per IC auf der Saalbahn zum Enkel nach Berlin

TLZ
JENA
ZAJE3
Freitag, 26. Juni 2015
15
Thüringens
Umweltministerin
Anja Siegesmund (Bündnisgrü­
ne), die selbst in Jena lebt: Wie Je­
na die Verknüpfung der Bahnhö­
fe „West“, „Paradies“ und Gösch­
witz hinbekommen mag, das ist
„eine ordentliche Denksportauf­
gabe“.
Foto: Martin Schutt
Noch schlängelt er sich durchs Saaletal: ein ICE auf dem Weg nach Berlin. 2017 ist endgültig Schluss , dann rollen die Silberpfeile auf der neuen Hochgeschwindigkeitstrasse, deren einziger Thüringer Halt die Landes­
hauptstadt Erfurt ist. Eine IC­Alternative mit kaum weniger flotten Verbindungen auf der Saalbahn ist jetzt aber gar nicht mehr so unrealistisch. Offen nur ist, wann dieses Konzept greift. Archivfoto: Thomas Beier
Der Kanzler der Universität Dr.
Klaus Bartholmé: „Wissenschaft
ist per se auf Mobilität und Inter­
nationalität angewiesen.“ Eine
gute Bahn­Fernanbindung ist für
Jena ein „massiver Standortfak­
tor“.
Foto: Peter Poser
OB will „spätestens 2023“ per IC auf der
Saalbahn zum Enkel nach Berlin fahren
TLZ­Podiumsdiskussion im Turm­Restaurant „Scala“ zum Jenaer ICE­Aus: Dass Fernverkehrsalternative erst 2030 greifen soll, ist aus aller Sicht zu spät
VON THOMAS STRIDDE
JENA . Jetzt aber mal raus aus
Jenas Oberbürgermeister Dr. Alb­
recht Schröter (SPD): „Wir sind
laut gewesen; wir sind auch diplo­
matisch gewesen.“ Schon vor
acht Jahren habe er beim damali­
gen Bahn­Chef Mehdorn vorge­
sprochen.
Foto: Marco Kneise
Unternehmer Mihajlo Kolakovic,
er war zehn Jahre Sprecher der IG
Gewerbegebiet Süd: Mittlerweile
29 Fernbusverbindungen via Je­
na! „Das befeuert den Wettbe­
werb. Die Bahn muss jetzt Gas ge­
ben.“
Foto: Peter Michaelis
Der scheidende Konzernbevoll­
mächtigte der Deutschen Bahn
für Thüringen Volker Hädrich:
Wie die neue Schnelltrasse kon­
zipiert wurde, „das ist Verkehrs­
politik; ich kann es nicht gesund­
reden“.
Foto: Tino Zippel
dem Jammertal! – In dieser Haltung waren sich die Teilnehmer
der Podiumsdiskussion im Konferenzraum des „Scala“-Turmrestaurants einig, die – moderiert von der Jenaer Redaktionsleiterin Lioba Knipping – das
„Wie weiter?“ nach der 2017 fälligen Abkopplung Jenas vom
ICE-Verkehr zu beleuchten hatten.
Anja Siegesmund (Bündnisgrüne), die in Jena lebende Thüringer Umweltministerin, erinnerte daran, dass die neue Landesregierung den Entscheid zu
der in Thüringen allein über Erfurt geführten künftigen ICETrasse lediglich „geerbt“ habe.
Vormals habe der Freistaat zwar
130 Millionen Euro zum 10 Milliarden teuren „Verkehrsprojekt
deutsche Einheit Nr. 8“ (VDE
8“) beigesteuert, aber nicht mitplanen dürfen. – Gleichwohl sie
von 20 Jahre zurückliegenden
„abenteuerlichen
Deal-Geschichten“ gehört habe, die in
die Zeit der Regierung unter
Bernhard Vogel (CDU) fielen.
Auch dachte die Grünen-Politikerin an ein zehn Jahre altes
Wahlprogramm ihrer Partei zurück, in dem die bis heute noch
offene Forderung nach Zweigleisigkeit und Elektrifizierung
der Mitte-Deutschland-Verbindung zwischen Weimar und
Gössnitz als Ziel gesetzt worden
war. „Welcher Zahn der Zeit hat
da wohl gekämpft?“, fragte Siegesmund.
Dass das „teilweise Abhängen“ der Stadt vom Bahnfernverkehr „nicht hinnehmbar“ sei,
betonte Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD). Mit
jeglicher Gegensteuerung könne man in Jena jetzt nur noch
Schaden begrenzen. Aber auch
das neue alternative Fernkonzept der Deutschen Bahn mit
neuen IC-Schnellzügen komme
„viel zu spät“, wenn es wie angekündigt erst 2030 greift. Überdies seien veranschlagte Bauzeiten auf beiden Strecken zu lang,
sagte der OB. Wiederum ist es
aus seiner Sicht dringlich, jeglichen Ersatzverkehr möglichst
auf der Schiene zu halten.
Die Fernbahnanbindung sei
für die Wissenschaft in Jena ein
„massiver Standortfaktor“, sagte Uni-Kanzler Dr. Klaus Bartholmé. „Wissenschaft ist per se
auf Mobilität und Internationalität angewiesen.“ Zur Veranschaulichung: Mit 25 Prozent
sei der Anteil der Thüringer Stu-
denten an der Uni mittlerweile
kleiner als der Anteil der ausländischen Studenten. Dabei spiele
die Fernanbindung eine „massive Rolle“, ob sich ein Student etwa für Jena oder Leipzig entscheide. Kein Wunder demnach: „Leipzig legt derzeit zu,
und wir haben Not, die Zahl aufrechtzuerhalten.“
Die Nöte, die die Jenaer Wirtschaft mit der nahenden ICEKappung hat, brachte Mihajlo
Kolakovic auf den Punkt. Er, der
wie der Uni-Kanzler dem Jenaer
Bündnis für Fernverkehr angehört und zehn Jahre der IG Gewerbegebiet Süd vorstand, erinnerte – Beispiel – an die ganz alltägliche Notwendigkeit, als Jenaer Unternehmer vormittags
bei einem Meeting in Hamburg
anzulanden. Bisher schaffe man
es, bei Früh-Abfahrt in Jena um
11.05 Uhr in Hamburg zu sein;
17 Uhr dann Abfahrt in Hamburg, um abends wieder in Jena
zu sein. Bisher ...
Thüringens Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn,
Volker Hädrich, wechselt demnächst in den Ruhestand und
übergibt dann an einen Nachfolger, der nicht mehr allein für
Thüringen, sondern für eine Region „Südost“ zuständig sei. Offenkundig um so entspannter
konnte Hädrich dem Auditorium erläutern: Das „VDE 8“ sei
eine „politische Entscheidung
und keine der Bahn“ gewesen.
„Weg von der Saalbahn, rauf auf
eine neue Bahn – da ist es klar,
dass das Schmerzen erzeugt.“
Hädrich rechnete vor: Jena habe
derzeit zwar ein „absolut relevantes Ein- und AussteigePotenzial“ von 50 bis 70 Fahrgästen „pro ICE-Zug, wenn er
hier vorbeifährt“.
Aber: Nur 50 bis 70 Fahrgäste
insgesamt im Zug statt 400,
wenn es parallel zur „VDE
8“-Trasse weiter den ICE auf der
Saalbahn gäbe, das sei wirtschaftlich nicht auskömmlich,
weil „das Haupteinsteige-Potenzial bei Berlin, Leipzig, München“ liege. Kein Wunder also,
dass zum Beispiel die Landeshauptstädte Potsdam und Magdeburg ohne Fernverkehrsanschluss dastünden, seit die neue
Schnell-Trasse Berlin – Hannover in Betrieb ging, erläuterte
Volker Hädrich. „Das ist Verkehrspolitik; ich kann es nicht
gesundreden.“
Im Vergleich zur SaalbahnBedienung „noch leichter abzuzirkeln“ sei aus Jenaer Sicht die
Ertüchtigung der West-Ost-Relation – der Mitte-Deutschland-
Verbindung (MDV), so resümierte Anja Siegesmund. Dick
genug ist das zu bohrende Brett
aber immer noch: Die Ministerin berichtete, dass derzeit keiner die Frage nach dem Zeitpunkt der vollendeten Zweigleisigkeit samt Elektrifizierung beantworten könne. Schließlich
sei es „mäßig attraktiv“, pro Tag
drei IC-Züge auf der MDV-Strecke rollen zu lassen und stets die
Loks mangels Oberleitung umspannen zu müssen.
„Stark formulieren, was
der Mehrwert ist“
Nach Darstellung der Ministerin würden aktuell 10 weitere
Milliarden Euro für „Stuttgart
21“ benötigt. Dann sei bei der
Bahn „nichts mehr in der Kasse“, indes für die MDV-Strecke
eigentlich 130 Millionen Euro
nötig seien. Deshalb wolle die
Landesregierung in Vorleistung
gehen und 2 Millionen Euro für
die Planung der Elektrifizierung
aufbringen wie auch 30 Millionen Euro Fördergeld aus dem
„Europäischen Fonds für Regionalentwicklung“ – so genannte
Efre-Mittel – sichern. Diese Fördergelder seien bis 2020 abrufbereit, womit ein gutes zeitliches
Druckmittel gegeben sei. „Das
ist die Idee. Und das muss man
über Parteigrenzen hinweg gemeinsam schultern.“
„Die Landesregierung hat verstanden“, sagte Anja Siegesmund mit Blick auf einen noch
im 2. Halbjahr fälligen „kleinen
Bahngipfel“ in Jena. Zur NordSüd-Strecke müssten Wissenschaft und Wirtschaft in Jena
„stark formulieren, was der
Mehrwert ist“ von einer angestrebten Ausstattung der Saalbahn mit IC-Verbindungen. Und
an die Adresse der Deutschen
Bahn: Es reiche nicht, wenn sie
hergehe und nun beim großen
neuen ICE-Halt in der Landeshauptstadt von einem „Knoten
Thüringen“ statt wie bisher von
einem „Knoten Erfurt“ spreche,
sagte Anja Siegesmund. „Die
Bahn muss sich kommunikativ
um die Fläche kümmern.“
Einig waren sich die Jenaer
Gesprächspartner in der Runde,
dass das von der Bahn angekündigte alternative IC-Fernverkehrskonzept auf der Saalbahn
nicht erst 2030 greifen darf. „Wir
müssen vor auf mindestens
2023“, sagte die Ministerin.
Auch Klaus Bartholmé formulierte, „Nord-Süd ist fast noch
wichtiger aus meiner Sicht“,
schließlich gehe es nicht zuletzt
um die Anbindung an die Flughäfen in Leipzig und Berlin.
„Das hat eine eigene Wertigkeit.“ Mitbedacht würden dabei
die Interessen der Region Saalfeld-Rudolstadt. Ohnehin habe
das Jenaer Bündnis für Fernverkehr zu dem vor 20 Jahren zementierten „VDE 8“-Projekt
„nie gesagt: Es ist wie es ist!“.
Zum Beispiel sei das Jenaer
Bündnis um einen Schulterschluss mit dem nordbayrischen
Raum bemüht gewesen, sagte
der Uni-Kanzler. Immerhin aber
habe das von der Bahn nun
nachgeschobene Fernverkehrskonzept „uns ein Stück weit bestätigt: Die rein betriebswirtschaftliche Betrachtung kann es
nicht sein!“ Die Bahn müsse da
auch aus Eigeninteresse gehandelt haben.
Da in Jena mittlerweile 29
Fernbusverbindungen verfügbar seien, so fügte Mihajlo Kolakovic hinzu, dürfe man auf den
Wettbewerb zählen. „Die Bahn
muss jetzt Gas geben.“
Das allseits bekannte große
Aber benannte Volker Hädrich:
„Wir können nicht über ein vertraglich fixiertes Nahverkehrskonzept so einfach den Fernver-
kehr drüberlegen.“ Einfach ausgedrückt: Wegen der vom Land
noch 2014 auf 15 Jahre abgeschlossenen Verträge insbesondere mit dem Privatanbieter Abelio ist die Saalbahn „voll“ von
Nahverkehrsverbindungen.
Heißt für den Start der alternativen IC-Schnellzüge: „Wir können nicht sofort 2018, aber deutlich eher als 2030“, so die Formulierung des BahnkonzernBeauftragten,
der
zudem
betonte, dass Ausgleichsgelder
für mögliche Vertragsausstiege
„nicht da“ seien. Weshalb die Ergänzung um Schnellzug-Alternativen – von Hädrich „Substitute“ genannt – nicht schon früher aufs Tapet gekommen ist,
konnte der Thüringer BahnChef so erklären: Das sei diskutiert worden, aber insbesondere
Sachsen-Anhalt „hat das wenig
gestört“ eingedenk eigener guter
Leipzig- und Halle-Anbindungen. „Wir haben eben kein Thüringer, sondern ein überregionales Verkehrssystem.“
Für Klaus Bartholmé steht es
dennoch außer Frage, dass man
„die kürzlich geschlossenen
Verträge anfassen“ muss. Mit
einer Entschädigung könne der
­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­ M E I N U N G ­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­
Sie kommt doch noch
VON THOMAS STRIDDE
Hallo, Politik!! Ist Dir das schon
mal so deutlich gesagt worden?
– Die „Beschneidung“ einer
Wirtschafts­ und Wissen­
schaftshochburg wie Je­
na in puncto Bahn­Fern­
verkehr kann richtig bö­
se Schäden verursa­
chen. Während der
Podiumsdiskussion zum
Jenaer „Fernbahn­Cut
2017“ hat der Uni­Kanz­
ler als studierter Mathe­
matiker nur einmal ganz grob
überschlagen: Geht der Stadt
durch diese Infrastrukturver­
schlechterung nur ein Prozent­
punkt ihrer Gesamtwirtschafts­
leistung verloren, so entsprä­
che das locker der Investitions­
summe, die für die Sicherung
eines alternativen Fernbahnan­
schlusses nötig wäre.
Und böse wie richtig kalku­
liert: Wenn der Wirtschafts­
und Wissenschaftsmotor Thü­
ringens heftig ausgebremst
wird, dann muss das gesamte
Land letzthin leiden. Beim Je­
naer Bündnis für Fernverkehr
hat der Bau der ICE­Trasse des­
halb den Spitznamen „Behinde­
rungsmaßnahme“. Deren Aus­
wirkungen lassen sich freilich
schwer quantifizieren. Sicher ist
man sich aber beim
Bündnis: Es gibt jetzt
viele Firmen, die nicht
nach Jena kommen. So
bleibt nichts als die
traurige Frage: Weshalb
hat keine Politiker­
Mehrheit anno dazumal
vor Absegnung der
Hochgeschwindigkeitstrasse
auf diese Weise 1 und 1 zusam­
mengezählt?
Wenigstens dies: Die Bahn­
Chefs berufen sich darauf, dass
das nicht ihre Entscheidung,
sondern die der Politik war. Ein
bisschen Vernunft greift viel­
leicht doch noch, sollte Jena den
alternativen IC­Anschluss be­
kommen. So wärmen wir Jenaer
uns hoffnungsvoll an dem alten
Werbeslogan in einem wahrlich
viel weiteren Sinne: Die Bahn
kommt.
[email protected]
nötige Schritt zurück gelingen
und der Fernverkehr schneller
zugelassen werden. Ebenso sei
ein Vertragsbruch denkbar, indem man darauf eine Konditionalstrafe in Kauf nimmt, sagte
der Uni-Kanzler. Ministerin Siegesmund fügte dem hinzu, sie sei
hier „inhaltlich bei Ihnen“. Mit
Blick zum „kleinen Bahngipfel“
sagte sie aber auch, sie habe „das
Gefühl, man könne sich wünschen, dass die Stadt mit mehr
Mut ihre Forderungen vorträgt“.
Ob damit die Frage nach dem
Diplomatie-Stil angesprochen
war? OB Albrecht Schröter hatte mehrfach betont, dass er
schon vor acht Jahren beim früheren Bahn-Chef Mehdorn vorgesprochen oder etwa an der
Seite von bayrischen CSU-Politikern beim Bundesverkehrsminister Ramsauer um besserer
Zugausstattung der Saalbahn
gefochten habe. „Wir sind laut
gewesen. Wir sind aber auch –
wenn es uns angezeigt schien –
diplomatisch gewesen.“
Grundsätzlich gab der scheidende Thüringer Bahn-Chef den
Jenaern eine ordentliche Portion Optimismus mit auf den
Weg: „Ich bin sicher, dass wir
beim IC-Knoten etwas hinkriegen.“ An den OB gewandt sagte
er: „Sie werden sich Gedanken
machen müssen um die Verknüpfung von den Bahnhöfen
West, Paradies und Göschwitz.
Da haben Sie eine echte Herausforderung.“ Auch Anja Siegesmund nannte dies eine „ordentliche Denksportaufgabe“.
Immerhin: Oberbürgermeister Albrecht Schröter konnte berichten, dass 3 Millionen Euro in
den Bau des Fußgängertunnels
am Bahnhof Göschwitz fließen.
Auch bezahle die Stadt die Betreibung der Toilette des Bahnhofs, der von einer privaten Investorin übernommen worden
ist. Was den weiteren Ausbau
dieses Bahnhofs angeht, müsse
man wohl konstatieren, dass die
Fördergeld-Szenarien der Investorin „offenkundig zu optimistisch“ angesetzt waren, sagte der
OB. „Ich kann es aber auch
nicht so richtig einsehen, dass
die Bahn in diesen Fragen alles
abstößt.“
Wie schaut der Jenaer OB in
die Jenaer Bahn-Zukunft? – „Ich
habe einen Traum!“, sagte der
OB dazu: dass er alle zwei Stunden von Jena aus einen IC gen
Berlin nutzen kann. Und dies
beispielsweise auch am Tag X
zur Taufe des 3. Kindes seines
Sohnes Johannes in Berlin.
„2023 – bis dahin spätestens.“