TZ_Bundesgericht_Toleranz

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Thema 3
Samstag, 12. Dezember 2015
Bundesgericht für Toleranz an der Schule
Die Schulgemeinde St. Margrethen hat einem Mädchen aus Bosnien zu Unrecht das Tragen des islamischen Kopftuchs im Unterricht verboten.
Dies entschied gestern das Bundesgericht. Das Urteil setzt schweizweit ein Zeichen gegen geplante Kopftuchverbote.
DENISE LACHAT/LAUSANNE
Entweder die Schule oder die Religion:
Vor diese Wahl stellte die Schulgemeinde St. Margrethen ein damals zwölfjähriges Mädchen aus Bosnien, als es nach
den Sommerferien 2013 in Begleitung
der Mutter mit einem islamischen Kopftuch, dem Hijab, zum Unterricht erschien. Den Eltern wurde in einer Verfügung mitgeteilt, die Schulordnung
verbiete das Tragen von Kopfbedeckungen jeder Art im Unterricht; eine Ausnahme für die Sechstklässlerin gebe es
nicht. Als die Eltern gegen diesen Entscheid beim St. Galler Bildungsdepartement rekurrierten, blitzten sie ab, vom
Verwaltungsgericht hingegen wurde ihr
Anliegen geschützt. Gestern bestätigte
das Bundesgericht, dass der Schülerin
das Tragen des Kopftuchs im Unterricht
zu Unrecht verboten worden war. Mit
vier zu einer Stimme lehnte es die Beschwerde der Schulgemeinde gegen das
St. Galler Verwaltungsgericht ab.
«Kein Öl ins Feuer giessen»
Es sei die Aufgabe einer Schule, Toleranz zu predigen und den friedlichen
Umgang mit anderen zu fördern, statt
Öl ins Feuer zu giessen: So fasste der
Präsident der Gerichtskammer, die im
«Kopftuchstreit» zu entscheiden hatte,
die Position der Mehrheit nach vier
Stunden intensiver Debatte zusammen.
Und die einzige Richterin im fünfköpfigen Gremium befand, das Verwaltungsgericht habe recht. Wenn die Schule das
Kopftuch zulasse, könne sich das Mädchen am Unterricht beteiligen – und
fördere so die Integration und damit die
Gleichstellung der Geschlechter und die
Chancengleichheit. Das Mädchen war
dem Unterricht zunächst monatelang
ferngeblieben und arbeitete den Schulstoff zu Hause auf.
Eine gesetzliche Grundlage für ein
Verbot wäre nach Auffassung der Lausanner Richter in St. Margrethen zwar
vorhanden. Ein Kopftuchverbot stelle
aber einen schweren Eingriff in die von
der Bundesverfassung geschützte Glaubens- und Gewissensfreiheit dar, und
dafür müssten mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. So müsste ein öffentliches Interesse überwiegen oder eine
konkrete Gefährdung des Kindeswohls
oder Dritter vorhanden sein. Im Fall der
bosnischen Schülerin treffe dies nicht
zu. So gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie durch das Tragen des Kopftuchs Werbung für ihren Glauben betreibe und so die Glaubensfreiheit ihrer
Mitschülerinnen und -schüler beeinträchtige oder den Schulfrieden störe.
Das Tragen von religiösen Insignien sei
weder respekt- noch rücksichtslos gegenüber anderen: Schüler hätten keine
Pflicht zur religiösen Neutralität. Vielmehr gelte diese für den Staat und damit für die Lehrkräfte. Diesen Grundsatz hat das Bundesgericht bereits 1997
gefällt, als es einer Lehrerin im Kanton
Genf das Tragen des Kopftuchs verbot.
«Parallelgesellschaften verhindern»
Jener Richter, der die Beschwerde
St. Margrethens gestützt hätte, äusserte
Verständnis dafür, dass eine Schulbehörde verlange, dass ihre Regeln
für alle gälten. Eine Sonderbehandlung
der Religionsfreiheit sei fragwürdig,
schliesslich gebe es auch keine Ausnahmen für Leute, die keine Steuern und
keine Krankenkassenprämien bezahlen
wollten. Und er plädierte angesichts der
«zunehmenden Pluralisierung der Ge-
sellschaft» dafür, präventiv zu handeln.
Es werde immer mehr Anträge auf Sonderwünsche geben, die in ihrer Summe
das Einhalten von Regeln verunmöglichten. Das sei denn auch das Kernanliegen der Schulgemeinde St. Margrethen, die sich an der «selbstgewollten
Ausgrenzung der moslemischen Familie
und dem ostentativen, radikalen Anderssein» störe. «Sie will die Entstehung
von Parallelgesellschaften verhindern,
auch wenn die Gefahr noch nicht konkret ist.» Seine Richterkollegen hielten
dem entgegen, mit dem Argument einer
abstrakten Gefährdung liesse sich fast
alles verbieten. «Bei einem Grundrechtseingriff geht es immer um eine
konkrete Gefährdung, sonst müsste
jede Demonstration verboten werden.»
Zudem gebe es bei dem bosnischen
Mädchen keinen Hinweis auf Zwang
durch die Eltern. Auch die Jugendärztin
stelle fest, das Mädchen trage das Kopftuch aus eigener Überzeugung.
«Keine Rapperkappe»
Die Gerichtsmehrheit widersprach
auch der Kritik, dass eine Einzelfallprüfung für Schulen nicht praktikabel
sein. «Es dürfte wohl nicht allzu schwer
sein, ein islamisches Kopftuch oder eine
jüdische Kippa von einer Rapperkappe
zu unterscheiden.»
Die Richter halten in ihrem Urteil
aber fest, dass sich ein Kopftuchverbot
im Unterricht im Einzelfall durchaus
rechtfertigen könnte. Dann nämlich,
wenn – anders als im Falle des bosnischen Mädchens – öffentliche Interessen, Rechte des Kindes oder Dritter
tatsächlich konkret beeinträchtigt oder
bedroht wären. Nicht tangiert vom
gestrigen Entscheid ist die Pflicht des
moslemischen Mädchens, an Unterrichtsfächern sowie an Schulausflügen
teilzunehmen. Und die Richter wollen
ihr Urteil auch nicht als Freibrief für
die Religionsfreiheit verstanden wissen.
Künftige Einschränkungen seien durchaus denkbar, falls die kulturellen Traditionen der Schweiz verletzt würden.
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit
gehört zu den ältesten Grundrechten.
Seit 1874 ist sie in der Schweizer Verfassung verankert mit einem dreifachen
Ziel: Toleranz, Freiheitsschutz und die
Verhinderung der Ausgrenzung von Andersdenkenden.
Bild: ky/Christian Brun
Die Rechtsvertreterin der bosnischen Familie mit Mitgliedern des Islamischen Zentralrats der Schweiz nach dem Urteil des Bundesgerichts in Lausanne.
«Das Kopftuch behindert die Integration»
Die Reaktionen auf das Urteil des Bundesgerichts fallen unterschiedlich aus. Die erfolgreiche Integration von Kindern aus Migrationsfamilien
sei «unter diesen Umständen» massiv erschwert, hält die betroffene Schulgemeinde fest. Die St. Galler SVP spricht von einem «weltfremden Urteil».
REGULA WEIK
ST. GALLEN. Das Mädchen trägt es heute
und wird das Kopftuch auch künftig in
der Schule tragen – juristisch abgesichert. Der endlose Hickhack um das
Kopftuch im Kanton St. Gallen hat ein
Ende. Das ist gut so – darin sind sich alle
angefragten Personen einig. Doch das
ist an Einigkeit auch schon alles.
«Ein Integrationshindernis»
Der Schulrat von St. Margrethen mag
nur schriftlich Stellung nehmen – und er
hält fest: Er sei trotz des Urteils des Bundesgerichts nach wie vor überzeugt,
dass «das Tragen des islamischen Kopftuches bereits im Kindesalter ein Symbol für eine fundamentalistische Auslegung des Islams und damit ein Integrationshindernis darstellt». Eine erfolgreiche Integration von Kindern aus
Migrationsfamilien werde «unter solchen Umständen» stark erschwert. Das
Bundesgericht gewichte die individuelle Religionsfreiheit höher als das öffentliche Interesse an einer erfolgreichen
Integration und höher als das Grundrecht auf einen religionsneutralen Unterricht, hält Schulratspräsident Roger
Trösch fest.
SVP befürchtet weitere Forderungen
Der St. Galler Bildungsdirektor Stefan
Kölliker ist «grundsätzlich froh, dass die
Kopftuchfrage nun endlich geklärt ist».
Der St. Galler Erziehungsrat hatte unter
seiner Führung Mitte 2010 den Schulen
empfohlen, Kopftücher und andere
Kopfbedeckungen im Unterricht zu verbieten; St. Margrethen hatte daraufhin
ein Kopfbedeckungsverbot in seine
Schulordnung aufgenommen. In der
Sache, so Regierungsrat Kölliker weiter,
sei er selbstverständlich anderer Meinung als das Bundesgericht. Sein Ziel
sei immer «eine einheitliche, klare
Ordnung» an den Schulen gewesen. Ob
diese nun gegeben sei, zweifelt Kölliker
an, nicht zuletzt mit Blick auf weitere
Fragen, die sich in der Schule stellen
werden und ebenfalls mit der Religionsfreiheit begründet werden könnten.
Ähnlich argumentiert seine Partei,
die St. Galler SVP. Allerdings weniger
moderat. Sie ist empört über das «weltfremde Urteil»; es bedeute einen Rückschlag für die Integrationsbemühungen
der Volksschule. Dieses Urteil sei «geradezu eine Einladung an die islamistischen Kreise, weitere Forderungen zu
stellen»; diese könnten von der Ablehnung weiblicher Lehrpersonen über die
Verweigerung des Schwimmunterrichts
bis hin zur Abschaffung der traditionellen Weihnachtsferien gehen.
SVP-Fraktionschef Michael Götte
spricht von einem «verheerenden Zeichen», das mit diesem Urteil an die
Adresse religiöser Fundamentalisten
gesandt werde – «an die Adresse jener,
welche die Grundwerte unserer Gesell-
schaft verhöhnen». Dagegen werde sich
seine Partei auch künftig wehren.
Das Urteil sei umso gravierender, als
das Bundesgericht damit – «entgegen
der Meinung zahlreicher Moslems und
Islamexperten» – das Kopftuch als religiöses Gebot erachte und so der fundamentalistischen Auslegung des Korans
Vorschub leiste, so die SVP.
Vater spricht von «grossem Schritt»
Die Eltern des betroffenen Mädchens
sind Anhänger einer fundamentalistischen Auslegung des Korans und haben
sich gegenüber der Schule mehrfach
unkooperativ gezeigt. Im Rechtsstreit
mit der Schule und dem Bildungsdepartement wurde die Familie vom Islamischen Zentralrat unterstützt, einer extremistischen Splittergruppe, die von
der grossen Mehrheit der in der Schweiz
lebenden Moslems abgelehnt wird. In
einer ersten Stellungnahme begrüsst
der Islamische Zentralrat das Urteil; er
habe es mit Genugtuung zur Kenntnis
genommen.
Und was sagt der Vater des betroffenen Mädchens, Emir Tahirovic, zum Urteil? «Dieser Entscheid ist zweifellos ein
grosser Schritt für die Schweiz und die
praktizierenden Moslems. Und auch ein
grosser Schritt gegen kriminelle Organisationen wie IS oder Al Qaida, die junge
Moslems gegen das Volk hier aufhetzen.
Ihnen wird Wind aus den Segeln genommen.» Es sei «jedoch nur ein kleiner
Punkt in der Agenda mancher Parteien,
die gegen moslemische Rechte kämpfen». Und dann fügt er an: «Leider
haben
wenige
Führungspersonen
St. Margrethen zur Gemeinde der Verbote gemacht.»
Die Anwältin der Familie, Eveline Angehrn, zeigte sich erfreut über das klare
Resultat des Bundesgerichts. Mit dem
Entscheid aus Lausanne liege nun ein
Präjudiz vor. «Ein Kopftuchverbot im
Schulunterricht ist nicht erlaubt.»