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SARIT YISHAI-LEVI
Die Schönheitskönigin von Jerusalem
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SARIT YISHAI-LEVI
ROMAN
Aus dem Hebräischen
von Ruth Achlama
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Die Originalausgabe unter dem Titel
Malkat Ha-Yofi Shel Yerushalayim
erschien 2013 bei Modan, Jerusalem.
»Und zu jeglichem Volk nach seiner Sprache« Ester 1, 22
Die Publikation dieses Werks wurde gefördert vom israelischen
Institut für die Übersetzung hebräischer Literatur und von der
Botschaft des Staates Israel in Berlin.
®
MIX
Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
ISBN 978-3-351-03631-7
Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
1. Auflage 2016
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2016
Copyright © by Sarit Yishai-Levi and Modan Publishing House Ltd.
Published by arrangement
with the Institute for the Translation of Hebrew Literature
Einbandgestaltung ZERO Werbeagentur, München
Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany
Printed in Germany
www.aufbau-verlag.de
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Für meine Eltern
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Kurz vor meinem 18. Geburtstag starb meine Mutter Luna.
Ein Jahr zuvor, als wir, die ganze Familie, wie gewohnt am
Mittagstisch saßen und sie ihr berühmtes sofrito und dazu Erbsen und weißen Reis aufgetragen hatte, sagte sie unvermittelt:
»Dio santo, ich spüre das Bein nicht mehr.«
Vater ignorierte ihre Worte, las weiter seine Yedioth Ahronot und aß. Mein kleiner Bruder Ronny fand es lustig. Er
schlenkerte Mutters Bein unterm Tisch und sagte: »Mamas
Bein ist wie ein Puppenbein.«
»Es ist nicht zum Lachen«, schimpfte meine Mutter, »ich
kann mit dem Fuß nicht auftreten.«
Vater aß weiter und ich auch.
»Por Dio, David, ich kann den Fuß nicht aufsetzen«, sagte
sie erneut. »Er gehorcht mir nicht.«
Jetzt war sie schon beinah hysterisch. Vater hörte endlich
auf zu essen und hob die Augen von der Zeitung.
»Versuch aufzustehen«, sagte er. Mutter konnte sich nicht
aufrecht halten und packte die Tischecke.
»Wir müssen mit dir zum Arzt, und zwar sofort«, sagte Vater.
Aber kaum waren sie aus der Tür, gehorchte Mutters Bein
ihr wieder, sie spürte es und trat damit auf, als wäre nichts geschehen.
»Siehst du, es ist nichts weiter«, sagte Vater, »du bist wieder
mal hysterisch.«
»Klar, hysterisch«, konterte Mutter. »Wäre dir das passiert,
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hätte man den Krankenwagen von hier bis Katamon heulen
hören.«
Diese Episode ging vorüber wie nie gewesen, aber Mutter
erzählte sie Rachelika und Bekki und allen, die es hören wollten, bis Vater genervt sagte: »Genug damit! Wie oft willst du
die Geschichte von deinem Marionettenbein denn noch wiederholen?«
Und dann passierte es zum zweiten Mal. Auf dem Rückweg
vom Lebensmittelladen, kurz vor der Haustür, fiel Mutter hin
und verlor das Bewusstsein. Nun alarmierte man schon den Roten Davidstern, und sie kam ins Bikkur-Cholim-Krankenhaus.
Mutter war an Krebs erkrankt, konnte weder stehen noch gehen und musste im Rollstuhl sitzen. Damals begann sie zu
schweigen. Vor allem schwieg sie Vater gegenüber. Er redete mit
ihr, und sie gab keine Antwort. Ihre Schwestern, Rachelika und
Bekki, vernachlässigten ihre Männer und Kinder, um fast rund
um die Uhr bei ihr zu sein. Trotz aller Bitten weigerte sie sich,
das Haus zu verlassen, sie wollte nicht, dass man sie so sah, sie,
Luna, die die schönsten Beine von Jerusalem hatte, im Rollstuhl.
So hartherzig ich seinerzeit auch reagierte, war es doch mitleiderregend anzusehen, wie Rachelika eine Orange für Mutter schälte und sie anflehte, etwas von ihrer Lieblingsfrucht zu
essen, und wie Bekki ihr behutsam die Nägel rot lackierte,
weil Mutter, auch als sie krank und schwach war, auf Maniküre und Pediküre Wert legte. Beide, Rachelika und Bekki,
verhielten sich möglichst normal, als wäre nichts Schlimmes
geschehen, und gackerten »dale dale dale wie zwei Hennen«,
hätte Oma Rosa gesagt, doch gerade Luna, das größte Plappermaul unter den dreien, schwieg.
Nachts blieb abwechselnd eine von ihnen bei Mutter, die
jetzt auf der Bettcouch im Wohnzimmer schlief, umstellt mit
Stühlen vom Esstisch, damit sie nicht rausfiel.
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Alle Bitten meines Vaters, doch im Schlafzimmer zu schlafen und ihn aufs Sofa umziehen zu lassen, halfen nichts.
»Sie behauptet, sie bekäme keine Luft im Schlafzimmer«,
sagte Rachelika zu Vater. »Schlaf wenigstens du richtig, damit
du Kraft hast, auf die Kinder aufzupassen.«
Aber Ronny und ich brauchten keine väterliche Aufsicht.
Wir nutzten den Umstand, dass alle mit Mutter beschäftigt
waren, und stromerten frei durch die Straßen. Ronny war gern
mit seinen Altersgenossen zusammen, verbrachte ganze Tage
und auch viele Nächte bei ihnen. Und ich war oft bei meinem
Freund Amnon. Seine Eltern hatten eine Buchhandlung im
Stadtzentrum, seine Schwester war schon verheiratet, und die
große Wohnung in der Hama’alot-Straße stand uns zur freien
Verfügung. Hätte mein Vater gewusst, was wir taten, wenn er
sich nicht darum kümmerte, wo ich mich nach der Schule
herumtrieb, hätte er Amnon verprügelt und mich in einen
Kibbuz gesteckt.
Kam ich später als normal nach Hause, nannte meine Mutter mich nicht mehr »Straßenmädchen« und drohte mir nicht
mehr: »Warte, warte, bis Vater kommt und ich ihm erzähle, um
welche Uhrzeit du heimgekehrt bist.« Sie blickte nicht mal in
meine Richtung, saß nur in ihrem Rollstuhl, starrte in die Luft
oder tuschelte mit einer ihrer Schwestern, die ihr als Einzige ein
paar Worte entlocken konnten. Vater machte Abendessen, und
auch er fragte mich kaum etwas, interessierte sich nicht groß
für mein Tun und Lassen. Anscheinend waren alle froh, wenn
ich möglichst wenig im Haus war und nicht etwa meine Mutter ärgerte, der ich auch im Rollstuhl nichts nachgab.
Eines Nachmittags, als ich gerade zu Amnon gehen wollte,
hielt Rachelika mich auf.
»Ich muss schnell zu Hause vorbeischauen«, sagte sie. »Bleib
bei Mama, bis Bekki kommt.«
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»Aber ich hab einen Test! Ich muss zu einer Freundin gehen, zum Lernen.«
»Lad deine Freundin ein und lernt hier.«
»Nein!« Die Stimme meiner Mutter, die damals sonst kaum
zu hören war, ließ uns beide zusammenzucken. »Du lädst hier
niemanden ein. Wenn du gehen willst, dann geh, ich brauch
dich nicht zum Aufpassen.«
»Luna«, sagte Rachelika, »du kannst nicht allein bleiben.«
»Sie muss mir nicht die Hand halten. Ich brauche weder
Gabriela noch dich oder Bekki oder den Teufel als Aufpasser,
ich brauche gar nichts, lasst mich in Ruhe!«
»Luna, reg dich nicht auf, schon zwei Tage habe ich Moise
und die Kinder nicht mehr gesehen, ich muss auf einen
Sprung nach Hause.«
»Spring hin, wo du willst«, sagte meine Mutter und verstummte wieder.
»Kaparavonó, mögen uns unsere Sünden vergeben werden«,
sagte Rachelika händeringend. Noch nie hatte ich meine Tante
so verzweifelt gesehen, aber sie fing sich sofort wieder und befahl mir: »Du bleibst hier bei deiner Mutter und rührst dich
nicht vom Fleck! Ich schau für ein paar Minuten zu Hause
vorbei und bin gleich wieder da, und wag bloß nicht, Mama
eine Sekunde allein zu lassen.«
Damit wandte sie sich ab und ging, und ich blieb zu meinem großen Unbehagen mit meiner Mutter allein. Man hätte
die Luft schneiden können. Meine Mutter saß säuerlich und
verärgert im Rollstuhl, und ich stand mitten im Wohnzimmer wie eine Idiotin. In jenem Augenblick wäre ich zu allem
bereit gewesen, nur nicht dazu, mit ihr allein zu bleiben.
»Ich geh in mein Zimmer zum Lernen«, sagte ich. »Ich lass
die Tür auf. Ruf mich, wenn du was brauchst.«
»Setz dich«, sagte meine Mutter.
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Was? Meine Mutter fordert mich auf, bei ihr zu sitzen, wenn
wir beide allein im Zimmer sind?
»Ich möchte dich um etwas bitten.«
Ich erstarrte. Meine Mutter hatte mich nie um etwas gebeten, mir immer nur Anweisungen erteilt.
»Ich bitte dich, keine Freunde und Freundinnen hierherzubringen. Bis ich sterbe, möchte ich keine fremden Menschen
im Haus haben.«
»Wieso denn sterben?« Vor lauter Schreck konnte ich ihre
Worte nur mit Phrasen abwehren, von denen ich selbst kaum
glaubte, dass sie mir über die Lippen kamen: »Du wirst uns
alle noch begraben.«
»Sei unbesorgt, Gabriela, du wirst mich begraben«, sagte sie
ruhig.
Das Zimmer war zu eng für uns beide.
»Mama, du solltest Gott danken. Manche Leute kriegen
Krebs und sterben gleich auf der Stelle. Dich liebt Gott, du
sprichst, du siehst, du lebst.«
»Das nennst du leben?«, lachte meine Mutter hämisch. »Sollen meine Feinde so leben! Das hier ist sterben bei lebendigem Leib.«
»Es ist deine Wahl, so zu leben«, erwiderte ich. »Wenn du
wolltest, könntest du dich anziehen und schminken und aus
dem Haus gehen.«
»Ja sicher«, zischte sie, »aus dem Haus gehen im Rollstuhl.«
»Dein Freund, der Rotschopf, der im Krieg als Versehrter
neben dir im Hadassa-Krankenhaus gelegen hat, saß auch im
Rollstuhl, und ich kann mich nicht erinnern, dass er nicht das
Haus verlassen hätte, erinnere mich aber sehr wohl, dass er
immer gelächelt hat.«
Meine Mutter blickte mich ungläubig an.
»Du erinnerst dich an ihn?«, fragte sie leise.
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»Klar erinnere ich mich an ihn, er hat mich auf den Schoß
genommen und ist mit mir im Rollstuhl rumgekurvt wie mit
dem Autoskooter im Lunapark.«
»Lunapark«, murmelte Mutter, »Geisterbahn.« Und plötzlich brach sie in Tränen aus und bedeutete mir, aus dem Zimmer zu gehen.
Natürlich flüchtete ich. Mir fiel es ohnehin schwer, das beinah intime Gespräch zu verkraften, das einzige Gespräch zwischen uns, das je einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter nahekam, und auch das endete in Tränen.
Sie weinte an- und abschwellend wie ein Klageweib, und
ich hielt mir in meinem Zimmer die Ohren zu. Ich konnte
ihr verzweifeltes Schluchzen, ihr lautes Klagen nicht ertragen,
hatte nicht die Herzensgröße, aufzustehen und sie in die Arme
zu schließen, zu trösten.
Viele Jahre später bedauerte ich diesen Moment. Statt mein
Herz zu öffnen, verschloss ich es damals mehr und mehr. Ich
lag auf dem kalten Boden in meinem Zimmer, hielt mir die
Ohren zu und schrie tonlos zu Gott: Bring sie zum Schweigen, bitte, Gott, bring sie zum Schweigen.
Und Gott, in seiner Torheit, hörte auf mich und brachte sie
zum Schweigen. Noch in derselben Nacht hörte man die Sirene des Krankenwagens heulen, der mit knirschenden Reifen
vor unserem Haus anhielt. Vier kräftige Männer stiegen die
vierundfünfzig Stufen zum Dachgeschoss hinauf, legten meine
Mutter auf eine Trage und brachten sie ins Krankenhaus. Auf
dem Operationstisch entdeckten die Ärzte zu ihrem Entsetzen, dass der Körper meiner Mutter innen völlig zerfressen war.
»Das war’s«, sagte mir mein Vater, »die Ärzte können nichts
mehr tun, deine Mutter geht holen.« Mit diesem Ausdruck
umschrieb man bei uns damals das Sterben.
Viele Jahre nach ihrem Tod, als ich Platz in meinem Her-
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zen fand, um meine Mutter kennenzulernen, sie anzunehmen,
verriet mir meine Tante Rachelika das Geheimnis ihrer Leiden, den Schmerz, der niemals versiegte, aber da war es zu
spät, um das zu kitten, was zwischen mir und meiner Mutter
zerbrochen war.
Eine Frau des Herbstes bin ich, eine Frau vom Gelb des fallenden Laubes. Ich wurde an seinem hinteren Tor geboren,
zwei Schritte vorm Winter.
Als Kind wartete ich auf den ersten Regen im Herbst und
auf das Erblühen der Meerzwiebeln. Ich rannte aufs freie Feld
hinaus, kugelte mich im feuchten Gras, schmiegte das Gesicht
an die Erde und atmete den Duft des Regens. Ich hob Schildkröten auf und strich mit meinen dünnen Fingern über ihren
harten Panzer, barg Bachstelzennester, die aus dem Baum gefallen waren, pflückte Herbstzeitlose und Astern und beobachtete die Schnecken, die nun in Scharen die Felder bevölkerten.
Ich verschwand für Stunden, und meine Mutter, die mich
bei den Großeltern wähnte, suchte mich nie. Kam ich dann
mit Lehm an den Kleidern und einer verdatterten Schildkröte
in der Hand heim, musterte sie mich mit ihren grünen Augen und zischte in einem Flüsterton, der wie eine Ohrfeige
klang: »Merkwürdigste aller Kreaturen. Wie nur? Wie konnte
ich so ein Mädchen wie dich bekommen?«
Auch ich wusste nicht, wie sie ein Mädchen wie mich bekommen hatte. Sie war so zart und zerbrechlich, trug immer
gutgeschnittene Kleider oder Kostüme, die ihre schmale Taille
betonten, und spitze Absatzschuhe wie in den bunten Zeitschriften der Schneiderin Sara, die ihr alles so nähte, wie es
die Hollywood-Schauspielerinnen trugen.
Eine Zeitlang ließ Mutter für sich und für mich genau dieselben Kleider nähen, aus demselben Stoff und nach demsel-
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ben Schnitt. Sie zog mir das Kleid an, ermahnte mich immer
wieder, es nicht schmutzig zu machen, band mir eine Schleife
aus dem Kleiderstoff in die roten Locken, wischte mir mit
Spucke die Lackschuhe ab und nahm mich mit ins Café Atara
neben unserem Haus in der Ben-Jehuda-Straße. Aber da ich
die Kleider immer wieder schmutzig machte und sie nicht genügend würdigte, ließ sie es bald bleiben. Auch weiße Lackschuhe und feine Söckchen kaufte sie mir nicht mehr.
»Was für ein Mädchen? Eine Hinterwäldlerin! Aus dir wird
nie eine Lady. Manchmal meine ich, du wärst im Kurdenviertel geboren!«, erklärte sie, und Schlimmeres hätte sie mir gar
nicht sagen können, denn die Kurden waren die Volksgruppe,
die ihr am verhasstesten war.
Ich verstand nicht, warum Mutter die Kurden hasste. Nicht
mal Oma Rosa hasste sie. Gewiss nicht so, wie sie die Engländer hasste. Ich habe sie nie sagen hören: »Ausgelöscht sei ihr
Name, diese Kurden!« Aber wenn man die Engländer erwähnte, die im Land waren, bevor ich geboren wurde, fügte
sie unweigerlich hinzu: »Ausgelöscht sei ihr Name, diese Ingländer!« So sagte sie immer, mit I statt mit E am Anfang.
Es war bekannt, dass Oma Rosa die Engländer noch aus der
Mandatszeit hasste, seit der Zeit, als ihr kleiner Bruder Efraim
jahrelang verschwunden war und sich der Untergrundorganisation Lechi angeschlossen hatte.
Meine Mutter hingegen hatte nichts gegen die Engländer.
Im Gegenteil, oft hörte ich sie sagen, es sei schade, dass sie das
Land verlassen hatten. »Wären die Engländer dageblieben, wären die Kurden vielleicht gar nicht gekommen.«
Ich liebte die Kurden nun gerade, besonders die Barazanis,
die neben Opa und Oma in der zweiten Hälfte des Hauses
wohnten. Nur ein schmaler Zaun trennte die beiden Höfe,
und einmal in der Woche befeuerte Frau Barazani den Lehm-
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ofen draußen und buk wunderbare Käsetaschen mit brodelnder
Füllung, und ich wartete auf den Moment, in dem »die Kurdia«, wie Oma sie nannte, mich einlud, mit ihnen auf dem
Boden am Ofen zu sitzen und die paradiesisch schmeckenden
Käsetaschen zu essen. Das war, bevor meine Mutter mir
Schläge androhte für den Fall, dass ich mich noch einmal der
Seite der Barazanis nähern sollte.
Herr Barazani trug ein weites Kleid – »wie die Araber in der
Altstadt«, sagte meine Mutter – und schlang sich ein aufgerolltes Tuch um den Kopf, lachte mit zahnlosem Mund, nahm
mich auf den Schoß und sagte mir Worte, die ich nicht verstand.
»Papukata, Mädchen, wo hat deine Mama dich gekauft, auf
dem Machane-Jehuda-Markt?«, pflegte Frau Barazani lachend
zu sagen. »Kann nämlich nicht sein, dass du zur selben Familie gehörst wie sie.«
Erst Jahre später erzählte mir meine Tante Bekki, dass unsere Familie seit langem eine offene Rechnung mit den Kurden hatte.
Tante Bekki war die jüngste Tochter von Opa und Oma Ermoza, und mich liebte sie, als wäre ich ihre kleine Schwester.
Sie passte auf mich auf und verbrachte weit mehr Stunden mit
mir als meine Mutter. Ich war auch ihr Alibi, wenn sie sich
draußen mit ihrem Freund Eli Cohen treffen wollte, der so
schön war wie Alain Delon. Jeden Nachmittag kam der schöne
Eli Cohen mit seinem funkelnden schwarzen Motorrad an die
Treppe und pfiff »Auf dem Hügel steht eine Blume«. Dann
ging Tante Bekki raus auf den Hof, machte ihm ein Zeichen,
zog mich mit und rief Oma Rosa zu: »Ich geh mit Gabriela
auf den Spielplatz.« Ehe Oma noch antworten konnte, waren
wir schon an der Treppe, wo Eli Cohen der Schöne wartete.
Bekki setzte mich zwischen ihn und sich, und wir fuhren die
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Agrippas-Straße entlang bis zur King-George. Sobald wir das
bescheidene Gebäude gegenüber der Parfümerie Zilla passierten, wo meine Mutter Eau de Cologne und Lippenstifte
kaufte, sagte Bekki: »Da ist unsere Knesset.« Einmal sahen wir
sogar Ben Gurion aus unserer Knesset kommen und Richtung
Hillel-Straße gehen. Eli Cohen der Schöne fuhr mit dem Motorrad hinter ihm her, und wir sahen ihn im Eden-Hotel verschwinden. Dort, erzählte mir Bekki, geht er schlafen, wenn
er in unserer Knesset ist, in unserem Jerusalem.
Nachdem wir Ben Gurion gesehen hatten, wendete Eli Cohen und fuhr zurück zur King-George. »Eli! Du fährst wie ein
Irrer!«, rief Bekki, aber er achtete nicht darauf und sauste weiter, vorbei an der Hama’alot-Straße, und hielt am Stadtpark.
Dort lief die Sache immer gleich ab: Sie schickten mich los,
um auf der Schaukel zu schaukeln oder die Rutsche runterzurutschen, und knutschten, bis es Abend und fast dunkel wurde.
Dann erst, wenn Mütter und Kinder den Park verließen und
ich als Einzige im Sandkasten zurückblieb, brachte Eli Cohen
der Schöne uns auf seinem Motorrad nach Hause, ich zwischen ihm und Bekki eingequetscht. Und Mutter, die mich
abholen gekommen war, schrie Tante Bekki an »Wo zum Teufel warst du mit dem Kind? Ich hab euch in ganz Jerusalem gesucht!« Worauf Bekki zurückgab: »Wenn du selbst mit ihr auf
den Spielplatz gegangen wärst, statt den ganzen Tag im Café
Atara zu sitzen, hätte ich vielleicht für die Klausur lernen können, die ich morgen im Seminar habe, also sag lieber danke!«
Meine Mutter zog ihren gutgeschnittenen Rock glatt, fuhr
sich mit der Hand über die tadellose Frisur, musterte ihre rot
lackierten Fingernägel und murmelte: »Geh nach Gaza und
nach Aschkelon!« Dann nahm sie mich an der Hand und ging
mit mir nach Hause.
Tante Bekki feierte im Café Armon Verlobung mit Eli Co-
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hen dem Schönen. Es war ein tolles Fest mit reich beladenen
Tischen, und ein Sänger sang Lieder von Israel Itzhaki. Tante
Bekki war schön wie Gina Lollobrigida, Eli Cohen war schön
wie Alain Delon, und als wir uns mit dem Verlobungspaar
fürs Familienfoto ablichten ließen, saß Opa Gabriel in der
Mitte, umgeben von der ganzen Familie, während ich, auf den
Schultern meines Vaters, alle von oben sah. Das war das letzte
Bild von Opa Gabriel, denn fünf Tage später starb er.
Erst als er tot war, in der Schiva, der Trauerwoche, in der
meine Mutter vor lauter Weinen dauernd in Ohnmacht fiel
und man sie mit Wasser begießen musste, damit sie wieder zu
sich kam, während Oma Rosa immer wieder sagte: »Basta,
Luna! Fass dich, damit nicht noch ein Unheil über uns
kommt!«, und tia Allegra, Opa Gabriels Schwester, konterte:
»Er ruhe in Frieden, Gabriel, nicht genug, dass sie nicht um
ihn weint, lässt sie auch ihre Tochter seinetwegen nicht in
Ohnmacht fallen«, gerade da fand Bekki es an der Zeit, allen
mitzuteilen, wann sie und Eli Cohen der Schöne heiraten würden. Alle sagten: »Herzlichen Glückwunsch, aber man muss
warten, bis ein Jahr vorüber ist, um Gabriels Andenken zu ehren«, worauf Bekki erwiderte, das käme überhaupt nicht in
Frage, denn dann wäre sie zu alt, um Kinder zu kriegen, und
Tia Allegra klagte: »Kaparavonó, Gabriel, was hast du für
Töchter großgezogen, die dir nicht mal ein Jahr lang Ehre erweisen.«
Doch meine Mutter, aus ihrer Ohnmacht erwacht, flüsterte:
»Gott sei Dank, dass sie endlich heiratet, ich dachte schon, sie
würde als alte Jungfer sterben.« Da brach ein Tumult aus.
Tante Bekki rannte meiner Mutter mit den sapatos, den Pantoffeln, hinterher und drohte ihr, sie zu ermorden, falls sie es
noch einmal wagen sollte, sie als alte Jungfer zu betiteln, worauf meine Mutter zurückgab: »Was kann man machen, kerida,
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