfluss auf die Politik und mittels gezielter PR-Kampagnen auch auf die öffentliche Wahrnehmung. Die US-amerikanische Vereinigung kritischer WissenschaftlerInnen (Union of Concerned Scientists) hat dazu in diesem Jahr einen ausführlichen Bericht auf Basis von internen Unternehmensdokumenten veröffentlicht: Die Belege zeigen, wie Energiekonzerne und Industrieverbände manipulierte Studien finanzierten, falsche Bürgerinitiativen gründeten oder gefälschte Briefe im Namen von Umweltorganisationen an den US-Kongress sandten, um eine Einschränkung der Emissionen aus fossilen Energien zu verhindern. Wandel „von unten“ Doch die Hinhaltetaktik von Politik und Unternehmen bleibt nicht unbemerkt. Immer mehr BürgerInnen auf der ganzen Welt verlassen sich nicht länger auf „die da oben“ und nehmen den Wandel selbst in die Hand. Sie protestieren gegen aufwändige Energieprojekte, die die lo- 09/2015 kale Natur zerstören und das fossile Energiesystem auf Jahrzehnte hinaus zementieren. Sie investieren in erneuerbare Energien und setzen sich für „Divestment“, also das Abziehen von Geldern aus klimaschädlichen Unternehmen, ein (siehe auch Seite 22). Und sie diskutieren über ganzheitliche Konzepte zur Lösung der Klimakrise, die auf einer anderen, wirklich nachhaltigen Gestaltung der Wirtschaft aufbauen. Denn frei nach Albert Einstein sind sie der Ansicht: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Es ist an der Zeit, dass diese Einsicht auch auf der politischen Ebene ankommt. Nötig ist zum einen der Realismus, dass eine so radikale Senkung der Emissionen, wie sie bereits bis Mitte des Jahrhunderts notwendig ist, trotz erhöhter Energieeffizienz nicht mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum vereinbar ist. Zum anderen ist der Mut gefragt, schon heute das Ende der Nutzung fossiler Energien und damit eine konsequente Energiewende zu planen. TEXT FOTOS Franziska Buch Fotolia Extreme Wetterereignisse wie Hochwasser, Dürren und Wirbelstürme haben als Folge des Klimawandels in vielen Regionen der Welt zugenommen. Mit den „Jahrhundertfluten“ 2002 und 2013 wurde erstmals deutlich: Existenzbedrohende Auswirkungen sind auch in Deutschland spürbar. Münchner Stadtgespräche Nr. 72 09/2015 7 Jeden Tag das Klima schützen Alle wollen das Klima retten – aber keiner tut es. Psychologin Katharina Beyerl erklärt im Interview, was uns davon abhält und wie wir unser Verhalten im Alltag ändern können. Frau Beyerl, der Klimawandel wird weltweit als eine der größten Bedrohungen wahrgenommen. Trotz dieses Bewusstseins scheinen die Bemühungen um den Klimaschutz zu stagnieren. Wie ist das zu erklären? Die globale Weltgemeinschaft erkennt und versteht das Problem des Klimawandels mit seinen schwerwiegenden Folgen immer besser. Ich sehe in vielen Bereichen, dass die Bemühungen um den Klimaschutz zunehmen. Allerdings sind diese bei Weitem noch nicht ausreichend, um ein 2-Grad-Ziel auch nur annähernd zu erreichen. Aktive Bemühungen zum Klimaschutz finden nicht nur auf internationaler oder nationaler Ebene statt, sondern auch regional, kommunal und individuell. Jedoch sind diese in den Medien und der allgemeinen Aufmerksamkeit oft weniger präsent als andere aktuelle Themen wie zum Beispiel die Wirtschaftskrise, internationale Konflikte, Fußballevents und die Welt der Stars und Sternchen. Wir haben im Alltag viele Dinge, die uns beschäftigen, und wir lenken uns auch gerne ab. Politik und Wirtschaft versuchen, bei der Umstellung der Energieversorgung auf nicht-fossile Brennstoffe gleichzeitig das Wirtschaftswachstum beizubehalten. Umstellung und Verhandlungen brauchen jedoch Zeit. Damit die Menge der Treibhausgase in der Atmosphäre in dieser Zeit jedoch weniger drastisch zunimmt, ist auch das tägliche Verhalten jedes Einzelnen wichtig, denn alle Emissionen zählen. Welche Faktoren haben Einfluss auf unser Verhalten? Lange war Umweltbewusstsein ein großes Thema und wie man Verständnis für die Problematik des Klimawandels schaffen kann. Jedoch ist das nur ein relevanter Faktor. Selbst wenn man den Klimawandel als Problem erkannt hat und sehr umweltbewusst eingestellt ist, heißt das nicht unbedingt, dass man sich auch immer klimaschützend verhält. Neben unseren Einstellungen, Werten und persönlichen Normen spielen auch unser Lebensstil, unsere Gewohnheiten und das Vorhandensein nachhaltiger Verhaltensangebote eine wichtige Rolle. Damit klimaschützende Verhaltensangebote für die Bevölkerung geschaffen werden können, muss das Problem jedoch erst einmal auch jenen bewusst werden, die in Politik und Wirtschaft entsprechende Entscheidungen treffen. Sonst werden nachhaltige Alternativen gar nicht erst in Erwägung gezogen. Weshalb bleibt der Klimawandel für viele Menschen so abstrakt, obwohl die Auswirkungen schon konkret spürbar sind? Ursache und Wirkung sind beim Klimawandel für uns Menschen nicht so offensichtlich. Dass die Emission von Treibhausgasen durch unsere tägliche Energienutzung die Ursache für die globale Erwärmung und Versauerung der Ozeane sind, können wir rein intellektuell zwar verstehen, jedoch spüren wir das im Alltag so kaum. Erschwerend kommt hinzu, dass die Folgen zeitlich verzögert eintreten und wir, überspitzt gesagt, nicht für jedes Kohlekraftwerk direkt einen Hurrikan oder eine Dürreperiode ernten. Und nicht zuletzt sind es Millionen Menschen, die mit vielen einzelnen Handlungen jeden Tag 8 Umweltinstitut München e.V. durch ihren Konsum, durch Autofahrten und Flüge oder durch das Steak aus Argentinien auf dem Teller bewusst oder unbewusst zum Klimawandel beitragen. Wir merken zwar, dass Hitzewellen häufiger und intensiver sind als früher, dass sich Jahreszeiten verschieben, sich Niederschlagsmengen oder auch Extremwetterereignisse ändern. Jedoch ist es schwer für uns zu unterscheiden, was normale Schwankungen des Wetters sind und was langfristiger, globaler Klimawandel. Der Umgang mit Veränderungen und Wetterextremen setzt zudem auch nicht unbedingt an der Ursache des Problems an, sondern trägt teilweise sogar dazu bei, wie etwa das Anschalten von Klimaanlagen während einer Hitzewelle zeigt. Nur wenige Menschen verhalten sich konsequent umweltbewusst. Was könnte uns motivieren, unser eigenes Verhalten nachhaltig zu ändern? Sich konsequent umweltbewusst zu verhalten ist in einer modernen Gesellschaft nicht immer einfach, da wir in vielen Bereichen auf die Infrastruktur angewiesen sind, die wir nutzen. Das betrifft die Energieversorgung in Gebäuden, die Mobilität oder den Konsum von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs, die alle mit einem gewissen Aufwand an Energie produziert wurden und oft lange Transportwege hinter sich haben. Globale Produktionsketten sind komplex und die Wirkungen unserer Konsumentscheidungen schwer für den Einzelnen nachvollziehbar. Wie gesagt, es gibt viele Faktoren, die unser Verhalten beeinflussen, darunter Gewohnheiten, Einstellungen, Werte, unser soziales Umfeld und Vorbilder, aber auch die objektiven Möglichkeiten, sich klimaschützend zu verhalten. Im Alltag stoßen die individuellen Möglichkeiten aber oft an Grenzen, denn es ist kaum möglich, bei jedem Schritt die eigene CO2-Bilanz zu beachten. Deshalb sehe ich auch Politik und Wirtschaft in der Verantwortung, nachhaltige und attraktive Verhaltensangebote zu fördern, so dass Klimaschutz für den Einzelnen zum Stan- 09/2015 dard wird, ohne viel nachdenken zu müssen. Gleichzeitig ist eine Vorbildwirkung bekannter und akzeptierter Persönlichkeiten und Institutionen relevant. Wenn alle öffentlichen Einrichtungen auf Ökostrom umsteigen würden, Elektroautos anschaffen, in den Kantinen zunehmend regionale und ökologische Zutaten nutzen oder mehr vegetarische Gerichte anbieten würden, wäre das schon ein Zeichen. Regionale, saisonale und nachhaltig produzierte Produkte schmecken oft besser und haben zudem keine langen Transportwege hinter sich. Nicht jeden Tag Fleisch zu essen hilft auch schon. Ebenso kann man Stromfresser im Haushalt identifizieren und reduzieren, schaltbare Steckerleisten nutzen, Standby vermeiden und einer Energiegenossenschaft beitreten. Auch die Medien spielen eine wichtige Rolle, denn wenn sie nachhaltige Lebensstile als hip, modern, erstrebenswert und machbar darstellen, kann das soziale Normen schaffen. Wirkliche Transformation braucht mehrere Ansatzpunkte. Hausbesitzer können das eigene Haus energetisch sanieren und eigenen Strom produzieren. Informationsangebote von Verbraucherzentralen helfen zum Beispiel bei Haushaltsentscheidungen weiter. Auch zertifiziert nachhaltige Geldanlagen können dazu beitragen, Wandel zur Nachhaltigkeit zu unterstützen. Was raten Sie Menschen, die sich für den Klimaschutz engagieren möchten, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen? Selbst aktiv zum Klimaschutz beitragen kann man in unterschiedlichen Bereichen, privat im Haushalt und beim täglichen Einkauf, im Beruf, vor Ort in der Kommune bis hin zu politischem Engagement. Zudem ist es möglich, sich am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder auch politisch zu engagieren. Wer Wege sucht, wird auch Ansatzpunkte finden. Erreichbare, klare Ziele helfen bei der Umsetzung. Herzlichen Dank für das Gespräch! Es ist sinnvoll, die eigenen Konsumentscheidungen zu überdenken, denn so kann jeder seinen ökologischen Fußabdruck reduzieren und gleichzeitig auch eine gewisse Nachfrage an den Markt und die Politik stellen. Das beginnt beim Stromanbieter, den man schnell und unkompliziert wechseln kann, oder bei täglichen Entscheidungen der Verkehrsmittelwahl, und betrifft ebenso unsere Einkaufsund Essgewohnheiten. Man kann sich fragen, ob es wirklich ein großes Geländeauto sein muss oder ob ein Elektroauto nicht sogar schicker und moderner ist. INTERVIEW FOTOS Joy Mann, Franziska Buch Pixelio / Rainer Sturm Katharina Beyerl Zur Person Katharina Beyerl ist Psychologin mit Arbeitsschwerpunkt Umweltpsychologie. Sie arbeitet seit 2012 am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Katharina Beyerl beschäftigt sich mit Fragen der Wahrnehmung von Umweltveränderungen und des Klimawandels sowie mit der Motivation von Menschen, auf globalen Wandel zu reagieren. Münchner Stadtgespräche Nr. 72 09/2015 9 Stillstand der Diplomatie Auch nach 20 Klimakonferenzen zeigen sich bei den internationalen Verhandlungen kaum Fortschritte. Unterdessen schreitet der Klimawandel weiter voran. Was muss noch geschehen, damit endlich etwas passiert? N ach dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die Hoffnungen groß, dass sich die Weltkonferenzen der Vereinten Nationen in den 1990er Jahren den dringenden sozialen und ökologischen Problemen zuwenden und neue Lösungswege vor allem für die grenzüberschreitenden Probleme erarbeiten würden. Dazu gehört auch der Klimawandel, dem durch staatliche Verhandlungen sowie den Dialog unter staatlichen, privatwirtschaftlichen und nicht-staatlichen Akteuren Einhalt geboten werden sollte. Doch nach 20-jährigen Verhandlungen – die erste UN-Klimakonferenz (COP I) tagte 1995 in Berlin – gleichen die Konferenzergebnisse einem Scherbenhaufen. Derweil erhitzt sich die Erde weiter. Die mittlere globale Oberflächentemperatur ist seit Ende des 19. Jahrhunderts um knapp 0,9 °C angestiegen. Der Ausstoß an Treibhausgasen hat von rund 23 Milliarden Tonnen im Jahr 1995 auf gigantische 32,8 Milliarden im Jahr 2013 zugenommen, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Warum lässt die Kli- mawende auf sich warten? Und warum wird auch das Dokument, das bei der 21. Klimakonferenz in Paris verabschiedet wird, aller Wahrscheinlichkeit nach so flexibel gestaltet, dass eine globale Reduktion der Treibhausgase nicht gelingen kann? Vor allem ein interner, die Logik der Klimaverhandlungen selbst betreffender, und ein externer, die politisch-ökonomische Logik betreffender Grund können dafür angeführt werden. Das eigentliche Problem bleibt unberührt Die Erfolglosigkeit der internationalen Klimapolitik lässt sich damit erklären, dass die Verhandlungen nie zum Problemkern – dem nuklear-fossilen Energie- und Wirtschaftssystem – vordringen konnten und die marktwirtschaftlichen Instrumente, mit denen dem Klimawandel begegnet werden soll, diesen Kern gar nicht berühren. Der Klimawandel wird nicht als zentrales Problem einer ressourcenintensiven Produktions- und Konsumweise angegangen, die durch die Verbrennung fossiler Energien erst möglich wird. Insbesondere die 10 Umweltinstitut München e.V. zerstörerische Kraft von Kohle, Gas und Öl bleibt jenseits des Horizonts der internationalen Klimapolitik. Vielmehr wird die Reduktion von Emissionen als Ziel des Klimaschutzes zum zentralen Ansatzpunkt erklärt. Profitstreben statt Vermeidung Damit ist allerdings nicht nur oder nur am Rande die Vermeidung der Emissionen gemeint, vielmehr geht es lediglich um den Umgang mit ihnen und ihren Auswirkungen. Klimaschutz wird so zum umfassenden Modernisierungsprojekt, das statt auf die Verminderung von CO2-Emissionen auf den Emissionshandel, die Verpressung der schädlichen Emissionen in die Erdkruste, Projekte zum Klimaschutz oder den Anbau von Wald-Monokulturen abzielt. Weitergehende Vorschläge umfassen gar die Düngung der Weltmeere zur verbesserten Aufnahme von Emissionen oder Sonnenschilde im Weltraum, die die Sonneneinstrahlung verringern sollen. Gemeinsam ist diesen Projekten der Grundgedanke, dass Emissionen real oder zumindest rechnerisch neutralisiert werden können. So wird nicht nur die eigentlich angestrebte Verminderung der Emissionen umgangen, vielmehr wird aus dieser Strategie auch noch ein profitables Geschäftsmodell. Den Maßnahmen, die hier ansetzen, kann auch von den starken staatlichen wie privatwirtschaftlichen Akteuren zugestimmt werden, die eine internationale Besteuerung der fossilen Energien oder gar eine Abkehr von diesen Energieträgern strikt ablehnen. Die Widersprüchlichkeit, die sich zwischen den erkannten Notwendigkeiten auf der einen und den Handlungsansätzen auf der anderen Seite ergeben, wurde jüngst auch beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau deutlich. Dort formulierte Bundeskanzlerin Merkel mit einigem medialen Erfolg die Dekarbonisierung als politisches Ziel. Auf nationaler Ebene 09/2015 aber musste Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel seine geplante Kohle-Abgabe aufgrund der erheblichen Widerstände aus der Energiewirtschaft aufgeben. Damit sind wir beim zweiten, externen Grund: Rund um den Globus zeigt sich, dass sich erhebliche Widerstände innerhalb der Regierungen in den Industrie- wie in den Schwellenländern regen, wenn es um anspruchsvolle und weitreichende Reduktionsziele geht. Dagegen sprechen staatliche wie wirtschaftliche Interessen, die sich an ökonomischer Prosperität und Wachstum orientieren. Deshalb wird das weltweite Angebot an fossilen Energien mit hoher Wahrscheinlichkeit noch bis 2040 kontinuierlich ansteigen. Die Prognosen, die der World Energy Outlook 2014 präsentierte, sind klimapolitisch jedenfalls mehr als alarmierend. Sowohl der Gas- als auch der Kohle- und Ölverbrauch wird steigen. Eine große Bedeutung kommt der unkonventionellen Gas- und Ölförderung (Fracking) zu. Der Anteil der neuen erneuerbaren Energien (Geothermie, Solar-, Wind- und Meeresenergie) an der Primär-Energieversorgung beläuft sich heute auf rund ein Prozent. Dieser Anteil wird nur langsam ansteigen. Trendwende muss erst durchgesetzt werden Diese Entwicklungen und ihre Auswirkungen werden bei den jährlichen Klimaverhandlungen nicht thematisiert. Sie verdeutlichen aber, dass eine Trendwende in der auf fossilen Energieträgern basierenden Energiewirtschaft erst noch – und zwar gegen machtvolle Interessen – angestoßen und durchgesetzt werden muss. Ökonomische Prozesse der Inwertsetzung der Natur, freier Warenhandel, Wachstum und Lebensstil- bzw. Konsumfragen sind nach wie vor wirkmächtig. Zudem bringt das beachtliche Wirtschaftswachstum in den BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China neue Während der Klimakonferenz 2007 in Bali und dem G8-Gipfel in Heiligendamm ist eine eher konferenzkritische neue Protestbewegung entstanden. Münchner Stadtgespräche Nr. 72 Konkurrenten auf dem Weltmarkt hervor, deren steigender Verbrauch an fossilen Energieträgern ganz wesentlich zum globalen Anstieg an Treibhausgasen beiträgt. Weder die Schwellenländer noch die Industrieländer übernehmen – jenseits regelmäßiger internationaler Symbolpolitik – eine Vorreiterrolle. Im Gegenteil: Lange Jahre waren die USA mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der internationalen Klimapolitik isoliert. Im Dezember 2011 gab aber auch Kanada seinen Ausstieg aus dem völkerrechtlich verbindlichen Kyoto-Protokoll bekannt, und auch Russland, Neuseeland und Japan haben sich später verabschiedet. Damit ist die absurde Situation eingetreten, dass die Länder, die dem Kyoto-Protokoll noch die Treue halten, lediglich 15 Prozent der globalen Emissionen auf sich vereinigen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Rede vom Scheitern der Klimaverhandlungen durchaus seine Berechtigung hat. Dabei war der Weg in die Erfolglosigkeit keinesfalls vorgezeichnet. Zu Beginn der klimapolitischen Debatte in den 1980er/1990er Jahren wurden grundsätzliche gesellschaftliche Probleme thematisiert, die in den Klimawandel eingeschrieben sind. Diese Diskussionen bewegten sich um Fragen der Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd, um die weltweite Gleichverteilung der Pro-Kopf-Emissionen, um den Zusammenhang von Armut, Reichtum und Umweltzerstörung, um den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien oder um die Frage der historischen Verantwortung für den Klimawandel und den Konsequenzen daraus. Diese umfassenderen Ansätze, die vor allem von zivilgesellschaftlichen Akteuren vorgetragen wurden, entwickelten jedoch keine Deutungs- und Durchsetzungsmacht. 09/2015 11 derten, wenn nicht tausenden von NGOs und Graswurzelbewegungen, ist eine gewisse Konkurrenz zum Climate Action Network (CAN) entstanden, das die Konferenzen von den ersten Verhandlungen an begleitete. Durch die neuen Akteure und ihre Netze werden wieder die ehemaligen Perspektiven auf den Klimawandel entwickelt, die Aspekte von Demokratie, das Ende des fossilen Energiesystems, Gerechtigkeit und neue Lebensstilformen umfassen. Doch die magnetische Anziehungskraft der internationalen UN-Klimakonferenzen ist groß, sodass Konferenz-NGOs und Protest-Bewegungen zum Gipfel 2015 in Paris aufeinander zugehen. Gleichzeitig finden im Zuge der Energiewende „Energiekämpfe“ von Umweltorganisationen, sozialen Bewegungen und engagierten BürgerInnen statt; zum Beispiel in den vom Braunkohletagebau bedrohten Dörfern in der Lausitz, in Klimacamps oder den Kommunen, die ihre nachhaltige Energieversorgung in die eigene Hand nehmen wollen. Auch die umweltpolitischen Kampagnen gegen die Gas- und Ölförderung in der Arktis oder gegen den Trassenbau für Stromleitungen, gegen die partielle Nutzung von Naturschutzgebieten für Windkraftparks oder gegen andere energiepolitische Maßnahmen sind Teil dieser Auseinandersetzungen. Die internationalen Klimaverhandlungen der UN haben längst den Anschluss an diese wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verloren; sofern sie aufgrund ihrer marktwirtschaftlichen Orientierung überhaupt ein Gespür für die Bedeutung solcher gesellschaftlichen Prozesse hatte. Viele dieser Initiativen zeigen die Erfordernisse einer weitreichenden Transformation zur Nachhaltigkeit an – aber auch die Hürden und Widerstände, die dafür noch überwunden werden müssen. Konferenzkritische Initiativen begleiten die Verhandlungen Aber auch im zivilgesellschaftlichen Feld lassen sich Veränderungen beobachten. Während der Klimakonferenz 2007 in Bali und dem G8-Gipfel im gleichen Jahr in Heiligendamm ist eine eher konferenzkritische neue Protestbewegung entstanden, die 2009 in Kopenhagen zur breiten Gegendemonstration aufrief. Mit dem transnationalen Netzwerk für Klimagerechtigkeit oder der Klimainitiative 350.org, beide mit hun- TEXT Dr. Achim Brunnengräber Fotolia 350.org www.globalpolicy.org FOTOS Zur Person Dr. Achim Brunnengräber ist Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin. Er leitet am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) ein Projekt zu gesellschaftlichen Problemen bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Er hat Forschungsprojekte zum Klimawandel und zur Klimapolitik, zu NGOs und sozialen Bewegungen sowie zu Fragen globaler Demokratie durchgeführt. Im Jahr 2000 promovierte Brunnengräber zur Einflussnahme von NGOs und ihrer transnationalen Netze auf die internationale Klimapolitik. Im Jahr 2007 legte er seine Habilitationsschrift zur „Politischen Ökonomie des Klimas“ vor. Er hat an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg (Lehramt), der FU Berlin (Diplom-Politologie) und der Universität Bremen (Diplom Entwicklungspolitik) studiert. Umweltinstitut München e.V. 12 09/2015 Großstadt Großstadtin inZeiten Zeitendes des Klimawandels Klimawandels Wer früher zum Sonnenbaden in den Süden gefahren ist, kann sich den Weg wohl in Zukunft sparen: Neuesten Studien zufolge könnte München bis 2050 ein Klima haben wie heute Verona, Nürnberg muss sich gar auf Temperaturen wie in Tunesiens Hauptstadt Tunis einstellen. Doch welche Risiken drohen einer Großstadt wie München mit der Klimaerwärmung? Und wie können wir uns dagegen rüsten? D ie Bilanzen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) zeigen es eindeutig: Heftige Hitzeperioden wie in den letzten Sommern werden wohl in Zukunft zur Normalität gehören. Deshalb steigen der Bewässerungsbedarf und die Stromnachfrage, denn viel Energie wird in die weniger umweltschonenden Kühlungen fließen. Extreme Hitze führt außerdem zu erheblichen gesundheitlichen Problemen. Nicht nur werden hitzebedingte Krankheiten wie Kreislaufprobleme häufiger auftreten. Hiervon sind besonders Kinder und alte Menschen betroffen. Auch allergene Pflanzen gewinnen an Boden, exotische Mücken wie die Malaria übertragende asiatische Tigermücke breiten sich aus und wir müssen mit einer erhöhten Pollenbelastung rechnen. Außerdem ist während der Hitzewellen die Feinstaub- und Ozonbelastung höher. Auch das Niederschlagsmuster wird sich ändern. Im Sommer gibt es weniger Regen, im Winter dafür umso mehr. Trotzdem wird es deutlich weniger schneien. Zusätzlich kann es häufiger zu starken Stürmen oder sogenannten „Starkregen-Ereignissen“ kommen, wie uns zahlreiche Sturmtiefs wie Niklas, Elon und Felix zum Jahresbeginn schon ankündigten. Städte wie München trifft der Klimawandel besonders München ist eine der am dichtesten besiedelten Großstädte Deutschlands, und das bei relativ kleiner Stadtfläche. Die Temperaturen in der Stadt liegen im Durchschnitt zwei bis drei Grad höher als im Umland, nachts sogar manchmal um zehn Grad. Dieser sogenannte Wärmeinsel-Effekt liegt vor allem an der dichten Bebauung und dem hohen Versiegelungsgrad der Stadt. Seine Intensität nimmt mit steigender Einwohnerzahl zu – und hier liegt das Problem, denn der Zuzug nach München ist enorm. Schon jetzt herrscht Wohnungsmangel und eine Nachverdichtung ist unumgänglich. Damit wächst auch der Druck auf die Freiflächen. Die Krux: Eine der wichtigsten Maßnahmen ist gerade die Entsiegelung, also die Entwicklung von Freiflächen. Was also tun? Die Städte sind für einen Großteil der Treibhausgase verantwortlich. Oberstes Gebot ist es, diese zu reduzieren. Die energetische Sanierung alter Gebäude ist wichtig, denn der Energieverbrauch hier ist enorm. Er verursacht fast die Hälfte des gesamten CO2-Ausstoßes. Neubauten müssen den Anforderungen des Klimaschutzes folgen. Und sie können nicht nur durch Dämmung oder Sonnenschutz vor dem sommerlichen Aufheizen schützen. Genauso wichtig ist der Schutz vor extremen Wetterereignissen wie Hagel, Sturm oder Starkniederschlag. Darüber hinaus muss ein Wandel in der Energieversorgung stattfinden, möglich wäre dieser durch den Ausbau der regenerativen Energiequellen. Die Stadtwerke nutzen bereits die umweltschonende Kraft-Wärme-Kopplung: Wärme, die bei der Stromerzeugung entsteht, wird ins Fernwärmenetz der Stadt eingespeist. Das Modellprojekt „Solare Nahwärme Ackermannbogen“ ist hier ein gutes Beispiel für die klimafreundliche Planung von Siedlungen. Großflächig auf Dächern angebrachte Son- Münchner Stadtgespräche Nr. 72 nenkollektoren erwärmen den Wasserspeicher im Sommer auf etwa 90 Grad, dem bis in den Januar hinein Wärme entnommen werden kann. Ein Problem: Einer der wichtigsten Träger der erneuerbaren Energien in Bayern ist die Wasserkraft. Das verfügbare Wasserangebot wird sich jedoch als Folge des Klimawandels reduzieren, was bedeutet, dass die Wasserkraftproduktion verringert wird. Frischluftschneisen müssen offen bleiben Beim Bau von Gebäuden oder Siedlungsentwicklungen kommt es außerdem auf weitere entscheidende Details an. Hierzu hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung einen ausführlichen Ergebnisbericht über Strategien und Maßnahmen erstellt. Mittlerweile können klimatische Veränderungen mit Hilfe von Klimamodellen wie etwa der DWD-Klimasimulation INKAS gut simuliert und so praktische Hinweise für die Stadtplanung abgeleitet werden. Aber auch private Eigentümer müssen beraten und finanziell gefördert werden. Denn die Stadt kann natürlich nur auf dem eigenen Grund die Bebauung bestimmen. Primär gilt: nichts in die Frischluftschneisen bauen. In München sorgt das „Alpine Pumpen“ für die Durchlüftung: Tagsüber strömt heiße Luft aus der Stadt in Richtung Alpen und kühlt dort ab. Nachts wird kalte Luft in umgekehrter Richtung 09/2015 durch Frischluftschneisen in der Stadt verteilt. Das sind unbebaute Flächen wie Parks, Friedhöfe, Sport- und Spielflächen oder Wälder, zum Beispiel der Perlacher Forst oder der Englische Garten. Diese Bereiche haben zudem ein kühleres Binnenklima, das in die überhitzten Stadträume ausstrahlen kann. Um den Wärmeinsel-Effekt zu reduzieren, ist also die Begrünung von Freiflächen und Gebäuden notwendig. In der Münchner Innenstadt ist die Bebauungsdichte jedoch so hoch, dass keine Parks mehr angelegt werden können. Hier könnte die Entsiegelung und Begrünung von Hofflächen Abhilfe schaffen. Auch eine Fassadenbegrünung hat positive Effekte: Sie mindert die Einstrahlung auf die Gebäude und schwächt so deren Erwärmung in Hitzeperioden ab. Zudem entlasten Grünflächen die Kanalnetze. Sie funktionieren nämlich wie Schwämme: Ist viel Wasser vorhanden, wird es im Boden gesammelt und zwischengespeichert. In wasserarmen Perioden kann es den Pflanzen dann zur Verdunstung bereitgestellt werden. Dabei gilt: je höher die Verdunstungsrate, desto höher die Kühlwirkung. Deshalb sollte das Regenwasser nicht mehr abgeführt werden oder versickern, sondern zwischengespeichert werden, damit es während der Hitzewellen über Vegetation und Böden verdunsten kann. In Freiham wurde etwa 13 ein neuer Wohnstandort mit dem Ziel entwickelt, den Wasserhaushalt und die Grundwasserneubildung möglichst nicht zu beeinflussen. Das Konzept: Dachbegrünung, Versickerungsanlagen und gezielte Baumpflanzung unter anderem in straßenbegleitenden Mulden. Urbanes Gärtnern – ein nützlicher Trend Aber nicht nur das städtische Baureferat kann für unsere Entlastung sorgen. Wir selber können auch einen Beitrag leisten, nicht nur bei der Reduzierung von Emissionen, sondern auch bei der Schaffung neuer Grünflächen. Und so entstehen im dicht bebauten München, wo jede Nische und kleinste Freifläche wertvoll ist, immer mehr urbane Gärten. Diese Form der urbanen Landwirtschaft auf Brachen, öffentlichen Plätzen oder Dächern sorgt nicht nur für Kühlung, sondern fördert auch die Feinstaubbindung und könnte große Niederschlagsmengen aufnehmen. Dabei wird nicht nur dem Klima Gutes getan: Die Bewegung im Grünen fördert das körperliche und psychische Wohlbefinden und die ökologischen Lebensmittel sorgen für eine gesunde Ernährung. TEXT FOTO Ruth Böcher Lukáš Hron Umweltinstitut München e.V. 14 09/2015 Adieu, ihr Gletscher Weltweit sind unsere Gletscher auf dem Rückzug, die Alpenregion ist davon besonders stark betroffen. Seit vielen Jahren hält der Schweizer Fotograf Simon Oberli diese Entwicklung mit der Kamera fest. Seine Bilder zeigen eindrücklich, was wir bald für immer verlieren werden. Z u Fuß geht es den Berg hinauf, viele Kilometer durch alpines Gelände, die schwere Fotoausrüstung ist immer dabei. Früher waren die Gipfel das Ziel von Simon Oberli, heute hat er anderes im Sinn: Gemeinsam mit seiner Frau Daniela hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Veränderungen an den Alpengletschern zu dokumentieren. „Die größte Herausforderung ist das Wiederfinden des Punktes, von dem aus die früheren Aufnahmen gemacht wurden. Je genauer dieser Punkt lokalisiert werden kann, umso genauer wird der Bildvergleich“, erklärt Oberli. Rhonegletscher 28. Juni 2007 22. Juni 2015 Münchner Stadtgespräche Nr. 72 09/2015 15 Oberaargletscher 28. Juni 2010 24. Juli 2015 Mit Hilfe eines speziellen Softwareprogrammes werden die Einzelaufnahmen am Computer zu einem Panoramabild zusammengesetzt. In stundenlanger Arbeit optimiert der Schweizer Fotograf die Bilder, bis schließlich gestochen scharfe Fotovergleiche dabei herauskommen. Das Ergebnis ist erschreckend: Innerhalb weniger Jahre sind imposante Gletscher wie der Rhonegletscher, der Steigletscher oder der Oberaargletscher kilometerweit zurückgegangen – vom „ewigen Eis“ kann keine Rede mehr sein. Im direkten Bildvergleich zeigt sich nämlich, was viele noch immer nicht wahrhaben wollen: Der Klimawandel hat längst begonnen. Und dank des unermüdlichen Engagements der Oberlis kann niemand mehr sagen, er hätte nichts davon gewusst. Die Vorher/Nachher-Bildvergleiche im Internet: http://www.gletschervergleiche.ch TEXT FOTOS Joy Mann Simon Oberli, GletscherVergleiche.ch Umweltinstitut München e.V. 16 09/2015 Auf der Flucht Überschwemmungen, Dürren und Stürme: Der Klimawandel zwingt immer mehr Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Die Flucht vor dem Klima ist schon heute ein ernstzunehmendes Problem, das sich in den kommenden Jahrzehnten noch verschärfen wird. P lötzliche Überflutungen, extrem heftige Stürme, langanhaltende Dürren und Hitzewellen führen insbesondere in den sogenannten Entwicklungsländern zunehmend zu Katastrophen, die große Schäden, hohe Verluste, humanitäre Not, Vertreibung und Todesfälle verursachen. Auch schleichende Umweltveränderungen wie der Meeresspiegelanstieg oder die Versalzung von fruchtbarem Boden bewirken, dass sich gerade arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen aus ländlichen Gebieten schon heute nicht mehr aus eigener Kraft versorgen können und sich gezwungen sehen, ihr Land zu verlassen. Es sind vor allem arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die am stärksten betroffen sind: Jene Menschen, denen ohnehin schon der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen, zu materiellen und immateriellen Ressourcen und die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird. Versinkende Lebenswelten Anfällig gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels sind kleine Inselstaaten und tief liegende Küstengebiete, etwa in der Nähe großer Flussmündungen. Weltweit könnten langfristig über 300 Millionen Menschen allein wegen des Anstieges der Meeresspiegel gezwungen sein, dauerhaft ihre Siedlungsgebiete zu verlassen, darunter fast die Hälfte der Bevölkerung Bangladeschs. Besonders betroffen sind auch die 22 südpazifischen Inselstaaten wie Kiribati, die Marschallinseln oder Tuvalu mit ihren insgesamt knapp sie- ben Millionen Einwohnern. Viele dieser Inseln sind derart flach, dass auf ihnen kaum neue Siedlungsmöglichkeiten bestehen, wenn das Wasser einmal dauerhaft gestiegen ist. Angesichts der immensen Kosten wird es für viele Inselstaaten unmöglich sein, sich mit immer höheren Deichbauten vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. Einige der betroffenen Inseln werden mittel- bis langfristig ihr Territorium komplett und dauerhaft verlieren, wenn sie nicht schon lange vorher durch fortschreitende Versalzung der Böden und häufige Überflutung unbewohnbar geworden sind. Dieses apokalyptische Szenario ist nicht mehr nur eine Zukunftsvision, sondern es hat längst begonnen. Auf den Carteret-Inseln im pazifischen Ozean ist der Klimawandel schon jetzt unwiderruflich angekommen: Der gestiegene Meeresspiegel entwurzelt Palmwälder und vernichtet Bananenplantagen. Die Kohlendioxid-Exzesse der Industrienationen führen dazu, dass der Pazifik das Atoll überfluten wird. Die Lebensgrundlagen vor Ort sind weitestgehend vernichtet und seine BewohnerInnen müssen evakuiert oder umgesiedelt werden – auf dieses Atlantis des 21. Jahrhunderts werden weitere folgen. 40 Millionen Unschuldige NomadInnen tragen mit ihrem traditionellen Lebensstil unwesentlich zum Klimawandel bei. Sie spüren die Veränderungen des Klimas aber schon heute, denn er bringt etwa für die nomadische Bevölkerung in Ostafrika große Probleme mit sich: unbeständiger und unvorherseh- Münchner Stadtgespräche Nr. 72 barer Regenfall und längere Trockenperioden in immer kürzeren Abständen. Nomadische Bevölkerungsgruppen gibt es auf allen Kontinenten der Erde, vor allem aber in Zentralasien und in Afrika. Hier leben sie häufig in extrem wasserarmen Regionen wie beispielsweise den ariden und semi-ariden Gebieten des östlichen Afrikas. Die weltweit ca. 40 Millionen NomadInnen lernten über Generationen, mittels spezieller Kulturtechniken in zumeist wasserarmen Gebieten zu überleben. Doch das Fortbestehen des nomadischen Lebens ist zunehmend gefährdet. Nomaden aus Äthiopien berichten, wie der Regen seine traditionelle Regelmäßigkeit einbüßt und zugleich die Temperaturen ansteigen. Im Ergebnis verenden große Teile der Herden aufgrund des Wasser- und Futtermangels. Geht das Nutzvieh als einziges Hab und Gut verloren, droht das endgültige Ende der nomadischen Lebensweise. Aber nicht nur die Wanderhirten in den Trockenregionen der Erde sind betroffen, auch die mit ihren Rentierherden umherziehenden NomadInnen im Norden Europas verlieren durch milder werdende Winter ihre Lebensgrundlagen. Wenn die Temperaturen steigen und die Böden der Taiga nicht mehr lange genug gefrieren, versinken die Tiere mit ihren Hufen im morastigen Grund und ein Umherziehen wird unmöglich. Eine erzwungene Sesshaftigkeit in fruchtbareren Gebieten kann jedoch Konflikte mit anderen Bevölkerungsgruppen um die vorhandenen Ressourcen nach sich ziehen. Schon heute stehen sich im Sudan NomadInnen und sesshafte Bauern in einem blutigen Bürgerkrieg gegenüber und konkurrieren um Wasserressourcen und um Weide- oder Ackerland. Im subsaharischen Afrika bleibt den Vertriebenen oft nur die perspektivlose Existenz in den Lagern der internationalen Hilfsagenturen oder die Abwanderung in die informellen Siedlungen und Slums der neuen Megastädte. Die ersten Boten Bangladesch ist einer der Frontstaaten des Klimawandelgeschehens. Der Meeresspiegel steigt und bedroht den Lebensraum von Millionen armen Menschen, die unmittelbar an der Flutkante leben. Das Schicksal des Kleinbauern Rahula Amin, der durch die Folgen des Klimawandels beinahe sein gesamtes Hab und Gut verloren hat, steht für die vielen ungezählten anderen, denen Ähnliches droht. Rahula lebt unter ärmlichen Verhältnissen mit seiner neunköpfigen Familie in Dhania, einem kleinen Dorf im Süden Bangladeschs. Als Tagelöhner verdient er gerade das Nötigste, um seine Familie versorgen zu können. Die Erträge eines kleinen Flecken Landes sichern zusätzlich den Eigenbedarf. Früher lebte die Familie in einem anderen Dorf, besaß ein ausreichend großes Haus und genug Land, um einen bescheidenen Wohlstand zu erwirtschaften. Doch durch wiederkehrende Fluten, die den Boden abtrugen und die Ernten zerstörten, verlor die Familie nach und nach alles. Neue Fluten zwangen sie siebenmal zum Umziehen, die Ersparnisse wurden verbraucht. Schlussendlich verließ die Familie ihr Heimatdorf, um in das benachbarte, vor den Fluten geschützte Dhania zu ziehen. 09/2015 17 Dies geschah vor 30 Jahren. In dem damals flutgeschützten Dorf wurde ein kleineres Stück Land und ein kleineres Haus erworben. Aber vor zehn Jahren erreichte die Flut auch diese Siedlung. Wieder waren es die Fluten und Landabtragungen, die den Amins ihren Besitz entrissen. Seit dieser Zeit kämpfen Rahula und seine Frau um das blanke Überleben der Familie. Auch wenn Rahula immer wieder an die weitere Flucht in eine der dem Wasser fernen Großstädte im Norden des Landes denkt, ist dies keine unmittelbare Lösung. Weder besitzt die Familie genug Rücklagen für einen weiteren Umzug, noch möchte Rahula seine Mutter zurücklassen. Für die betagte Frau wäre ein weiterer Umzug mit Sicherheit einer zu viel. Für eine solidarische Klimamigrationspolitik Angesichts solcher Szenarien stellen sich grundsätzliche Fragen: Wer schützt die Menschen, die aufgrund von Klimawandelfolgen fliehen müssen? Und was ist mit denen, die nicht über die Mittel verfügen, sich in Sicherheit zu bringen? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn Menschen aufgrund plötzlicher Klimakatastrophen oder schleichender Umweltveränderungen alles verlieren? Wichtig ist, dass die Antworten und Konzepte, seien sie lokal, regional oder global, eng mit menschenrechtlichen Prinzipien verknüpft werden. Das heißt, dass die Ursachen von Verwundbarkeit, wie Armut, Diskriminierung oder Ungleichheit bekämpft werden müssen. Die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimawandelfolgen muss gestärkt und Kapazitäten zur Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels geschaffen werden. Vielversprechend ist auch die Nansen-Initiative, die explizit auf den Schutz von Menschen zielt, die sich in der Folge einer Naturkatastrophe über eine Staatsgrenze hinweg bewegen. Im Oktober soll eine Schutzagenda verabschiedet werden. Ihre Prinzipien und Empfehlungen werden nicht bindend sein. Dennoch versuchen Staaten, hier ein gemeinsames Verständnis von Handlungsnotwendigkeiten zu entwickeln. Ziel ist es, einen internationalen Konsens zu erreichen, der die zwischenstaatliche Kooperation, Schutznormen für Betroffene und die Rolle der humanitären Hilfe bestimmen. Ein weiterer wichtiger Schritt für den richtigen Umgang mit durch den Klimawandel verursachter Migration steht kurz bevor: Im Dezember soll in Paris ein internationales Klimaabkommen verabschiedet werden. Dieses Klimaabkommen muss rechtsverbindliche gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortlichkeiten aller Länder umfassen. Es muss faire und ehrgeizige Ziele festschrieben. Nur so kann es gelingen, die globale Erwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen. TEXT FOTO Sophia Wirsching / Brot für die Welt Broschüre „Auf der Flucht vor dem Klima“ (Amnesty Interna- tional, Brot für die Welt, DGVN, medico international, German Watch, Oxfam Deutschland, Förderverein PRO ASYL) Pixelio / Dr. Stephan Barth Umweltinstitut München e.V. 18 09/2015 Und jährlich grüßt die Klimakonferenz Nicht der internationale Klimagipfel, sondern das Geschäft mit den fossilen Brennstoffen Kohle, Gas und Öl steht dieses Jahr im besonderen Fokus der Klimabewegung. E nde November ist es wieder soweit: Zahlreiche Regierungsdelegationen treffen sich in Paris zum Klimagipfel der Vereinten Nationen. Seit Inkrafttreten der UN-Klimarahmenkonvention 1995 jähren sich die internationalen Klimaverhandlungen dann zum 21. Mal, doch trotz der über 20-jährigen(!) Geschichte sind die Erfolge der internationalen Klimapolitik mehr als dürftig. Zwar gab es vereinzelt Vereinbarungen zur Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase, doch sind die globalen Emissionen als Folge des rasanten Wirtschaftswachstums seit 1990 kontinuierlich weiter gestiegen. auch: Die UN-Klimaverhandlungen sind seit einiger Zeit festgefahren. Unauflösbare Interessenskonflikte stehen der Durchsetzung eines globalen Vertrags zur Reduzierung der Klimaerwärmung gegenüber. Wegweisend für globalen Klimaschutz? Im Jahr 2009 in Kopenhagen zeigte sich besonders deutlich, dass die Bekämpfung der Klimakrise mit zahlreichen anderen politischen Zielen konkurriert. In Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise und mit dem Erstarken der Schwellenländer gewann besonders in den Ländern des Nordens eine „Politik der Sachzwänge“ die Oberhand, die auf eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist. Ähnlich wie im Vorfeld des Kopenhagener Gipfels 2009 liegt auf den Verhandlungen in Paris heute wieder die allgemeine Erwartung, sie brächten den nötigen „Wendepunkt hin zu einem effektiven Klimaabkommen“. Doch ist dieser Optimismus berechtigt? Fest steht, die Notwendigkeit wirksamen Klimaschutzes ist unbestreitbar und wird mit jedem weiteren Bericht des Weltklimarats IPCC deutlicher. Doch klar ist Diese Strategie steht jedoch im Widerspruch zu einer auf Konsens zielenden internationalen Klimapolitik. Es wurde nicht der Versuch unternommen, sozialen Wohlstand und Klimaschutz vereinbar zu machen, etwa durch eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum als Allheilmittel. Der Gipfel in Kopenhagen wurde auch deshalb zum klimapolitischen Desas- Münchner Stadtgespräche Nr. 72 ter, denn auf ein bindendes globales Abkommen konnten sich die Staaten entgegen der Ankündigungen nicht einigen. In der Folge hat sich die Einstellung der umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen sowie der sozialen Bewegungen deutlich verändert. Seit der Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen haben sich diese Akteure zwei Jahrzehnte lang intensiv mit Forderungen in die internationale Klimapolitik eingebracht und die Debatte um die Verhandlungen beobachtet und begleitet. Sie setzten darauf, dass auf dieser Ebene entscheidende Fortschritte zur Vermeidung katastrophaler Auswirkungen des Klimawandels erreicht werden. Doch inzwischen ist für viele KlimaschützerInnen klar: Auch in Paris werden die Privilegien der größten Klimasünder nicht entscheidend angetastet werden und die offensichtlich gewordenen Interessenskonflikte der Staaten werden zur Aufweichung der ambitionierten Ziele führen. Ausstieg aus den fossilen Energien Bei vielen hat sich diese Erkenntnis aus dem Kopenhagener Gipfel in den letzten Jahren gefestigt, denn bei den Klimaverhandlungen konnte immer wieder beobachtet werden, dass den Worten kaum Taten folgen und die Bemühungen um ein wirksames globales Klimaabkommen erfolglos bleiben. Um das politisch gesetzte Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, noch erreichen zu können, haben viele Nichtregierungsorganisationen nun den Fokus ihrer klimapolitischen Arbeit angepasst. Aktivitäten werden nicht mehr primär auf die internationalen Verhandlungen verengt, sondern die nationale Energiepolitik und die fossile Energieindustrie als Verursacher eines Großteils der klimaschädlichen Emissionen werden als zentrale Felder klimapolitischer Auseinandersetzungen wiederentdeckt. Insbesondere die direkte Auseinandersetzung mit den größten Klimasündern ist für viele etablierte Organisationen neu. Sie folgen damit einem Pfad, der in den Jahren zuvor vor allem von Graswurzel-AktivistInnen verfolgt wurde. Diese kritisierten den Fokus der internationalen Klimaverhandlungen auf die Reduktion von Emissionen, also die Output-Seite des fossilen Energiesystems. Mit Protesten an Kohleminen oder fossilen Großkraftwerken machten sie deutlich, dass auch die Energieträger Kohle, Gas und Öl selbst in den Blick genommen werden müssen. Protest gegen die größten Klimasünder Eigentlich ist es offensichtlich: Nur wenn sich die Zusammensetzung unseres Energiemixes grundlegend ändert und der globale Energieverbrauch reduziert wird, können wir unsere Klimaziele erreichen. Das bedeutet aber auch, die fossile Energiegewinnung in Frage zu stellen und die Privilegien der Öl-, Gas- und Kohleunternehmen einzuschränken. Die Neu-Orientierung der Klimabewegung hin zur nationalen Energiepolitik und auf die fossile Industrie zeigt sich in den Protest-Aktivitäten im Vorfeld des Pariser Klimagipfels. Auch im Sommer 2015 fanden wie in den Jahren zuvor in zahlreichen Ländern sogenannte Kli- 09/2015 19 macamps statt – Zeltlager, die als Orte (klima)politischer Debatten und zugleich Ausgangspunkte für Aktionen zivilen Ungehorsams gegen zentrale Treibhausgasemittenten dienen. Bis dato unbekannte Unterstützung und Solidarität erfuhr eine angekündigte Braunkohletagebau-Besetzung im Rheinland Mitte August dieses Jahres. Während ein internationales Bündnis von Gruppen zu dieser Aktion zivilen Ungehorsams unter dem Motto „Ende Gelände“ aufrief, solidarisierten sich zahlreiche weitere Organisationen, darunter auch große Umweltverbände wie der BUND und Entwicklungsorganisationen wie Oxfam mit dem Protest. Mehrere hundert Menschen versammelten sich am Braunkohletagebau Garzweiler, um durch die kurzzeitige Behinderung des dortigen Abbau-Betriebs ein Zeichen für den Kohleausstieg zu setzen. Die Klimabewegung behält das letzte Wort Kurz vor Beginn der Klima-Verhandlungen in Paris sind in zahlreichen Hauptstädten weltweit Großdemonstrationen geplant. Sinn und Stoßrichtung dieser Veranstaltungen ist jedoch innerhalb der Verbände und der Klimabewegung höchst umstritten. Während die wenigen Fürsprecher den Regierungsdelegationen kurz vor deren Abflug nach Paris ein deutliches Signal auf den Weg mitgeben wollen, steht ein Großteil diesem Vorhaben skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dadurch werde nur erneut in der Bevölkerung die falsche Hoffnung genährt, mit Hilfe kurzfristigen Protests könne es beim Klimagipfel einen Durchbruch für den globalen Klimaschutz geben. Angesicht der festgefahrenen internationalen Verhandlungen müssten die politischen Entscheidungen auf nationalstaatlicher und lokaler Ebene in den Blick rücken. Die Planung einer großen Demonstration zum Ende der Verhandlungen in Paris ist Ausdruck dieser vom Großteil der NGOs und Initiativen geteilten Überzeugung. Unter dem Motto „Die Klimabewegung behält das letzte Wort“ fordern sie: Für wirklichen Klimaschutz braucht es nationale Energiewenden! Sie fordern den Ausstieg aus der besonders klimaschädlichen Kohleverstromung und warnen davor, nun großräumig in die unkonventionelle Öl- und Gasförderung einzusteigen, die extrem energieintensiv und umweltschädlich ist, wie das Beispiel Fracking zeigt. Mit diesem Abschluss soll zugleich ein Gegenpol zu dem auf der Klimakonferenz betriebenen „Greenwashing“ entstehen. Denn seit langem werden die Verhandlungen von genau den Konzernen gesponsert und beeinflusst, die am wenigsten Interesse an einer wirksamen Klimapolitik haben. Die Botschaft der Klimabewegung ist klar: Fossile Energien sind klimaschädlich. Anstatt sie weiter auszubeuten, brauchen wir eine konsequente Energiewende. Alternativen für eine umfassende Transformation zu einer sozial-ökologisch gerechten Gesellschaft sind vorhanden und realisierbar. TEXT FOTO Philip Bedall Robin Wood e.V. 350.org 20 Umweltinstitut München e.V. 09/2015 Kein Klimaschutz ohne Agrarwende Wenn wir vom Klimawandel reden, müssen wir auch über unsere Landwirtschaft sprechen. Denn die Ausbreitung von Wüsten, die Versalzung von Grundwasser, Dürren, Überschwemmungen, Unwetter und die Instabilität ganzer Ökosysteme treffen diejenigen besonders hart, die unsere Lebensmittel produzieren. Gleichzeitig trägt die industrielle Landwirtschaft immer stärker zum Klimawandel bei. I n der Landwirtschaft werden große Mengen an Treibhausgasen freigesetzt. Neben Kohlenstoffdioxid (CO2) handelt es sich dabei vor allem um Methan und um Lachgas. Methan wirkt in der Atmosphäre etwa 28 Mal stärker als Kohlendioxid, es entsteht beim Reisanbau und bei der Rinderzucht. Lachgas ist gleich 265 Mal so klimaschädlich wie CO2 und entsteht bei der Düngung mit Stickstoff und bei der Lagerung und Bearbeitung von Gülle. Wichtige CO2-Quellen sind außerdem die Produktion von Düngemitteln und Pestiziden, der Energieverbrauch von Landmaschinen und sogenannte „Landnutzungsänderungen“. Hinter Letzterem verbirgt sich unter anderem die Abholzung von Wäldern, um Land für Viehhaltung, Ackerbau und den Anbau von Energiepflanzen zu gewinnen. Auf etwa 18 Millionen Hektar Land – das entspricht etwa der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Bundesrepublik – werden heute in Amerika Futtermittel für Europas Ställe produziert. Die steigende Nachfrage nach Fleisch und nach Agrartreibstoffen hat besonders in Südamerika gravierende Folgen: Regenwald wird abgeholzt und durch Soja- oder Mais-Monokulturen ersetzt. Landnutzungsänderungen verstärken den Klimawandel Eine weitere Landnutzungsänderung ist der sogenannte Grünlandumbruch. Wenn Wiesen und Weiden zu Ackerland umgepflügt werden, wird der Boden durchlüftet und die Bodenlebewesen beginnen, organisches Material und Humus abzubauen. Kohlenstoff, der im Boden gebunden war, gelangt als CO2 in die Atmosphäre und verstärkt den Klimawandel. In kleinerem Maßstab geschieht das jedes Mal, wenn gepflügt wird oder wenn der Boden bei Plusgraden nicht bewachsen ist. Diese Landnutzungsänderungen sind die größten CO2-Quellen in der Landwirtschaft. Umgekehrt liegt darin jedoch auch eine große Chance, den Kohlenstoff wieder zu binden. Denn ein Betrieb, der mit dem Boden und den Bodenlebewesen gut umgeht, kann Münchner Stadtgespräche Nr. 72 den Humusgehalt erheblich erhöhen. Das ist nicht nur gut für‘s Klima, sondern auch für den Ertrag. In Bayern bindet ein Hektar BioAcker pro Jahr durchschnittlich 400 Kilogramm CO2 dauerhaft im Boden. Ökologische Landwirtschaft ist praktizierter Klimaschutz – auch weil im Ökolandbau ohne Pestizide und synthetische Stickstoffdünger gearbeitet wird und kaum Futtermittel aus Südamerika importiert werden müssen. Klimakiller Kuh? Eine intensive Debatte dreht sich um die Rinderhaltung, denn Rinder produzieren bei der Verdauung Methan, das besonders klimaschädlich ist. Umgekehrt aber können sie Nahrungsmittel für Menschen auf Wiesen und Weiden erzeugen, die anders nicht bewirtschaftet werden könnten. Würde alles ackerfähige Grünland gepflügt und zum Getreideanbau genutzt, ginge sehr viel Kohlenstoff aus dem Boden in die Atmosphäre über. Ist das Rind nun ein Klimakiller oder nicht? Die Kuh, die auf der Weide steht oder Heu von den Wiesen der Umgebung frisst, ist nicht für den Klimawandel verantwortlich. Aber Kühe stehen nicht immer auf der Weide und fressen im Winter nur Heu, auch wenn uns das die Bilder auf den Verpackungen suggerieren wollen. Tiere, die Soja und Getreide fressen, sind Nahrungskonkurrenten zu uns Menschen und treiben mit ihrem Futterbedarf Landnutzungsänderungen voran. Rinder sind unter diesen – realistischen – Umständen besonders ineffizient. Weniger Tiere zu halten wäre wichtig, um den Klimawandel zu begrenzen. Wassermangel in Westafrika Ganz verhindern lässt sich der Klimawandel heute nicht mehr. Schon jetzt ist er zu spüren, zum Beispiel bei WinzerInnen in Deutschland, die heute völlig andere Rebsorten pflanzen können als noch vor zwanzig Jahren. Das klingt erst einmal positiv, doch die für uns bislang eher gering anmutenden Veränderungen und die Zunahme von extremen Wetterereignissen sind für die Landwirtschaft eine enorme Bedrohung. Im US-Bundesstaat Kalifornien herrscht beispielsweise seit 2011 eine extreme Dürre, durch die die Landwirtschaft 09/2015 einen Verlust von über zwei Milliarden Dollar erlitten hat. Am schlimmsten aber trifft es oft die Menschen, die in der Vergangenheit am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben. So wird zum Beispiel die Wasserverfügbarkeit im südlichen Mali in diesem Jahrhundert um rund zehn Prozent zurückgehen. Schuld daran sind der Klimawandel und seine Folgen: Dürren werden häufiger und die Landwirtschaft damit unsicherer. Die Wüste Sahara droht, sich langsam in Richtung Süden auszubreiten. Die Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage und müssen ihre Heimat verlassen. Vielfalt ist die Fähigkeit, sich anzupassen Ob Deutschland, Amerika oder Westafrika: Die Beispiele zeigen, dass die Landwirtschaft überall betroffen ist – unabhängig davon, wie viel Geld, Chemikalien und Maschinen wir einsetzen. Die Landwirtschaft muss also fit werden für den Klimawandel. Das zentrale Konzept dafür nennt sich Resilienz. Als Resilienz wird die Fähigkeit eines Systems bezeichnet, auf Veränderungen zu reagieren und gleichzeitig stabil zu funktionieren. Der Schlüssel zu Stabilität unter wechselhaften Bedingungen ist Vielfalt. Das gilt für einzelne Betriebe ebenso wie für ganze Ökosysteme und menschliche Gesellschaften. Doch die industrielle Landwirtschaft zerstört die Vielfalt der Ökosysteme. Die Intensivierung verdrängt die Vielfalt der Landschaften. Pestizide, Überdüngung und Monokulturen töten die Bodenlebewesen, Insekten, Vögel und Pflanzen, die in landwirtschaftlichen Flächen und um diese herum ihren Lebensraum haben. Während der Klimawandel den Ökosystemen, von denen wir leben, eine große Anpassungsleistung abfordert, nimmt die Vielfalt und damit die Resilienz dieser Systeme ab. Gleichzeitig geht auch in der industriellen Landwirtschaft die Vielfalt von Nutzpflanzen und Nutztieren zurück. Fast alle Legehennen in Deutschland stammen von nur zwei Zuchtlinien ab. Der Saatgutmarkt in Europa wird von lediglich fünf Unternehmen dominiert. 21 Sie verkaufen vor allem Saatgut, das bei der Verwendung von synthetischem Dünger und Pestiziden sehr hohe Erträge bringt. Diese Form der Landwirtschaft ist nicht in der Lage, sich an die geringere Stabilität der Ökosysteme anzupassen, die der Klimawandel mit sich bringt. Eine andere Landwirtschaft ist möglich Längst gibt es alternative Formen der Landwirtschaft, die klimafreundlicher und anpassungsfähiger sind: Die Biobetriebe machen es vor. Und dank der globalen Vernetzung können wir heute von alten und neuen Ideen aus allen Erdteilen profitieren. Aus Australien kommen die Grundlagen der Permakultur, die Kreisläufe und Beständigkeit von Systemen betont. Die Idee einer solidarischen Landwirtschaft, die VerbraucherInnen und ProduzentInnen direkt zusammenbringt, wurde in den USA entwickelt. Was können wir von Kuba lernen, das Jahrzehntelang unter dem US-Wirtschaftsembargo stand und während dieser Zeit eine Landwirtschaft entwickeln musste, die weitgehend unabhängig von Erdöl ist? Unter welchen Umständen bringt es etwas, Tiere, Gemüse und Getreide unter Bäumen zu züchten, oder Pflanzenkohlereste in den Boden einzubringen? Traditionelle landwirtschaftliche Systeme in Südamerika arbeiten damit. In einem Berliner Forschungsinstitut schlagen Tomaten ihre Wurzeln in Süßwasser, in dem Fische gezüchtet werden. Die Alternativen sind quicklebendig. Damit sie sich durchsetzen, brauchen sie die Politik, die die Regeln vorgibt und Ressourcen verteilt. Doch Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt und EU-Agrarkommissar Hogan fördern lieber weiterhin die Agrarindustrie und suchen nach Absatzmärkten für Schweinefleisch und Milchpulver, das aus Ställen kommt, die südamerikanische Gensoja verfüttern. TEXT FOTO Karl Bär Fotolia Umweltinstitut München e.V. 22 09/2015 Raus aus der Kohle! Die Divestment-Bewegung fordert dazu auf, Investitionen aus den klimaschädlichsten Unternehmen abzuziehen. Einige symbolkräftige Erfolge hat sie bereits erzielt. Auch in deutschen Städten schließen sich immer mehr Klimabewegte der Initiative an. W enn es falsch ist, zur globalen Erwärmung beizutragen und damit Ökosysteme und menschliche Lebensgrundlagen zu zerstören, dann ist es auch falsch, von dieser Zerstörung zu profitieren. Unter diesem Motto finden sich Menschen überall auf der Welt zusammen und fordern den Abzug von Geldanlagen aus dem fossilen Energiesektor. Denn der ist verantwortlich für mehr als 20 Prozent der globalen klimaschädlichen Emissionen. Unter dem Namen „Fossil Free“ startete die Divestment-Kampagne im Herbst 2012 in den USA und ist inzwischen in Neuseeland, Australien, Europa und Kanada aktiv. Neue Kampagnen in Südafrika, Japan und auf den Philippinen kamen kürzlich dazu. Die Bewegung wächst stetig: Innerhalb von nicht einmal drei Jahren gründeten Freiwillige weltweit über 600 Fossil Free-Initiativen. Der Vorteil für ehrenamtlich Engagierte: Menschen können in ihrem Wohnort aktiv werden, egal ob in Freising oder Berlin. Denn Institutionen, die im Namen der Bürger*innen Gelder anlegen, finden sich überall. Kommunen, Universitäten, Kirchengemeinden, berufsständische Versorgungswerke oder Banken investieren über Unternehmensbeteiligungen oder Aktienfonds auch in klimaschädliche Kohle-, Erdöl- und Erdgasunternehmen. Die Menschen um Fossil Free sind ak- tiv, um sich gegen eine Industrie zu stellen, welche die Klimakrise vorantreibt und seit Jahren erfolgreiche Klimapolitik verhindert, um weiterhin ihren Profit zu maximieren. Die Kohlenstoffblase wird zum Finanzrisiko Kommunen, die Geld in Unternehmen der fossilen Energie investieren, setzen dabei nicht nur das Klima aufs Spiel. Es besteht ein beträchtliches Finanzrisiko: Die sogenannte Kohlenstoffblase („carbon bubble“). Darunter versteht man eine Spekulationsblase, die aus der Unvereinbarkeit des in der internationalen Klimapolitik anerkannten Zwei-GradZiels mit der Förderung eines Großteils der bekannten Öl-, Gas- und Kohlereserven entsteht. Denn wird das politische Ziel konsequent verfolgt, verlieren zahlreiche Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft in den nächsten Jahrzehnten massiv an Wert. Der Grund dafür: Sie haben die Förderrechte an zahlreichen Lagerstätten erworben und haben diese als Vermögenswerte in ihren Bilanzen verzeichnet. Angesehene Institutionen und Expert*innen wie die Deutsche Bank und die britischen Banken HSBC und Citibank, die Internationale Energieagentur, die Ratingagentur Standard & Poor‘s, das Wirtschaftsmagazin Forbes Magazine, Bloomberg, der britische Ökonom Lord Nicholas Münchner Stadtgespräche Nr. 72 09/2015 23 „Die Finanzaktivitäten der eigenen Stadt, Universität oder Kirche sind konkret und direkt vor Ort beeinflussbar“ Stern, die London School of Economics und die Smith School der Universität Oxford warnen, dass Kohle-, Öl-, und Gasunternehmen massiv überbewertet sind. HSBC spricht beispielsweise davon, dass 40 bis 60 Prozent des Börsenkapitals von Öl- und Gasunternehmen auf dem Spiel stehen. Sie drohen als sogenannte gestrandete Vermögenswerte („stranded assets“) an Wert zu verlieren. Gestrandete Vermögenswerte sind bei dem deutschen Energiekonzern RWE, der größten CO2-Schleuder Europas, bereits Realität. Im letzten Jahr musste RWE 4,8 Milliarden Euro auf seine Kohle- und Gaskraftwerke abschreiben und machte Verluste von über 2,8 Milliarden Euro. Das hat die deutschen Kommunen hart getroffen. Denn 86 deutsche Städte und Kommunen halten insgesamt etwa 25 Prozent aller RWE-Aktien. Die Prognosen für 2015 sehen ähnlich schlecht aus, denn RWE hat ebenso wie E.on den Einstieg in die Energiewende lange verpasst. Trotzdem halten viele Kommunen an RWE fest. Divestment-Bewegung auch in Deutschland In den vergangenen Monaten ist Divestment eine anerkannte, an Einfluss gewinnende Taktik in der europäischen und deutschen Klimabewegung geworden. Mittlerweile gibt es Fossil Free-Gruppen in 18 deutschen Städten und wöchentlich schließen sich neue Klimabewegte an. Das Medieninteresse reißt nicht ab, denn einige große internationalen Divestment-Erfolge sorgten für Aufsehen. So beschloss beispielsweise das schwedische Parlament im Juni 2015, dass der Norwegische Pensionsfonds, der größte Staatsfonds der Welt, sich aus Energie- und Bergbaufirmen zurückziehen soll, bei denen das Kohlegeschäft mehr als 30 Prozent des Umsatzes ausmacht. Das wird auch RWE treffen, denn der Fonds ist mit 300 Millionen Euro an dem Unternehmen beteiligt, was etwa zwei Prozent der Unternehmensanteile entspricht. Es mag überraschend sein, dass auch immer mehr Studierende laut ausrufen: „Kein Geld mehr für Kohle, Öl und Gas!“. Nur wenigen ist bekannt, dass auch in Deutschland zahlreiche Hochschulen Stiftungsver- mögen und Finanzanlagen in Millionenhöhe verwalten. Die Universität Freiburg hat bereits positiv auf die Ideen und Forderungen der lokalen Fossil Free-Gruppe reagiert. Heidelberg, Münster, Bayreuth, Tübingen und weitere Hochschulen könnten bald folgen. Es gibt lohnenswerte Alternativen Eine besonders gute Nachricht der letzten Monate ist der Start einer Kampagne, die die Berliner Ärzteversorgung auffordert, zu deinvestieren. Alle Investments aus der Kohle-, Öl- und Gasindustrie sollen binnen fünf Jahren beendet und die frei werdenden Mittel in Anlagen für eine nachhaltige und gesunde Zukunft reinvestiert werden. Auch der Vorstand der Bundesärztekammer wird sich nach einem Beschluss nun mit dem Thema Divestment auseinandersetzen. Und seit Kurzem beschäftigen sich Journalist*innen mit den Anlagestrategien ihres Versorgungssystems. Im kirchlichen Bereich wird das Thema weiter diskutiert und nimmt Gestalt an. Banken und Versicherer sind schon lange ins Blickfeld gerückt. Die großen Kohleinvestoren Deutsche Bank und Allianz werden in den kommenden Monaten den wachsenden öffentlichen Druck zu spüren bekommen. Der Klimawandel scheint von der eigenen Lebensrealität aus oft schwer anzugehen. Die Finanzaktivitäten der eigenen Stadt, Uni oder Kirche sind dagegen konkret und direkt vor Ort beeinflussbar. So kann jede*r Interessierte eine lokale Kampagne starten und einen offenen Brief an den Stadtrat und den*die Bürgermeister*in schicken. Divestment wird die fossile Industrie nicht in den Bankrott treiben. Aber sie kann ihr die soziale Akzeptanz und damit politischen Einfluss entziehen. Und das wäre ein großer Gewinn für den Klimaschutz. TEXT Tine Langkamp 350.org FOTO 350.org Was versteht man unter Divestment? Divestment ist das Gegenteil einer Investition. Es bedeutet, dass man sich von Aktien, Anleihen oder Investmentfonds trennt, die unökologisch oder unter ethischen Gesichtspunkten fragwürdig sind. Investitionen in fossile Brennstoffe stellen ein Risiko für Investoren und für den Planeten dar. Darum ruft das internationale Netzwerk Fossil Free sämtliche Institutionen dazu auf, ihr Vermögen aus den 200 größten börsennotierten Unternehmen abzuziehen. Diese Unternehmen sind derzeit im Besitz eines Großteils der verzeichneten Kohle-, Öl- und Gasreserven und planen, diese zu fördern und zu verbrennen. Doch 80 Prozent der fossilen Rohstoffreserven müssen im Boden bleiben, damit die Erderwärmung auf zwei Grad begrenzt werden kann. 24 Umweltinstitut München e.V. 09/2015 Kontakte Referat für Gesundheit und Umwelt Ökologisches Bildungszentrum Bürgerstiftung Zukunftsfähiges München Öffentlichkeitsarbeit Bayerstraße 28a 80335 München Tel.: 089-233-47 524 Fax: 089-233-47 508 [email protected] www.muenchen.de/rgu Englschalkinger Str. 166 81927 München Tel.: 089-93 94 89 60 Fax: 089-93 94 89 81 [email protected] www.oebz.de Klenzestraße 37/Rgb. 80469 München Tel.: 089-202 38-111 Fax: 089-202 38-113 [email protected] www.bszm.de www.lifeguide-muenchen.de www.sinn-muenchen.de Newsletter der Agenda 21 Regelmäßige Informationen zu Agenda-Terminen in München erhalten Sie im kostenfreien Newsletter unter www.muenchner-stadtgespraeche.de Termine Do., 15. Oktober, 20:00 Uhr Mi., 21. Oktober, 19:00 Uhr Film: Zehn Milliarden - wie werden wir alle satt? Teersandöl & Fracking: Wie die Energielobby den Klimaschutz torpediert Bis 2050 wird die Weltbevölkerung auf zehn Milliarden Menschen anwachsen. Doch wo soll die Nahrung für alle herkommen? Regisseur, Bestseller-Autor und Food-Fighter Valentin Thurn sucht nach Lösungen: Er erkundet die wichtigsten Grundlagen der Lebensmittelproduktion und verdeutlicht, wie die Menschheit durch die hemmungslose Ausbeutung knapper Ressourcen die Grundlage ihrer Ernährung zerstört. Mit Gespür für Verantwortung und Handlungsbedarf macht der Film klar: Wir können etwas verändern – wenn wir es wollen! Selbst die konservative Internationale Energieagentur fordert, dass zwei Drittel der fossilen Energiereserven in der Erde bleiben müssen, da andernfalls katastrophale Auswirkungen des Klimawandels nicht zu vermeiden sind. Doch die Energiekonzerne treiben genau das Gegenteil voran: Mit immer umweltschädlicheren Methoden holen sie nun sogar die unkonventionellen fossilen Ressourcen aus der Erde – auch in Deutschland. Ein Vortrag von Energiereferentin Franziska Buch über Ölsand, Fracking und die Macht der Energielobby. www.mvhs.de www.umweltinstitut.org Impressum Redaktion Layout Druck Herausgegeben vom Umweltinstitut München e.V. Anschrift für Verlag, verantwortlichen Redakteur und Anzeigenverantwortlichen: Umweltinstitut München e.V. Verein zur Erforschung und Verminderung der Umweltbelastung Landwehrstr. 64a 80336 München Tel.: (089) 30 77 49-0 Fax: (089) 30 77 49-20 E-Mail: [email protected] Internet: www.umweltinstitut.org Versand Auflage Joy Mann, Christina Hacker (verantwortlich), Fabian Holzheid Joy Mann Ulenspiegel Druck GmbH & Co. KG Birkenstraße 3 82346 Andechs axmax GmbH, Riedering 15.000 Unterstützen Sie die Agenda-Zeitung! Spenden Sie an folgendes Spendenkonto: Umweltinstitut München e.V. Bank für Sozialwirtschaft München BLZ: 700 205 00 - Konto: 88 311 01 BIC: BFSWDE33MUE IBAN: DE70700205000008831101 Stichwort AGENDA 21 Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die Meinung der Verfasserin/des Verfassers und nicht in jedem Fall die der Redaktion wieder. Zitieren erwünscht, bitte mit Quellenangabe! Mit freundlicher Unterstützung der Titelbild: Fotolia Bild auf dieser Seite: Fotolia Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 05.10.2015 Die Münchner Stadtgespräche entstehen in Zusammenarbeit und mit Förderung des Referates für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München. Dieses Heft kann im Internet unter der Adresse www.muenchner-stadtgespraeche.de als PDF-Datei heruntergeladen werden. Gedruckt auf 100% Recyclingpapier
© Copyright 2024 ExpyDoc