[erscheint in: Nietzsche und Schopenhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezeiten, hg. v. Marta Kopij und Leon Miodoński, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles/Oxford/Wien: Lang.] Stephan Günzel (Berlin) „Mit festen Schultern steht der Raum gestemmt gegen das Nichts“ Der Raumbegriff bei Schopenhauer, Nietzsche und danach. Ich brauche Raum, eine sehr große weite unbekannte unentdeckte Welt, es ekelt mich sonst.1 Es giebt keinen Stoff, keinen Raum (keine actio in distans), keine Form, keinen Leib und keine Seele. Kein ‚Schaffen‘, kein ‚Allwissen‘ — keinen Gott: ja keinen Mensch.2 1. Einleitung Um über den ‚Raum‘ in der Philosophie Nietzsches zu sprechen, gibt es vor allem eine bekannte Möglichkeit: Es ist diejenige einer Phänomenologie, die versucht, im Ausgang von Nietzsche den Raum als ‚Atmosphäre‘ oder ‚Stimmung‘ respektive – im Gefolge Heideggers – als ein ‚Wohnen‘ zu denken.3 Hier wird der Raum als prägend für ein individuelle Erleben gedacht, in Zuge dessen der Klimadeterminismus der Aufklärungsphilosophie4 auf subjektiver Ebene fortgeführt wird. Tatsächlich sind Nietzsches Landschafts- und poetische Raumbezüge eingespannt in ein Geflecht von historisch-geographischen Referenzen, die mit der je eigenen Dynamik von Metaphern die mentale Topologie der okzidentalen Philosophie sondieren, um sie zu transformieren,5 so dass der komplette Zuschlag von Nietzsches Raumdenken zum Atmosphärenparadigma schlicht an Nietzsches Raumbegriff vorbeigeht. Ein maßgeblicher Grund für den Rekurs auf ‚Stimmung‘ als raumbildende Kraft ist das Anliegen, ein inhumanes, physikalistisch-mathematisches Bild des Raumes zu überwinden, worin der Raum als homogene, dreidimensionale Mannigfaltigkeit vorgestellt wird. Jedoch 1 KSA 9, S. 624. 2 KSA 9, S. 686. 3 Vgl. hier federführend die Äußerung von Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. 3, Teil 4, Bonn 1977, S. 670. 4 Vgl. dazu Stephan Günzel, Geographie der Aufklärung. Klimapolitik von Montesquieu zu Kant, in: Aufklärung und Kritik, Bd. 22/23, Nürnberg: 2004/05 [online: http://www.gkpn.de/guenzel_klima1.pdf und http://www.gkpn.de/guenzel_klima2.pdf]. 5 Vgl. Stephan Günzel, Nietzsches Geophilosophie und die ‚gemäßigte Zone‘ im Denken des Abendlandes, in: Dialektik 1, Hamburg 2000, S. 17–34. © Stephan Günzel 2005 2 ist dieser Raum, den Kant als apriorische Form der Anschauung auswies, gerade für den Stimmungsraum, wie der von phänomenologischen Theorien des ‚schöner Wohnens‘ als Gegenpol in Stellung gebracht wird, konstitutiv – insofern der vermeintlich subjektive Raum nur in einer Absetzbewegung bestimmt werden kann: Im Hintergrund steht dabei das Helmholtz’sche Gedankenexperiment, wonach es eine Anschauung hyperbolischer Räume geben könne.6 (So vor allem das Erleben eines sphärischen Raumes mit positivem Krümmungsmaß.) Vergessen wird dabei, dass diese Art der Betrachtungen nur aus einem unmöglichen Beobachterstandpunkt – aus extrinsischer Position heraus möglich sind. Jeder Bewohner eines sphärischen Raumes – so auch die eigentliche Aussage Helmholtz‘ – wird diesen ‚gerade‘ wahrnehmen, insofern die Wahrnehmung durch die Orientierungsfunktion des Vestibularapparats auf die dreidimensionale Richtungsempfindung ‚geeicht‘ ist. Angesichts dieser Sachlage soll im Folgenden ein Vorschlag unterbreitet werden, wie sich der Raumbegriff bei Nietzsche von Schopenhauer und dem Kantischen Erbe her philosophisch gestaltet, ohne ihn vorgreifend dem Denken des Sphärenraumes zuzuschlagen. ‚Philosophische‘ Betrachtung heißt dabei, einem konzeptionellen Unterfangen nachzugehen – und konzeptionell ist nicht gleichbedeutend mit ‚propositional‘. – Mit anderen Worten, nicht überall wo ‚Raum‘ steht ist nur Raum gemeint, und nicht überall wo Raum gedacht wird, steht auch das Wort ‚Raum‘.7 2. „Zum Raum wird hier die Zeit“8 Tatsächlich, so drängt sich der Verdacht auf, ist der Raum als philosophische Vordenklichkeit einem Vergessensprozess geschuldet, der seinen historischen Grund wiederum in der Industrialisierung bzw. industriellen Eroberung des Raumes hat. Die Schrumpfung der Raumdistanzen – eine ‚Ent-fernung durch Technik‘ wie man im Sinne Heideggers sagen könnte,9 also die Überführung des statischen Raumes qua Zeit in einen Raum der Beschleunigung – erreicht im 19. Jahrhundert zwar nicht ihren Schlusspunkt, aber noch ist die Möglichkeit gegeben, den Bruch zwischen dem ‚romantischen‘ und dem industrialisierten Raum am eigenen Leib zu erleben. – Eben an dieser historischen Stelle befindet sich Friedrich Wilhelm Nietzsche. 6 Hermann von Helmholtz, Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien/New York 1998 [1921], 15–39 [1870]. 7 Dekonstruktiv argumentierend würde man an dieser Stelle darauf hinweisen müssen, dass jede Beschäftigung mit dem Problem des Raumes selbst schon verräumlichend und den Begriff des Raumes zerstreuend wirkt. 8 1878 bemerkt Nietzsche: „Tiefsinn an eine unklare aber hochtrabende Wendung Wagner's („zum Raum wird hier die Zeit“) verwendet.“ (KSA 8, S. 546) 9 7 Vgl. Martin Heidegger, Das Ding (1950), in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1994 [1957], 157–175 [1951], hier 157f. © Stephan Günzel 2005 3 So berichtet der junge Nietzsche 1859 aus den Sommerferien: Ich liebe gewissermaßen das Eisenbahnfahren; obwohl man alle Bilder eben nur Augenblikweise [sic!] kennen lernt, so ist ja unser Leben überhaupt nur eine flüchtige Durchfahrt ohne bleibenden Halt, und glücklich sind wir wenn es sich so darbietet in seiner schönsten Blüthe. Im Wagen [der Kutsche; St. G.] zu fahren ist mir zu unpoetisch; wenn man in den tiefsten Gedanken sich befindet, entsteht plötzlich ein Rüttern und Schüttern daß der Kopf ganz verwirrt wird. Geht man zu Fuß, so wird oft ein erhabener Eindruk [sic!] durch Gegenstände gestört, die man eben beim Spazierengehen findet.10 Was der 14jährige Nietzsche hier affirmiert, ist die trajektorische, seduktive und tranquillierende Beschleunigung im Blick aus dem Zugfenster, eine Vivisektion der Wahrnehmung, mit der die Synthese der Bilder nicht mehr länger passiv geschieht, sondern ‚aktiv‘ hergestellt wird. Die Landschaftswahrnehmung wird im Blick aus dem fahrenden Zug gleichfalls zum Filmerlebnis. – Die Reise-Bewegung ist für Nietzsche ein poetischer Akt sui generis. Jeder romantischen Spaziergängerphantasie wird hier eine Absage erteilt. Bevor zu Nietzsches metaphysischer Raumkonzeption übergegangen wird, soll ein Erlebnis aus Nietzsches späterer Existenz als Eisenbahnflaneur herausgegriffen werden, das den besonderen Zusammenhang zwischen philosophischem Begriff und seiner Gegenwart aufzeigen kann: Nietzsches eindrucksvoller Bericht einer Bahnfahrt an Ostern 1873 (also 14 Jahre nach dem obigen Bericht), welche ihn von einem Besuch mit Rohde in Bayreuth über Nürnberg zurück nach Basel bringen soll. – Nietzsche hatte sich von dem Freund am Bahnhof in der Fränkischen Stadt Lichtenfels getrennt und dort mit ihm einen „festlichen Abschiedstrunk“ zu sich genommen, welcher Nietzsche nach eigener Auskunft „berauscht gemacht“11 hatte. Die Fahrbewegung des Zuges vermittelte Nietzsche in diesem Zustand ein besonderes Gefühl, für dessen theoretische Ausarbeitung er später unter anderem berühmt werden sollte. – Nietzsche schreibt: „[E]s trat [nämlich] ein Phänomen ein, daß ich wähnte, ich würde in einem großen Rade mit herumgedreht“12. Was der betrunkene Nietzsche während der gleichförmigen Beschleunigung seines Körpers im Innenraum des Zugabteils erlebt, ist nichts weniger als das ‚Raumwerden‘ der Zeit. Die körperliche Schwächung verhindert, dass jene oben genannte aktive Synthese der Einzelbilder im Blick aus dem Zugfenster stattfinden kann. In Ermangelung dieser äußeren Synthesis kommt es zu einer Art Ersatzleistung und einem Reflexivwerden der ‚großen Vernunft‘ des Leibes mit sich selbst. Nietzsches Körper wendet die nach vorn gerichtete Beschleunigungsbewegung auf sich zurück. Das weiter nach vorn drängende Vehikel aber 10 BAW 1, S. 146. 11 KSB 4, S. 150. 12 Ebd.; kursiv, St. G. © Stephan Günzel 2005 4 lässt jede Schließung des Kreisbogens scheitern13 und ruft bei Nietzsche Übelkeit und Müdigkeit, mithin Melancholie hervor, wie er im Brief an Rohde ausführt.14 – Eben diese Melancholie als Begleiterscheinung der kreisförmigen Wiederkehrbewegung, die sich gegen die Schwerkraft aufgebäumt hat, wird Nietzsche dann während eines Spaziergangs an einem See bei einem Stein wieder befallen und in Euphorie umschlagen… Was mit diesen beiden Episoden gezeigt sein soll, ist, dass zum philosophischen Begriff ein ‚Außen‘ gehört, auf das der Begriff nicht referiert, da er keine Proposition darstellt, sondern mit dem er sich in einer Art Resonanzverhältnis befindet:15 Die Dynamisierung des Raumes steht im genannten Beispiel in Zusammenhang mit einem philosophischen Begriff: an dieser Stelle mit der Figur der ‚Ewigen Wiederkehr‘. Der Begriff aber ist für sich autonom, insofern er unabhängig von seinem Außen ‚philosophisch‘ expliziert werden kann.16 3. Raum-Denken Dies ist letztlich die Bestimmung von Philosophie als Denken des Transzendentalen nach seinem Ende: Die Innensicht will nichts mehr besagen, solange sie nicht durch eine Beschreibung des Außens (eine vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus gesehen eigentlich unmögliche Position) ergänzt wird: So verstanden, ist die Transzendentalphilosophie selbst eine Antwort auf die technisch-kulturelle Transformation von Raum und Zeit unter Ausblendung materieller Vorbedingungen. Wenn Kant 1768 in der Folge Newtons (und dem Versuch dessen Versöhnung mit Leibniz)17 den Raum zunächst als vorsubjektive Gegebenheit ansieht,18 dann 1770 in seiner 13 Die Einzelaugenblicke werden zum einen, großen Augenblick und Chronos zu Kairos. 14 „[D]abei wurde mir schwindlicht, ich schlief ein wachte in Bamberg auf, trank Kaffee: und war Mensch wie zuvor. Verlebte dann den Tag in Nürnberg […] und befand mich körperlich ebenso wohl als höchst schwermüthig! […] Nachts sauste ich nach Lindau ab, fuhr, im Kampf von Nacht- und Tagesgestirn, früh um 5 Uhr über den Bodensee, kam noch zeitig am Rheinfall bei Schaffhausen an, machte dort Mittag. Neue Schwermuth dann Heimreise […].“ (Ebd.) 15 Dies wäre seine Exo-konsistenz, sein Zusammenhang mit dem Außen, die mit seiner Autoreferenz, der Bezüglichkeit philosophischer Begriffe auf sich in seinen Komponenten, koexistiert. 16 Was Nietzsche mittels der quasi-physikalischen Exemplifikation der Ewigen Wiederkehr leistet, die in ein moralisches Prinzip umgedeutet wird: Nämlich als eine Ewigkeit, in der es die Wiederkehr von Identischem nur durch den Akt der Bejahung als Eigenschaft der moralischen Welt geben kann. Das Resonanzverhältnis zwischen dem Begriff und seinem Außen geht über den Unterschied von ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ hinaus, insofern der Sinn oder die Intension hier mit einer Extension des Begriffs in Verbindung steht, die nicht in seiner wörtlichen Bedeutung angelegt ist. Man könnte hier sicher auch vom Unbewussten des Begriffs sprechen, doch dies wäre missverständlich, insofern ein Begriff zwar Agenten hat, die ihn dramatisieren, nicht aber selbst ein Bewusstsein besitzt, das seine unartikulierten Bedingungen zu denken hätte. 17 Zum Raumbegriff Kants bis zur Kritik der reinen Vernunft vgl. Udo Rameil, Raum und Außenwelt. Interpretationen zu Kants kritischem Idealismus, Köln 1977, sowie darauf aufbauend Michael Dück, Der Raum und seine Wahrnehmung, Würzburg 2001. 18 Kant, Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume. © Stephan Günzel 2005 5 Dissertation als subjektives Schema begreift19 – was ihn 1781 zur Idee des Raumes als transsubjektive (wie objektive) Form jeder möglichen Anschauung bringt20 – und zuletzt 1786 den Raum durch das Begehren der Vernunft nach Orientierung strukturiert sieht,21 drückt sich darin nicht nur eine veränderte Argumentationsweise aus, sondern auch der Wandel dessen, mit dem der Raumbegriff in Verbindung steht. Im gleichen Maße wie der Begriff des Raumes, als Medium des äußeren Sinnes, einen Abklatsch des absoluten Raumes (im Sinne einer Unendlichkeit) darstellt, negiert er die Existenz eines absoluten Raumes auf Erkenntnisbasis. Zugleich wird der empirische Raum im Sinne von ‚Welt‘ die zentrale Aufgabe einer Philosophie, welche hinreichende Maßstäbe für die Ordnung von Wissen geben will. Es ist nun weniger der Raum Newtons oder der Kosmos von Kopernikus denn die Welt von Columbus und Cook.22 D. h., der physikalischkosmische Raum wird fortlaufend vom geographisch-irdischen Raum abgelöst, was einen Wandel des Raumbegriffs bewirkt, ohne dass der Begriff diesen Umstand selbst explizieren würde. Damit verbunden ist eine ethische Perspektive: Kann man durch einen quasi-physikalischen Begriff des Raumes das Problem des Fremden noch ausschließen, wird er hinsichtlich der Weltkenntnis (die Geographie und Anthropologie vermitteln) problematisch. Mit anderen Worten: Der moralische Raum ist nicht mehr derart homogen wie der Raum als Grundlage der Natur(er)kenntnis und nötigt daher zur Schaffung eines anderen Begriffs. 4. Willens-Raum Eine Reaktion auf diese Umstellung finden wir bei Schopenhauer: Der Wille, der bei ihm zum Grund der Welt wird, die nurmehr Produkt der Anschauung „vermittels des äußeren Sinnes“23 ist, komprimiert in konzeptioneller Hinsicht nicht nur Kants Anliegen, theoretische und praktische Vernunft auf Basis der Sinnlichkeit zusammenzudenken, sondern markiert den Anfang und gleichfalls das Zu-sich-selbst-Kommen des geopolitischen Raumdenkens ‚faustischer‘ Prägung:24 Der Raum ist ein Produkt des Willens, der selbst jedoch von der Erkenntnisform Raum (wie auch von Zeit und Kausalität) ausgenommen ist. 19 Kant, Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen, § 15. 20 KrV, § 2, 3 und 7. 21 Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren? – Vgl. dazu auch Bernhard Jense, Was heißt sich Orientieren? Von der Krise der Aufklärung zur Orientierung der Vernunft nach Kant, München 2003. 22 Zur Konjunktur des Weltbegriffs mit und nach Kant vgl. Christian Bermes, ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg: Meiner 2004. 23 KrV, § 2. 24 Zur Kennzeichnung des ‚grenzenlosen Raumes‘ (in dem der ‚Leib‘ des Abendlandes wohne) als ‚faustisch‘ vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1, Gestalt und Wirklichkeit, München: 1972 [1918], 234f. © Stephan Günzel 2005 6 Der Raum ist damit noch nicht Nichts, sondern zunächst vor allem Akt der Setzung oder Medium bzw. Form der Erscheinung. Im Unterschied zu Kant aber ist dieser Umstand für Schopenhauer nicht rational deduzierbar, sondern nur emotional begründet bzw. intuitiv erfahrbar – und zwar im Leib, der vor der Individuierung in Subjekt und Objekt liegt und beides zugleich bzw. noch keines von beiden ist. Der moralisch ‚gute Wille‘ wird hier zum Willen als Trieb. Der triebhaft verstandene Wille aber zum Grund der Erscheinungen. – Kurz: Alles im Raum ist nur aufgrund des Willens – auch der Raum selbst.25 Bekanntlich war es Philip Mainländer, der als Scharnierstelle zwischen den metaphysischen Willensbegriffen Schopenhauers und Nietzsches fungierte: Zwar kippte Mainländer nicht Schopenhauers – von Nietzsche als Tautologie entlarvtes – Postulat eines ‚Willens zum Leben‘, noch kann Mainländer die Idee der Negation des Willens in Form des Todes aus dem Begriff des Willens herauslösen.26 Was Mainländer jedoch unternimmt, ist zweierlei: Zum einen sieht er den Willen selbst als Teil der Welt an, der dieser nicht transzendent ist. Zum anderen folgt für ihn daraus, dass der Ursprung der zugehörigen raum-zeitlichen Vorstellungen nicht mehr einer ist, sondern viele. Die Welt des Willens kommt bei Mainländer so mit der Welt der Vorstellung zur Deckung. Die Willen selbst existieren nur in Wirkungszusammenhängen. – Für den Raum bedeutet dies: Er muss einen Ursprung an sich selbst haben bzw. Wille und Raum sind identisch – sowie ferner, dass es mehrere Räume des sich ausprägenden Willens geben muss. Für Mainländer ist die immanente Welt der vielen Willen daher eine „Welt des Kampfes“. Trotz dieser anthropologisierenden Wendung dominiert die physikalische Vorstellung von einem Raum als Ausdehnung, in dem sich die Materien durch reziprok wirkende Kräfte bewegen. Erst im Wärmetod – gemäß dem Entropiegesetz – findet die Individuation im Raume ihr Ende. Nietzsche nun folgt bei der Bestimmung des ‚Willens zur Macht‘ in metaphysischer Hinsicht all den angeführten Komponenten des Willens-Begriffs von Mainländer – mit einer bekannten Ausnahme: Der ‚Wille‘ will nicht sich und kommt dadurch langfristig zum Erliegen, insofern kein Energiezuwachs erfolgt, sondern der Wille ‚will mehr‘ und überbietet dadurch sich wie andere. Die Räume befinden sich in Transformation und verleiben sich 25 Die zeitgenössische Konjunktur der Physiologie, der sich Schopenhauer verbunden fühlte, ließ die restlose Verlegung des Willens in die Welt nicht zu. (Sie hätte auch der Negation des Willens und seiner Produktionen im Weg gestanden.) Der Wille blieb gleichfalls vor der Welt, im Subjekt – oder als dessen Individuierungsgrund unter ihm. Die Komponenten der späteren Verbindung von Wille und Raum waren jedoch allesamt vorhanden. 26 Vgl. Friedhelm Dechner: Der eine Wille und die vielen Willen. Schopenhauer-Mainländer-Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 221–238. © Stephan Günzel 2005 7 andere ein.27 Nietzsche macht so erst mit Mainländers Idee von der ‚Welt des Kampfes‘ ernst. 5. Nach Nietzsche Um auf das angekündigte ‚Danach‘ des Raumgebriffs zu kommen, möchte ich auf den im Titel meines Vortrags zitierten Passus aus den Vorarbeiten zum ‚Zarathustra‘ zu sprechen kommen. – Nietzsche schreibt dort: „Mit festen Schultern steht der Raum gestemmt gegen das Nichts“. – Gefolgt von dem Zusatz: „und wo Raum ist da ist Sein“28. Der Raum (hier im Singular) ist die Bastion gegen das Nichts der supraethischen Raumnegation Schopenhauers. Dasjenige also, das nach Schopenhauer und Mainländer am moralischen Ziel und gleichfalls physikalischen Ende des Raumes steht. Der Raum aber, der mit dem ehemals transzendenten Willen nun gleichbedeutend geworden ist, kann nach Nietzsches Konzeption nicht mehr in diesem Sinne untergehen, sondern ist selbst dasjenige Sein, das sich gegen seine (Ver-)Nichtung stellt.29 Wie die berüchtigte Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft bezeugt, ist der „leere Raum“ (im Sinne Newtons), der uns nach dem Tod Gottes „an[haucht]“30, ein nicht nur physikalischer, sondern ebenfalls moralisch aufgeladener Raumgebriff, gegen den Nietzsche in der Notiz zum ‚Zarathustra‘ eine Art Vornewtonschen Raumgebriff in Anschlag bringt. – Wie auch eine andere Notiz von 1884 belegt, „sind“ für Nietzsche „‚Kraft‘ und ‚Raum‘ nur zwei Ausdrücke und verschiedene Betrachtungsarten derselben Sache“31. Flankiert wird Nietzsches dynamischer Raumbegriff von seiner direkten Kritik an Kants Ausweis des Raumes in erkenntnistheoretischer Hinsicht als bloße Form der Anschauung, aufgrund dessen die Geometrie objektiv gültige Synthesen a priori vollziehen kann. Statt 27 Zum ‚Willen zur Macht‘ als qualitative Raumkonzeption siehe auch den Aufsatz von Peter Douglas: Nietzschean Geometry, in: SubStance 81 (1996), S. 132–152. 28 KSA 10, S. 207. – Vgl. auch KSA 10, S. 156. 29 Ich gehe an dieser Stelle nicht der – sicher lohnenden – Frage nach, warum in dem im Titel stehenden Zitat Nietzsches nicht ‚Werden‘ steht und inwiefern ‚Sein‘ und ‚Werden‘ für Nietzsche (hier) gleichbedeutend sind, komplementär oder als Gegensatz gedacht werden und auch nicht, in wie weit die von Mainländer inaugurierte Pluralität des Willens von Nietzsche konsequent zu Ende gedacht ist oder im Detail eine gewaltsame Funktionalisierung Mainländers bedeutet. 30 „Haucht uns nicht der leere Raum an?“ (KSA 3, S. 481) – In einer Nachlassfassung lautet der Satz: „Haben wir nicht den unendlichen Raum wie einen Mantel eisiger Luft um uns gelegt?“ (KSA 9, S. 631) – Siehe dazu auch die Aussage Zarathustras: „Viel Sonnen kreisen im öden Raume: zu Allem, was dunkel ist, reden sie mit ihrem Lichte […].“ (KSA 4, S. 137) 31 „Daß ‚Kraft‘ und ‚Raum‘ nur zwei Ausdrücke und verschiedene Betrachtungsarten derselben Sache sind: daß ‚leerer Raum‘ ein Widerspruch ist, ebenso wie ‚absoluter Zweck‘ (bei Kant), ‚Ding an sich‘ (bei Kant) ‚unendliche Kraft‘ ‚blinder Wille‘ — — —“ (KSA 11, S. 266) © Stephan Günzel 2005 8 dessen müsse nach Nietzsche die Zeit in den Raum hineingeholt werden, um die Bewegung zu denken, denn erst aufgrund der Form der Zeit würde der endliche Raum unendlich.32 Diese Auffassung belegt zweierlei: Zum einen zeigt sich, dass Nietzsche diejenige Stelle der B-Ausgabe der KrV unbekannt gewesen sein dürfte, in der Kant Raum und Zeit im Sinne der Beschreibung von Bewegung im Raum bereits zusammendenkt (und also Nietzsches Forderung in Teilen entgegenkommt);33 zum anderen weist Nietzsche aber zurecht auf den wichtigen wissensgeschichtlichen Umstand hin, dass die Vorstellung von „Raum“ selbst „erst durch die Annahme leeren Raumes entstanden [ist]“, welchen es nach Nietzsche eben „nicht [giebt]“. Vielmehr sei „[a]lles […] Kraft.“34 Dieser Raumbegriff stellt aber nicht allein einen Rückgriff in ein antikes Substanzdenken dar, sondern gleichsam einen Verweis in die kommende Raumauffassung geopolitischen Denkens: Mit der Emanzipation der Geographie von der Geschichte wird dem Raum gegenüber der Zeit – ‚wieder‘35, muss man sagen – der Vorrang gegeben. In Übersteigung der eigenen Möglichkeit, Raumwissenschaft zu sein, will die Geographie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch Raumpolitik sein. So kommt ihr dieser Raumbegriff nur allzu gelegen. Er ist substantialistisch und zugleich normativ. So verwundert es nicht, dass ausgerechnet Carl Schmitts jenen Satz Nietzsches vom Raum, der sich gegen das ‚Nichts‘ stellt, zitiert. Er tut dies in seinem 1951 erschienenen Text „Recht und Raum“36 (einem der beiden einzeln – über die fünf in Der Nomos der Erde hinaus – publizierten ‚Corollarien‘ zum Begriff des ‚Nomos‘). (Zwei Jahre später folgte 1953 noch das weitaus bekanntere Corollarium 32 „Endlich als Raum: unendlich als Zeit. / mit der Unzerstörbarkeit ist die Ewigkeit gegeben und die Anfangslosigkeit / mit der Bestimmtheit eine Grenze der Vielheit neuer Formen.“ (KSA 10, S. 601) – Zur ‚Relativität‘ des Raumes bzw. seiner Abhängigkeit von der Zeit siehe auch die folgende Notiz: „Der Raum beim Haschisch-rauchen viel ausgedehnter, weil viel mehr gesehn wird im gleichen Zeitraum als sonst. Abhängigkeit des Raumgefühls von der Zeit.“ (KSA 11, S. 110) 33 KrV § 5 (B-Ausgabe). – Freilich bleibt Kant Newton verpflichtet und es besteht so nur eine enge Passage zur relativistischen Auffassung, wonach Raum von Zeit und diese wiederum von der Materie bzw. Masse abhängig ist. 34 „Der letzte physikalische Zustand der Kraft, den wir erschließen, muß auch nothwendig der erste sein. Die Auflösung der Kraft in latente Kraft muß die Ursache der Entstehung der lebendigsten Kraft sein. Dem einen Zustand der Negation muß der Zustand der höchsten Position folgen. Raum ist wie Materie eine subjektive Form. Zeit nicht. Raum ist erst durch die Annahme leeren Raumes entstanden. Den giebt es nicht. Alles ist Kraft. Bewegtes und Bewegendes können wir nicht zusammen denken, aber das macht Materie und Raum. Wir isoliren.“ (KSA 10, S. 9) – An später Stelle: „Raum eine Abstraktion: an sich giebt es keinen Raum, namentlich giebt es keinen leeren Raum. Vom Glauben an den ‚leeren Raum‘ stammt viel Unsinn. —“ (KSA 11, S. 252) 35 Vor dem Einbruch der Tiefenzeit und der Entstehung eines modernen Geschichtsbegriffs war ‚Zeit‘ (als ‚Geschichte‘) für das 18. Jahrhundert eine dem Raum (als Geographie) nachgeordnete Größe. – So vor allem bei Herder, der so auch zu einer wichtigen Referenz des geopolitischen Denkens wurde. – Vgl. Stephan Günzel, Geographie bei Herder und Nietzsche. Eine geophilosophische Detailstudie, in: Texte zur Theorie der Sozialgeographie 1, Jena 2002, S. 24–44. 36 Carl Schmitt: Recht und Raum, in: Tymbos für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch herausgegeben von seinen Freunden, Berlin 1951, S. 241–251. © Stephan Günzel 2005 9 Nehmen/Teilen/Weiden37.) Schmitts These von obersten aller völkerrechtlichen Gesetzmäßigkeiten, wonach das Gesetz (nomos) in der ‚Nahme‘ gründet, welche meint, Erde in Boden bzw. in Besitz zu überführen, kann als juridische Variante eines geopolitisch imprägnierten Transzendentalismus gesehen werden.38 In Nietzsches Raumgebriff bzw. zunächst in dieser einzelnen Aussage sieht Schmitt den Gedanken ausgedrückt, dass der Raum an sich selbst „unzerstörbar“ ist. – Also genau in jenem Sinne, in dem via Schopenhauer und Mainländer der Kantische Raumbegriff bei Nietzsche als ein diesem geradezu entgegengesetzter Gedanke zur formalen Raumauffassung in Anschlag gebracht wird.39 Der Raum ist für Schmitt damit nicht nur nicht nichts, sondern zugleich dasjenige, welches das Sein zuallererst sein lässt.40 6. Schluss Ich fasse zusammen: Mir ging es keineswegs darum, die aufgezeigte Traditionslinie des herausgestellten Raumbegriffs als zu bevorzugende Alternative zu propagieren. Vielmehr wollte ich zum einen auf die Wurzeln einer Form von Raumontologie hinweisen, aus welcher der substantialistische Raumbegriff des geopolitischen Denkens unter anderem hervorging. Zum anderen, und dies erscheint mir wesentlich, reichen die Verknüpfung von ‚Raum‘ und ‚Tat‘(-Handlung), die sowohl der Idee der Raumnahme wie auch der Vorstellung eines entgrenzten Geopossibilismus zugrunde liegt, weit in und vor das 19. Jahrhundert zurück. Das angelegte Raumdenken kann bei Nietzsche aufbrechen, weil der (Erd-)Raum, der sich in globaler Hinsicht im Laufe des Viktorianischen Zeitalters schließt, tatsächlich ‚intensiv‘ wird, d. h. von einem verkehrstechnischen wie ökonomischen Wandel – in einem bis dato unerreichten Grad – erfasst wird. Nicht nur der trunkene Nietzsche wird ob dieser Intensivierung des Raumes zu einer Idee gedrängt, in der die Zeit nurmehr marginal eine Rolle spielen kann – und sei es als in sich rotierende Ewigkeit. 37 Ders., Nehmen/Teilen/Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 19243 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1985 [1958], 489–504 [1953]. 38 Diese Idee wurde wiederum von Kant vorgedacht und deklariert einen juridischen Begriff von der ursprünglichen Freiheit des Bodens (‚von Natur aus‘) als in sich widersprüchlicher, da Besitz (und in der Folge Nicht-Besitz) stets eine Vergesellschaftungsprozess voraussetzt. (Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 6.) 39 Zwar grenzt Schmitts Text mithin an Esoterik, wenn er zum einen munkelt, dass die Worte ‚Raum‘ und ‚Rom‘ dasselbe meinen, und zum anderen, ferner, dass ‚Raum‘ als Lautfolge selbst das Bild des vom Meer eingeschlossenen Landes wiedergibt (r und m als Liquide, a und u als erster und letzter Vokal, die sozusagen das Feste markieren); zugleich bringt er – wohlgemerkt 1951! – damit die Behauptung vor, dass jenes Wort Nietzsches über den Raum ebenso unzerstörbar sei wie der Raum selbst. – Zum Ursprung der Raum/Rom-Verquickung in Schmitts-Gefängnismeditationen vgl. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, a. d. Franz. von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 2002 [1994], 228. 40 Von hier zum ‚räumenden Raum‘ Heideggers ist es nur ein kurzer Schritt. (Vgl. Martin Heidegger, Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum (1964), St. Gallen 1996, 13.) © Stephan Günzel 2005
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