Predigt zu Johannes 3,1

Johannes 3,1-8: Der kleine Spatz (J.Röhl; 31.5.2015)
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Predigt zu Johannes 3,1-8: Der kleine Spatz
Liebe Schwestern! Liebe Brüder!
Eine arabische Legende erzählt von einem jungen Reisenden, der auf seinem Esel unterwegs ist.
Er entdeckt auf der Straße ein seltsames kleines Knäuel. Als er von seinem Esel absteigt und es
sich genauer anschaut, stellt er fest, dass es sich um
einen kleinen Spatzen handelt. Er liegt mit dem
Rücken auf dem Boden und streckt seine beiden dünnen Beinchen in die Luft.
Der Reisende denkt zunächst, dass der Vogel tot ist,
aber bei näherem Betrachten stellt er fest, dass er
noch sehr lebendig ist. Der junge Mann fragt den
Spatzen, ob alles in Ordnung sei. Der Spatz antwortet:
„Ja, alles okay!“ Darauf fragte der Mann: „Warum
liegst du dann auf dem Rücken und streckst deine Beine gegen den Himmel?“
Der Spatz antwortete, dass er ein Gerücht gehört habe, dass der Himmel bald einstürzen werde.
Deshalb halte er seine Beine nach oben, damit er den Himmel abstützen könnte. Der Araber sagte: „Das glaubst du doch nicht wirklich, dass du mit deinen dünnen Beinen den Himmel halten
kannst?“ Mit ernster Miene antwortet der Spatz: „Man tut, was man kann!“
So ähnlich könnte man das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus zusammenfassen. Jesus
fragt Nikodemus: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass du auf deinen dünnen menschlichen Beinchen ins Reich Gottes kommen könntest?“ Und Nikodemus antwortet: „Man tut, was man kann!“
Jesus sagt: Um ins Reich Gottes zu kommen, muss man neu von oben geboren werden. Aber Nikodemus kann damit nichts anfangen und je mehr Jesus erklärt, desto weniger versteht er es. Für
mich ergeben sich aus diesem Text zwei Gedanken: 1. Es ist so leicht! und 2. Es ist so schwer!
1. Es ist so leicht!
Nikodemus wird beschrieben als Pharisäer und als Mitglied des Hohen Rates. Als Pharisäer kennt
er sich mit der Bibel und mit dem Glauben aus. Von klein auf hört und studiert er Gottes Wort und
er meint genau zu wissen, was Gott von uns will. Er ist kein Liberaler, der Gottes Wort nicht so
ernst nimmt, sondern er ist ein Frommer, der wirklich nach Gottes Willen leben will. In Joh.3,10 bezeichnet Jesus ihn als „Lehrer Israels“. Er ist ein Mann von theologischer Kompetenz, der sein
Wissen auch anderen weitergeben will. Als Pharisäer ist er zugleich ein Mann aus dem Volk, dem
es nicht nur um theologisches Wissen geht, sondern auch um die konkrete praktische Umsetzung.
Nikodemus steht für unsere menschlichen Bemühungen, Gott zu gefallen. Er meint, wenn er möglichst genau die Regeln Gottes kennt und befolgt, dann gefällt das Gott und dann kommt er dadurch Gott näher. Er meint, Glaube ist eine menschliche Leistung und je besser ich darin bin, desto näher bin ich am Reich Gottes.
Aber Jesus sagt ihm: Das Entscheidende kannst du gar nicht selbst tun, lieber Nikodemus. Du
musst von Gott geboren werden. Nicht du musst handeln, sondern Gott muss an dir handeln. Die
Sache mit Gott ist viel einfacher als du denkst. Du musst nicht den Himmel mit deinen dünnen
Beinchen an seinem Platz halten. Das ist nicht deine Aufgabe, das kannst du gar nicht tun! Das ist
Gottes Aufgabe. Neues, himmlisches Leben kannst du dir nicht selbst erarbeiten, das kannst du
dir nur von Gott schenken lassen.
In V.3 sagt Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren
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werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Was ist die Pointe dieses Bildes vom geboren
werden? Wir können uns nicht selbst gebären. Es ist ein rein passives Geschehen. Ich kann nicht
sagen: Ich habe mich geboren. Das geht nicht. Ich kann nur sagen: Ich wurde geboren. Hat jemand von euch selbst seine Geburt veranlasst? Nein, das geht schlicht und ergreifend nicht.
Neu machen kann uns alleine Gott. Nicht wir selbst. Uns so umzugestalten, dass wir Gott gefallen,
können wir nicht selbst. Es reicht nicht eine kleine Kurskorrektur und das Abstellen von ein paar
schlechten Angewohnheiten. Nein, damit wir vor Gott bestehen können, damit wir ihm nahe kommen können, müssen wir von Gott selbst erneuert werden. Neu geboren werden. Eine Geburt ist
ein radikaler Neuanfang. Das ist mehr als eine oberflächliche Schönheitsoperation. Nein, bei einer
Geburt beginnt etwas ganz Neues.
Gegenüber Nikodemus präzisiert Jesus dann, wie diese Neugeburt geschieht (V.5): „Wahrlich,
wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann
er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Das Wasser ist eine Anspielung auf das Wasser der Taufe.
Der Geist macht deutlich, dass es bei der Taufe um mehr als um ein äußerliches Ritual geht. Damit das Wasser der Taufe wirksam ist, muss die Erneuerung durch den Geist dazu kommen.
Wir können uns nicht selbst taufen. Wir werden getauft. Wir können uns den Geist Gottes nicht
erarbeiten. Er wird uns geschenkt. Nicht wir verfügen über ihn, sondern er verfügt über uns. Jesus
verdeutlicht das in V.8: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt
nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es mit jedem der aus dem Geist geboren wird.“
So ist es mit der Neugeburt aus dem Geist. Gott wirkt nicht wo wir wollen, sondern wo er will. Wir
können die Wirkungen des Heiligen Geistes sehen, wir hören sein Sausen. Aber wir können den
Heiligen Geist nicht in unsere Bahnen lenken, wir können nicht über ihn verfügen, wir können ihn
nicht nach unserem Belieben steuern. Und wir brauchen ihn uns auch nicht durch unsere Anstrengungen verdienen.
Glaube ist viel leichter als du denkst! Denn es hängt nicht von dir und deiner menschlichen Leistung ab, sondern von Gott, von seinem Geist. Das ist eine ungeheure Erleichterung. Nicht du
musst den Himmel an seinem Platz halten mit deiner schwachen Kraft, das kannst du getrost Gott
überlassen. Nicht du musst dich selbst, die Kirche und die Welt retten, das kannst du getrost Gott
überlassen. Du brauchst nicht denken, dass alles von dir und deiner Glaubensstärke abhängt. Das
wäre so größenwahnsinnig, wie wenn ein Spatz denken würde, er kann verhindern dass der Himmel auf ihn einstürzt.
Aus dieser Perspektive können wir unseren Glauben mit einer ganz großen Gelassenheit leben.
Es hängt nicht von mir ab. Ich darf Gott vertrauen. Ich darf damit rechnen, dass Gottes Geist etwas Neues schaffen wird. Nicht ich muss krampfhaft versuchen, alles zu verändern und zu erneuern. Ich darf darauf vertrauen, dass Gottes Geist seinen Weg finden wird.
2. Es ist so schwer!
Das was auf der einen Seite so leicht ist, ist auf der anderen Seite so schwer. Gottes Geist ist unverfügbar. Das ist eine große Erleichterung, die uns gelassen machen kann. Aber es ist zugleich
eine schwere Herausforderung. Denn als Menschen würden wir am liebsten alles selbst unter
Kontrolle halten. Wir würden lieber selbst bestimmen, wo und wie der Geist Gottes wirkt.
Wahrscheinlich kennt jeder von euch Situationen, wo ihr denkt: Da müsste Gott doch jetzt eingreifen! Da müsste der Geist Gottes doch jetzt wirken und Veränderung schenken! Aber Gott handelt
oft nicht so, wie wir das wünschen und erhoffen. Er geht manchmal seltsame Wege mit uns. Wir
haben ihn und sein Wirken nicht unter Kontrolle. Manchmal können wir im Nachhinein erkennen,
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dass es gut so war. Manchmal können wir das auch nicht erkennen.
Es wäre doch toll, wenn ich als Prediger darüber verfügen könnte, wie der Heilige Geist durch meine Predigen wirkt. Es wäre doch toll, wenn ich auf Knopfdruck so predigen könnte, dass Menschen zum Glauben kommen, dass Versöhnung geschieht, dass Menschen mehr Liebe zu Gott,
zu ihrem Nächsten und zu sich selbst im Herzen hätten. Aber Gottes Geist ist unverfügbar. Ich
habe es nicht in der Hand. Ich kann nur darauf hoffen und darauf vertrauen, dass Gottes Geist zu
seinem Ziel kommt.
Das ist die einzig mögliche Reaktion: Hingabe und Vertrauen. Ich kann kein neues Leben gebären. Ich kann mich nur selbst Gott hingeben und darauf vertrauen, dass er neues Leben schenkt.
Das ist schwer! Sich ganz in Gottes Hand geben und allein auf ihn vertrauen – nicht auf unsere eigene Kraft.
Das heißt nicht, dass wir zu untätigen Fatalisten werden, die gar nichts mehr tun und nur zuschauen, was Gott in der Welt tut. Nein, die Bibel fordert uns ja oft genug zum Handeln auf. Jesus selbst
sagt, dass wir besser leben sollen, als heuchlerische Schriftgelehrten und Pharisäer. Er fordert
uns auf, unser Bestes zu geben. Er fordert uns auf Gott von ganzem Herzen zu lieben. Mit allem
was wir sind und haben. Mit jeder Faser unseres Lebens. Er fordert uns auf, unseren Nächsten zu
lieben wie uns selbst. Ja er fordert sogar, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Er verlangt von
uns, dass wir hingehen und alle Menschen zu Jüngern machen. Wir sollen nicht die Hände in den
Schoss legen und darauf warten, dass Gott auf übernatürliche Weise alle Probleme dieser Welt
alleine löst. Nein, wir sollen handeln. Wir sollen leben, wie es Gott gefällt.
Aber bei all dem dürfen wir das eine nicht vergessen: Das Entscheidende können wir nicht selbst
tun. Dass aus unserem Leben und Handeln neues Leben entsteht, kann nur Gott schenken. Bleibe demütig! Vertraue auf Gott und nicht auf dich selbst. Ja, echte Demut ist ganz schön schwer.
Für Nikodemus ist das in dieser Situation zu schwer. Er versteht Jesus nicht. Er bleibt in seinen
menschlichen Gedanken hängen. Er kann sich nicht vorstellen, wie ein Neugeburt geschehen soll.
Die letzte Aussage, die Johannes von Nikodemus in diesem Gespräch überliefert ist (V.9): „Wie
kann das geschehen?“ Danach redet nur noch Jesu. Wie Nikodemus reagiert hat, wird an dieser
Stelle nicht überliefert. Er bleibt beim Fragen stehen. Er scheint sich jetzt noch nicht auf den Glauben und auf das Vertrauen auf Jesus einlassen zu können.
Wie sieht es bei dir aus? Kommst du dir auch manchmal vor wie ein kleiner Spatz, der mit seinen
dünnen Beinchen versucht, den Himmel vor dem Einstürzen zu bewahren? Das ist eine Illusion!
Du kannst und du brauchst nicht den Himmel an seinem Platz halten. Du kannst aufstehen und
darauf vertrauen, dass Gott den Himmel trägt. Tu das, was ein Spatz tun kann und überlasse den
Rest Gott! Du brauchst dir selbst und der Welt kein neues Leben durch deine religiöse Anstrengung verdienen. Neues Leben schenkt alleine Gott. Vertraue auf das Wasser deiner Taufe und auf
den Geist, der in dir wirkt. Der kleine Spatz darf aufstehen, durch die Lüfte schweben und von der
Größe Gottes singen.
Amen
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Bildquelle: thonk25 / flickr.com