über Heinrich Zschokke

Aus dem Leben von Heinrich Zschokke
Hansruedi Schmidli
Heinrich Zschokke
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Einleitung
Am 10.Oktober 1909 wurde in Zürich durch Rudolf Steiner persönlich ein neuer Zweig
der Theosophischen Gesellschaft mit dem Namen „Heinrich Zschokke“ eingeweiht. Laut
einer Notiz in den damals erschienenen „Scholl-Mitteilungen“ wählte Rudolf Steiner den
Namen Heinrich Zschokke - ich zitiere: „in Erinnerung an den verdienstvollen Bürger der
Schweiz und fruchtbaren Schriftsteller, den wir Theosophen mit Recht als einen der Unsrigen ansprechen können, da er Ansichten vertreten hat, die der theosophischen Lehre von
Karma und von Wiederverkörperung zwar nicht genau entsprechen, aber doch sehr nahe
kommen.“
Dieser Zweig lebte aber nur etwa 14 Jahre. 1921 gründeten junge Menschen den „Pestalozzizweig“ und 1943 entstand dann der heutige Michael-Zweig. Bei der Zweiggründung
1974 in Uster kam dann der Name Heinrich Zschokke wieder zu neuen Ehren.
Uster hat auch noch eine besondere Beziehung zu Heinrich Zschokke, die zwar bei der
Zweiggründung nicht bekannt war. Er ist nämlich der Urgrossvater von Elisabeth Zschokke,
die verheiratet mit Paul Thalmann an der Freiestrasse Uster, in unmittelbarer Nähe unserer
Zweigveranstaltungen, lebte, und er ist somit der Ururgrossvater von Dr. Hans Thalmann,
dem langjährigen beliebten Stadtpräsidenten von Uster.
Wer war Heinrich Zschokke?
Die Heinrich Zschokke-Gesellschaft, die versucht, die Erinnerung an den grossen Wahlschweizer zu bewahren, beantwortet die Frage „Wer war Heinrich Zschokke?“ wie folgt:
Heinrich Zschokke wurde 1771 in Magdeburg geboren; aber schon 1795 kam er in die
Schweiz, seine Wahlheimat, und wurde einer der Wegbereiter des modernen Bundesstaates. In einer Zeit des Umbruchs beobachtete und analysierte er scharfsinnig die Entwicklung
des Landes, übernahm politische Verantwortung, beeinflusste als Publizist und Schriftsteller
das Geschehen, stellte es in allen Einzelheiten dar und stand im Gedankenaustausch mit
anderen grossen Persönlichkeiten in ganz Europa und Übersee. Über 5800 noch erhaltene
Briefe, viele literarische, historische, religiöse und philosophische Schriften zeugen von seiner gewaltigen Arbeitsleistung im Dienste des Aargaus und der Schweiz. Wie kaum ein anderer Zeitgenosse dokumentierte er den politisch-sozialen Wandel der Eidgenossenschaft
vom Ancien Régime zur modernen Schweiz. Literarisch zählt man ihn zu den Vorläufern von
Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller.
Auch international wirkte Heinrich Zschokke mit grossem Erfolg als Volksschriftsteller, als
Pädagoge und als Vordenker des Liberalismus. Seine Publikationen wurden überall gelesen
und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Berühmtheiten aus ganz Europa und Übersee reisten
nach Aarau, nur um ihn aufzusuchen und kennen zu lernen. Seine Meinung, sein Urteil war
gefragt, und er wurde mit Diplomen und Ehren überhäuft.
Lebenslauf
1771
Am 22. März wird Heinrich Zschokke im preussischen Magdeburg geboren.
Schon sieben Wochen später stirbt die Mutter.
1779
Dem achtjährigen stirbt auch sein Vater, ein bemittelter Tuchmacher, zu dem er
ein inniges Verhältnis hatte. Sein ältester Bruder übernimmt nun die Erziehung,
hat aber wenig Verständnis für die Phantasie und die vielseitigen Interessen des
Jungen, er will dem Knaben durch strenge Zucht gesellschaftlichen Schliff beibringen, worunter Heinrich sehr leidet und sich immer mehr verschliesst. In der Klosterschule wird er mangels Geistesfähigkeit von der Schule verwiesen!
Die älteste Schwester nimmt nun den Jungen zu sich und schickt ihn in die reformierte Schule, wo er mindestens so viel lernen soll, um Krämer oder Handwerker
zu werden. Bei niemandem findet er Verständnis für seine grosse Wissbegier und
die ungewohnten Grübeleien. Er schreibt seine Unterredungen mit Gott in sein
Tagebuch sowie auch einen Briefwechsel mit seinem verstorbenen Vater, erntet
dafür aber grobe Schelte. Man hielt ihn für einen ungezogenen Querkopf, misstrauisch und halsstarrig.
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1784
Nachdem er wegen einer selbstgebastelten Zimmerbeleuchtung aus einer Rübe
bestraft wird, beschwert er sich beim Vormund, als dieser nicht reagiert, beim Präsidenten des Obervormundschaftsamtes. Nun findet er Aufnahme bei einem alten
Lehrer und tritt ins Gymnasium ein, wo er durch grossen Eifer und ein erstaunliches Gedächtnis auffällt.
1788
Mit 17 Jahren bittet er seinen Vormund, die Universität besuchen zu können und
erhält die Antwort: „Das ist in zwei Jahren noch früh genug!“ Darauf reisst er aus,
kommt mit einem Mietpferd nach Schwerin und findet dort eine Stelle als Hauslehrer. Im folgenden Herbst schliesst er sich einer durchreisenden Schauspieltruppe
an, bearbeitet Schauspiele und schreibt selber einige Bühnenstücke.
1789
Eintritt in die Universität Frankfurt an der Oder. Studium: Theologie, Jurisprudenz,
und Philosophie.
1793
Universitätsabschluss als Doktor der Philosophie, als Magister (bonarum artium)
Geschichte und allgemeine Kultur und auch als Theologe.
1793-95 Als sehr beliebter und erfolgreicher Privatdozent lehrt er: Welt- und Kirchengeschichte, Naturrecht, Ästhetik und Moralphilosophie sowie Exegese des neuen
Testaments. Gleichzeitig betreibt er selbst Studien der Realwissenschaften: Naturkunde, Finanz-, Polizei- und Forstwesen und Zeitgeschichte.
1795
Ein Antrag auf ordentliche Professur wird abgelehnt, weil zu jung und politisch zu
freiheitlich für das damalige Preussen! In der Folge entschliesst er sich zu einer
Europareise durch Deutschland – Schweiz – Frankreich – Italien.
Nach dem Grenzübertritt bei Schaffhausen wandert er durch die Ostschweiz zum
Bodensee, durchs Toggenburg und über Einsiedeln, Stäfa nach Zürich.
Vorerst erlebt er eine herbe Enttäuschung, weil er die vielgepriesene Freiheit im
Lande Tell nicht findet! In den katholischen Kantonen erschrickt er über die Unwissenheit und den Aberglauben einer durch Elend und Not verkümmerten Bevölkerung. In Zürich und anderen Kantonen befremdet ihn die Tyrannei, welche Patrizierfamilien und Zunftherren über das Landvolk ausüben.
In Zürich macht er Bekanntschaft mit: Paul Usteri, Heinrich Pestalozzi, Hans Georg Nägeli, Kaspar Hirzel, Hottinger, Leonhard Meister usw.
1796
Nach einem Aufenthalt in Paris kehrt er zurück nach Bern und macht Bekanntschaft mit Hauptmann Alois Reding von Schwyz. Er wandert über Luzern –
Schwyz – Oberalp nach Chur um weiter nach Italien zu reisen.
Bei einem unfreiwilligen Aufenthalt wegen fehlerhafter Gepäckspedition lernt er
den Dichter von Salis, den Standespräsidenten von Tscharner und Nesemann,
den greisen Leiter der höheren Erziehungsanstalt im Schloss Reichenau kennen.
Nach kurzer Besinnung folgt er dem Angebot, die Leitung dieses Seminars zu
übernehmen.
1798
Von den drei Bünden wird ihm das Staatsbürgerrecht ehrenhalber verliehen.
Eine Berufung zu einer ordentlichen Professur nach Frankfurt lehnt er ab.
Durch den Einmarsch der Franzosen in die Schweiz erfolgt in Graubünden ein
politischer Umschwung. Zschokke wird von politisch anders denkenden, österreichfreundlichen Aristokraten und Bauern wegen einem Flugblatt verfolgt und mit
dem Tode bedroht. Er ergreift die Flucht auf einem Holzfloss den Rhein hinab
nach Bad Ragaz in die Schweiz.
Als Delegierter der schweiztreuen Bündner bei der Helvetischen Regierung in Aarau und später in Luzern wirkt er sehr erfolgreich.
1799
Die Helvetische Regierung erkennt bald seine politischen und menschlichen Fähigkeiten und ernennt ihn vorerst zum Chef des Büros für Nationalkultur (Bildungswesen), dann zum Regierungskommissär mit besonderer Vollmacht des
Kantons Waldstätten (Unterwalden, Schwyz, Uri, Zug). Er schlichtet Unruhen,
schafft Ordnung, Vertrauen und Sicherheit zuerst in Unterwalden, dann in Schwyz
und später in Uri.
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1800
Eine ähnliche Aufgabe führt ihn als Vertreter der Helvetischen Regierung in den
Kanton Tessin und anschliessend als Regierungsstatthalter in den Kanton Basel.
1802
Rücktritt vom Staatsdienst, um sich mehr der literarischen Tätigkeit zu widmen.
Er lebt zuerst in Bern, später in Aarau auf Schloss Biberstein
1804
Der Kanton Aargau ernennt Zschokke zum Oberforst- und Bergrat und verleiht
ihm ehrenhalber das Staatsbürgerrecht. Seine Wohngemeinde Ueken schenkt ihm
das Gemeindebürgerrecht, später auch die Stadt Aarau und die Gemeinde Beromünster.
1805
Erfolgt die Vermählung mit Nanny Nüsperli, der 20-jähriger Pfarrerstochter aus
Kirchberg. Sie schenkt ihm 12 Söhne und 1 Tochter.
1814
Während 27 Jahren wirkt er im Grossen Rat des Kantons Aargau, daneben im
Kirchenrat und im Bezirksschulrat.
1818
Durch die nachträgliche Auszahlung der verloren geglaubten Guthaben für seine
Tätigkeit im Auftrag der Helvetischen Regierung ist er nun in der Lage, einen eigenen Landsitz, die Blumenhalde, auf sonniger Höhe gegenüber der Stadt Aarau,
zu bauen.
1830
Im neu gebildeten Verfassungsrat zur Erarbeitung eines Staatsgrundgesetzes
übernimmt er das Amt eines Vizepräsidenten. An der Tagsatzung in Zürich vertritt
Zschokke den Kanton Aargau als Abgeordneter.
Die Stadt Magdeburg verleiht ihm das Ehrenbürgerrecht.
1848
Am 27. Juni verstirbt der 77-Jährige.
Pädagoge, Volkserzieher
Die erste Station seines pädagogischen Wirkens findet er in der Höheren Lehr- und
Erziehungsanstalt im Schloss Reichenau. Nach gründlicher Prüfung tätigt Zschokke Kauf
und Pacht, übernimmt die vor der Auflösung stehende Schule und führt sie innert einem Jahr
zu neuer Blüte mit 70 Seminaristen.
Die mangelnde Betreuung und das Unverständnis, das Zschokke in seiner Kindheit erfahren hat, befähigen ihn offenbar jetzt zum begabten Pädagogen. Als 26-jähriger ist er Vertrauter und Spielgenosse seiner Zöglinge, er unternimmt mit ihnen mehrtägige Wanderungen in Graubünden und im Unterland. Mit seinen Theatererfahrungen entsteht bald auch ein
ständiges Schultheater. Neben Spiel und Fröhlichkeit wird aber streng gearbeitet und die
Schüler zu freiwilliger Entbehrung und Selbstabhärtung angehalten. Ordnungsverstösse
werden wöchentlich vom schülereigenen Sittengericht beurteilt und geahndet.
Da es keinerlei Lehrmittel oder Schulbücher gab, verfasst er ein Schulbüchlein „Für die
wissbegierige Jugend im Bündnerlande“. Er druckt es auf eigene Kosten und es findet in
kurzer Zeit grosse Verbreitung.
Nach zweijähriger erfolgreicher Schulführung verstärken sich die politischen Wirren in
Graubünden. Die Kriegsgefahr wird akut, die Schüler reisen heim, die Lehrer bitten um Entlassung, die Schule muss geschlossen werden.
Eine weitere pädagogische Aufgabe übernimmt Zschokke als Chef des Büros für Nationalkultur der helvetischen Regierung. Zusammen mit Heinrich Pestalozzi erarbeitet er den Entwurf zum ersten helvetischen Schulgesetz. Literarische Gesellschaften werden gegründet,
Zeitschriften herausgegeben, Vorträge organisiert usw. Ein Jahr später, als Regierungskommissär des Kantons Waldstätten in Schwyz, veranlasst er die Wiederinbetriebnahme der öffentlichen Winterschulen und lässt Instruktionen für die Lehrer und Lehrmittel
drucken. Die Priesterschaft unterstützt diese Bestrebungen allerdings nicht und verhindert
wo immer möglich diese Bildungsinitiative.
Bedeutendes leistet Zschokke als Volkserzieher. Im politischen Ruhestand verfasst er,
mehr als 30 Jahre lang, wöchentlich eine Volksblatt, den „Schweizerboten“. Später auch
einen Kalender. Mit diesen allgemein beliebten und viel gelesenen Schriften versucht er das
Volk politisch und sittlich zu erziehen und aufzuklären.
Ab 1808 verfasst er unter einem Pseudonym während acht Jahren allwöchentlich ein
Sonntagsblatt mit dem Titel „Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christentums
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und häuslicher Gottesverehrung“. Später veranlasst er die Begründung der „Gesellschaft für
vaterländische Kultur“ im Kanton Aargau (Wirtschaft, Geschichte, Naturkunde, Pädagogik,
Landwirtschaft). Auch die Gründung des „Bürgerlichen Lehrvereins“, einer Art Volkshochschule für Erwachsene mit freiwilligen Teilnehmer und Lehrern, sowie die Mitbegründung
einer Lehr- und Erziehungsanstalt für Taubstumme des Kantons Aargau zählen zu seinem
vielseitigen Wirken. Nebenbei unterrichtet er selber sieben Söhne und bereitet sie auf ein
akademisches Studium vor.
Zschokke war ein überaus vielseitiger, begabter und kreativer Pädagoge und Volkserzieher. Viele seiner Novellen sind ebenfalls ganz der Volkserziehung gewidmet.
Politiker, Reformator, Staatsmann
1798 bestand die Eidgenossenschaft aus Kantonen, die jeder für sich völlig unkoordiniert
handelten. Dem Einmarsch der Franzosen wurde deshalb kaum Widerstand geleistet und
bald die Westschweiz bis Solothurn und Bern von den französischen Truppen besetzt.
Graubünden war nicht Glied der Eidgenossen. Sie standen unter Druck zwischen Frankreich
und Österreich, beziehungsweise der politischen Gruppierung der Frankreich zugewandten
freisinnigen Patrioten unter von Tscharner gegenüber den Österreich freundlichen
Aristokraten unter von Salis. Die Helvetische Regierung forderte dann die Bündner auf, sich
der Schweiz anzuschliessen, was diese aber mehrheitlich ablehnten und den
Versprechungen der Österreicher, die alte Ordnung und bisherigen Privilegien zu erhalten,
mehr vertrauten. Die Stimmung schlug um. Von Tscharner wurde abgesetzt und musste
fliehen. Weil Zschokke im Auftrag der Freisinnigen ein Flugblatt verfasst hatte, wurde er mit
dem Tode bedroht und verliess Graubünden auf einem Holzfloss den Rhein hinab in die
Schweiz nach Bad Ragaz, wohin sich auch andere schweiztreue Bündner geflüchtet hatten.
Zschokke vertrat nun die Verfolgten bei der Helvetischen Regierung in Aarau und erwirkte
schliesslich ein Dekret, das den gewünschten Schutz garantieren soll.
In Graubünden wurde er inzwischen geächtet und das Bürgerrecht ihm entzogen; Monate später allerdings, nach der Besetzung Graubündens durch die Franzosen unter General Massena im Februar 1799, wurde dies wieder rückgängig gemacht, verbunden mit einer
öffentlichen Dankbezeugung!
In Helvetien kam es immer wieder zu Unruhen und Aufständen. Die aristokratischen
Kreise, mit Unterstützung der Priester und Klöster wiegelten das Volk gegen die Franzosen
auf. Zschokke wird Regierungskommissär mit besonderer Vollmacht und soll als Prokonsul
in Unterwalden den Aufruhr und den drohenden Bürgerkrieg schlichten. In wenigen Wochen
gelang es ihm, dank Menschenkenntnis und Geistesgegenwart, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und Ordnung, Sicherheit und Ruhe zu schaffen. In dieser Zeit hatte er
auch häufig Kontakt mit seinem Freund Heinrich Pestalozzi, der in Stans die Armenschule
leitete.
Inzwischen war es auch in Schwyz zu politischen Umwälzungen und mörderischen Aufständen gegen die französische Besatzung und die Gewalt- und Racheakte der Soldaten
gekommen. Zschokke gelang es auch hier als Regierungskommissär, wie später auch in Uri,
den Kanton neu zu organisieren und die gesetzliche Ordnung wieder herzustellen.
Am 1. Oktober 1799 stiess Suworow mit seiner russischen Armee von Italien über den
Gotthard ins Reusstal, über den Kinzigpass ins Muotatal und weiter nach Schwyz, wo er das
Heer von General Massena in die Flucht schlug. Von Brunnen her fielen dann aber die
Truppen von General Lecourbe den Russen in den Rücken und drängten sie zurück ins Muotatal Richtung Pragelpass. Zschokke in Schwyz erlebte das alles hautnah mit! Vieles davon
fand später in seine Novellen Eingang.
In den Kantonen Schwyz und Uri war durch diese Ereignisse die Not sehr gross geworden, und da der Winter vor der Türe stand, drohte eine Hungersnot. Zschokke verfasste einen Aufruf zur Hilfe und liess ihn, ausser in der Schweiz, auch überall im Ausland, wo
Schweizer wohnten, verbreiten. Das Echo war überwältigend! Kleider, Lebensmittel, Tierfutter in grossen Mengen nebst ca. Fr. 35’000 kamen zusammen. Zschokke organisierte, dass
mehr als 1000 hungernde Kinder aus den Bergtälern in den Kantonen Aargau, Solothurn
und Bern vorübergehend Aufnahme fanden. Was für eine immense Arbeit Zschokke geleistet hatte, kann erahnt werden an den über 2000 amtlichen Schreiben, die er im Jahre 1899
eigenhändig geschrieben und gleichzeitig seinem Sekretär diktiert hatte!
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Im Frühling 1800 war die Ordnung in den Waldstätten soweit hergestellt, dass Zschokke um
seine Entlassung bat.
Das Schicksal wartete aber bereits mit der nächsten Aufgabe. Im Tessin hatte die neue
helvetische Ordnung überhaupt noch nicht Fuss gefasst und Zschokke wurde auch hier als
Regierungskommissär beauftragt, zum Rechten zu sehen und beim bevorstehenden Durchzug der französischen Armee Moncey mit 20’000 Mann über den Gotthard in die Lombardei
die schlimmsten Schäden zu verhüten. Der heutige Kanton Tessin bestand damals zwischen
Gotthard und Lombardei aus 9 unabhängigen Freistaaten! Zwei etwa gleich starke politische
Lager (pro Frankreich – pro Österreich) waren in teilweise gewalttätige Händel zerstritten.
Die französischen Truppen im Raume Mailand erpressten zudem die Südschweiz durch
künstliche Verknappung der Einfuhr von lebensnotwendigen Resourcen wie Getreide und
Salz. Es war vermutlich die schwierigste politische Aufgabe, die Zschokke hier zwischen den
Bürgern, den Franzosen in Mailand und der helvetischen Regierung zu lösen hatte. Aber
auch hier konnte er viel menschliches Leid lindern und Frieden stiften.
Kaum war das Schlimmste bewältigt, kam der nächste Auftrag. In Basel war der Sturm
ausgebrochen und es drohte ein blutiger Volksaufstand! Es waren bereits Schüsse gefallen
und ein Toter zu beklagen. Zschokke wurde, entgegen seinen Wünschen, ende 1800 zum
Regierungsstatthalter des Kantons Basel ernannt und beauftragt, die Bürgerordnung wieder
herzustellen. Nach einigen dramatischen Sturmtagen in der Basler-Landschaft war Ruhe
und Ordnung aber bald wieder erreicht und Zschokke konnte in der Stadt Basel, zum ersten
Mal in seiner Tätigkeit als Regierungskommissär, auch am kulturellen Bürgerleben teilhaben
und fand auch gelegentlich wieder Musse, um sich der Schriftstellerei zu widmen. So bald
wie möglich übergab er sein Amt einem geeigneten Nachfolger und zog sich ins Privatleben
zurück.
Seine Tätigkeit für die helvetische Regierung war ein Ehrenamt, die Staatskasse zudem
mausarm! Nachdem Zschokke seine sämtlichen Ersparnisse aufgebraucht hatte, forderte er
wenigstens Ersatz für seine Auslagen, dem schliesslich auch entsprochen wurde. Das gesetzliche Gehalt wurde ihm aber erst 16 Jahre später ausbezahlt!
Der Aufstand des Volkes gegen die Regierung und die Forderung nach einem Verfassungsrat, in dem Zschokke gegen seinen Willen zum Vizepräsidenten bestimmt wurde,
schuf ihm viele Feinde. Er wurde als revolutionssüchtiger Aufklärer verschrieen, als Feind
der Religion und der bürgerlichen Ordnung, verleumdet durch Flugschriften, Zeitungen,
geistliche Zornruten von den Kanzeln samt Mord- und Branddrohungen. Im Ausland galt er
als gefährlicher Umwälzer und wurde im sogenannten schwarzen Register aufgeführt.
Nach einem Versuch der Klöster und ihrer katholischen Bürger die alten Privilegien wieder
zurückzufordern, wurden 1841 die rebellischen Klöster des Aargaus, mit kräftiger Unterstützung Zschokkes, per Staatsverfassung aufgehoben.
Erkenntnisse des Staatsmannes: „Das Beste für ein Volk muss allezeit aus dem Volke
selber hervorgehen. Denn es fühlt und kennt am besten, wessen es bedarf, wenn auch nicht
immer die rechte Weise, dem Bedürfnis zu genügen. Regierungen sind Ruhmes wert, wenn
sie das Löbliche begünstigen oder es nur nicht hindern. Sie haben Geschäftes genug, das
Räderwerk der Staatsmaschine in geregeltem Gang für das Gesamtwohl zu erhalten oder
auszubessern. Greifen sie aber in das Einzelne und Besondere des völkischen Strebens
und Schaffens ein, dann wirken sie störend gegen das Leben zahlloser Haushaltungen und
gründen, ohne es zu wollen, verderbliche Tyranneien des Gesetzes“. (Dreigliederung?)
Die beobachtete Vernachlässigung der Wälder in der Schweiz regte Zschokke an, sich
in dieses Rechts- und Wirtschaftsfelde einzuarbeiten. Er studierte auf Exkursionen die Verhältnisse im Schwarzwald und Elsass und wurde so zum gefragten Waldarzt. Die Regierung
des Kantons Aargau ernannte ihn 1804 schliesslich zum „Oberforst- und Bergrat“. Für die
französische Regierung wirkte er als Berater für die Aufforstung in Südwestfrankreich.
Er verfasste ein neues Forstgesetzt und zwei Lehrbücher, „Der Gebirgsförster“ und „Der
Alpenwäldler“.
Als Politiker und Staatsmann hat Zschokke in der Zeit des politischen Umbruches, bei
der Schaffung des heutigen Bundesstaates, ganz entscheidend zum guten Gelingen beigetragen und als begabter Konfliktlöser (Trubleshooter) gelang es ihm, durch sein beherztes
Eingreifen, viel menschliches Leid zu verhindern und Frieden zu stiften.
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Geistsucher ( Religionsphilosoph, Theologe)
In seinen lebenslangen Bemühungen um Erkenntnis von Welt und Geist kann der
Schlüssel zu seinem umfassenden Wirken gesehen werden. Schon in der Kindheit beschäftigen ihn Fragen über Religion, Gott und den Sinn der Welt. Was er erlebt, sieht und hört,
bringt ihn oft in Verzweiflung und seelische Not! „Von wannen komme ich? Wohin soll ich?
Wer ist der Mensch, woher kommt er, was sinnt er, was wirkt er?“
Das theologische Studium an der Universität brachte leider auch keine befriedigenden
Antworten auf seine Lebensfragen. Nach all seinen erfolgreichen Abschlussexamen fühlt er
sich wie Goethes Faust:
Die Gott- und Geistsuche Zschokkes hat in vielen Bereichen Ähnlichkeit mit den Bemühungen und Leiden von Capesius in den Mysteriendramen von Rudolf Steiner.
Einige Beispiele seiner Einsichten:
- Heinrich Zschokke schaut die Welt stufenweise gebaut: zuunterst das Stoffliche, das
„Tote“. Dieses Stoffliche sieht er belebt, sieht das Belebte durchseelt und in der beseelten Stofflichkeit den erkennenden, selbsttätigen Geist. (Der viergliederige Mensch)
- „Der Mensch ist gleichsam Bürger zweier Welten, die beide in seiner Sphäre schon ineinander rinnen. Denn die Natur „bezeugt“ und „der Geist weiss“: „Alles ist gotterfüllt, alles göttlich, weil Gottes.“
- „....Glaube mir, gewiss, es waltet zwischen dem Unsichtbaren des geistigen Alls, und
dem Sichtbaren um uns, ein geheimnisvoller Verband, ein engerer, als Dir und Deiner
Schulgelehrtheit ahnet. Das Irdische ist nur Zeichen und Wort des Überirdischen, das zu
uns reden will. Du verwunderst Dich über vieles, das Du Zufall nennst, und lässt Dir’s
nicht träumen, dass eine verborgene, heilige Hand dabei wirksam ist....“
- „Jedes äussere Unglück ist wahrlich eine so werte Gottesgabe als jedes äussere Glück.
Auch ich habe gleich andern schnöden Undank vieler Menschen erlitten, aber ohne
Missmut, denn ich hatte nichts ihres Dankes willen getan. Freunde haben mich getäuscht; ich zürnte nicht, denn ich selbst hatte mich nur in ihnen getäuscht. Ich ertrug
Verkennung und Verfolgung mit aller Gelassenheit, weil ich die naturnotwendige Ungleichheit der Meinungen und der sie begleitenden Eigenschaften kannte. Auch ich habe
die Beschwerden der Armut erduldet ohne Seufzer, denn ich erfuhr es an mir, äussere
Armut bringt inneren Reichtum. Ich habe auch Verluste eines mühevoll erworbenen
mässigen Vermögens erfahren, dergleichen Verluste haben mich keinen Tag verbittert,
mich nur sparen und arbeiten gelehrt.“
- „Reichtum, Macht und Ehre, für die der gemeine Menschenhaufe lebt, sind nur Scheingüter. Wer in der Fülle des Wohlstandes sich anspruchslos am Notdürftigsten des Unterhaltes begnügen lässt, um mit dem Erübrigten weit um sich her gemeinnützig zu wirken, wer selbst in Armut, noch Ärmeren als helfender Engel erscheint, dem kann Gunst
und Ungunst Fortunens nichts geben, nichts nehmen. Er trägt in sich ewiges Glück und
ewigen Frieden mit sich und der Welt.“
Es ist erstaunlich, wie Heinrich Zschokke 100 Jahre vor Rudolf Steiner zu Einsichten und
Erkenntnissen kam, die ihn heute als „Anthroposophen“ qualifizieren würden. Dass er auch
eine Sensibilität zu übersinnlichen Erkenntnissen hatte, zeigt sich bei ihm in einer eigenartigen Seherbegabung: Er schaute manchmal den Lebenslauf von teilweise wildfremden Menschen und konnte z.B. Möblierung, Farben, Begebenheiten detailliert schildern, ohne diese
je in Wirklichkeit gesehen zu haben. Er war immer wieder überrascht und verwundert, wenn
sich eine genaue Übereinstimmung ergab. Erklären konnte er sich diese Erscheinungen
allerdings nicht.
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Schriftsteller
Heinrich Zschokke war, neben all seinen sonstigen Fähigkeiten, ein sehr begabter Schriftsteller. Als 19-jähriger Student erzählte er mit viel Phantasie eine venetianische Legende
und gestaltete die Geschichte anschliessend zu einem Schauspiel, vermutlich inspiriert
durch den verehrten Schiller, das dann auf den Bühnen in ganz Deutschland unter dem Titel
“Abellino der grosse Bandit“ aufgeführt wurde.
In Bern, wo er Ende 1801 vorläufig Wohnsitz nahm, befreundete er sich mit Ludwig Wieland, dem Sohn des Dichters, und mit Heinrich von Kleist. An einem Abend beschlossen sie
einen dichterischen Wettstreit. Jeder sollte nach seiner Art eine Geschichte zu einem Kupferstich mit dem Titel „la crusche cassée“, der in Zschokkes Stube an der Wand hing,
schreiben. Wieland eine Satire, Kleist ein Lustspiel und Zschokke eine Erzählung. Kleist hat
mit seinem „Zerbrochenen Krug“ den Preis gewonnen.
Zschokke schreibt selber über sein schriftstellerisches Werk: „Für mich lag nun einmal
die höchste Würde des Schriftstellertums im Anregen des Hochmenschlichen, des Sinnes
für Wahrheit, Menschenrecht und Geistesveredlung der Zeitgenossen. Dafür mussten selbst
die dichterischen, einer leichten Unterhaltung gewidmeten Gebilde dienen, in die ich meine
Erfahrungen und Ansichten hüllte, wie der Arzneihändler seine Pillen in Goldschaum oder
Zucker. Blosse Gaukelspiele des Witzes, und Luftsprünge der Einbildungskraft, wie viel sie
der sogenannten poetischen Höhe oder Tiefe haben mögen, genügten mir nie und noch
heute nicht. Was nicht auf eine oder andere Art den Menschengeist emporlüpft, trägt nicht
das reine Gepräge des Schönen, ist nur Seiltänzerei der Phantasie gleich derjenigen, die
der Markt auf der gespannten Schnur zeigt, wo man zwar mit Ergötzen oder Verwunderung,
mit Gelächter oder Grausen eine Weile zusieht, aber endlich mit nüchternem Missbehagen
oder gleichgültig von dannen geht. Wahrhaft Schönes lässt einen langen Nachhall des
Wohllauts in der Seele zurück. Für gebildetere Stände der bürgerlichen Gesellschaft ist allenthalben zum Überfluss mit nützlichem und unnützem Naschwerk gesorgt. Für sie blüht im
Musengarten Hülle und Fülle der Rosen und Lilien. Für die bildungsärmeren Stände gibt es
kaum einige Wiesenblumen darin. Kunst geht nach Brot und Ruhm, kümmert sich wenig um
den gemeinen Mann, um den Grossteil der Nation, der freilich weder Ruhm noch Brot spenden kann. Ich, wenig auf Künstlerehre erpicht, fühle immer noch wie sonst, für die Vergessenen im Volk mehr Teilnahme als für die Wohlgepflegten. Ich nahm mir auch vor, eine ganze Reihe belehrender, kleiner Erzählungen für den gemeinen Mann zu entwerfen.
Von dieser Art war z.B. die Erzählung „Das Goldmacherdorf“, eigentlich nur für schweizerische Landleute berechnet. Es freute mich indessen sehr, dass das Büchlein auch in Frankreich, Italien und sogar bis Russland verbreitet wurde.“
Zschokke wirkte auch als Historiker. Der Direktor der Münchner Akademie und andere
Freunde in Deutschland ermunterten Zschokke, die Geschichte des Landes Bayern zu
schreiben. Er liebte dieses Land und Volk und unternahm im Verlaufe von 10 Jahren dreimal
eine Reise quer durch Bayern mit Besuchen bei Freunden, Ministern und auch beim König
Maximilian Joseph in Nymphenburg. In mehreren Auflagen erschien das vierbändige Werk:
Die Geschichte des bayrischen Volkes und seiner Fürsten.
Weitere historische Werke:
„Geschichte des Freistaates der drei Bünde im hohen Rhätien“
„Des Schweizerlands Geschichten für das Schweizervolk“ (1822 ergänzt 1843)
Das schriftstellerische Lebenswerk Zschokkes umfasst insgesamt etwa 150 Titel. Ausser seinen geschichtlichen, pädagogischen und fachwissenschaftlichen Schriften verfasste
der Volksdichter Zschokke 12 Bände Novellen. Die Berühmtesten und Lesenswertesten davon sind vermutlich: „Das Goldmacherdorf, Der Freihof von Aarau, Addrich im Moos, Die
Rose von Disentis, Der Narr des neunzehnten Jahrhunderts, Die Gründung von Maryland“.
(Die vollständige Novellensammlung in vier Bänden ist in der Bibliothek des Heinrich
Zschokke-Zweiges Uster verfügbar)
Gegen Ende seines reichen Lebens verfasste Zschokke unter dem Titel „Selbstschau“
eine Selbstbiographie, deren erster Teil „Das Schicksal und der Mensch“, hauptsächliche
Quelle dieser biographischen Darstellung ist. Der zweite Teil „Welt- und Gottanschauung“
wurde angeblich von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt, d.h. verboten.
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Dass Zschokke, der einst meistgelesene Schriftsteller in der Schweiz, heute weitgehend
vergessen ist, kann aus seinem Schreibstil, der primär das damalige, wenig gebildete Volk
erreichen und moralisch bilden wollte, erklärt werden. Dies im Gegensatz zu seinem Freund
Heinrich Pestalozzi, der damals kaum gelesen wurde, obwohl seine Zeitschrift vom Staat
finanziert wurde. In einem aktuellen Bücherverzeichnis wird ein 1816 erschienenes Buch wie
folgt charakterisiert: „Politisches Hauptwerk des bedeutensten Schweizer Vertreters einer
ganzheitlichen anthroposophisch ausgerichteten Philosophie.“
Schlussgedanken
Wer war Heinrich Zschokke?
Er war ein Philosoph, ein Theologe, ein Schriftsteller, ein Politiker, ein Revolutionär, ein
Pädagoge, ein Prediger, ein Staatsmann, ein Historiker, ein Volksfreund, ein Naturwissenschafter usw. usw. und er war vor allem ein stetiger Sucher nach Welt- und Geisterkenntnis
und nach der Idee der Freiheit! Man könnte zusammenfassend auch sagen: Ein vorbildlicher, ganzheitlicher Mensch - ein Anthroposoph!
Wir dürfen glücklich sein, ihn als „Zweigpatron“ nahe zu wissen und hoffen, dass er uns in
unseren Bemühungen auch in Zukunft immer wieder zur Seite steht.
Ein Wort Heinrich Zschokkes zum Abschluss:
"Kein Zufall oder Schicksal kann uns unglücklich oder glücklich machen; denn
was die unsichtbare Gotteshand, das Schicksal, bringt, ist an sich weder Glück
noch Unglück, sondern wird es erst durch dasjenige, was wir daraus machen und
wie wir dieses in uns aufnehmen.“