Heinrich Bölls grüne Insel - Feature - Nordwestradio

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Feature
25. Dezember 2011, 9:05 Uhr
Heinrich Bölls grüne Insel
Eine Spurensuche in Irland
Strand von Achill Island in Irland
von Michael Augustin und Walter Weber
Seit Heinrich Böll (1917-1985) im September 1954 zum ersten Male nach Dublin kam
und damit begann, die Insel am westlichen Rand Europas reisend und schreibend zu
entdecken, hat ihn Irland nicht wieder losgelassen.
Sein 1957 veröffentlichtes und mittlerweile in mehr als einer Million Exemplaren
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verkauftes "Irisches Tagebuch" wurde zu zu einer Art
Pflichtlektüre für Generationen von Irlandfahrern und
zum Reisebuch mit Kultstatus.
Michael Augustin und Walter Weber haben in Köln,
Berlin, Dublin und auf Achill Island mit Freunden,
Bekannten, Familienangehörigen und heutigen
Lesern Bölls gesprochen und den Versuch
unternommen, ein atmosphärisch dichtes Bild vom
Leben auf der Grünen Insel in den späten fünfziger
Jahren des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Über
jenes Irland, über das Böll in seinem Buch schrieb:
"Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht
findet, hat keinen Ersatzanspruch auf den Autor."
Quelle: Kiepenheuer & Witsch
Europas glühendes Herz
Am Morgen des 24. September 1954 traf Heinrich Böll nach einer zweitägigen Reise
von Köln über Oostende, Dover, London, Holyhead und Dún Laoghaire in Dublin ein.
Ausgangspunkt seiner ersten Irlandreise, die vier Wochen dauern sollte und eine
lebenslange intensive Beziehung zur ‚grünen Insel’ begründete. Eine Beziehung, der
er poetisch Ausdruck verliehen hat in seinem 1957 erschienenen "Irischen Tagebuch".
Längst ist es bei deutschen Lesern zum Kultbuch avanciert und zählt zur
Pflichtlektüre aller Irland-Fans, für die Heinrich Böll sozusagen Pionierarbeit geleistet
hat mit seiner literarischen Liebesklärung an das Faszinosum Irland:
"Auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge
unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen,
Engländern – nur Priester schickte es, Mönche Missionare, die – auf dem seltsamen
Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr
als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in
den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz."
(Heinrich Böll: Irisches Tagebuch. Mit Materialien, Fotos und einem Nachwort von
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René Böll und Jochen Schubert; Köln: Kiepenheuer
& Witsch 2007, S. 17)
Leere Kirchenpracht
Für den gläubigen Katholiken und erklärten KirchenKritiker Heinrich Böll waren in den fünfziger Jahren
die Dubliner Kirchen von besonderem Interesse. In
der protestantischen St. Patrick’s Cathedral
besuchte er das Grab des großen irischen Satirikers
Heinrich Böll
Jonathan Swift und „erkältete sich das Herz“
angesichts der deprimierenden Menschleere und einer sterilen Sauberkeit des
bedeutendsten Dubliner Gotteshauses, in dem "seit Jahrhunderten kein Weihrauch
mehr verbrannt wird".
Abbild der Volksgläubigkeit
Ganz anders war Bölls Eindruck von der eher
unscheinbaren katholischen Kirche "Saint Nicholas
of Myra" im Herzen der Dubliner Altstadt, die der
Schriftsteller in den fünfziger Jahren "voller
Menschen" und "voller Kitsch" erlebte. Für Böll ein
lebensechtes Abbild echter Volksgläubigkeit. Fünfzig
Jahre später ist im benachbarten Gemeindezentrum
von St. Nicholas noch immer etwas zu spüren vom
Dublin der „Kleinen Leute“, vom einfachen Leben,
das alles andere als einfach ist. Im
Gemeindezentrum von St. Nicholas treffen sich zur
Mittagsstunde vor allem die Alten und Bedürftigen,
um hier im großen Bühnen- und Speisesaal eine
warme Mahlzeit entgegenzunehmen.
Saint Nicholas of Myra in
Dublin
Einer der freundlichen Helfer aus der Nachbarschaft weiß, dass Böll sich hier in den
fünfziger Jahren staunend umgesehen hat und überwältigt war von den Massen der
Gläubigen in der Kirche St. Nicholas. Das aber sei eine Sache der Vergangenheit,
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sagt er. In den fünfziger Jahren, da haben die Leute manchmal sogar draußen vor der
Kirche gestanden, wegen Überfüllung. Heute gehen eigentlich nur noch die Alten in
die Kirche. Und auch die Armut, barfüßige Kinder auf den Strassen und ähnliches:
das hat es früher in Dublin gegeben, heute nicht mehr.
Finsternis über Irland
Im Zentrum des Dubliner Altstadtviertels lebt Tony
MacMahon, einer der profundesten Kenner der
irischen Musiktradition und selbst ein begnadeter
Meister des Akkordeons. Er ist aufgewachsen in
einer Kleinstadt im Westen Irlands.
Seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in
den fünfziger Jahren sind alles andere als fröhlich.
"Den Stiefel der Kirche im Nacken", den habe er
Tony MacMahon
verspürt damals. Der Westen Irlands? Ein grauer
Erinnerungscocktail aus Nonnen und Priestern, klammen, regnerischen Tagen,
Düsternis und Angst.
Dass Böll beeindruckt und schier überwältigt war von dem, was er in der irischen
Kirche als eine Atmosphäre aus Wärme und Gemeinschaftlichkeit zu beobachten
glaubte – ja, das habe es gelegentlich gegeben – aber die Regel sei das nicht
gewesen. Angst habe geherrscht. Angst vor der Sünde.
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Pub in Dublin
Poetischer Kneipenbummel
Der Dubliner Poet Pearse Hutchinson (1927-2012) zählt zu den bedeutendsten
irischen Schriftsteller der Gegenwart und war einer der besten Kenner der bewegten
Literaturszene der fünfziger Jahre. Die fünfziger Jahre, das waren – wie die vierziger
Jahre zuvor – düstere und beengende Zeiten, erinnerte er sich und zitierte damit
seinen Freund und Kollegen John Jordan. Schriftsteller, Theaterleute, Künstler und
Journalisten mussten kämpfen um ihr Terrain geistiger Freiheit im Lande der Priester,
Mönche und Nonnen. Und sie taten es – mit ihren Mitteln. Ob der in Deutschland
immer bekannter werdende Schriftsteller Heinrich Böll während seines ersten
Aufenthaltes in Dublin den einen oder anderen seiner irischen Kollegen persönlich
kennen gelernt hat, ist nicht bezeugt. Gewohnt hat er auf der Südseite Dublins, in der
Pembroke Road.
Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lebte damals der streitbare Patrick
Kavanagh, dem er also durchaus begegnet sein könnte, auf einem Spaziergang oder
Kneipenbummel. Pearse Hutchinson, als junger angehender Poet damals ein
Trinkgefährte und Gesprächspartner der Schriftsteller Patrick Kavanagh, Brendan
Behan, Flann O’Brien, Mártín Ó Cadhain oder Anthony Cronin, beschreibt einen
möglichen Pub Crawl, wie Heinrich Böll ihn bei seinem Besuch mühelos gemacht
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haben könnte. Ausgehend von der Pembroke Road
und dem berühmten kleinen Buchladen "Parson’s
Bookshop", direkt an der nahen Baggot Street
Bridge.
Der irische Dichter Pearse
Hutchinson
Achill Island
Die Entdeckung von Achill Island
"Mein liebes Herz", schrieb Heinrich Böll am 7. Oktober 1954 aus dem Westen Irlands
in einem Brief an seine Frau Annemarie, "es ist so schön hier, dass ich sehr traurig
bin, Euch nicht hier zu haben: Seen, Berge Wolken und jene unbeschreiblichen, stets
wechselnden Lichter, die ich noch nie gesehen habe." Ein Jahr später, im Sommer
1955, reiste er mit Ehefrau Annemarie und den Söhnen Raimund, René und Vincent
zum ersten Mal nach Achill Island, einer vorgelagerten Insel im äußersten Westen
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Irlands und ist sofort überwältigt vom Zauber einer einmaligen Küstenlandschaft.
Als erstes Quartier auf Achill Island bezog die
Böll-Familie ein Haus im Küstenort Keel, das Böll
von dem Hotelier Toni Gallagher gemietet hatte.
Noch heute erinnert sich seine Tochter Elizabeth
Barrett, Inhaberin des Hotels The Bervie am Keeler
Atlantikstrand, lebhaft an die Bölls, zu denen sich
bald ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. In
Keel habe sich Heinrich Böll in die Landschaft und
die Menschen verliebt und hierher sei er immer
wieder zurückgekommen mit seiner Familie.
Elizabeth Barrett
Elizabeth Barrett selber hatte als Kind die Milch
rübergebracht zu den Bölls. Als einen freundlichen,
liebenswerten und ständig rauchenden Mann lebt er in ihrer Erinnerung fort. Und die
drei Böll-Jungs, die fand sie auch interessant, vor allem weil sie so ganz anders
gekleidet, als ihre eigenen sieben Brüder.
Hotel The Bervie auf Achill Island in Irland
Besuch im Deserted Village
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Zwischen Keel und Dugort, am Hang des Slievemore, gleich hinter dem alten
Friedhof, liegen die eindrucksvollen Ruinen des "verlassenen Dorfes", dem seine
Bewohner im 19. Jahrhundert den Rücken gekehrt haben. Böll widmet dem Dorf im
"Irischen Tagebuch" ein eigenes Kapitel, das mit diesen Worten beginnt: "Plötzlich, als
wir die Höhe des Berges erreicht hatten, sahen wir das Skelett des verlassenen
Dorfes am nächsten Hang liegen. Niemand hatte uns davon erzählt, niemand uns
gewarnt; es gibt so viele verlassene Dörfer in Irland. Graue, gleichförmige Steingiebel,
die wir zunächst ohne perspektivische Tiefe sahen, wie dilettantisch aufgestellte
Kulissen für einen Gespensterfilm: mit stockendem Atem versuchten wir sie zu
zählen, gaben es bei vierzig auf, und hundert waren es sicher." (Irisches Tagebuch,
Neuausgabe, S. 42)
Ruine im Deserted Village auf Achill Island
Verlassener Ort
Die Bremer Rundfunkjournalistin Gudrun Boch, seit Jahrzehnten mit Irland eng
verbunden, erklärt das besondere Verhältnis Bölls zu diesem Ort durch die Bezüge zu
Bölls intensiven Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit in Deutschland: "Böll, der
1955 in dieser verlassenen Siedlung gewesen ist, da war er zehn Jahre vom Krieg
entfernt und das saß ihm eben noch so im Nacken, dass ihn alles natürlich irgendwie
interessiert hat, in Kontrast zu seinen Kriegserfahrungen. Und hier sah er eine
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zerstörte menschliche Siedlung, die aber nicht durch Bomben und menschliche
Einwirkungen verfallen ist, sondern hier hat die Zeit gearbeitet und die Zeit hat alles
vernichtet, außer den Steinen und dem Moos, was hier so wunderbar malerisch
angeordnet ist.
Darin hat er einen Trost fast gefunden, aber auch wieder sein anderes Thema, was
ihn in Irland immer sehr beeindruckt hat, die Armut und die Not und der Zwang zum
Auswandern. Er hat sich schon vorgestellt, dass hier in so einem Haus vielleicht
neun, zehn Kinder groß geworden sind und von diesen Kindern sind maximal zwei
oder drei im Land geblieben und die anderen mussten gehen, mussten auswandern."
Feriendomizil und Arbeitsstätte
1958 kaufte Heinrich Böll ein Cottage in Dugort auf Achill Island. Feriendomizil und
Arbeitsstätte während der Sommermonate bis zum Jahr 1983, als Böll sich hier zum
letzten Mal aufhält. Das Haus in Dugort wurde für den Schriftsteller aus Deutschland
zur zweiten Heimstatt für und zum idealen Ort für das Familienleben, wie sich sein
Sohn René Böll erinnert:
"Wir haben die Zeit in Irland als die Zeit erlebt, wo
wir am meisten mit unseren Eltern verbracht haben,
wo sie am meisten Zeit hatten, wo sie am
entspanntesten waren, wo doch sehr viel Druck von
ihnen genommen war. Und das war für uns Kinder
eigentlich die schönste Zeit mit meinen Eltern, weil
sie einfach mehr Zeit hatten, entspannterer waren.
Und mein Vater auch das Leben sehr genossen hat.
Wir sind viel rumgefahren, später als wir ein Auto
hatten. Wir sind viel essen gegangen, wir haben viel Der Maler René Böll
unternommen, was hier eigentlich viel schwieriger war, viel weniger war. Abends
wurde am Kamin vorgelesen, eigentlich auch in den sechziger Jahren hat mein Vater
viel vorgelesen oder erzählt oder es wurde gespielt. Es gab ja zum Glück, muss ich
sagen, kein Fernsehen, wir hatten auch kein Radio damals. Es kam in den sechziger
Jahren, dann hatten wir auch schon mal ne Zeitung aus Köln, die hatten wir
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abonniert. Aber sonst gab es eigentlich wenig Ablenkung."
Ein Besucher aus Köln
Nach dem Tod von Heinrich Böll 1985 wurde sein Haus auf Achill zur „Pilgerstätte“ für
Reisende aus Deutschland. Unter den Besuchern ist auch der in Köln Schriftsteller
Ralph Giordano, der Böll persönlich verbunden war und sich im Böll-Cottage für sein
eigenes Buch über Irland anregen ließ.
Ralph Giordano: „Natürlich war mir klar für „Mein
irisches Tagebuch" fahre ich nach Achill Island, ja,
da wo die Böll-Cottage ist. Und ich bin dann dahin
gefahren und schildere das ja auch, wie ich da
reingekommen bin in die Idylle. Es war niemand da,
das Tor war offen, es wohnte keiner da zu der Zeit.
Das muss 1995 gewesen sein. Und zwar im
Sommer. Der Ort war für mich natürlich etwas ganz
besonderes, ja, etwas was sozusagen Heinrich Böll
atmete. Ich habe mich da lange Stunden
Ralph Giordano
aufgehalten, noch mal Revue passieren lassen, was
meine Beziehung zu Böll ausgemacht hat und hatte natürlich auch das "Irische
Tagebuch" bei mir und habe mich dann ganz sentimental in eins von diesen damals
unaufgeräumten Zimmern. Es sah nicht sehr ordentlich aus, was mich aber nur
angeheimelt hat, ja, hab' mich dann dahin gesetzt und habe in seinem wunderbaren
"Irischen Tagebuch" gelesen. Eine solche Beobachtungsgabe wie dieser Böll hatte, ja,
ich glaube, ich hab' auch was davon gelernt, ja. Er konnte ja in die Herzen der
Menschen hineinkriechen.“
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Böll-Cottage auf Achill Island
Ein Haus für Künstler
Inzwischen befindet sich das "Böll-Cottage" im Besitz der "Heinrich-Böll-Association",
die das Haus renoviert hat und seit 1992 Schriftstellern und Malern auf jeweils zwei
bis vier Wochen für ihre künstlerische Arbeit zur Verfügung stellt. Bisher haben sich
hauptsächlich irische Künstler hier aufgehalten, gelegentlich auch deutsche. Mehrfach
hat die junge irische Erzählerin Claire Keegan hier residiert. Für sie besitzt das Haus
eine ganz besondere Aura und bietet eine einzigartige Arbeitsatmosphäre. Und sie
hat das Gefühl, dass Böll hier auf eine ganz merkwürdige Weise immer noch
anwesend ist, so wie Geschichte , die in die Gegenwart reicht und uns einbezieht.
Wer in diesem Haus nicht schreiben kann, sagt Claire Keegan, der kann nicht
schreiben.
Gegenentwurf zum Adenauer-Deutschland
Es ist verschiedentlich behauptet worden, Heinrich Bölls "Irisches Tagebuch" sei ein
Gegenentwurf zur wachsenden Entfremdung der Menschen im AdenauerDeutschland. Eine Auffassung, die Bölls ehemaliger Verlagslektor, der Schriftsteller
Dieter Wellershoff, durchaus für zutreffend hält. Heinrich habe in Irland eine ihm
wesensverwandte Gesellschaft angetroffen, eine katholische Gesellschaft.: "Und
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dann ist es eine Gesellschaft“, betont Wellershoff, „die damals unterentwickelt war
und wo Menschen in kleineren Zusammenhängen lebten, wo also die Werte der
Nähe, der Familie, der Herkunft eine viel größere Bedeutung hatten als hier in unserer
Gesellschaft, wo alles durcheinander gewürfelt war. Wir waren doch eine Gesellschaft
von entwurzelten Menschen, Ausgebombten und Vertriebenen, also das war völlig
anders. Und da ist das eine Idylle. Irland war eine Idylle. Wenn man diese Art von
Humanität suchte, sozusagen die traditionellen Nähe-Werte, die waren in Irland
verkörpert. Dahinter konnte man natürlich das Elend sehen, aber das Elend, das war
keine Problematik für Böll, also die materiellen Werte waren ja eigentlich keine
wahren Werte."
Ein zutiefst humanes Buch
Ganz ähnlich urteilt Ralph Giordano in seiner
Einschätzung der Wirkung des "Irischen
Tagebuchs": "Ich denke, das 'Irische Tagebuch' ist
auch irgendwo eine Metapher und ein Beispiel. Das
heißt, es ist ein zutiefst humanes Buch von einem
Humanisten geschrieben, aber er trifft auch auf
lauter Humanismen in Irland. Und das macht ihn
irgendwie traurig. Das heißt, er stößt auf eine – ich
möchte beinahe sagen – kollektive Haltung, die
rauhbürstig ist, aber doch irgendwo auch tief human.
Und es ist ganz sicher, dass Böll das in Deutschland
so vermisst hat, da gibt es gar keine Frage. Denn er
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leidet ja oder seine eigene Generation unter den
Heinrich Böll: Irisches
Vätern und den Altersgenossinnen und -genossen,
Tagebuch, Erstausgabe
die danach verdrängt haben, die nicht seinen Weg
Keipenheuer & Witsch 1957
gegangen sind, die sich nicht auseinandergesetzt
haben mit ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus, darunter hat er auch schwer
gelitten, dieses Deutschland war ja auch eine große Wunde in Böll. Und er stößt da
auf etwas, was in Deutschland so nicht da war: ein humanes Defizit, das ihn
unglücklich macht und das dieses Buch, auch wenn man das richtig begriffen hat, ja,
auch zu einem traurigen Buch macht."
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Die Liebe zu Irland
Für den Sohn René Böll lässt sich die Vorliebe seines Vaters für Irland allerdings auf
ganz einfache Weise erklären: "Es ist einfach ein Buch über Irland, wo wir sehr viel
Zeit verbracht haben, insgesamt doch drei oder vier Jahre, mindestens drei Jahre,
was ne sehr lange Zeit ist, find' ich. Mein Vater hat mal geschrieben, es wäre das
Land, das er in Europa am meisten liebt. Und es war natürlich auch eine Flucht aus
Köln, klar, natürlich. Hier wurde der Druck größer, der finanzielle Druck war sehr stark
damals. Meine Eltern hatten ein Haus gebaut, sie hatten sich hoch verschuldet. Es
gab auch viele ganz banale Gründe mal wegzugehen. Und in Irland fühlten sie sich
einfach sehr wohl, immer."
Bölls literarische Landschaft
Der irische Schriftsteller Hugo Hamilton, Sohn einer Deutschen und eines Iren, hat
eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die von seiner Kindheit in den fünfziger Jahren
handeln. Und natürlich kennt er auch Heinrich Böll 1957 erschienenes "Irisches
Tagebuch" ganz genau. Ein Werk, das bis heute in Irland nicht die ihm gebührende
Anerkennung gefunden habe: "Leider ist das Buch nie hier angekommen. Also, es
wurde fast als Beleidigung angenommen hier. Ich glaube, das Buch erinnerte die Iren
an erstmal die Armut, die Auswanderung, dieses kleine provinzielle Niveau hier. Die
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Iren wollten das eigentlich loswerden, die wollten sich eher an Amerika anknüpfen
und an London und ich glaube, dass die warme romantische Beschreibung, die
passte denen gar nicht. Und die Rezeption, die in Deutschland wahrgenommen
wurde, das ist was ganz anderes. Ich beschreibe das jetzt gerne als eine literarische
Landschaft, die übrig geblieben ist, auch wenn Achill Island sehr dem Wandel
ausgesetzt ist. Man spricht von dem Klimawechsel, alles Mögliche wird Achill ständig
wieder umändern. Aber diese literarische Landschaft bleibt."
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