Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Quelle: http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100.html Feature 25. Dezember 2011, 9:05 Uhr Heinrich Bölls grüne Insel Eine Spurensuche in Irland Strand von Achill Island in Irland von Michael Augustin und Walter Weber Seit Heinrich Böll (1917-1985) im September 1954 zum ersten Male nach Dublin kam und damit begann, die Insel am westlichen Rand Europas reisend und schreibend zu entdecken, hat ihn Irland nicht wieder losgelassen. Sein 1957 veröffentlichtes und mittlerweile in mehr als einer Million Exemplaren 1 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... verkauftes "Irisches Tagebuch" wurde zu zu einer Art Pflichtlektüre für Generationen von Irlandfahrern und zum Reisebuch mit Kultstatus. Michael Augustin und Walter Weber haben in Köln, Berlin, Dublin und auf Achill Island mit Freunden, Bekannten, Familienangehörigen und heutigen Lesern Bölls gesprochen und den Versuch unternommen, ein atmosphärisch dichtes Bild vom Leben auf der Grünen Insel in den späten fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Über jenes Irland, über das Böll in seinem Buch schrieb: "Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keinen Ersatzanspruch auf den Autor." Quelle: Kiepenheuer & Witsch Europas glühendes Herz Am Morgen des 24. September 1954 traf Heinrich Böll nach einer zweitägigen Reise von Köln über Oostende, Dover, London, Holyhead und Dún Laoghaire in Dublin ein. Ausgangspunkt seiner ersten Irlandreise, die vier Wochen dauern sollte und eine lebenslange intensive Beziehung zur ‚grünen Insel’ begründete. Eine Beziehung, der er poetisch Ausdruck verliehen hat in seinem 1957 erschienenen "Irischen Tagebuch". Längst ist es bei deutschen Lesern zum Kultbuch avanciert und zählt zur Pflichtlektüre aller Irland-Fans, für die Heinrich Böll sozusagen Pionierarbeit geleistet hat mit seiner literarischen Liebesklärung an das Faszinosum Irland: "Auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern – nur Priester schickte es, Mönche Missionare, die – auf dem seltsamen Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz." (Heinrich Böll: Irisches Tagebuch. Mit Materialien, Fotos und einem Nachwort von 2 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... René Böll und Jochen Schubert; Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 17) Leere Kirchenpracht Für den gläubigen Katholiken und erklärten KirchenKritiker Heinrich Böll waren in den fünfziger Jahren die Dubliner Kirchen von besonderem Interesse. In der protestantischen St. Patrick’s Cathedral besuchte er das Grab des großen irischen Satirikers Heinrich Böll Jonathan Swift und „erkältete sich das Herz“ angesichts der deprimierenden Menschleere und einer sterilen Sauberkeit des bedeutendsten Dubliner Gotteshauses, in dem "seit Jahrhunderten kein Weihrauch mehr verbrannt wird". Abbild der Volksgläubigkeit Ganz anders war Bölls Eindruck von der eher unscheinbaren katholischen Kirche "Saint Nicholas of Myra" im Herzen der Dubliner Altstadt, die der Schriftsteller in den fünfziger Jahren "voller Menschen" und "voller Kitsch" erlebte. Für Böll ein lebensechtes Abbild echter Volksgläubigkeit. Fünfzig Jahre später ist im benachbarten Gemeindezentrum von St. Nicholas noch immer etwas zu spüren vom Dublin der „Kleinen Leute“, vom einfachen Leben, das alles andere als einfach ist. Im Gemeindezentrum von St. Nicholas treffen sich zur Mittagsstunde vor allem die Alten und Bedürftigen, um hier im großen Bühnen- und Speisesaal eine warme Mahlzeit entgegenzunehmen. Saint Nicholas of Myra in Dublin Einer der freundlichen Helfer aus der Nachbarschaft weiß, dass Böll sich hier in den fünfziger Jahren staunend umgesehen hat und überwältigt war von den Massen der Gläubigen in der Kirche St. Nicholas. Das aber sei eine Sache der Vergangenheit, 3 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... sagt er. In den fünfziger Jahren, da haben die Leute manchmal sogar draußen vor der Kirche gestanden, wegen Überfüllung. Heute gehen eigentlich nur noch die Alten in die Kirche. Und auch die Armut, barfüßige Kinder auf den Strassen und ähnliches: das hat es früher in Dublin gegeben, heute nicht mehr. Finsternis über Irland Im Zentrum des Dubliner Altstadtviertels lebt Tony MacMahon, einer der profundesten Kenner der irischen Musiktradition und selbst ein begnadeter Meister des Akkordeons. Er ist aufgewachsen in einer Kleinstadt im Westen Irlands. Seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren sind alles andere als fröhlich. "Den Stiefel der Kirche im Nacken", den habe er Tony MacMahon verspürt damals. Der Westen Irlands? Ein grauer Erinnerungscocktail aus Nonnen und Priestern, klammen, regnerischen Tagen, Düsternis und Angst. Dass Böll beeindruckt und schier überwältigt war von dem, was er in der irischen Kirche als eine Atmosphäre aus Wärme und Gemeinschaftlichkeit zu beobachten glaubte – ja, das habe es gelegentlich gegeben – aber die Regel sei das nicht gewesen. Angst habe geherrscht. Angst vor der Sünde. 4 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Pub in Dublin Poetischer Kneipenbummel Der Dubliner Poet Pearse Hutchinson (1927-2012) zählt zu den bedeutendsten irischen Schriftsteller der Gegenwart und war einer der besten Kenner der bewegten Literaturszene der fünfziger Jahre. Die fünfziger Jahre, das waren – wie die vierziger Jahre zuvor – düstere und beengende Zeiten, erinnerte er sich und zitierte damit seinen Freund und Kollegen John Jordan. Schriftsteller, Theaterleute, Künstler und Journalisten mussten kämpfen um ihr Terrain geistiger Freiheit im Lande der Priester, Mönche und Nonnen. Und sie taten es – mit ihren Mitteln. Ob der in Deutschland immer bekannter werdende Schriftsteller Heinrich Böll während seines ersten Aufenthaltes in Dublin den einen oder anderen seiner irischen Kollegen persönlich kennen gelernt hat, ist nicht bezeugt. Gewohnt hat er auf der Südseite Dublins, in der Pembroke Road. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lebte damals der streitbare Patrick Kavanagh, dem er also durchaus begegnet sein könnte, auf einem Spaziergang oder Kneipenbummel. Pearse Hutchinson, als junger angehender Poet damals ein Trinkgefährte und Gesprächspartner der Schriftsteller Patrick Kavanagh, Brendan Behan, Flann O’Brien, Mártín Ó Cadhain oder Anthony Cronin, beschreibt einen möglichen Pub Crawl, wie Heinrich Böll ihn bei seinem Besuch mühelos gemacht 5 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... haben könnte. Ausgehend von der Pembroke Road und dem berühmten kleinen Buchladen "Parson’s Bookshop", direkt an der nahen Baggot Street Bridge. Der irische Dichter Pearse Hutchinson Achill Island Die Entdeckung von Achill Island "Mein liebes Herz", schrieb Heinrich Böll am 7. Oktober 1954 aus dem Westen Irlands in einem Brief an seine Frau Annemarie, "es ist so schön hier, dass ich sehr traurig bin, Euch nicht hier zu haben: Seen, Berge Wolken und jene unbeschreiblichen, stets wechselnden Lichter, die ich noch nie gesehen habe." Ein Jahr später, im Sommer 1955, reiste er mit Ehefrau Annemarie und den Söhnen Raimund, René und Vincent zum ersten Mal nach Achill Island, einer vorgelagerten Insel im äußersten Westen 6 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Irlands und ist sofort überwältigt vom Zauber einer einmaligen Küstenlandschaft. Als erstes Quartier auf Achill Island bezog die Böll-Familie ein Haus im Küstenort Keel, das Böll von dem Hotelier Toni Gallagher gemietet hatte. Noch heute erinnert sich seine Tochter Elizabeth Barrett, Inhaberin des Hotels The Bervie am Keeler Atlantikstrand, lebhaft an die Bölls, zu denen sich bald ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. In Keel habe sich Heinrich Böll in die Landschaft und die Menschen verliebt und hierher sei er immer wieder zurückgekommen mit seiner Familie. Elizabeth Barrett Elizabeth Barrett selber hatte als Kind die Milch rübergebracht zu den Bölls. Als einen freundlichen, liebenswerten und ständig rauchenden Mann lebt er in ihrer Erinnerung fort. Und die drei Böll-Jungs, die fand sie auch interessant, vor allem weil sie so ganz anders gekleidet, als ihre eigenen sieben Brüder. Hotel The Bervie auf Achill Island in Irland Besuch im Deserted Village 7 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Zwischen Keel und Dugort, am Hang des Slievemore, gleich hinter dem alten Friedhof, liegen die eindrucksvollen Ruinen des "verlassenen Dorfes", dem seine Bewohner im 19. Jahrhundert den Rücken gekehrt haben. Böll widmet dem Dorf im "Irischen Tagebuch" ein eigenes Kapitel, das mit diesen Worten beginnt: "Plötzlich, als wir die Höhe des Berges erreicht hatten, sahen wir das Skelett des verlassenen Dorfes am nächsten Hang liegen. Niemand hatte uns davon erzählt, niemand uns gewarnt; es gibt so viele verlassene Dörfer in Irland. Graue, gleichförmige Steingiebel, die wir zunächst ohne perspektivische Tiefe sahen, wie dilettantisch aufgestellte Kulissen für einen Gespensterfilm: mit stockendem Atem versuchten wir sie zu zählen, gaben es bei vierzig auf, und hundert waren es sicher." (Irisches Tagebuch, Neuausgabe, S. 42) Ruine im Deserted Village auf Achill Island Verlassener Ort Die Bremer Rundfunkjournalistin Gudrun Boch, seit Jahrzehnten mit Irland eng verbunden, erklärt das besondere Verhältnis Bölls zu diesem Ort durch die Bezüge zu Bölls intensiven Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit in Deutschland: "Böll, der 1955 in dieser verlassenen Siedlung gewesen ist, da war er zehn Jahre vom Krieg entfernt und das saß ihm eben noch so im Nacken, dass ihn alles natürlich irgendwie interessiert hat, in Kontrast zu seinen Kriegserfahrungen. Und hier sah er eine 8 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... zerstörte menschliche Siedlung, die aber nicht durch Bomben und menschliche Einwirkungen verfallen ist, sondern hier hat die Zeit gearbeitet und die Zeit hat alles vernichtet, außer den Steinen und dem Moos, was hier so wunderbar malerisch angeordnet ist. Darin hat er einen Trost fast gefunden, aber auch wieder sein anderes Thema, was ihn in Irland immer sehr beeindruckt hat, die Armut und die Not und der Zwang zum Auswandern. Er hat sich schon vorgestellt, dass hier in so einem Haus vielleicht neun, zehn Kinder groß geworden sind und von diesen Kindern sind maximal zwei oder drei im Land geblieben und die anderen mussten gehen, mussten auswandern." Feriendomizil und Arbeitsstätte 1958 kaufte Heinrich Böll ein Cottage in Dugort auf Achill Island. Feriendomizil und Arbeitsstätte während der Sommermonate bis zum Jahr 1983, als Böll sich hier zum letzten Mal aufhält. Das Haus in Dugort wurde für den Schriftsteller aus Deutschland zur zweiten Heimstatt für und zum idealen Ort für das Familienleben, wie sich sein Sohn René Böll erinnert: "Wir haben die Zeit in Irland als die Zeit erlebt, wo wir am meisten mit unseren Eltern verbracht haben, wo sie am meisten Zeit hatten, wo sie am entspanntesten waren, wo doch sehr viel Druck von ihnen genommen war. Und das war für uns Kinder eigentlich die schönste Zeit mit meinen Eltern, weil sie einfach mehr Zeit hatten, entspannterer waren. Und mein Vater auch das Leben sehr genossen hat. Wir sind viel rumgefahren, später als wir ein Auto hatten. Wir sind viel essen gegangen, wir haben viel Der Maler René Böll unternommen, was hier eigentlich viel schwieriger war, viel weniger war. Abends wurde am Kamin vorgelesen, eigentlich auch in den sechziger Jahren hat mein Vater viel vorgelesen oder erzählt oder es wurde gespielt. Es gab ja zum Glück, muss ich sagen, kein Fernsehen, wir hatten auch kein Radio damals. Es kam in den sechziger Jahren, dann hatten wir auch schon mal ne Zeitung aus Köln, die hatten wir 9 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... abonniert. Aber sonst gab es eigentlich wenig Ablenkung." Ein Besucher aus Köln Nach dem Tod von Heinrich Böll 1985 wurde sein Haus auf Achill zur „Pilgerstätte“ für Reisende aus Deutschland. Unter den Besuchern ist auch der in Köln Schriftsteller Ralph Giordano, der Böll persönlich verbunden war und sich im Böll-Cottage für sein eigenes Buch über Irland anregen ließ. Ralph Giordano: „Natürlich war mir klar für „Mein irisches Tagebuch" fahre ich nach Achill Island, ja, da wo die Böll-Cottage ist. Und ich bin dann dahin gefahren und schildere das ja auch, wie ich da reingekommen bin in die Idylle. Es war niemand da, das Tor war offen, es wohnte keiner da zu der Zeit. Das muss 1995 gewesen sein. Und zwar im Sommer. Der Ort war für mich natürlich etwas ganz besonderes, ja, etwas was sozusagen Heinrich Böll atmete. Ich habe mich da lange Stunden Ralph Giordano aufgehalten, noch mal Revue passieren lassen, was meine Beziehung zu Böll ausgemacht hat und hatte natürlich auch das "Irische Tagebuch" bei mir und habe mich dann ganz sentimental in eins von diesen damals unaufgeräumten Zimmern. Es sah nicht sehr ordentlich aus, was mich aber nur angeheimelt hat, ja, hab' mich dann dahin gesetzt und habe in seinem wunderbaren "Irischen Tagebuch" gelesen. Eine solche Beobachtungsgabe wie dieser Böll hatte, ja, ich glaube, ich hab' auch was davon gelernt, ja. Er konnte ja in die Herzen der Menschen hineinkriechen.“ 10 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Böll-Cottage auf Achill Island Ein Haus für Künstler Inzwischen befindet sich das "Böll-Cottage" im Besitz der "Heinrich-Böll-Association", die das Haus renoviert hat und seit 1992 Schriftstellern und Malern auf jeweils zwei bis vier Wochen für ihre künstlerische Arbeit zur Verfügung stellt. Bisher haben sich hauptsächlich irische Künstler hier aufgehalten, gelegentlich auch deutsche. Mehrfach hat die junge irische Erzählerin Claire Keegan hier residiert. Für sie besitzt das Haus eine ganz besondere Aura und bietet eine einzigartige Arbeitsatmosphäre. Und sie hat das Gefühl, dass Böll hier auf eine ganz merkwürdige Weise immer noch anwesend ist, so wie Geschichte , die in die Gegenwart reicht und uns einbezieht. Wer in diesem Haus nicht schreiben kann, sagt Claire Keegan, der kann nicht schreiben. Gegenentwurf zum Adenauer-Deutschland Es ist verschiedentlich behauptet worden, Heinrich Bölls "Irisches Tagebuch" sei ein Gegenentwurf zur wachsenden Entfremdung der Menschen im AdenauerDeutschland. Eine Auffassung, die Bölls ehemaliger Verlagslektor, der Schriftsteller Dieter Wellershoff, durchaus für zutreffend hält. Heinrich habe in Irland eine ihm wesensverwandte Gesellschaft angetroffen, eine katholische Gesellschaft.: "Und 11 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... dann ist es eine Gesellschaft“, betont Wellershoff, „die damals unterentwickelt war und wo Menschen in kleineren Zusammenhängen lebten, wo also die Werte der Nähe, der Familie, der Herkunft eine viel größere Bedeutung hatten als hier in unserer Gesellschaft, wo alles durcheinander gewürfelt war. Wir waren doch eine Gesellschaft von entwurzelten Menschen, Ausgebombten und Vertriebenen, also das war völlig anders. Und da ist das eine Idylle. Irland war eine Idylle. Wenn man diese Art von Humanität suchte, sozusagen die traditionellen Nähe-Werte, die waren in Irland verkörpert. Dahinter konnte man natürlich das Elend sehen, aber das Elend, das war keine Problematik für Böll, also die materiellen Werte waren ja eigentlich keine wahren Werte." Ein zutiefst humanes Buch Ganz ähnlich urteilt Ralph Giordano in seiner Einschätzung der Wirkung des "Irischen Tagebuchs": "Ich denke, das 'Irische Tagebuch' ist auch irgendwo eine Metapher und ein Beispiel. Das heißt, es ist ein zutiefst humanes Buch von einem Humanisten geschrieben, aber er trifft auch auf lauter Humanismen in Irland. Und das macht ihn irgendwie traurig. Das heißt, er stößt auf eine – ich möchte beinahe sagen – kollektive Haltung, die rauhbürstig ist, aber doch irgendwo auch tief human. Und es ist ganz sicher, dass Böll das in Deutschland so vermisst hat, da gibt es gar keine Frage. Denn er Quelle: Kiepenheuer & Witsch leidet ja oder seine eigene Generation unter den Heinrich Böll: Irisches Vätern und den Altersgenossinnen und -genossen, Tagebuch, Erstausgabe die danach verdrängt haben, die nicht seinen Weg Keipenheuer & Witsch 1957 gegangen sind, die sich nicht auseinandergesetzt haben mit ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus, darunter hat er auch schwer gelitten, dieses Deutschland war ja auch eine große Wunde in Böll. Und er stößt da auf etwas, was in Deutschland so nicht da war: ein humanes Defizit, das ihn unglücklich macht und das dieses Buch, auch wenn man das richtig begriffen hat, ja, auch zu einem traurigen Buch macht." 12 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Die Liebe zu Irland Für den Sohn René Böll lässt sich die Vorliebe seines Vaters für Irland allerdings auf ganz einfache Weise erklären: "Es ist einfach ein Buch über Irland, wo wir sehr viel Zeit verbracht haben, insgesamt doch drei oder vier Jahre, mindestens drei Jahre, was ne sehr lange Zeit ist, find' ich. Mein Vater hat mal geschrieben, es wäre das Land, das er in Europa am meisten liebt. Und es war natürlich auch eine Flucht aus Köln, klar, natürlich. Hier wurde der Druck größer, der finanzielle Druck war sehr stark damals. Meine Eltern hatten ein Haus gebaut, sie hatten sich hoch verschuldet. Es gab auch viele ganz banale Gründe mal wegzugehen. Und in Irland fühlten sie sich einfach sehr wohl, immer." Bölls literarische Landschaft Der irische Schriftsteller Hugo Hamilton, Sohn einer Deutschen und eines Iren, hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die von seiner Kindheit in den fünfziger Jahren handeln. Und natürlich kennt er auch Heinrich Böll 1957 erschienenes "Irisches Tagebuch" ganz genau. Ein Werk, das bis heute in Irland nicht die ihm gebührende Anerkennung gefunden habe: "Leider ist das Buch nie hier angekommen. Also, es wurde fast als Beleidigung angenommen hier. Ich glaube, das Buch erinnerte die Iren an erstmal die Armut, die Auswanderung, dieses kleine provinzielle Niveau hier. Die 13 von 14 07.07.2015 15:20 Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio - Radio Bremen http://srv-sophora1.radiobremen.de:8081/nordwestradio/sendungen/feature/feature-boell-irland100_ve... Iren wollten das eigentlich loswerden, die wollten sich eher an Amerika anknüpfen und an London und ich glaube, dass die warme romantische Beschreibung, die passte denen gar nicht. Und die Rezeption, die in Deutschland wahrgenommen wurde, das ist was ganz anderes. Ich beschreibe das jetzt gerne als eine literarische Landschaft, die übrig geblieben ist, auch wenn Achill Island sehr dem Wandel ausgesetzt ist. Man spricht von dem Klimawechsel, alles Mögliche wird Achill ständig wieder umändern. Aber diese literarische Landschaft bleibt." 14 von 14 07.07.2015 15:20
© Copyright 2024 ExpyDoc