42 FEUILLETON Neuö Zürcör Zäitung Freitag, 11. März 2016 Inseln im Mahlstrom Wie Geistes- und Sozialwissenschafter mit Webplattformen Gegenöffentlichkeit zu schaffen versuchen Sie heissen «Geschichte der Gegenwart» oder «Batz.ch» oder auch «Avenue.jetzt»: Websites, mit denen sich Geistesund Sozialwissenschafter auf eigene Faust an die mediale Öffentlichkeit wenden. URS HAFNER Bevor das Internet sich anschickte, uns mit seinem Informationsmüll zu fluten, elektrisierte es die digitaleuphorischen Volksaufklärer. Alles würde besser, glaubten sie, wenn alle Menschen ungehindert Zugang zum «Weltwissen» hätten und sich unbehelligt von staatlicher Zensur und manipulierten Medien informieren könnten. Der freie und mündige Bürger, von dem die Aufklärungsoptimisten des 18. Jahrhunderts geträumt hatten, werde endlich Wirklichkeit. Inzwischen sind wir um einige Illusionen ärmer. Der Umgang mit dem neuen Wundermedium ist diffizil, wie wir alle wissen, weil es dazu tendiert, seine Benutzer zu absorbieren. Die Presse, seit dem 19. Jahrhundert der Motor von Aufklärung und Liberalisierung, weiss davon ein traurig Lied zu singen: Mittlerweile im Minutentakt jagen die Medienunternehmen Nachricht um Nachricht auf ihre Websites, um die ungeduldigen und volatilen Nutzer bei der Stange zu halten, denen eine gedruckte Zeitung viel zu statisch ist. Zum Gemeinplatz der wachsenden Gruppe der Verächter der «alten» Medien ist der Satz geworden, der kritische Journalismus sterbe aus. Bilanz und Potenzial Doch nun naht Rettung. Eine Reihe von Sozialwissenschaftern und Geisteswissenschafterinnen betreibt eigene Webportale, die sich nicht an ihre universitäre Community, sondern an die breite Öffentlichkeit wenden. Die Professoren wollen eine informierte Gegenöffentlichkeit bilden. In ihrem Selbstverständnis tun sie das, was die Medien nicht genug oder gar nicht mehr tun: die Wirklichkeit hinterfragen, News überprüfen, nachdenken. Professoren als kritische Journalisten – geht das? Die Bilanz ist, um es mit einer akademischen Leitvokabel zu sagen, ambivalent. Auf «Geschichte der Gegenwart», dem jüngsten dieser von Wissenschaftern betriebenen Portale, greift der Zürcher Historiker Philipp Sarasin mit Scharfsinn und beträchtlichem rhetorischem Talent in die politischen Debatten um Migration und nationale Identität ein (http://geschichtedergegenwart.ch/). Er attackiert nicht nur die Schweizerische Volkspartei, deren Ideologie mittlerweile den gesamten öffentlichen Diskurs der Schweiz überschattet, sondern betreibt auch erhellende Sprachkritik; der «Kulturkreis» etwa, der mit dem gegenwärtigen Flüchtlingsdrama eine Renaissance erlebt, ist kein harmloser, neutraler Begriff. Das ist beste Radikalaufklä- Verspielt ist man auf der Website Avenue.jetzt: Ingres’ «Grande Odalisque», nun mit Tattoo. rung. Die anderen Autoren des Portals, auch sie von der Historikerzunft, segeln in Sarasins Schatten; zu umständlich und langfädig sind ihre «Hintergrundtexte» oft, trotz dem rührig-munteren Rubrikentitel «Jetzt aber!». «Fortsetzung folgt» steht unter einer ausufernden akademischen Erörterung der «problematischen Verschiebung» vom «Opfer zum resilienten Ich» – hoffentlich nicht, denkt man. Der unbeschränkte Raum des Internets gereicht der Qualität der Texte nicht immer zum Vorteil. Die Website «Geschichte der Gegenwart» hat sehr wohl das Potenzial, einen Teil des intellektuellen Vakuums zu füllen, das durch die Verflachung der Kulturteile mancher grosser Zeitungen entstanden ist. Allerdings mangelt es der Plattform an journalistischem Können: Für ein grösseres Publikum muss man sich kurz fassen – «kill your darling», wie die Regel lautet –, einfacher und klarer formulieren, unterschiedliche Textgattungen handhaben. Eine Glosse ist kein Aufsatz, und ein Aufsatz ist nicht desto gehaltvoller, je umfangreicher er ist. Public Relations und Reklame Intellektuell bescheidener als «Geschichte der Gegenwart» tritt die Plattform «DeFacto» auf. Sie wird von Politikwissenschaftern betrieben, die – offensichtlich mit journalistischer Unterstützung – Kurzfassungen von Studien veröffentlichen, die das politisierte Publikum interessieren könnten, etwa zur Stimmbeteiligung in der Schweiz oder zum – wohl nur indirekten – Einfluss des Rechtspopulismus auf die Integrationspolitik westlicher Länder. Im Grunde ist die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Website eine Ansammlung von Medienmitteilungen. Sie betreibt im Interesse der Schweizer Politologie Wissenschafts-PR (www.defacto.expert/). «DeFacto» preist denn auch seine «herausragenden Forschungsergebnisse» und sein «Expertenwissen» an. Die Website «belegt, was andere meinen» – so ihr Slogan, der nicht so sexy wirkt, wie er gemeint ist. Auch wenn sie Medienschelte übt: Mit ihrem sozialwissenschaftlichen Positivismus, für den nur wahr ist, was sich quantitativ nachweisen lässt, folgt die Site mehr dem medialen Mainstream, als dass sie sich diesem entgegenstellte. Ebenfalls Reklame macht die spartanisch anmutende neue Website «About Humanities» der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit 18 Fragen und Antworten (https://abouthumanities.sagw.ch/) widerlegt der mit praktischen Beispielen angereicherte Katechismus das Vorurteil unserer «technikgläubigen Welt», die Geisteswissenschaften seien nutzlos: Vielmehr würden sie zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen nötiger denn je gebraucht; ohne die Geisteswissenschaften sei die Gegenwart schlicht nicht zu verstehen. Die charmante PR-Offensive zeigt, dass die Geisteswissenschaften sich an den Rand der Öffentlichkeit gedrängt sehen, auch wenn die meisten Medienleute ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben. In der Tat nimmt genuin geisteswissenschaftliches Reflexionswissen im medialen Alltag nur einen bescheidenen Platz ein. Auch die Site «Batz.ch» ist ästhetisch sparsam aufgemacht. Sie konzentriert sich auf eine in Blog-Manier betriebene Kritik einzelner Presseartikel, die fast im Alleingang von Urs Bichler, Volkswirtschaftsprofessor der Universität Zürich, betrieben wird. Daneben publiziert Monika Bütler, Volkswirtschaftsprofessorin der Universität St. Gallen, ihre Kolumnen, die sie für die «NZZ am Sonntag» geschrieben hat. «Batz.ch» be- JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES / AVENUE.JETZT schäftigt sich, wie der Name antönt – der Batzen war einst als Münze in Verkehr –, verständlich und zuweilen auch witzig mit wirtschaftspolitischen Fragen. Eifrig enthüllen die moderat liberalen Autoren das ökonomische Halbwissen der Medien und klären ihre Leserinnen und Leser auf (www.batz.ch/). Ein Kontrapunkt Einen eigenen Weg schlägt das Portal «Avenue.jetzt» ein (www.avenue.jetzt/). Die Betreiber sind keine Professoren, sondern eine freischaffende Germanistin und ein Philosoph in Basel, die Themen folgen weniger der politischen Aktualität denn akademischen Vorlieben – etwa «Cyborgs» –, und die Gestaltung ist, im Unterschied zu der der anderen Portale, herausragend. Sowohl grafisch als auch thematisch betreibt die Site die Entschleunigung des Internets und setzt damit einen Kontrapunkt zur Entwicklung der Medienwelt. (Parallel sollen Printausgaben erscheinen.) Ob das ambitionierte, verspielte und ein wenig abgehoben wirkende Unternehmen, das geistes- und kulturwissenschaftliches Wissen und anspruchsvolle Essays offeriert, sich behaupten kann? Zu wünschen ist es ihm. Das Internet ist ein Mahlstrom. Wollen die neuen sozial- und geisteswissenschaftlichen Websites auch nur als Inseln bestehen, müssen ihre Autorinnen und Autoren mehr als nur die Peers der eigenen Disziplin erreichen. Dafür aber wären sie vermehrt auf guten Journalismus angewiesen. So oder so markieren die Plattformen eine kleine Zäsur: Sie zeugen nicht nur von der Unzufriedenheit vieler Akademiker mit dem Zustand der herkömmlichen Medien, sondern auch von dem Bedeutungsverlust ebendieser Medien im akademischen Milieu. Die Sammlerin, Fotografin und Mäzenin Gertrud Dübi-Müller Franz Zelger V Sie war eine faszinierende Persönlichkeit, vielseitig begabt, eigenständig und selbstbewusst. Als bedeutende Sammlerin moderner Kunst, Modell, Fotografin und Mäzenin ist Gertrud Dübi-Müller (1888–1980) in die Kunstgeschichte eingegangen. Sie hatte aber auch eine grosse Leidenschaft für Pferde, den Eiskunstlauf, Hochgebirgsklettern und explizit für den technischen Fortschritt. Als erste Solothurnerin sass sie am Steuer eines Autos der Genfer Marke «Pic-Pic», mit dem sie weite Reisen unternahm und das auf den noch nicht asphaltierten Strassen riesige Staubwolken aufwirbelte. Wie ihr Bruder Josef Müller sammelte sie mit untrüglichem Blick für hohe Qualität und oft in direktem Austausch mit den von ihr geförderten Künstlern. Zu ihren engen Freunden gehörten Cuno Amiet, der Lehrer und Vermittler, Giovanni Giacometti und Ferdinand Hodler, der ihr besonders zugetan war und sie in 17 Bildnissen festhielt. Früh erkannte die Mäzenin auch das Talent von Hans Berger, Albert Trachsel und Ernst Morgenthaler, die ebenso bei ihr ein und aus gingen. Kaum volljährig, erwarb Gertrud Dübi-Müller van Goghs «Irrenwärter von Saint-Rémy». Weitere Werke der europäischen Moderne, etwa von Liebermann, Degas, Cézanne, Braque, Picasso, Klimt, Vallotton und Maillol, folgten und ergänzten ihre auserlesene Sammlung. Dass die an neuen Errungenschaften Interessierte auch zum Fotoapparat griff, erstaunt nicht. Dass sie aber damit so eindrückliche Zeugnisse wie die Porträts von Hodler, Cuno Amiet und Giovanni Giacometti schuf, zeugt von ihrer hohen Begabung auch auf diesem Gebiet. So grosszügig sie Werke als Leihgaben für Ausstellungen zur Verfügung stellte, so diskret hütete sie die Sammlung in ihrem Heim. «Niemals hat sich Gertrud Müller ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gedrängt» (Cäsar Menz). Doch gerade ihre Diskretion provozierte Neugier. Man wollte Genaueres wissen über diese bürgerliche Avantgardistin, die zu den wichtigsten Sammlerpersönlichkeiten der Schweiz im 20. Jahrhundert gehört. Nun vermitteln ihre Nichte Monique Barbier-Müller und der Kunsthistoriker Cäsar Menz in einer informationsreichen, schön gestalteten Publikation Einblicke in das Reich von Gertrud Dübi-Müller, wobei sie ihre Bedeutung als Sammlerin und Mäzenin aufzeigen und ihre vielfältigen Beziehungen zu den Künstlern nachzeichnen. Das Buch versteht sich als Hommage an eine aussergewöhnliche Frau, die selbst Teil der Kunstgeschichte geworden ist. Nach ihrem Tod gelangte die Kollektion mit 190 Werken als DübiMüller-Stiftung an das Kunstmuseum Solothurn. Aus Anlass der Buchpublikation zeigt dieses bis zum 16. Mai eine facettenreiche Ausstellung, deren Titel, «Liebes Fräulein Gertrud», auf Hodlers rege Korrespondenz mit seiner Sammlerin Bezug nimmt. Monique Barbier-Müller, Cäsar Menz: Gertrud Dübi-Müller. Sammlerin, Fotografin, Mäzenin. Verlag NZZ Libro, Zürich 2016. 176 S., zahlreiche Abb., Fr. 61.–. Einspruch! Die Vitra Design Gallery entdeckt das Design des Widerstands gde. V Er schützt vor Nässe, Wind und Wetter und kann auch in politisch stürmischen Zeiten nützlich sein. Gemeint ist der Regenschirm. Die Suffragetten schwangen einst den Schirm im Kampf um das Frauenwahlrecht. In jüngster Zeit wurde die politisch motivierte Zweckentfremdung des Stockschirms wiederentdeckt. Er kam nun als Schutz gegen Reizgas und als hübsches Logo zum Einsatz. Wieder ging es um das Ziel, Wahlrecht zu demokratisieren. Der Ort des Widerstands: Hongkong. Dort spannten im Herbst 2014 Studenten massenweise Schirme auf, dies als Zeichen solidarischen Protestes gegen den von Bürgerliche Avantgardistin Peking der Metropole vorgegebenen Rahmen einer Wahlrechtsreform. Schnell avancierte der gelbe Schirm zum weltweit kommunizierten Symbol des Protestes, nachdem ein Online-Wettbewerb für das Logo-Design der Widerstandsbewegung initiiert worden war. Der digital ausgefochtene DesignWettbewerb, die Web-Blogs und die Gebäudewände, die mit Post-it-Messages beklebt waren, entfalteten soziale Bindekraft. Zusammenhalt schufen ebenso das in Eile gezimmerte Mobiliar und der Barrierenschutz für das im Zentrum von Hongkong errichtete, penibel sauber gehaltene «Village» der Besetzer, die ihren Widerstand unter das Motto «Love and Peace» stellten. Die Botschaft dieses Protests lautete: Jeder politische Aktivist ist ein potenzieller Designer. Sie lebt weiter in der Ausstellung «Protest by Design» in der Vitra Design Gallery in Weil am Rhein, die auf das «Umbrella Movement» zurückblickt. Design, definiert als soziale Praxis, schliesst in diesem Zusammenhang alle Gestaltungsformen der «Umbrella»-Protestkultur und der «Occupy»-Aktionen mit ein. Die kompakte Rückschau basiert auf Videos, Modellen und Dokumenten. Doch Design als einen Motor für politische Veränderung, so die Aussage der IN KÜRZE Schau, überzugewichten, verdeckt komplexere Zusammenhänge und ursächliche Fragen nach Antriebskräften und Wirkmechanismen politischen Widerstands. Und warum ermüdete der digital angeheizte Massenprotest der «Umbrella»-Bewegung nach wenigen Wochen? Laut dem Initiator des Logo-Design-Wettbewerbs, Kacey Wong, zündete das Design-Konzept der Demokratie fordernden «Umbrella»-Kampagne kurz und heftig, hatte aber keine Langzeitwirkung. Die Durchsetzung politischer Ziele ist eben weit mehr als nur eine Stil- und Design-Frage. Bis 29. Mai in der Vitra Design Gallery in Weil am Rhein. Das Ausstellungsheft ist gratis. Teheraner Orchester verliert seinen Chefdirigenten (pd) V Der Dirigent Ali Rahbari, selbst gebürtiger Iraner, hat die Leitung des Teheraner Sinfonieorchesters nach nur einem Jahr niedergelegt. In einem offenen Brief nannte er die Arbeitsbedingungen im Land als Grund für seinen Rücktritt. Musik ist im islamischen Iran nicht verboten, hat aber einen schweren Stand. Musiker müssen sich immer wieder gegen die strengen islamischen Vorschriften behaupten.
© Copyright 2024 ExpyDoc