Weil ich dich liebe

Weil ich dich liebe
Einmalige Sonderausgabe Januar 2016
Langen
Dieser Krimi entstand im Rahmen der Projektwoche der Dreieichschule Langen im Januar
2016. 13 Schülerinnen und Schüler planten gemeinsam einen fiktiven Mordfall, kreierten
Figuren und ihre Handlungsmotive – Täter und Opfer, Verdächtige und Ermittler –,
gestalteten Schauplätze, feilten an der Handlung und legten falsche Fährten, die den
Leser in die Irre führen sollen.
Mir – und ich glaube auch den Schülerinnen und Schülern – hat die Woche sehr viel Spaß
gemacht und wir hoffen, dass den Lesern der Krimi ebensolchen bereiten wird.
C. Heß
Weil ich dich liebe
EIN KRIMI VON:
ANNA BURKHARDT – PAULA DICK –LINDA GIACOBELLO
LUISE HESS – KIM JASCHITZEK – AZIZ KARAGÖZ – FRANCA LEX
ANTON LITTMANN – TAMARA LUKIC – SOPHIA NÖLTE-WOLFGARTEN
AIDA SALIHAJ – NATASCHA SZIGAT – ESTRELLA VACA
EINS
Sie spürte diese kalten Hände, die sie von hinten packten und in den Kofferraum drängten.
Sie schrie, doch die Hand legte sich brutal über ihren Mund. Das Mädchen bekam keine Luft
mehr. War es jetzt wirklich aus? Auf einmal spürte sie einen spitzen kalten Gegenstand am
Rücken und der Kofferraumdeckel ging zu. Sie bekam Panik. Wo war sie, was würde ihre
Familie denken? Ihre Mutter würde das ganz bestimmt nicht verkraften! Antonia zerrte,
drückte und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Sie musste hier raus. Wieso macht jemand so
etwas?! Antonia trat nochmals mit aller Kraft gegen den Deckel. Plötzlich ging der
Kofferraum auf und die Person zischte: „Halt den Mund!“ und schlug ihr mit der Faust ins
Gesicht. Der Schmerz raste durch ihren Kopf wie tausend Nadelstiche. Das letzte was sie sah,
war der ihr bekannte silberne Ohrring. Dann war alles dunkel.
***
„Was hältst du davon, wenn wir morgens bowlen gehen?“, schlug ihre Mutter vor. „Ach
Mama, du machst dir viel zu viel Mühe! Ich möchte einfach nur mit euch zusammen sein!“
erwiderte Antonia. „Schatz, du wirst sechzehn! Wir müssen das feiern und denke ja nicht
daran, an deinem Geburtstag Tennis zu spielen!“, lachte ihre Mutter. Antonia grinste und
sah ihre Mutter bettelnd an. „Nein, siehe mich jetzt nicht so an. An deinem Geburtstag wird
kein Tennis gespielt. Ich weiß, dass es dir viel bedeutet, aber du musst mal etwas anderes
machen, rausgehen, dich mit deinen Freunden treffen und Spaß haben!“, erklärte Maria.
Antonia erwiderte belustigt: „Mama, das musst du gerade sagen! Außerdem macht mir
Tennis viel Spaß!“ Ihre Mutter schrie auf: „Ah! Ich habe eine Idee! Mittags laden wir Oma,
Dirk, deine Tante Luna und deinen Onkel Aaron, die kleine Francesca und natürlich deinen
Freund Lenny ein. Abends machen wir uns dann mit Luna und Francesca einen tollen
Mädels-Abend auf dem Weihnachtsmarkt! Was hältst du davon?“ „Das wäre schön!
Francesca ist so süß!“, antwortete Antonia. „Ja, aber sie wird nächstes Jahr schon
eingeschult. Die Zeit vergeht so schnell!“, erwiderte Maria. „Allerdings glaube ich, dass Lenny
über diesen Mädels-Abend nicht sehr erfreut sein wird“, warf Antonia ein. Daraufhin
antwortete ihre Mutter: „Ach Schatz ihr seid doch sonst so oft zusammen! Ihr trefft euch
doch fast jeden Tag! Außerdem kommt er doch morgen Mittag!“ Antonia ließ sich
überzeugen, dass Lenny das irgendwie verkraften würde und ging auf ihr Zimmer, um sich
für das Tennistraining umzuziehen. Sie stellte sich vor den Spiegel und betrachtete sich. Sie
dachte an ihren geliebten Freund. Lenny Sarikakis. Er war immer für sie da, wenn sie ihn
brauchte. Ihre Eltern mochten ihn auch sehr. Besonders ihre Mutter. Sie behandelte ihn ein
bisschen wie den Sohn, den sie nie gehabt hat. Wahrscheinlich, weil seine Eltern geschieden
sind. Gedankenverloren nahm Antonia ihre langen, braunen, welligen Haare und machte sich
einen Zopf. Lenny war siebzehn, aber sah älter aus. Antonia liebte Lenny – seit drei Jahren
waren sie ein unzertrennliches Paar, aber sie kannten sich schon seit Kindertagen. Seit
Kindertagen hegte Antonia auch den Wunsch, Tennisprofi zu werden und übte dafür täglich
drei Stunden.
***
1
Später am Abend, nachdem sie das Training beendet hatte, duschte sich Antonia zu Hause
und checkte ihre Nachrichten, die in der Zwischenzeit aufgelaufen waren. Sie empfing eine
von Lenny. Darin stand:
Hi Schatz,
freust du dich schon auf morgen?
Ich habe schon ein Geschenk für dich. 
Antonia schrieb:
Natürlich freue ich mich! 
Wir machen morgen einen Mädels-Abend auf dem Weihnachtsmarkt. Ich hoffe,
du bist nicht böse...
Lenny schrieb:
Ich wollte mit dir eigentlich ins Kino gehen, aber ich kann auch etwas mit meinen
Freunden unternehmen.
Antonia antwortete:
Sei nicht traurig, wir holen das nach 
Außerdem empfing sie auch eine dieser E-Mails, die sie seit geraumer Zeit ins Grübeln
brachten. Jede dieser Nachrichten endete gleich. Sie öffnete sie und las:
Antonia,
du bist so wunderschön, mein Engel. Deine Haare sind die
hübschesten, die ich je erblickt habe. Ich will mit dir den Rest meines
Lebens verbringen weil ich dich liebe.
Antonia servierte den Verfasser wie immer ab und schrieb:
Ich liebe dich aber nicht! Ich kenne dich nicht einmal!!! Lass‘ mich
einfach in Ruhe!
Anonyme Nachricht:
DAS WIRST DU NOCH BEREUEN!!!
Weil ich dich liebe...
Langsam wurden Antonia diese Nachrichten unheimlich. Sie setzte sich auf ihr Bett und
dachte: „Er macht doch nur Spaß – oder?“. Sie nahm sich vor, am Montag etwas gegen
diesen Typen zu unternehmen. Aber ihren morgigen Geburtstag wollte sie sich dadurch nicht
vermiesen lassen.
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ZWEI
Steffen Moritzen nahm genüsslich einen Schluck Kaffee aus seinem Eintracht-Becher und
genoss den dienstfreien Samstagvormittag. Er mochte seinen Job als Polizist, trotzdem hatte
er manchmal auch genug von seinen nervtötenden Kollegen. Außerdem fühlte er sich mit
seinen 36 Jahren manchmal schon steinalt. Das Telefon klingelte und Steffen stand stöhnend
aus seinem Lieblingssessel auf, um zum Hörer zu greifen. „Hallo?“, sagte er und betrachtete
abwesend einige Spatzen, die auf dem Schweizer Platz herumhüpfte und sich von den
Kindern Brotkrumen hinwerfen ließen. ,,Hi Steffen! Wie geht’s?!“, rief die fröhliche Stimme
seines Cousins Alexander. Steffen lächelte erfreut. „Mir geht’s gut. Klappt das heute mit dem
Eintracht-Spiel?“ „Logo! Wir treffen uns am besten im Stadion, ich hab vorher noch einen
Mandanten.“ „Mein Cousin der Anwalt. Ich bin stolz auf dich, Alex“, sagte er und fuhr sich
mit der Hand durch das blonde Haar. Seine leuchtend grünen Augen wanderten zurück zu
den Spatzen, als Alex begann ihn mit seinem Anwaltskram vollzumüllen. „Dann bis heute
Nachmittag! Bayern wir kommen!“, sagte Alex zum Abschied und legte abrupt auf. Langsam
stand Steffen auf und rief seinen Arbeitskollegen Patrick an, um die Hinfahrt zum Stadion zu
klären. Patrick war ein junger Polizist und Steffen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn ein
wenig unter seine Fittiche zu nehmen. Konnte ja nicht schaden. Nach dem Telefonat konnte
sich Steffen nicht zu einer kleinen Sporteinheit aufraffen und dachte an seine Eltern. Morgen
würde sich ihr Todestag zum 20. Mal jähren. Und mit ihrem auch der Todestag seiner
damaligen Freundin Lisa, die mit seinen Eltern im Auto saß, als sie damals Opfer eines Unfalls
auf der Autobahn wurden. Er würde sie stolz machen. Sie alle.
***
Das Spiel lief seit zwei Minuten und der FCB war bereits klar überlegen und hatte schon
einige hundertprozentige Chancen vergeben. „Spiel das Ding aus dem Sechzehner raus!“,
brüllte Steffen und Patrick, der neben ihm saß, nickte zustimmend. Entsetzt sprang Alex auf
als Robert Lewandowski sich im Strafraum drehte und den Ball ans Außennetz drosch. „Glück
gehabt!“, kommentierte Patrick und nahm einen Schluck Bier. Lukas Hradecky, der Torwart
der Eintracht, ließ den Ball bis zur Mittellinie fliegen und Stefan Reinartz nahm ihn gekonnt
an. „Spiel doch zu Meier!“, rief Alex, raufte sich das dunkle Haar und ließ sich wieder auf den
Stadionsitz fallen als Thiago von den Bayern ihm wieder den Ball abnahm. „Nicht zu
glauben“, seufzte Steffen und trank den letzten Schluck seiner Bierflasche leer. „Solange es
bei einem Unentschieden bleibt ist alles gut“, lamentierte Alex und warf einen Blick auf sein
Smartphone. ,,Schlechte Nachrichten Leute“, bemerkte Alex grimmig. „Ich muss nach dem
Spiel leider sofort los. Mein Chef braucht mich.“ „Kann das nicht warten?“, fragte Steffen
doch sein Cousin schüttelte den Kopf. „Es ist wichtig. Aber das Spiel geht ja noch ein bisschen
und so lange bin ich da.“ Steffen wandte sich dem Spielfeld zu und beobachtete angespannt,
wie Kingsley Coman vom FCB an allen Eintracht-Spielern mühelos vorbeizog, den Ball elegant
in den Rückraum spielte und David Alaba den Ball per Direktabnahme ganz entspannt im Tor
unterbrachte. „David Alaba erzielt das 1:0 für den FC Bayern München in der 17. Minute“,
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rief der Stadionsprecher traurig. „Scheiße!“, kommentierte Patrick und seufzte tief. „War das
nicht irgendwie klar?“, sagte Steffen und versuchte nicht allzu pessimistisch zu klingen.
20 Minuten später stand es immer noch 1:0 aber die Eintracht hatte sich allmählich ins Spiel
gefunden und kreierte immer mehr Chancen. Wie auch jetzt. Stefan Aigner brachte den Ball
hoch in die Mitte und Alex Meier köpfte und… „Toooooooor für die Eintracht! Mit der
Nummer 13. ALEX…!“ „…MEIER! FUSSBALLGOTT!“, schallte es laut zurück und Steffen, Alex
und Patrick fielen sich in die Arme. „Endlich!“, jubelte Patrick und Steffen stieß die Faust in
die Luft. Unten auf dem Feld sahen sich die Bayernspieler und Trainer Pep Guardiola ratlos
an. „Da habt ihrs, ihr beschränkten…“, weiter kam Alex nicht, denn ein aggressiver BayernFan verpasste ihm eine Backpfeife und rief wütend: „Unverdient!“ Patrick sprang empört
auf, doch Steffen hielt ihn zurück. „Lass es lieber…“, murmelte er und drückte ihn zurück auf
den Stadionsitz.
Bis zur 80. Minute verlief alles gut, die Eintracht spielte sicher und die Bayern kamen nicht
durch die Abwehrmauer ihrer Gegner. Nach einem Foul von Makoto Hasebe legte sich Xabi
Alonso den Ball kurz vor dem Sechzehnmeterraum zurecht und ging drei Schritte zurück.
Arjen Robben und der inzwischen eingewechselte Douglas Costa lauerten an der
Strafraumgrenze. Der Pfiff des Schiedsrichters ertönte, Alonso lief an und traf in den linken
Winkel. Sprachlos sahen Steffen, Alex und Patrick sich an. „Unfassbar!“, stieß Patrick hervor
und betrachtete die Jubeltraube aus Bayernspielern, die sich auf dem Feld bildete. „Sie
waren so kurz vor dem Remis“, rief Steffen und raufte sich die Haare. Alex schüttelte nur den
Kopf. „Unglaublich.“
***
Nach dem Spiel ging Alex zu seinem Termin und Steffen und Patrick fanden sich in einer
Kneipe in der Innenstadt wieder. „Ich hasse Bayern in diesem Moment fast so sehr wie
Darmstadt“, knurrte Steffen und betrachtete die Bar, an der sich einige junge Männer
bemühten, ein hübsches Mädchen rumzukriegen. Er beobachtete die Szene betrübt, die
braunen langen Haare erinnerten ihn an das Mädchen, an das er einst sein Herz verloren
hatte. Steffen verfiel in ein langes Schweigen und erst die dritte, sehr deutliche Ansprache
seines Gegenübers brachte ihn zurück in die Realität. „Setzt dir die Niederlage so zu?“, fragte
Patrick halb belustigt über Steffens plötzlichen Stimmungswandel. Ein weiteres kurzes
Schweigen folgte, dann murmelte Steffen: „Morgen jährt sich der Todestag meiner Eltern
und meiner Freundin. Ich… es ist schon der 20. und ich habe keine Ahnung was ich machen
soll.“ „Mein Beileid“, kommentierte er. „Wie sind sie denn gestorben? Falls dir die Frage
nicht zu sehr zusetzt”, fragte Patrick zögerlich. Steffen holte tief Luft und schüttelte
schließlich den Kopf. „Nein nein, das ist schon ok. Es war ein Autounfall, sie sind mit einem
Reisebus voller Rentner kollidiert.” Patrick nickte mitfühlend. „Ich verstehe dich.” Steffen
lachte laut und bitter auf. „Nein, das tust du nicht. Niemand tut das. Weil keiner versteht,
wie viel sie mir bedeutet hat, meine Freundin Lisa. Sie war so viel mehr für mich als eine
lächerliche Kinderbeziehung.” Patrick fühlte sich leicht unbehaglich mit der Situation und
beschloss, auch etwas von sich zu erzählen. „Ich weiß, das ist nicht annähernd so schlimm
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wie das, was dir passiert ist, aber ich habe auch Probleme. Ich bin irgendwie verliebt, aber
ich vermisse auch meine Ex-Freundin. Das fühlt sich total seltsam an, weißt du das?”. Steffen
lächelte, jetzt wieder etwas fröhlicher. „Sehe ich etwa aus wie der große
Beziehungsexperte?” Patrick lächelte ebenfalls. „Du siehst jedenfalls auch nicht gerade wie
das Gegenteil aus.“ „Das war ein Kompliment”, fügte er auf Steffens fragenden
Gesichtsausdruck hin noch rasch hinzu. Plötzlich richtete sich Patrick auf und schüttelte
entschieden den Kopf. „Es reicht jetzt mit dem Jammern! Heute Nacht geht es nur um das
Hier und Jetzt, um uns! Wir betrinken uns und…“. „Keine Chance, morgen haben wir Dienst
auf dem Weihnachtsmarkt. Da sollten wir keinen Kater haben.“ „Du hast recht. Ich kann mir
vorstellen, dass du deine Freundin von damals sehr vermisst?“ „Mehr als alles andere“,
bestätigte Steffen. „Meine Eltern auch aber … Lisa am meisten.“ Patrick nickte
verständnisvoll. Steffen holte tief Luft. „Irgendwann sehe ich sie wieder. Die Frage ist nur
wann.“
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DREI
Im Hause der Catalanos war mächtig was los. Antonia feierte ihren 16. Geburtstag. Sie wollte
nichts Großes aber Maria, ihre Mutter, und Manuel, ihr Vater, luden fast die ganze Familie
ein, ihre Oma kam mit ihrem neuen Freund Dirk, da ihr Mann und Antonias Opa vor vier
Jahren verstorben war, und Marias Schwester Luna mit ihrer Familie. Antonia hatte sie schon
lange nicht mehr gesehen und so war die Überraschung umso größer. „Na los Toni, pack
schon deine Geschenke aus. Ich hoffe es wird dir gefallen“, sagte Luna, die gespannt auf die
Reaktion von Toni zu ihren Geschenken wartete. Toni lächelte und packte die beiden
Geschenke ihrer Tante aus. Ihr Freund Lenny, der natürlich auch eingeladen war, freute sich
über seine glückliche Freundin, die gerade einen Pulli und ein Paar Ohrringe aus dem
Geschenkpapier nahm. Die Ohrringe hatten die Form von Christbaumkugeln. Sie waren rot
und leuchteten im Licht. „Vielen Dank Luna. Die sind echt wunderschön.“ Sie legte die
Ohrringe weg und hielt den Pulli an. Er hatte ein weihnachtliches Design und einen leichten
Schimmer – ein Unikat. Er war von ihrer Tante, die eine Boutique führte, eigens entworfen
und handgemacht. „Er steht dir wirklich gut. Du kannst ihn ja heute Abend auf dem
Weihnachtsmarkt tragen“, meinte Lenny leicht traurig darüber, dass Maria, Luna und ihre
Tochter Francesca heute Abend seine Freundin auf einen Mädels-Abend mit zum
Weihnachtsmarkt nahmen. „Ach kommt Lenny, nimm es nicht so schwer. Du wirst auch
einen schönen Abend bei deinen Freunden haben. OK?“, versuchte Luna ihn aufzumuntern.
„So, Toni jetzt unser Geschenk!“, sagte Maria. Toni packte das Geschenk ihrer Eltern aus. Ein
neues Tenniskleid, das sie sich schon lange gewünscht hatte. „Sie fiel ihren Eltern um den
Hals. Vielen Dank Mama. Danke Dad. Dieses Outfit wünsche ich mir wirklich schon lange.
Morgen werde ich es sofort testen.“ Während Maria in die Küche ging, um den
selbstgemachten Geburtstagskuchen zu holen, packte Toni noch die letzten Geschenke aus.
Eins davon war ein selbstgemachtes Fotoalbum von Lenny, das viele schöne Erinnerungen
barg. Manuel folgte Maria in die Küche: „Na Schatz, was hast du heute so gemacht?“ „Na
was wohl, ich habe mich um den Geburtstag unserer Tochter gekümmert, Girlanden und
Luftballons verteilt und das Geschenk abgeholt. Und was hast du so gemacht? Hast du den
zweiten Kuchen abgeholt?“, fragte Maria fordernd. „Ja – das wollte ich dir gerade sagen. Ich
habe es vergessen. Wirklich, es tut mir leid, ich hatte so viel Stress.“ Ein verächtliches
Schnauben seiner Frau folgte: „Deine gewöhnliche Ausrede also.“ Sie verdrehte die Augen
und schluckte. Ihre Ehre war schon lange keine Musterehe mehr. Genervt ging sie wieder zu
den Gästen und servierte also nur einen Kuchen. Die Stimmung stieg wieder, sie lachten und
hatten viel Spaß. Am Abend verabschiedeten sich die Mädels, um zum Weihnachtsmarkt
aufzubrechen. Manuel, Antonias Vater, ging in die Uniklinik zum Spätdienst, er war Chirurg,
und Lenny, der zwar gerne seine Freundin begleitet hätte, aber den Mädels-Abend durchaus
akzeptierte, ging zu seinen Kumpels und Aaron, Lunas Mann, der eh nicht besonders scharf
auf Weihnachtsmarkt und Glühwein war, ging nach Hause.
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***
Als Toni, die ihren neuen Pulli und die roten Ohrringe trug, und ihre Begleiterinnen auf dem
Weihnachtsmarkt ankamen, blickte die kleine Francesca an Toni herab und begutachtete das
neue Outfit ihrer Cousine. Maria war schon an einem Stand mit Glühwein und kam mit drei
Tassen zurück. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr über die Schulter. Sie sagte zu Toni
gewendet: „Ich finde du solltest heute auch mal einen Glühwein bekommen. Willst du?“ „Ja
klar, will ich!“ Auf dem Weihnachtsmarkt war es eiskalt und Tonis erster Glühwein wärmte
sie gut. Als die drei ihre Tassen leergetrunken hatten und Francesca genüsslich ihren Crêpe
gegessen hatte, gingen sie weiter an den Ständen entlang. Alles leuchtete und überall
standen fröhliche Leute. In den Bäumen hingen Lichterketten und in der Luft lag ein süßer
Duft von Zimtgebäck und heißem Glühwein. Bei einer der Buden blieb ihre Mutter stehen. Es
war ein kleiner Stand, süß verziert und oben drauf leuchteten Sterne. Der Mann hinter dem
Stand bemerkte Maria: „Wollen sie ein paar Glückskekse kaufen?“ „Ja bitte“, sagte Maria,
„Vier Stück.“ Der Mann gab jedem einen Keks, aber bei Toni zögerte er kurz. Er blickte noch
einmal auf das Bild in seiner Jackentasche, das ihm der geheimnisvolle Mann wenige
Augenblicke zuvor in die Hand gedrückt hatte, mit der eindringlichen Bitte, diesem Mädchen
einen speziellen Glückskeks zukommen zu lassen. Er schien Antonia zu erkennen und
übergab ihr nach einer etwas zu langen Musterung den ihr zugedachten Keks. Der Verkäufer
hatte sich nicht viel dabei gedacht, es kam häufiger vor, dass Menschen besondere
Botschaften als Überraschung in seinen Glückskeksen platzieren wollten. Aber dieser Mann
war ihm irgendwie nicht geheuer gewesen.
„Mama, ich geh kurz auf die Toilette, gleich da drüben.“ Sie deutete auf einen Stand, neben
welchem sich die Toiletten befanden. „Ihr braucht nicht warten ich komme dann nach.“ „OK,
bis gleich. Kommt, Luna und Francesca, wir können uns ja mal dort drüben anstellen.“ Toni
drehte sich um und schaute, dass sie allein war. Sie hatte Angst bekommen, als der Typ sie
so komisch angeguckt hatte und dann in den anderen Korb von Glückskeksen griff. Ihr wurde
kalt und sie ging hinter den Stand neben den Toiletten, um die Nachricht aus dem
Glückskeks zu holen. Sie brach den Keks auf und blickte noch einmal auf. Niemand war da.
Die Sterne leuchteten am Himmel und der Mond schien hell. Sie entfaltete die Nachricht.
Du hättest damals nicht ablehnen sollen. Wie du sagtest, du kennst mich doch
gar nicht.
Weil ich dich liebe.
Ein frostiger Schauer lief Antonia über den Rücken. Sie fühlte sich bedroht und eingeengt.
„Er verfolgt mich mit seinen Nachrichten. Oh mein Gott, langsam wird das hier zur Hölle. Ich
habe mich geirrt, das ist kein Spaß mehr!!!“ Sie blickte sich verzweifelt um. Da nahm sie am
Boden einen Schatten hinter sich wahr. Plötzlich packte sie jemand brutal an den Schultern.
Sie versuchte sich umzudrehen, doch dieser jemand wollte das nicht zulassen. Er war stärker
als sie. Sie ließ ihren Blick in die Richtung schweifen, aus der sie gekommen war und hoffte,
ihre Mutter in der Menschenmenge zu erkennen. Da, da war sie! Maria suchte ebenfalls die
Menge nach ihrer Tochter ab, es wäre langsam Zeit gewesen, zurückzukommen. Als sie ihre
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Tochter in den Fängen des Mannes sah, der sie gepackt hielt, schrie sie laut los und
versuchte zu Toni zu gelangen. Doch die umstehenden Leute wollten sie nicht vorbei lassen.
Sie erkannten gar nicht die Dringlichkeit der Situation. Und dann verlor Maria ihre Tochter
aus den Augen. Touristen, die die Vorweihnachtszeit genossen, schossen lustige Fotos,
Kinder spielten fangen und Erwachsene tranken vor der Krippe Glühwein.
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VIER
Erneut klingelte das Telefon bei der Polizei. Die aufgeregte Frauenstimme von gestern Abend
versuchte wiederholt zu schildern, dass ihre Tochter entführt worden war. Patrick war mit
der Situation ziemlich überfordert. „Beruhigen Sie sich erst einmal und erklären Sie mir in
Ruhe alles von vorne“, erklärte er der aufgebrachten Frau. „Ich habe Angst, dass ihr etwas
passiert ist“, entgegnete sie aufgebracht. „Aber warum sollte ein Polizist einfach ein
Mädchen entführen. Woher wissen Sie, dass es sich um eine Entführung handelt? 16-jährige
Mädchen hauen gerne mal ab. Sie wird sich schon wieder bei Ihnen melden. Vielleicht hat sie
einfach auch etwas Freiraum gebraucht.“ „Das haben Sie mir gestern Abend aber auch schon
gesagt und bis jetzt ist keine Spur von ihr zu sehen. Ich kenne meine Tochter! Sie würde
niemals so lange alleine wegbleiben, ohne Bescheid zu sagen“, schimpfte Frau Catalano in
einem wütenden Ton, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Patrick konnte die Situation
nicht gut einschätzen, weshalb er Steffen zu sich rief. Steffen kam und nahm ihm den Hörer
ab. Energisch sprach er in den Hörer: „Falls Ihre Tochter bis heute Abend um 18 Uhr noch
nicht aufgetaucht ist, melden Sie sich wieder bei uns, aber im Moment können wir nichts
weiter für Sie tun, da die gesetzlich einzuhalten Frist von 24 Stunden noch nicht abgelaufen
ist.“ Steffen legte auf und ging zurück in sein Büro.
Pünktlich um 18 Uhr rief Frau Catalano ein drittes Mal bei der Kriminalpolizei an. Als Patrick
den Hörer abnahm, erklärte er ihr, dass sie den Fall nun übernehmen werden und sich bald
wieder bei ihr melden. Patrick verabschiedete sich, legte auf und erzählte Steffen von dem
Anruf. Er wollte den Fall sofort übernehmen und ging zu seinem Chef ins Büro. „Hallo Herr
Beuchert! Frau Catalano hat eben schon wieder angerufen. Ihre Tochter hat sich noch nicht
gemeldet. Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich den Fall übernehmen“, sagte er etwas
aufgeregt. „Ich kann ihm helfen! Ich meine… schließlich wäre es mein erster Fall“, mischte
sich Patrick in das Gespräch ein. Rolf Beuchert, der Polizeichef, war über das Engagement
der beiden sehr erfreut und überließ ihnen den Fall. Zunächst beauftragte er sie mit der
Fahndung nach dem jungen Mädchen, Antonia Catalano.
***
Im Schutz der Dunkelheit öffnete er den Kofferraum und betrachtete das schlafende
Mädchen liebevoll. „Sie sieht so schön aus im Mondlicht. Ihre Haare schimmern so
wundervoll. Ich kann nicht glauben, dass sie sich mir wirklich wiedersetzen will, so schön wie
sie ist“, dachte er bei sich. Er nahm sie vorsichtig aus dem Kofferraum und trug sie nach
drinnen. Er schloss die Tür hinter sich und brachte das halbschlafende Mädchen in den
Keller. Er ging in die Küche und bereitete ihr eine Kleinigkeit zu essen vor. „Wie schön es
gewesen wäre, wenn sie mal freiwillig zu mir zum Essen gekommen wäre“, ging es ihm durch
den Kopf. „Das kleine Biest musste mich ja unbedingt ablehnen. Sie ist selbst an dieser
Situation schuld, sie hat meine Liebe ja nicht erwidert!“
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Als Antonia aufwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Panik kroch ihren Körper hoch und
schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte sich nur an die kleinsten Details erinnern. Als sie
bemerkte, dass ihr Kopf wehtat, erfühlte sie, dass eine kleine Beule an ihrem Hinterkopf zu
spüren war. Sie erinnerte sich an die kalten Hände, die sie gestern Abend gepackt und in den
Kofferraum gedrängt hatten. Sofort bekam sie Gänsehaut. Antonia überlegte, wie sie aus
dieser Situation rauskommen sollte. „Was wird er nun mit mir machen?“, fragte sie sich
„Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein“. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie sollte es
jetzt für sie weitergehen? Die Schritte auf der Treppe unterbrachen ihre Gedanken. Die
Kellertür öffnete sich und er kam herein. Sie wandte ihren Blick von ihm ab und drehte sich
um, um ihn nicht angucken zu müssen. Er hielt ihr einen Teller mit einem Brot und etwas
Käse hin. „Iss‘ das!“, befahl er. „Nein!“, entgegnete sie schnippisch. „Möchtest du etwas
anderes essen?“, fragte er etwas fürsorglicher. „Vielleicht kann ich ihm folgen. Ich will hier
weg!“, dachte sie und antwortete: „Ich hätte Lust auf einen Apfel.“ Er öffnete die Kellertür
und Antonia versuchte aufzustehen, um wegzurennen. Fehlanzeige! Sie hatte nicht gemerkt,
dass sie gefesselt war. Als er zurückkam, saß sie weinend auf dem Boden. Er legte ihr den
Apfel auf einem Teller neben sie. Er ging wortlos aus dem Keller und sie konzentrierte sich
auf das Geräusch seiner Schritte auf den Treppenstufen. Sie wurden immer leiser und als sie
vollkommen verstummt waren, griff sie neben sich, um den Apfel zu nehmen. Sie bemerkte,
dass ein Zettel an dem Apfel klebte, auf dem stand:
Es tut mir leid mein Engel, aber du hast meine Liebe nicht erwidert.
Als sie das las, legte sie den Apfel wieder weg. Er widerte sie an. Lieber würde sie
verhungern, als irgendetwas von ihm zu essen.
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FÜNF
Vier Wochen später
Maria telefonierte mit Lenny. Verzweifelt erzählte sie dem Freund ihrer verschwundenen
Tochter von einem erneuten Besuch bei der Polizei. „Dieser Patrick Weißer hat mir das
Gutachten vom Psychologen gegeben, in dem steht, dass ich psychisch stark labil bin und
deshalb meine Aussage kein Gewicht hat. Sie glauben mir nicht, dass ich gesehen habe, wie
Antonia von einem Mann entführt wurde, der aussah wie ein Polizist. Ich meine – ja,
vielleicht geht es mir nicht so gut, aber ich weiß doch, was ich gesehen habe. Warum
glauben die mir denn nicht? Ich hab das Gefühl, die wollen gar nicht ermitteln. Denen ist das
doch gar nicht wichtig.“ Einen Moment war Stille. „Ich glaub dir. Eigentlich müssten sie jeder
Spur nachgehen, aber so wie es aussieht … Ich weiß es nicht Maria, aber Antonia ist
unmöglich alleine abgehauen oder so.“ Wieder Stille. Leise sprach Lenny weiter: „Vielleicht
glauben sie dir nicht, weil ... ach egal.“ Er verfolgte seinen Gedanken nicht weiter,
stattdessen wiederholte Maria, was sie und Lenny innerhalb der letzten vier Wochen immer
wieder festgestellt hatten: „Dieser Patrick ist nicht ganz koscher. Sein merkwürdiges
Verhalten immerzu. Ich weiß inzwischen wirklich nicht mehr, was ich noch machen soll. Und
Manuel ist mir auch keine große Hilfe. Zwischen uns läuft es nicht mehr wirklich gut. Er
wendet sich immer mehr von mir ab und behauptet sogar manchmal, dass ich Schuld an
Antonias Verschwinden trage. Ich! Ihre Mutter! Aber vielleicht hat er ja auch Recht, hätte ich
besser auf sie aufgepasst, wäre das alles wahrscheinlich gar nicht passiert“, ein leises
Schluchzen hörte man in Marias Stimme. Lenny versuchte sie etwas zu beruhigen: „Aber sie
ist doch schon groß genug, um mal für einen Moment alleine auf dem Weihnachtsmarkt zu
sein. Außerdem hätte dieser Mann sie dann vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt
mitgenommen. So etwas kann man nicht verhindern.“ „Tut mir Leid, dass ich dich schon
wieder so beanspruche, Lenny. Für dich ist die ganze Sache ja auch nicht einfach. Ich glaub
ich leg‘ mich ein bisschen hin, ich hab‘ Kopfschmerzen“, murmelte sie. „Das wird schon alles
wieder. Wir bekommen das hin“, sagte Lenny aufmunternd, obwohl er sich selber nicht
wirklich glaubte. Sie verabschiedeten sich und legten auf. Langsam stellte Maria das Telefon
zurück in die Station und lief fast kraftlos auf das Sofa zu. Sie legte sich hin und nach ein paar
Minuten schlief sie ein.
Als sie wieder aufwachte, saß ihr Mann neben ihr. Noch etwas benommen setzte Maria sich
auf. „Wir müssen reden“, sagte er. Maria glaubte schon zu wissen, worauf er hinauswollte.
Schweigend schaute sie ihn an. „Ich glaub‘ ich kann das nicht mehr. Das Ganze mit Antonia
und deine Depressionen. Ich weiß, es ist vielleicht der falsche Moment, aber es geht nicht
mehr. Ich werde ausziehen. So wie‘s aussieht kann ich erst mal bei Thomas schlafen.“ Er
starrte die ganze Zeit, während er redete, auf den grauen Teppich. Maria sagte nichts.
Plötzlich stand Manuel auf, nahm seine Jacke und ging zur Haustür raus.
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Maria, immer noch auf dem Sofa sitzend, zeigte keine Emotionen. Sie war leer, genauso wie
ihr Blick. Sie versuchte sich mit dem Gedanken, dass es vielleicht gar nicht so schlecht ist,
dass Manuel jetzt weg war, zu beruhigen, da sie sich dann nicht mehr gegenseitig andauernd
an Antonias Verschwinden erinnern müssten. Aber trotzdem hatte sie gerade scheinbar
wieder eine wichtige Person in ihrem Leben verloren. Die erste, heiße Träne lief ihr über die
Wange. Kurz darauf sackte sie in sich zusammen und weinte. Keinen Tag, seit Antonia
verschwunden war, hatte sie verbracht, ohne zu weinen.
Sie nahm das Telefon und rief Lenny zum zweiten Mal an diesem Tag an. „Sarikakis, hallo?“,
ging er ran. „Lenny, kannst zu vorbei kommen, bitte“, fragte Maria mit zitternder Stimme.
„Ich bin gleich da“, meinte er ohne zu fragen, warum und legte auf. Maria beschloss,
draußen auf Lenny zu warten, um etwas frische Luft zu bekommen.
Sie lief über die Einfahrt zum Tor. Es stand einen Spalt offen, das war nie so, nur wenn
Antonia es manchmal aufstehen lassen hatte und Manuel schloss es immer. Bevor ihre
Gedanken eine logische Schlussfolgerung ziehen konnten, hörte sie ein Klicken hinter sich.
Wie eingefroren stand sie da. War das eine Pistole? Ein Zucken ging durch ihren Körper, als
sie die Stimme des Mannes hörte. „Gib es auf, die Polizei wird dir eh nicht glauben. Du bist
psychisch am Boden, du hast keinen Einfluss mehr auf das, was ermittelt wird. Versuch es
erst gar nicht, die Kripo weiter von deiner Version zu überzeugen.“ Maria spürte den kalten
Lauf der Pistole in ihrem Rücken. Sie zitterte. „Wenn du es doch versuchst, mach ich dir das
Leben noch mehr zu Hölle. Pass also auf, was du tust“, raunte er. „Schließ‘ die Augen und
zähl laut bis Hundert“. Sie gehorchte ihm und er rannte weg. Bei Dreißig öffnete sie bereits
die Augen und kurz darauf kam Lenny um die Ecke geeilt.
Er nahm die leichenblasse Maria in den Arm und fragte, was passiert sei. Panisch erzählte sie
von dem Mann, der sie bedroht hatte, dass sie aber seine Stimme nicht erkennen konnte, da
er einen Schal vor dem Mund getragen haben musste. Mitten im Erzählen brach sie plötzlich
in lautes Weinen aus. Lenny brachte sie ins Haus zurück und setzte sie auf das Sofa. Sie
zitterte immer noch am ganzen Körper. Die früher so glücklich wirkende Frau, die immer viel
gelacht hatte, war jetzt ganz kaputt. Sie saß da, mit angezogenen Beinen und ganz
zusammen gekrümmt. Völlig zerstört. Nach nur vier Wochen.
Die Gedanken in ihrem Kopf schienen zu schreien. „Ich verliere alle. Jeden, der mir wichtig
ist, Lenny kann ich doch nicht auch noch verlieren. Ich will nicht mehr. Was ist das bloß für
ein Tag? Ich will hier weg, ich mach alles falsch, aber ich muss stark bleiben, weil ich sonst
noch angreifbarer werde. Ich kann aber nicht mehr…“ Während ihre Gedanken immer um
dasselbe Thema kreisten, setzte sich Lenny neben sie und legte seinen Arm um ihre
Schultern. „Wir schaffen das“, flüsterte er.
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SECHS
Es war Anfang März, seit dreieinhalb Monaten musste Antonia die Gefangenschaft über sich
ergehen lassen. Sie hatte Angst, sie wusste nicht, was sie an diesem Tag erwarten würde,
denn er sprach überhaupt nicht mit ihr. Sie befand sich nach endlosen Tagen und Nächten
immer noch in diesem Dreckloch Gefangenschaft und saß an einen Stuhl gefesselt und mit
zugeklebtem Mund weinend da. Toni versuchte sich von dem Seil zu lösen, doch es half
nichts, es war gut festgebunden, zu gut, um sich davon zu befreien. Zu schreien half nichts,
da er ihr den Mund verbunden hatte. Tränen liefen ihr über das Gesicht, jetzt läge sie gerne
in den Armen ihres Freundes, der ihr in guten sowie in schlechten Zeiten immer
beigestanden hatte. Sie hoffte auf den Moment, in dem er ertappt und hart bestraft werden
würde und sie endlich von diesem dreckigen Ort wegkommen würde. Plötzlich hörte sie das
Geräusch eines Schlüssels, der in das Schlüsselloch eingeführt wurde, er drehte den Schlüssel
zweimal um und die Tür öffnete sich. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, da sie den Anblick
dieses Verbrechers vermeiden wollte. Er stand mit einem kleinen Messer in der Hand vor ihr,
jetzt wusste sie hier ist das Ende, sie sprach noch schnell ein Gebet und dann war sie auch
schon bereit für den Tod. Langsam näherte er sich ihr und stellte sich hinter sie: „Na gut dann
werde ich von hinten erstochen und ich muss nicht im letzten Moment noch mein Blut
sehen“, dachte sie, doch er schnitt bloß das Seil durch. Sie fürchtet es sei schon vorbei und
sie sei tot, doch sie lebte noch, ein Stein fiel ihr vom Herzen, aber sie wusste nicht, was sie
jetzt erwarten würde. Er packte sie an den Armen und zog sie durch das ganze Haus. Als sie
vor der bekannten, alten Tür im Keller standen, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie hier
nicht mehr lebend rauskommen würde, denn an diesem Ort hatte sie keine schönen
Erfahrungen gemacht. Er schubste sie in den dunklen, dreckigen, übel riechenden Raum, in
dem ein gemachtes Bett stand. Ein Schauder lief Antonia über ihren Rücken. Sie wusste jetzt,
was sie erwarten würde, das dreckige Spiel hat erneut begonnen. Er sagte mit einem
verführerischen Blick, der sie anwiderte, schon immer angewidert hatte: „Setzt dich auf das
Bett und warte hier, ich komme gleich wieder!“ Er riss ihr brutal das Klebeband vom Mund
und drohte ihr mit den Worten: „Ich muss noch einmal kurz nach oben. Wenn du auch nur
einen Laut von dir gibst, werde ich dich umbringen!“ Antonia blieb still und versuchte einen
Plan auszuhecken, doch in dem Raum befand sich nichts, was ihr hätte helfen können. Das
Bett und sie, kein kleines Fenster zum Herausklettern, kein Lichtschacht. Nichts. Ein
Fluchtversuch kam also nicht in Frage, sie musste sich etwas ausdenken, aber was... Seine
Schritte auf der Treppe unterbrachen ihre Gedanken. Er kam in den Raum hinein. Er trug
mehrere Seile in der Hand, deren Zweck Antonia erahnen konnte. Er lächelte sie an, schubste
sie auf das Bett und band ihre Beine sowie Arme an das Bettgestell. Toni wand sich unter
seinem starken Griff, doch es half alles nichts – sie konnte sich nicht aus der Situation
befreien, doch er war einfach zu stark für sie. Es half nur noch betteln: „Lass mich in Ruhe,
ich will nichts von dir, ich bin doch viel zu jung für dich, bitte lass mich gehen, ich werde es
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auch niemanden erzählen, ich schwöre es.“ Er aber erwiderte: „Nein, du gehörst mir, ich
liebe dich, du bist wunderschön, ich kann nicht riskieren, dich gehen zu lassen. Ich mach das,
weil ich dich liebe.“ Also zog er sie langsam aus und vergewaltigte sie. Zum wievielten Mal,
wusste Antonia nicht mehr, sie hatte aufgehört mitzuzählen. Es war einfach ekelhaft, sie
schrie, doch es nützte nichts, sie waren viel zu tief unten, sodass sie keiner hören konnte.
Antonia bemerkte, dass etwas anders war, es war nicht so wie immer. Sie konnte nicht
begreifen, woran es lag, aber es kam ihr so vor, als wäre dies das letzte Mal, als hätte er noch
etwas mit ihr vor. Sie schrie ihm ins Gesicht, dass er aufhören solle, aber er machte weiter. Er
schien Gefallen daran gefunden zu haben, auch an Antonias deutlichem Widerwillen. Als er
endlich von ihr abließ, war sie nicht mehr fähig, sich zu wehren. Sie weinte still vor sich hin,
sie fühlte sich wie ein Objekt. Mit einem zufriedenen Blick auf Antonia schloss er die Tür
hinter sich. Die Tränen kullerten ihr über die Wangen und alle Hoffnung war aus ihr
gewichen.
***
Maria traf sich mit Lenny. Mal wieder kreisten ihre Gespräche um Antonia, um das Verhalten
der Polizei, um den merkwürdigen und verstörenden Überfall auf Maria vor mehr als drei
Monaten. Den herben Rückschlag des psychologischen Gutachtens, das ihre Aussage
praktisch wertlos gemacht hatte, hatte Maria noch nicht ganz verkraftet, da wartete schon
der nächste Schock auf sie. Nach nicht einmal vierzehn Wochen war am heutigen Tag das
Verfahren gegen Unbekannt eingestellt worden. Es gab keinen Verdächtigen, es gab keine
Leiche, es gab also auch kein Verbrechen. Schon seit Längerem reifte in Maria die Idee, sich
selbst zu helfen und der heutige Tag brachte ihr Gewissheit: Lenny und sie waren sich einig,
sich an einen Privatdetektiv zu wenden. Sie fackelten nicht lange und vereinbarten einen
Termin mit der in Frankfurt bekannten Detektei West.
Im Wartezimmer blieben Maria und Lenny still sitzen und hingen ihren eigenen Gedanken
nach. Sie kamen dennoch nicht umhin, ein Gespräch zwischen Matthew West, der die
Detektei seines Vaters vor einigen Jahren übernommen hatte, mit seinem Vater mitzuhören.
Sie sprachen über den Fall, an dem er gerade arbeitete. Matthews Anliegen war es seit jeher,
seinen Vater stolz machen, da dieser schon immer sehr schwer zu beeindrucken war und er,
Matthew, bisher nie bei ihm punkten konnte. Auch dieses Mal war der Vater nicht mit dem
Vorgehen seines Sohnes einverstanden, das war nicht zu überhören. Nachdem West Senior
die Räumlichkeiten verlassen hatte, waren Maria und Lenny an der Reihe. Matthew ließ sich
den Fall schildern und fragte nach Hinweisen, die bei seiner Suche helfen konnten. Maria
erzählte alles über ihre Tochter, doch das Wichtigste war der Hinweis zum Entführer, den sie
nannte: Der Polizist auf dem Weihnachtsmarkt. Die Beharrlichkeit, mit der sie an ihrer
Meinung festhielt, dass der Polizist der Tatverdächtige war, und die Tatsache, dass die Polizei
ihr das nicht glaubte, sogar ein psychologisches Gutachten existierte, das ihre Aussagen
infrage stellte, obwohl ihm Maria überaus klar erschien, machte Matthew neugierig. Er
entschied sich, mit all seiner Energie der Sache nachzugehen und Antonia und den ominösen
Polizisten zu finden. Maria und Lenny waren sehr froh darüber, dass ihnen endlich jemand
glaubte und sich auf die Suche machte. Die Erfahrungen der letzten Monate hatten Marias
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Leben erschüttert – ihre kleine Antonia war entführt worden, ihr Mann hatte seine geliebte
Tochter als tot akzeptiert, ihre Ehe war zerrüttet, sie war angegriffen worden, die Polizei war
ihr keine Hilfe mehr – alle ihre Hoffnung ruhte nun auf Matthew West und seinen Fähigkeiten
als Privatermittler.
SIEBEN
Nachdem seine Tat vollendet war, entfernte er sich und kleidete sich erneut ein. Mit einem
untypischen und kalten Lächeln bewegte er sich langsam auf das Bett zu. Antonias vorherige
Schreie und ihr lautes Weinen hatten sich auf leises Wimmern beschränkt, die Versuche sich
zu lösen waren ganz erloschen. Ein Schauer überlief sie und das Zittern aufgrund der sich im
Keller befindenden Kälte und dem Schmerz in ihren Gliedern verstärkte sich, als er seine
große Hand von den Füßen bis zu ihrem Kinn über die Haut gleiten ließ und sie mit Druck auf
den Hals legte. „Ich wollte das Alles nicht, aber du hast mir keine andere Möglichkeit
gegeben, liebes Tonilein…“, flüsterte er in Antonias Ohr und seine andere Hand platzierte
sich direkt neben der ersten. In Antonias Kopf kam alles durcheinander. Wieso tat er das?
Was würde ihre Familie sagen? Wie ging es ihrer Mutter? Die konnte sie auf keinen Fall
alleine mit ihrem Vater lassen. Was war mit Lenny? Sie wünschte sich im Moment nichts
mehr, als von ihm gerettet zu werden. Er strich ihr noch einmal übers Haar und begann den
Druck langsam, aber sicher zu verstärken. „Ich wünsche Menschen wie dir den Tod!“,
flüsterte sie als letztes bevor nur noch hohe, qualvolle und undefinierte Geräusche ihre
Kehle verließen und sie endgültig verstummte. Der verzweifelte Ausdruck verließ ihr Gesicht,
der Tränenfluss aus ihren Augen versiegte und die Anspannung verließ ihre Glieder. Der
Unbekannte ließ los und platzierte ein letztes Mal seine Lippen auf dem vollen, blass
gewordenen Mund Antonias.
Einige Zeit verging, in der er seinen Blick nicht von der Schönheit seines Opfers lösen konnte,
bis er sich plötzlich aufrichtete und hinter sich nach seinem Dolch griff. Mit langsamen
Schritten bewegte er sich auf die andere Seite des Bettes und überblickte ihren perfekten,
schlanken, unbekleideten Körper. Ihre langen, tiefbraunen Haare lagen über ihren Schultern,
ihre eisblauen Augen starrten leblos zur Decke. Sie war makellos. Daraufhin lehnte sich der
Täter nach vorne, griff nach ihrem rechten Arm und löste die Fessel. Die vom Tod blass
gewordene Haut ließ nach, als der Dolch in den Arm glitt und sich langsam seinen Weg durch
das Fleisch suchte, um ein Y zu ritzen. Das Gleiche wiederholte er an Antonias linkem Arm,
dieses Mal mit einem Z.
***
Zwei Stunden später stand der Täter, die tote Antonia im Kofferraum seines Autos verstaut,
auf einer Nebenstraße Frankfurts. Ausgestattet mit einem Hebehaken verließ er das Auto
und ging bedächtig, unauffällig die Umgebung beobachtend, auf den vor ihm liegenden Gulli
zu. Er entfernte zunächst, möglichst leise, den Gullideckel, ging zurück zum Auto und hievte
sich die Leiche über die Schulter. Mit langsamen Bewegungen stieg er die Treppenstufen
hinunter in die Kanalisation, mit einer Hand an der Treppe, mit der anderen am leblosen
Körper. Auf dem Grund angekommen, blickte er um sich und entschied sich in die rechte
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Richtung zu laufen, da sich auf diesem Weg eine perfekte Stelle befand, um etwas Größeres
abzulegen. Schnellen Schrittes, mit der Angst in den Knochen, dass ihn doch jemanden
erwischen könnte, bewegte er sich schnell und sicher durch das Kanalsystem, als ob er sich
hier unten auskennen würde. Antonias Gewicht wurde ihm langsam zu einer größeren Last
und er begann gebückt weiterzulaufen. Nach wenigen Metern ließ der Mörder sie mit einem
Stöhnen zu Boden. Trotz der Gewissheit, dass sein Opfer hundertprozentig tot war, legte er
sie so sanft wie möglich auf den rauen, kalten Steinboden und platzierte sie so, dass ihr
Gesicht erkennbar war. Seine feste Überzeugung davon, dass ihre Seele sich noch in ihrem
Körper befand, machte es ihm schwer, sie dort liegen zu lassen, nackt und schamlos. Das
passte nicht zu Antonia, das wusste er, er hatte sie schließlich Monate lang genauestens
studiert. Mit diesem Gedanken ließ er seinen, von Müdigkeit schwer gewordenen, Körper
auf die Knie neben sie und griff nach ihren leblosen Händen. Mit viel Geschick platzierte er
ihre Hände so, dass sie ihren Intimbereich bedeckten, die von ihm eingeritzten Buchstaben
aber gut zu erkennen waren.
Bevor er die Leiche verließ, blickte er noch einmal über ihren Körper, wie er es getan hatte
kurz nach ihrem Tod. Sie war blass, ihr Ausdruck leblos, doch ihre Schönheit hatte sie nicht
verlassen. Der Unbekannte war kurz davor, noch einmal seine Liebe körperlich
auszudrücken, als ein neuer Schwall von trübem Abflusswasser an ihm vorbei strömte. Ihm
wurde mit einem Mal bewusst, dass die Zeit weiterlief und jeden Moment jemand in die
Kanalisation steigen und ihn entdecken könnte. Er drehte sich um und begann zu rennen. Er
rannte und rannte bis er an den Treppen angekommen war, an denen er vorhin
hinuntergestiegen war. So schnell er konnte, kletterte er nach oben und erreichte die Straße.
Der Täter zog die frische Frühlingsluft in die Nase und brachte den Gullideckel mit einem
dumpfen Laut zurück in seine ursprüngliche Position.
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ACHT
Jürgen Strapinski war wieder mal an einem Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Der Kanalreiniger bei
der Firma Ochs und Söhne griff erneut zur Flasche Wodka, die auf dem Fernsehtisch, vor ihm stand
und bereits halb leer war. Keine Frage – seine polnisch-norwegische Herkunft hatte ihm eine
beachtliche Trinkfestigkeit beschert und Hochprozentiges machte ihm sonst nicht viel aus. Aber
heute Abend hatte es er übertrieben. Verzweiflung machte sich in Jürgen breit, als er zwischen dem
brennenden Zigarettenstummel und dem leeren Kippenpäckchen hin und her blickte. Er zerknüllte
das Päckchen und schleuderte es mit aller Macht in die Ecke. Dass er mit jedem Schluck Alkohol, den
er konsumierte, aggressiver wurde, wusste Jürgen – aber heute wuchs ihm alles über den Kopf, also
war es ihm völlig egal. Als er dann seinen Blick durch die Wohnung schweifen ließ, erblickte er das
Familienbild, das verstaubt an der Wand hing. Er musste an seine Schwester denken und fing
augenblicklich an zu weinen. Sie hatte alles, was er sich schon immer gewünscht hat, Ehepartner und
Kinder. Ihm war es immer schwergefallen, dies zu akzeptieren – darüber war ihre Beziehung
zueinander zerbrochen. Seit über zehn Jahren hatten die beiden keinen Kontakt mehr, obwohl seine
Schwester Maja auch in Frankfurt lebte. Ein Schluchzen durchfuhr ihn. Tief im Inneren wusste Jürgen,
dass er selbst die Schuld an der Situation trug; dass alles so ist, wie es ist. Dass er so ist, wie er ist. Aus
Wut auf sich schlug er gegen die Wand, neben der er jetzt stand. Er blickte wieder auf das Bild und
sah seine Eltern, die bereits verstorben waren. Danach wanderte sein Blick auf seinen Bruder, Edgar
Strapinski. Ganz anders als zu seiner Schwester hatte Jürgen guten Kontakt zu Edgar. Die Brüder
waren sich sehr ähnlich. Schöne Gedanken an gemeinsam verbrachte Zeiten zogen an seinem
inneren Auge vorbei und mit der Zeit beruhigte sich Jürgen wieder und hörte auf zu weinen. Er war
so sehr betrunken, dass er gar nicht mehr wusste, wie viel er eigentlich intus hatte.
Als er zurück zur Couch stolperte, sah er seine alte Angel über dem grüngepolsterten Möbelstück
hängen. Er musste daran denken, wie er früher immer angeln war und wie gerne er einen
Angelausflug mit seiner Familie unternommen hätte – eine Familie, die er nie bekommen hatte.
Genauso wie er schon immer mal gerne eine Schifffahrt unternommen hätte. All das macht aber
keinen Spaß – alleine. Als er sich wieder auf die Couch begeben hatte, nahm er die Flasche Wodka in
die Hand und wollte grade noch einen weiteren Schluck trinken. Mit der Flasche im Anschlag wurde
ihm klar, dass es diesmal deutlich zu viel war und ehe er die Flasche an den Lippen hatte, spürte er
ein Gefühl der Übelkeit die Kehle hinaufkriechen. Er rannte schnell ins Bad, öffnete sofort den
Klodeckel und musste sich übergeben. Unbemerkt hatte sich bei seinem Gefühlsausbruch sein
Ohrring, den er am rechten Ohr trug, gelöst, und kam es, wie es kommen musste. Der silberne
Ohrschmuck fiel direkt ins Klo, ohne dass Jürgen es bemerkte. Als er kurze Zeit später aufhörte sich
zu übergeben, drückte er erschöpft die Spülung und sah den Ohrring blinkend im Wasser versinken.
Jürgen brüllte mit seiner betrunkenen Stimme ein lautes „NEEEEEEEEIIIIINN“, als ob es etwas helfen
könnte, doch der Ohrring war schon fort.
Durch den vielen Alkohol übermütig geworden glaubte Jürgen, er könne den Ohrring aus dem Kanal
zurückholen – schließlich kannte er sich dort unten aus. Und wenn er schon einmal unten im Kanal
war, könnte er ja auch gleich das ein oder andere für die Wartung, die für den kommenden Morgen
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vorgesehen war und von seiner Firma durchgeführt werden sollte, vorbereiten. Eine leise Hoffnung
keimte in ihm auf, seinen Kollegen damit vielleicht ein Gefallen tun zu können. Ein paar
wertschätzende Worte, das wusste Jürgen, würden ihm in seiner jetzigen Stimmung gut tun. Er zog
seine Gummistiefel an und stapfte runter zum Hauseingang. Er musste sich oben gar nicht groß
umziehen, da er wie fast immer seine grüne Arbeitskleidung trug. Seinen Anglerhut nahm er vom
Haken – eine Bewegung, die ihm so geläufig war, dass er darüber gar nicht mehr nachdenken musste.
Vor der Tür angekommen, öffnete Jürgen den Kanal mit seinem von der Firma bereitgestellten
Hebehacken und kletterte betrunken hinein. Auf einer der oberen Stufen rutschte er aus, verlor den
Halt und fiel rücklings auf den Boden. Ein Schmerz durchzuckte seinen Rücken, der ihm trotz seines
alkoholisierten Zustandes ziemlich zusetzte. „Gut, dass ich nicht im Wasser des Kanals gelandet
bin…“, waren die letzten Gedanken, die Jürgen durch den Kopf schossen, als er langsam wegtrat,
„Was für eine Schnapsidee von dir, du alter Alkoholiker….“
***
Als Jürgen am späten Morgen, immer noch leicht alkoholisiert in seinem Bett aufwachte, wusste er
nicht, wie er hierher gekommen und was am Abend zuvor passiert war. Als er ins Bad ging, um sein
morgendliches Geschäft zu verrichten, fielen ihm nach und nach Bruchstücke des vergangenen
Abends ein. Als er merkte, dass er viel zu spät war, zog er schnell seine Arbeitsklamotten an und zog
seinen Hut auf. Als er in seine Gummistiefel schlüpfen wollte, stockte er: „Was habe ich denn gestern
Nacht noch im Kanal gemacht?“ Auch wenn Jürgen sonst nicht der Mann war, für den Sauberkeit an
erster Stelle stand – darauf, seine Stiefel nach den Kanalarbeiten zu säubern, achtete er penibel. Nun
starrten sie vor Schmutz. Ohne Erklärung, aber mit einem schlechten Gefühl im Bauch verließ er
schnellen Schrittes seine Wohnung. Zum Glück befand sich die Baustelle direkt vor seiner
Wohnungstür.
Als Jürgen im Erdgeschoss angelangt war, hörte er wie einer seiner Nachbarn mit einem Polizisten
sprach und er hörte seinen Namen fallen. Außerdem erwähnte der Polizist von einer Leiche im Kanal.
Er öffnete die Haustür und sah um einen geöffneten und abgesperrten Gulli ein paar seiner
Arbeitskollegen, aber auch jede Menge Polizisten stehen. Aus dem flauen Gefühl in der
Magengegend wurde langsam aber sicher Angst, dennoch sprach Jürgen einen seiner Nachbarn an,
der das Geschehen von Weitem beobachtete: „Hallo Kevin“, Kevin Groß blickte seinen langjährigen
Nachbarn und guten Bekannten Jürgen ein bisschen erschrocken an. „Kannst du mir sagen, was hier
los ist?“, fragte dieser. „Es wurde dort unten eine Leiche gefunden, Jürgen. Ich habe sie deinen
Namen sagen hören. Der Neue aus dem Erdgeschoss, Robert Schumann, der nachts nie schlafen
kann, glaubt, er hätte dich heute Nacht im Kanal gesehen – stimmt das?“, fragte Kevin ungläubig. „Du
alter Alkoholiker, was hast du gestern bloß angestellt?“, fragte er Jürgen, der sich im Moment
dieselbe Frage stellte, als der Blick eines Polizisten auf ihn fiel. Bevor er antworten konnte, rannte er
aus purem Schreck einfach nur weg und entkam den Polizisten, die sich sofort an seine Fersen
geheftet hatten, nur knapp.
Mit klopfendem Herzen und gänzlich außer Atem blieb Jürgen stehen, nachdem er kopflos einfach
drauf los gerannt war. Er wusste zunächst nicht richtig, wo er hinlaufen sollte, da er außer Edgar und
ein paar bekannten Nachbarn niemanden hatte und sein Bruder zu weit weg wohnte. Er überlegte,
ob er zu seiner Schwester gehen sollte, da sie in der Nähe wohnte, aber ihm war zunächst nicht
richtig wohl dabei. Er hatte allerdings keine Wahl, da er nicht nach Hause konnte. „Also gut, auf zu
Maja.“ Jürgen rannte so schnell er konnte, aber spürte, dass der Alkohol von gestern seiner Kondition
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immer noch ziemlich zusetzte. Er hatte viel mehr getrunken, als sonst. Dennoch lief er schnell, die
Angst, vielleicht etwas angestellt zu haben, war sein Antreiber. Als er bei seiner Schwester ankam,
klingelte er, als hätte es die letzten zehn Jahre nicht gegeben. Maja öffnete ihrem Bruder und war
froh, dass er vor ihrer Tür stand, auch wenn sie ihm ansah, dass etwas nicht stimmte. Nach längerem
Zögern erzählte er Maja alles, was in den letzten Stunden vorgefallen war, zumindest das, was er
noch wusste. „Es fing alles damit an, dass ich mich mal wieder hemmungslos betrunken habe“, er
zögerte, „ich vermisse euch.“
Nach einigen Stunden voller Erklärungen, Beteuerungen und vergessener Emotionen waren Jürgen
und Maja wieder Bruder und Schwester, vereint wie in alten Tagen. Maja legte ihren Arm um Jürgen:
„Du kannst vorerst hierbleiben Bruderherz, aber ich erwarte von dir, dass du dich in den nächsten
Tagen bei der Polizei meldest. Du hast mit Sicherheit nichts mit der Leiche im Kanal zu tun. Die Polizei
will bestimmt nur eine Zeugenaussage von dir, wie von allen Nachbarn. Du kannst dich hier nicht
ewig verstecken.“ Jürgen nickte, verängstigt und erleichtert zugleich. „Danke Maja, das werde ich
tun.“ Maja lächelte. „Das weiß ich“.
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NEUN
Es war ein frischer Märzmorgen als Patrick Weißer am Mainufer zum Haus von Frau Catalano
unterwegs war. Er war mitten in der Nacht zu einem Tatort gerufen worden und seit fünf
Stunden auf den Beinen. Die Bilder vom frühen Morgen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Die
nackte Leiche, die Ratten in der Kanalisation, die Verletzlichkeit dieses jungen Mädchens, das
viel zu früh aus ihrem Leben gerissen worden war. Ihm lief ein Schauder über den Rücken,
als er an den Anblick von Antonia Catalanos Leiche dachte und er versuchte, das Gesehene
zu verdrängen. Aber auch die Aufgabe, die auf ihn wartete, ließ ihn nicht kalt: Angehörigen
die Nachricht des Todes eines nahen Verwandten zu überbringen – vor allem in solchen
brutalen Fällen – war nie einfach und er würde sich auch nie im Leben daran gewöhnen
können. Nach einer Viertelstunde, in der Patrick versucht hatte, die Betriebsamkeit der
erwachenden Großstadt als Ablenkung zu nutzen, kam Patrick am herausgeputzten
Jugendstilhaus der Catalanos an.
Er drückte den leicht verrosteten Klingelknopf und wartete. Eine frische Brise strich über die
Uferstraße und jagte ihm eine erneute Gänsehaut über den Rücken. „Ja bitte, wer ist da?“,
kam eine recht hohe Stimme aus der Gegensprechanlage. Der in Gendanken versunkene
Polizist schreckte hoch und fing etwas nervös an zu sprechen: „Guten Tag Frau Catalano, hier
ist Patrick Weißer von der Kripo Frankfurt. Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an mich. Ich
habe schlechte Neuigkeiten für Sie.“ Die Pause, die daraufhin entstand, schien ewig und
wurde nur durch ein Schluchzen unterbrochen, das aus dem Lautsprecher kam, und so klang,
als wüsste die Frau, deren Kehle es entsprungen war genau, was nun auf sie zukommen
würde. „Kommen Sie herein“, brachte Maria Catalano resigniert hervor. Das weiß
gestrichene Holztor summte und schwang leicht auf, als Patrick dagegen drückte. Er lief
recht flott über den Kiesweg, der zum Haus führte. Er wollte diese Situation so schnell wie
möglich hinter sich bringen. Links waren verschiedene Blumen und Büsche, rechts Kräuter,
Gemüse und Obst – nichts deutete auf die Tragödie hin, die die Bewohner dieses Hause seit
Wochen durchlitten. Als er an der schweren Eichenholztür angekommen war, stand die 41
Jahre alte, gebrochene Frau in einem rosa Langarmshirt und einer enganliegenden Jeans, vor
ihm. Tränen liefen ihre Wangen hinunter und tropften ungehemmt auf ihren Wollpulli. „Es
tut mir Leid. Wir haben sie heute Morgen gefunden“, sagte Patrick mit mitfühlender Stimme.
Alle Hoffnung darauf, ihre Tochter doch noch lebend wiederzufinden und sie ihn ihre Arme
schließen zu können, verschwand für immer in diesem Augenblick, vor dem sie sich die
letzten Monate am meisten gefürchtet hatte. Auch wenn dieser Weißer es nicht deutlich
ausgesprochen hatte, wusste sie, dass Antonia tot war. Ein leises „Wo?“, war das einzige,
was Maria herausbrachte. „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, die Leiche Ihrer
Tochter lag in der Kanalisation, nicht weit entfernt vorm Lokalbahnhof, Mühlbruchstraße.“
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Es war nicht einfach, Frau Catalano die weiteren Details des Mordes möglichst schonend
beizubringen. Vor allem die Tatsache, dass ihre Tochter bis vor wenigen Stunden noch gelebt
hat, brachte sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.
Nachdem alles gesagt war, verabschiedete sich Patrick Weißer, nicht ohne seinem Unmut
darüber Ausdruck zu verleihen, wie die ganze Ermittlung verlaufen war. Das zitternde
Häufchen Elend, das er mit seiner Trauer zurückließ, erinnerte ihn nur noch wenig an die
Frau, die vor drei Monaten noch wie eine Löwenmutter für ihre Tochter gekämpft hatte. Alle
Hoffnung war nun aus ihr verschwunden. Als Patrick noch einmal zurückblickte, sah er Frau
Catalano am Telefon – vermutlich rief sie Lenny Sarikakis an, den einzig wahren Vertrauten,
den ihr diese schwierige Zeit gelassen hatte.
***
Zurück im Büro und erleichtert darüber, diesen schweren Gang hinter sich gebracht zu
haben, freute sich Patrick fast schon auf das gemeinsame Mittagessen mit Steffen, das die
beiden seit der Jungpolizist seine Arbeitsstelle angetreten hatte, fast jeden Tag gemeinsam
in der Kantine der Kripo einnahmen. „Du Patrick, ich glaube wir sollten diesen Strapinski
genauer untersuchen. Ich habe den dringenden Verdacht, dass er bei dem Mord eine
tragende Rolle spielt. Ein Nachbar – Robert Schumann – konnte uns glaubhaft bestätigen,
Jürgen Strapinski gestern Nacht gesehen zu haben, wie er ihn die Kanalisation gestiegen ist“,
meinte er und schaufelte sich eine große Gabel Spaghetti in den Mund. „Während du
unterwegs warst, habe ich ein paar Nachforschungen angestellt: Jürgen Strapinski ist nicht
gerade das, was wir einen Schwerverbrecher nennen, aber dennoch ist er polizeibekannt.
Laut seiner Akte trinkt er viel und ist schon das ein oder andere Mal wegen zu hohen
Alkoholkonsums auffällig geworden. Strapinski scheint außerdem ein Einzelgänger zu sein –
er hat keine Frau und keine Kinder, auch seine Arbeitskollegen beschreiben ihn als
merkwürdigen Kauz, immer alleine und nicht besonders beliebt. Und außerdem…“, Steffen
machte eine bedeutsame Pause, „arbeitet er als Kanalreiniger bei einer Frankfurter Firma –
das heißt, er kennt sich da unten am Tatort aus. Und zu allem Überfluss ist er heute Morgen
getürmt!“ „Nicht gerade unverdächtig – wir sollten sofort eine Fahndung veranlassen“,
beendete Patrick Steffens Gedankengang und war innerlich froh, Frau Catalano bald den
Mörder ihrer Tochter liefern zu können. Diesen Wunsch artikulierte er allerdings nicht laut,
zumal er Steffens Abneigung gegen Frau Catalano kannte, die ihm nicht ganz erklärbar
schien.
„Ich habe übrigens noch etwas herausgefunden“, Steffen hatte sich aufgerichtet und nahm
den noch kauenden Patrick in den Blick. Dieser machte eine auffordernde Geste, um seiner
Neugier Ausdruck zu verleihen und seinen Kollegen zum Reden zu bewegen. „Vor zwanzig
Jahren gab es eine Mordserie, die die Frankfurter zutiefst erschüttert hat. Zwölf junge
Mädchen, alle in Antonias Alter, fielen ihr zum Opfer: entführt, vergewaltigt und schließlich
ermordet. Nackt an allen möglichen Orten dieser Stadt platziert: im Grüneburgpark, am
Westhafen, am Goethe-Turm im Stadtwald, an der Eissporthalle … – alle rechneten jeden
Moment damit, dass wieder eine Mädchenleiche auftauchte. Aber plötzlich stoppte die
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Serie, obwohl noch ein Mädchen fehlte…“ „Woher wusste man das?“, fragte Patrick, der
gebannt zugehört und dabei fast das Kauen vergessen hatte. „Man hatte ihnen alle
Buchstaben des Alphabets in den Arm geritzt – nur die letzten beiden fehlten.“
***
Auch Matthew West erkannte die Handschrift des Serienmörders wieder, der vor zwanzig
Jahren Frankfurt mit seinen brutalen Morden erschüttert hatte. Er musste gar nicht erst
lange nachdenken, um auf die Parallelen zu stoßen. Sie sprangen ihm förmlich ins Gesicht.
Auch sein Vater war damals in den Fall verwickelt gewesen – so gut wie jeder, der sich auf
das Geschäft verstand, ermittelte – wenn es sein musste auch auf eigene Faust. Das Alter der
getöteten Mädchen, die Art und Weise, wie sie ums Leben gebracht und wo sie aufgefunden
worden sind. Und nicht zuletzt die Buchstaben. All das passte. Aber irgendwie passte es zu
gut – warum sollte der Mörder nach so langer Zeit zurückkehren und sich erneut in Gefahr
begeben?
***
Als Maja Larsson, Jürgens Schwester, am Abend wie immer die Hessenschau einschaltete,
lief auch ihr, wie vielen anderen älteren Frankfurtern auch, ein kalter Schauer über den
Rücken. Die Mädchenleiche sah tatsächlich aus, als passte sie in die Serie der ungeklärten
Mordfälle, die auch sie damals voller Spannung und gewiss auch einer großen Portion Angst
verfolgt hatte. Dass der Mörder nicht gefasst werden konnte, hatte lange Zeit dafür gesorgt,
dass die Mädchen in entsprechendem Alter nie ohne Begleitung außer Haus gegangen
waren. Als nun das Foto ihres Bruders über den Bildschirm flackerte, bekam Maja einen
gewaltigen Schrecken. Das Glas Rotwein, das sie sich zur Beruhigung eingeschenkt hatte, fiel
ihr aus der Hand und zerschellte auf dem Fliesenboden in tausend Stücke. „Die heute
Morgen in Frankfurt im Kanal gefundene Leiche wurde als eine gewisse Antonia Catalano
identifiziert, die seit vierzehn Wochen als vermisst gilt. Die Polizei hält aufgrund von
Zeugenaussagen den flüchtigen Kanalarbeiter Jürgen Strapinski für dringend tatverdächtig
und ruft die Bevölkerung zur Mitarbeit auf.“
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ZEHN
Matthew saß gerade in seinem Büro und suchte im Internet nach Fotos vom letzten
Weihnachtsmarkt, auf dem Antonia verschwunden war, als Steffen bereits ein zweites Mal
versuchte, Matthew telefonisch zu erreichen. Es klingelte dreimal bis Matthew den Hörer endlich
abnahm. Er meldete sich mit einem genervten „Hallo?“ Steffen antwortete: „Hallo, Steffen Moritzen
hier, Kripo Frankfurt. Ich störe Sie nur wirklich ungern, aber ich denke, ich habe interessante
Informationen im Fall Catalano für Sie. Wir haben gehört, dass Sie ebenfalls engagiert worden sind.
Da sich, wie Sie sicherlich aus den Nachrichten erfahren haben, Neuigkeiten ergeben haben, würde
ich Sie bitten in diesem Fall mit uns zusammen zu arbeiten.“ Matthew hörte nur mit halbem Ohr zu.
Während er Steffen reden ließ, scannte sein geübter Blick eine Fotogalerie einer japanischen Familie,
die im letzten Jahr den Weihnachtsmarkt besucht hatte, und eine unfassbare Anzahl von Fotografien
ins Netz gestellt hatte. Plötzlich blieb sein Blick an einem Foto hängen, bei dem Matthew meinte,
Antonia im Hintergrund erkennen zu können und versuchte, das Gespräch schnell zu beenden. „Jaja,
das halte ich für eine gute Idee“, sagte er zusammenhangslos in den Hörer, „ich werde heute
Nachmittag auf das Revier kommen“ und legte auf. Schnell wendete er sich dem Foto zu und zoomte
den Hintergrund näher heran. Tatsächlich. Das musste Antonia sein – das Mädchen im Hintergrund
hatte dasselbe Profil, dieselben braunen langen Haare, sie trug außerdem den Weihnachtspulli und
die auffälligen Ohrringe, die ihr am Nachmittag ihres Geburtstags geschenkt worden waren. Obwohl
er sich sicher war, kramte er das Foto aus den Unterlagen hervor, das ihm gestern von Maria und
Lenny überreicht worden war. „Das ist sie!“, rief er, selbst erstaunt über diesen Zufallsfund, aus. Das
Merkwürdige an der Sache war nur, dass neben Antonia ein Mann zu sehen war, der eigentlich nicht
als Entführer infrage kommen konnte: Ein Mann in Uniform! In Polizeiuniform! Matthews Gedanken
rasten und er freute sich, dass er mit diesem Foto Maria Catalanos Aussage bestätigen konnte. Leider
war das Profil des Mannes nicht so gut zu erkennen, wie Antonias, aber auch er drehte den Kopf ein
wenig zu Seite, so dass man den Kurzhaarschnitt sowie einen recht schlichten Ohrring erkennen
konnte. Und sah man noch genauer hin, konnte man eine Pistole in der Hand des Mannes erkennen,
die er Antonia an den Rücken hielt.
Als sich Matthew am Nachmittag auf den Weg ins Revier machte, hatte er immer noch das Bild von
vorhin im Hinterkopf, aber er konnte sich nicht erklären, wieso ein Polizist auf dem Bild abgebildet
war. Innerlich war Matthew total aufgewühlt und neugierig darauf, was Steffen und Patrick ihm zu
sagen hatten. Er lief die Straße entlang, bog rechts ab und schon gelangte er an die Wache. Er stieg
die Treppe hinauf und öffnete rasch die Tür, die ins Büro führte. Dort angekommen wurde er
freundlich von den Kriminalkommissaren Steffen Moritzen und Patrick Weißer empfangen. „Hallo,
Herr West kommen sie doch herein, möchten Sie etwas trinken, Kaffee, Wasser oder vielleicht einen
Tee?“, bot Patrick Weißer, einer der Polizisten an. „Einen Tee, bitte“, antwortete Matthew kurz und
knapp. Daraufhin musste er ein wenig grinsen, da für ihn als Brite Tee schon immer ein Muss
gewesen ist. Der Polizist machte sich auf dem Weg ins andere Zimmer und brühte eine Tasse
frischen, grünen Tee auf. In der Zwischenzeit begann das Gespräch zwischen Steffen und Matthew.
„Herr West, wie Sie wissen, ermitteln Herr Weißer und ich im Fall Catalano, der dieser Tage eine
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erhebliche Wendung genommen hat: Wie Sie wissen ist Antonia Catalanos Leiche gefunden worden.
Ich habe kürzlich eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Und zwar habe ich diesen Fall mit älteren
Fällen verglichen und bin auf eine Fährte gestoßen, die wir nicht außer Acht lassen dürfen“, erzählte
Steffen. „Deshalb habe ich Sie hergebeten.“
Die Tür öffnete sich plötzlich und Patrick kam mit drei Tassen Tee hinein und überreichte jedem
seine. Der Detektiv Matthew schlürfte etwas aus seiner Tasse und fragte interessiert: „Wie kann ich
das verstehen?“ „Vor diesem Fall wurden schon zwölf andere zuvor ermordet, erstaunlicherweise auf
dieselbe Art und Weise. Alle 13 Mädchen wurden nackt aufgefunden, man konnte Spuren einer
Vergewaltigung aufweisen und außerdem wurden jedem einzelnen Opfer zwei Buchstaben des
Alphabets in die Unterarme geritzt. Unserem aktuellen Fall, Antonia Catalano wurden die Buchstaben
X und Y in die Haut geritzt, weshalb wir davon ausgehen, dass der Mörder vorhatte seine Mordserie
zu vollenden“, versuchte Steffen Moritzen zu erläutern. Obwohl er dieselbe Entdeckung gemacht
hatte, beließ es Matthew bei einem „Hm, verstehe“ und hielt es für schlauer, zunächst einmal die
Kriminalkommissare zu Wort kommen zu lassen, um möglichst viel zu erfahren. „Haben Sie schon
eine Ahnung, wer es überhaupt sein könnte?“, harkte Matthew deshalb nach. „Wir wollen nicht zu
schnell jemanden verdächtigen, andererseits haben wir da jemanden, der sich in letzter Zeit äußerst
verdächtig benommen hat“, erklärte Steffen. Wir haben, um ehrlich zu sein, auch schon einen
Fahndungsaufruf herausgegeben. Matthew nervte langsam diese Ungenauigkeit und er wollte genau
wissen, wer von den zwei Polizisten verdächtigt wird, deshalb fragte er direkt nach: „Also?“. „Wir
haben im Moment einen gewissen Jürgen Strapinski im Verdacht – er hat sich in der Nacht des
Mordes aller Wahrscheinlichkeit nach in der Kanalisation aufgehalten, ist gestern Morgen vor
unseren Beamten geflüchtet, und obendrein haben wir im Kanal einen Ohrring gefunden, der allem
Anschein nach ihm gehört. Außerdem könnte er vom Alter her hinter allem stecken, diese Fälle
liegen ja zwanzig Jahre zurück.“ Als Matthew das Wort Ohrring hörte, musste er schlagartig wieder
an das Foto denken. Er warf einen Blick auf Steffen und versank in seinen Gedanken. „Seltsam,
Steffen trägt denselben Ohrring wie der Polizist auf dem Foto. Moment; nur keine voreiligen Schlüsse
ziehen! Solche Ohrringe sind nicht gerade unüblich und somit auch nicht selten“, sinnierte Matthew.
„Hören Sie mir überhaupt zu?“, wollte Steffen wissen. „Äh, ja ich hab nur kurz nachgedacht.“ „Über
kurz oder lang läuft aber alles auf diesen Jürgen Strapinski heraus, sodass wir beschlossen haben, die
Fahndung nach ihm auszuweiten. Dieser Strapinski ist unser Mann, verstehen Sie Matthew, und wir
haben Sie hergebeten, damit Sie uns bei der Fahndung nach ihm helfen.“ Matthew nickte bedächtig.
Der Nachdruck mit dem Steffen ihn zu überzeugen versuchte, kam ihm merkwürdig vor und so
brachte er nur eine lapidare Frage hervor: „Bekomme ich vielleicht noch eine Tasse Tee?“, gab er
leise von sich. Etwas verdattert, aber zuvorkommend entgegnete Steffen: „Ja, natürlich, Patrick kocht
Ihnen schnell einen neuen.“ „Aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände bereitet“, bedankte sich
Matthew und dachte insgeheim: „Würde dieser Steffen jetzt auch verschwinden, hätte ich genügend
Zeit, einen Blick in die Unterlagen zu werfen“. Da kam ihm die rettende Idee: „Ah, ich habe außerdem
noch eine Frage. Könnten Sie mir die alten Zeitungsberichte zu den Morden besorgen? Vielleicht
findet sich darin ein Hinweis auf Strapinskis Aufenthaltsort.“ „Sicherlich, gut Idee, einen Moment
bitte.“
Das war Matthews Chance, kurz nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, sprang er ruckartig auf
und schnappte sich den Ordner mit der Aufschrift „Gerichtsmedizin“, der zuvor von den Polizisten auf
das Pult vor Matthew gelegt worden war. Er beeilte sich und verglich die Morde miteinander und
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blieb immer wieder an einem Wort hängen, das er bei Antonia las: „postmortal“. Die Buchstaben
wurden dem Mädchen postmortal, also nach ihrem Tod in den Arm geritzt. „Hm, irgendetwas irritiert
mich“, dachte sich Matthew und blätterte weiter im Ordner. „Schrecklich, diese ganzen
Mädchen…alle tot, nackt und vergewaltigt. Unfassbar wie man einem Menschen so etwas antun
kann.“
Matthew legte den Ordner leicht benommen wieder zurück auf das Pult und wusste, dass hier etwas
nicht stimmen konnte. Er zählte noch einmal alles auf und kombinierte alles, was er herausgefunden
hatte miteinander. Seine Gedanken kreisten um das Wort „prämortal“ und plötzlich ergab alles einen
Sinn. Plötzlich wusste er, dass es nur einer gewesen sein konnte.
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ELF
Je länger Matthew darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab sein Verdacht. Er war die
einzige Konstante in einem Meer voller Variablen. Er musste einfach Antonias Mörder sein.
„Ich muss jemanden über das, was ich herausgefunden habe, informieren, wer weiß was
passiert, wenn ich es nicht tue!“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Schnell kramte er
das Foto vom Weihnachtsmarkt, welches er zufälligerweise im Internet gefunden hatte, aus
seiner Manteltasche hervor. Ein paar Sekunden lang sah es sich Matthew noch ein letztes
Mal an, um sicher zu sein, dass er sich nicht versehen hatte. Egal aus welchem Blickwinkel er
darauf blickte, er entdeckte stets dieselbe Szene im Hintergrund. Ein uniformierter Mann,
der einen Ohrring trägt und ein ängstliches Mädchen, das genau wie Antonia aussieht. Ihre
auffällig blauen Augen, ihre braunen Haare, der Pullover, den sie von ihrer Tante geschenkt
bekommen hatte, die Ohrringe, alles. Er atmete tief ein in einem fehlschlagenden Versuch
sich zu beruhigen und stürzte fast schon in den nebenliegenden Raum, den Steffen im selben
Moment verließ.
„Oh, Matthew!“, rief Patrick Weißer, der gerade mit einer Teekanne in der Hand zu Matthew
gehen wollte. „Wenn sie mit Steffen reden wollen, sie haben ihn leider ganz knapp verpasst.
Es gibt neue Informationen zum Aufenthaltsort von Strapinski.“ „Eigentlich … eigentlich
wollte ich mit Ihnen sprechen, Herr Weißer. Sie müssen sich das hier unbedingt ansehen!“,
entgegnete Matthew leicht außer Atem und hielt dem anderen Mann das Bild entgegen.
Zögernd nahm Patrick den Gegenstand entgegen. Er stutzte leicht, als er sah was auf dem
Foto abgebildet war. Was konnte bloß so wichtig an einem vollkommen normalen Bild vom
Weihnachtsmarkt sein? „Sie müssen mehr auf das, was sich im Hintergrund abspielt,
achten!“, half der Detektiv nach, da er die Verwirrung auf dem Gesicht des Polizisten
deutlich sehen konnte. „Aber warum denn? Das ist doch nur ein ganz normales Foto….“ fand
Patrick. Doch dann bemerkte auch er das verängstigte Mädchen. „A-aber das ist doch…“
„Antonia Catalano. Ganz genau. Sehen Sie auch..?“, schaffte Matthew gerade noch zu sagen,
bevor er von Patrick unterbrochen wurde. „Oh mein Gott! Das ist ja Steffen! Was zur Hölle
tut er da?!“, fragte der Polizist geschockt. Aber seine Frage beantwortete er sich nur wenige
Sekunden später selber. „Er war es also… Er hat ihr all diese schrecklichen Dinge angetan…
Das kann doch nicht sein! Es gibt bestimmt eine Erklärung. Wie Steffen, sehen viele Männer
aus, obwohl der Mann ihm schon verdammt ähnlich sieht.“ „Er sieht ihm nicht nur ähnlich –
es muss ihr werter Herr Kollege ein!“, Matthew hielt Patrick den Ordner der
gerichtsmedizinischen Untersuchung, den er kurz zuvor durchgeblättert hatte, unter die
Nase. „Sehen Sie das? Die Buchstaben wurden den Mädchen in allen zwölf Fällen vor ihrem
Tod in den Arm geritzt, nur bei Antonia nicht. Ihr wurden die Buchstaben nach ihrem Tod in
den Arm geschnitten. Hier versucht uns jemand aufs Glatteis zu führen, Herr Weißer, und ich
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habe den starken Verdacht, dass das ihr Kollege ist.“ „Wieso bin ich da nicht früher drauf
gekommen? Es war doch so offensichtlich…“„Wir haben nicht genug Zeit, darüber
nachzudenken! Wir müssen klären, wie wir nun weiter vorgehen!“, gab Matthew hektisch zu
verstehen. „Wir können ihn doch jetzt einfach verhaften, oder?“
Einen Moment lang schwieg der Angesprochene und gab ihm das Beweisstück zurück. Es war
ihm zwar nicht bewusst, doch er begann aus Nervosität mit seinen Fingern zu knacksen. Er
schloss seine Augen und versuchte erfolglos seine Gedanken, die in seinem Kopf herum
rasten, zum Stoppen zu bringen. Er ließ all die Momente, in denen Steffen ihn, nun recht
offensichtlich, auf eine falsche Fährte geführt hatte, Revue passieren – das psychologische
Gutachten für Maria Catalano, das Abwimmeln der Catalanos und ihrer Freunde, der Angriff
auf Maria, das vehemente Pochen auf Strapinski als Verdächtigen und nun das Foto und
dieser Fehler, den der neue Mörder begangen hat. Patrick fühlte sich von Sekunde zu
Sekunde mehr verraten und zweifelte gleichzeitig an seinem kriminalistischen Geschick. Wie
konnte er sich nur so an der Nase herumführen lassen.
Langsam öffnete er seine Augen wieder und antwortete mit merkwürdiger Ruhe: „Wir
können nicht nur, wir müssen sogar. Wenn wir Steffen nicht verhaften würden, wären wir
fast schon genauso schuldig wie er. Also, worauf warten wir noch?“ Patrick hatte gerade zu
Ende gesprochen, als sich die Tür öffnete und Steffen hereintrat. „Ich Idiot hab meinen
Ausweis hier liegengelassen!“, stöhnte er ein wenig genervt. Eine angespannte Stille, welche
bloß vom Ticken der Uhr an der Wand gestört wurde, verbreitete sich in dem Raum. „Wworum geht´s? Warum seht ihr mich denn bloß so an?“, stotterte Steffen in einem Versuch,
die Spannung zu beenden. Kaum bemerkbar nickte Matthew Patrick zu, woraufhin dieser
seine Handschellen in die Hand nahm und auf den anderen Polizisten zuging. „Steffen
Moritzen, Sie sind verhaftet wegen der Entführung, der Vergewaltigung und des Mordes an
Antonia Catalano. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen kann und wird vor
Gericht gegen Sie verwendet werden“, sagte Patrick Weißer mit ernster Stimme während er
die Arme des anderen hinter seinen Rücken zwang und ihm die Handschellen umband.
„Nun? Wollen Sie noch irgendetwas loswerden?“, fragte Matthew spöttisch. Doch alles, was
Steffen zustande brachte, waren ein nervöses Lachen und ein Gesichtsausdruck, der genau
zeigte, wie er sich im Inneren fühlte: ertappt.
Wenige Minuten später befanden sich die drei in einem der Verhörräume der Polizeistation,
Steffen auf der einen Seite des Tisches, Matthew und Patrick auf der anderen. Leise seufzte
Patrick bevor er zu sprechen begann. „Warum? Warum hast du ihr all das angetan? Steffen,
du kannst es uns ruhig sagen“, versuchte er ihn zum Reden zu bringen. Aber Steffen
schnaubte bloß und rollte genervt mit den Augen. „Wir wissen sowieso, dass Sie schuldig
sind. Nur Ihr Motiv ist uns unklar“, fügte Matthew hinzu. „Warum denkt ihr, dass ich, als
Polizist, dessen wichtigstes Ziel schon immer der Schutz der Allgemeinheit war, das arme
Mädchen entführt, vergewaltigt und anschließend ermordet habe? Außerdem bin ich gar
nicht alt genug, um auch die anderen Morde begangen zu haben!“, äußerte sich Steffen
empört. Wortlos zeigte Matthew dem Tatverdächtigen dasselbe Bild, welches kurz zuvor
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auch Patrick in den Händen gehalten hatte. Steffen schluckte leise, als er sich selbst und
Antonia im Hintergrund erkannte. Ein paar Sekunden lang dachte er darüber nach, ob er sich
noch auf irgendeine Art und Weise aus seiner miserablen Situation herausreden konnte,
doch nachdem er bemerkte, wie die zwei anderen Anwesenden ihn anblickten, und jede
seiner möglichen Ausreden mit ihm im Gefängnis endete, entschloss er sich dazu, seine
Taten zu gestehen.
„Nun gut… Patrick, ich hab dir doch schon einmal von Lisa erzählt, oder?“, begann der Täter
zögerlich zu reden. Stumm nickte dieser, doch Matthew wusste nicht, wer gemeint war, was
deutlich an seinem Gesicht zu erkennen war. „Sie war seine große Liebe als er ein
Jugendlicher war. Sie starb bei einem schrecklichen Autounfall“, erklärte Patrick Weißer
kurz. „Genau. Und Antonia… nun, sie erinnerte mich so sehr an Lisa. Sie sieht fast genau so
wie sie aus! Und sie spielt Tennis, genau wie Lisa! Sie ist fast perfekt…..“, träumte Steffen vor
sich hin. „Ja ja, schon gut, wir haben´s verstanden. Aber jetzt ist Antonia ebenfalls tot, dank
Ihnen“, entgegnete Matthew nüchtern. „Und durch Antonias Tod kommt ihre Lisa auch nicht
zurück...“„Matthew, es reicht!“, unterbrach Patrick ihn. „Viel wichtiger ist doch, wie genau er
es getan hat. Also, wie hat all das angefangen?“
Matthew verdrehte seine Augen, aber beschloss fürs erste zu schweigen. „Wir haben uns im
Fitnessstudio kennengelernt und ich habe mich augenblicklich in sie verliebt. Sie war so
wunderschön…“, schwärmte der Mörder weiter. „Also habe ich angefangen, ihr Nachrichten
im Internet zu schreiben. Nach relativ kurzer Zeit, gab sie mir sogar ihre Handynummer! Ich
habe ihr täglich geschrieben... Aber als ich ihr dann eines Tages draußen vor dem
Fitnessstudio meine Liebe gestanden habe, da ließ sie mich einfach abblitzen! Das ist doch
unerhört! Da verwendet man so viel Zeit, um ihr Herz für sich zu gewinnen und sie weist
einen zurück – einfach so!“„Ihnen ist doch wohl hoffentlich bewusst, dass sie nicht dazu
verpflichtet ist, irgendetwas mit Ihnen anzufangen? Sie sind immerhin mehr als doppelt so
alt, wie Antonia es war. Und selbst wenn sie so alt gewesen wäre wie sie, Steffen, dann hätte
Sie immer noch ihren Freund Lenny gehabt“, informierte Matthew sein Gegenüber
angewidert mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich weiß. Deswegen habe ich auch so getan, als wäre alles in Ordnung und habe normalen
Kontakt mit ihr auf Facebook und so gehalten! Aber anonym habe ich ihr immer weiter
geschrieben, dass ich sie liebe, bis ich dann bemerkt habe, dass meine gesamte Karriere zu
Ende sein könnte, wenn sie mit all diesen Nachrichten zur Polizei gehen würde!“, fuhr
Steffen fort. „Ich habe dann also begonnen die Entführung zu planen. Als ich von dem
Großeinsatz auf dem Weihnachtsmarkt erfahren habe, habe ich gesehen, dass das der
perfekte Ort ist, da sie mir am Tag zuvor geschrieben hatte, dass sie abends genau dorthin
gehen wollen, um ihren Geburtstag zu feiern. Da ich weiß, dass Antonia auf Glückskekes
steht – sie hatte mir an einem Abend im Fitnessstudio ausgiebig von dieser Leidenschaft
erzählt, habe ich dem Besitzer es einzigen Glückskeksstands am Frankfurter
Weihnachtsmarkt ein Bild von Antonia überreicht und ihm gesagt, er solle ihr, wenn sie
kommt, einen anderen, einen besonderen Glückskeks geben.“
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„Obwohl das, was du getan hast, absolut widerlich und verachtenswert ist, muss ich
zugeben, dass dein Plan recht gut durchdacht ist. In der Menschenmenge fällt es niemandem
auf, wenn jemand entführt wird“, bemerkte Patrick ehrlich. „Genau! Und zuerst hatte ich
auch gar nicht geplant sie zu töten... Mir ist dann bloß irgendwann aufgefallen, dass ich so
den Verdacht am besten auf jemand anderen lenken kann. Glücklicherweise kam dann noch
dieser Jürgen Strapinski ins Spiel, der fast schon ohne Hilfe den gesamten Verdacht auf sich
gelenkt hat“, beendete Steffen Moritzen sein Geständnis und er wusste, dass er nun
unmöglich je wieder Polizist sein könnte. „Und es wie das Werk eines alten Serienmörders
aussehen zu lassen, war auch sehr clever, hab ich Recht, Matthew West?“
„Das wäre es gewesen, wenn Ihnen nicht ein so grober Fehler unterlaufen wäre“, erwiderte
dieser ein wenig besserwisserisch. Diese Aussage machte Steffen stutzig. Steffen war sich zu
hundert Prozent sicher, das Schema und die Vorgehensweise des alten Täters perfekt kopiert
zu haben und Patrick war selbst beim erneuten Durchgehen aller Fallakten nichts
Verdächtiges aufgefallen, bis Matthew ihm vor wenigen Minuten die Augen geöffnet hatte.
Matthew blickte in das verwirrte Gesicht des überführten und geständigen Mörders und
konnte nicht anders als zu grinsen. „What? Es ist Ihnen wirklich noch nicht mal im
Nachhinein aufgefallen?“, wollte er leicht belustigt wissen, woraufhin er als einzige Antwort
einen sich schüttelnden Kopf bekam. Er zeigte auf seinen eigenen Arm und malte einen
Buchstaben darauf. „Die eingeritzten Buchstaben. Es ist mir erst vorhin aufgefallen, aber bei
den alten Morden wurden diese immer eingeritzt, während die Mädchen noch gelebt haben,
doch Sie haben Antonia die Buchstaben postmortal zugefügt!“
Er konnte sehen wie Patrick ebenfalls zu grinsen begann und wie in Steffens Gesicht nur
noch bloße Panik zu erkennen war. „Also das“, betonte Patrick, „das ist wirklich ein leicht
vermeidbarer und sehr dummer Fehler!“
Einige Monate später...
Durch die schwerwiegende Beweislast und das eindeutige Geständnis von Steffen Moritzen
wurden die Gerichtsverhandlungen zum Fall Antonia Catalano recht schnell abgeschlossen.
Steffen bekam lebenslängliche Haftstrafe, doch so wird er wenigstens nach 15 Jahren einen
Antrag auf frühzeitige Entlassung stellen können. Jürgen Strapinski schaffte es, seinen
Alkoholkonsum zu verringern, und seine Schwester Maja Larsson und er konnten die
Ungereimtheiten zwischen ihnen auch auf Dauer klären und kommen nun wieder gut
miteinander aus. Nachdem der Mörder ihrer Tochter gefasst und verurteilt wurde, begann
sich der psychische Zustand von Maria Catalano stetig zu verbessern. Dank seines Erfolgs in
diesem Fall entschloss sich Detektiv Matthew West gegen die Schließung der Detektei seines
Vaters, der zum ersten Mal seit über sieben Jahren wieder glücklich und stolz war, als er von
dem gelösten Fall erfuhr.
Alles war gut.
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