Nun leb wohl!

Suhrkamp Verlag
Leseprobe
Suhrkamp, Peter / Seidel, Annemarie
»Nun leb wohl! Und habs gut«
Briefe 1935-1959
Herausgegeben von Wolfgang Schopf
© Suhrkamp Verlag
978-3-518-42071-3
SV
Peter Suhrkamp
Annemarie Seidel
»Nun leb wohl!
Und hab’s gut!«
Briefe 1935-1959
Herausgegeben von
Wolfgang Schopf
Suhrkamp
Erste Auflage 2016
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-42071-3
5
Inhalt
Der Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Anhang
Wolfgang Schopf
»Aber eine Form müssen wir finden« . . . . . . . . . . . . 793
Zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
7
1935
[1 27. 5. 35]
Charlottenburg 5, Dernburgstraße 351
Montagabend.
Liebe, liebe Mirl –
es ist mir recht so: mich gleich nach unserm Gespräch wieder hinzusetzen und an Dich zu schreiben, denn ich würde
mich ohnedies nur mit Dir unterhalten können heute
abend, so stark bist Du da.2 In der Bahn, vom Geschäft her,3
habe ich schon mit Dir gesprochen. Es ist sicher ein kleiner
Irrsinn! Lauter Dinge, die ich Dir wahrscheinlich nie sagen
könnte. In eine Gebrauchssprache übersetzt, wäre der Text
auch ein fortgesetztes: ich liebe Dich …
Das sagt sich so leicht hin; die Art, wie’s geschieht, ist gar
nicht so leicht: eine regelrechte Revolution ist’s; einschneidender als eine politische Revolution je sein kann. (Eben
sehe ich, bei einem Aufblick zum Fenster hinaus, die ersten
Schwalben. Das ist für mich jedes Jahr wieder eine wunderbare Begegnung: ihr Flug ist ein Bogen der Sehnsucht;
dabei klingt alles auf.) Ich bin unzufrieden damit, daß sich
sofort alles in mir in Bewegung setzt und nur noch um Mirl
bemüht ist. Ich habe eine tiefe Abneigung gegen verliebte
Kater. Die Art, wie sie um ein Haus streichen, ist mir abscheulich. – Aber es hilft mir nichts, daß ich Spott gegen
mich anwende: eine Stunde kehrte mich um und um – und,
was ich mir eigentlich schon nicht mehr denken konnte,
mein Leben hat einen Sinn. – Was ich tun muß, bedeutet
mir keine Last mehr; nichts daran ist mir unwichtig. – Was
ich nicht mehr erwartete, daß es je noch eintreffen wird: es
8
1935
geht mir wieder ums Ganze. – Verstehst Du das: das Ganze!
Ich hatte mir vorgenommen, auf eine leidliche Weise zu leben, so lange es eben gehen möchte, und meine Pflicht zu
tun – das war abgeschmackt. Nun bin ich leidenschaftlich
entschlossen – zu arbeiten. Wie abgeschmackt das klingt!
nicht wahr. Wenn ich sagte: ich liebe zärtlich – würde es
dasselbe sein. Setze eines fürs andere, nimm beides in eins:
und Du wirst verstehen. Dabei fürchte ich mich noch viel.
Gewiß, ich bin nie fortgelaufen; ich habe gestanden und gestanden, wo es galt. Daß geschossen wurde,4 waren nicht
die schlimmsten Gelegenheiten – das ist heute und morgen
nicht anders – und doch fürchte ich. – Ich bin voll Sorge,
wie es kommen mag, und daß es gut kommen wird. –
Dies noch: mein Leben, wie ich es mir vorgenommen hatte,
gab so viele Möglichkeiten zu lieben. Das ist jetzt aus. Ich
finde, daß wir in dem Alter sind, daß Liebe nicht geschändet werden darf. Ich habe Liebe gegeben, aber ich habe
auch viel Kummer und Traurigkeit bereitet.5 Wir sind so
reif, daß wir einander bloß immer Liebe geben müssen. Es
ist gut, daß wir uns in diesem Alter trafen.6 –
Mir will scheinen, ich bin im Begriff, einen Liebesbrief zu
schreiben, und daß ich aufhören muß.
Dein! Dein! Peter.
1 Eine städtische Meldekarte Peter Suhrkamps, aus der das Datum
des Einzugs in diese Wohnung hervorginge, ist im Landesarchiv
Berlin nicht erhalten. Lediglich auf dem Annemarie Seidel betreffenden Blatt finden sich Ergänzungen zu Suhrkamp, allerdings
keine Angaben zur Dernburgstraße 35. Das Reichstelefonbuch
vom Januar 1934 führt Suhrkamp mit dieser Adresse und der Berufsbezeichnung »Schriftsteller«.
2 Die »entscheidende Begegnung« von Annemarie Seidel und Peter Suhrkamp datiert Margarete Franck auf »Mai 1935« (siehe
Zur Edition). Zur ersten Begegnung kam es bereits 1918 (siehe
Brief 260, Anm. 3).
3 Peter Suhrkamp trat Ende 1932 in den S. Fischer Verlag ein, wo er
Brief 1
9
mit Wirkung zum 1. Januar 1933 die Nachfolge Rudolf Kaysers
als Redakteur der Neuen Rundschau übernahm. Im Herbst 1933
wurde er in den Vorstand des Hauses berufen, dem nach Samuel
Fischers Tod am 15. Oktober 1934 neben ihm nur dessen Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer (1897-1995) angehörte. Der
Verlag bezog seinen Sitz in der Bülowstraße 90 bereits 1897.
4 Am Ersten Weltkrieg nahm Peter Suhrkamp als Patrouillenführer
und Befehlshaber einer Sturmkompanie teil und erhielt das Eiserne
Kreuz und den Hohenzollern-Hausorden für Tapferkeit. Er trug
ein Trauma davon, das in einem Königsteiner Sanatorium therapiert wurde. Seine dortigen Erfahrungen setzte er in der Erzählung
Die Zelle um, erschienen in: Das junge Deutschland, 1918, Heft 3.
Auf der Seite, auf der der Abdruck beginnt, steht eine Folge von
Walter Hasenclevers Gedichten An Mirl.
5 Hinter Peter Suhrkamp lagen drei Ehen: 1913, ein Jahr vor seinem
Staatsexamen als Volksschullehrer, heirateten er und seine Kollegin
Ida Plöger (1890-1918), aus der Verbindung stammt die Tochter
Ursula Suhrkamp (1914-1936); 1919 folgte die Ehe mit Irmgard
Caroline Lehmann (1899-1971), aus der Klaus Suhrkamp (19202004) hervorging und die 1923 geschieden wurde, worauf 1923/24
ein eheliches Intermezzo mit der Opernsängerin Fanny Cleve
(1893-1971) einsetzte. Annemarie Seidel war von 1922 bis 1932
mit dem niederländischen Musikwissenschaftler und Privatier Anthony van Hoboken (1887-1983) verheiratet.
6 Annemarie Seidel und Peter Suhrkamp werden am 12. September
1935 heiraten. Oskar Loerke in seinem Tagebuch: »Donnerstag,
12. September, Hochzeit Suhrkamps mit Frau van Hoboken, der
Schwester Ina Seidels. Ich war Trauzeuge mit der Schauspielerin
Elsa Wagner. Sie nahm uns allen an Äußerlichkeit alles ab. Der
Gruß, die Ansprache des Standesbeamten. Hinterher SteinhägerFrühschoppen. Ausgeruht in der Wohnung Elsa Wagners. Großes
Bild Heines über dem Sofa. Viel schönes Berliner Porzellan. Mittagessen bei Suhrkamps. Sehr nobel. Penzoldt kennengelernt, er
kam im Reiseanzug vom Timmendorfer Strand.« (Loerke, Tage‑
bücher, S. 320) Oskar Loerke (1884-1942), Lyriker, Essayist und
ab 1917 Lektor im S. Fischer Verlag, war für Peter Suhrkamp »der
Freund, der Gefährte, der Helfer« (Peter Suhrkamp, Am Grabe
Oskar Loerkes, in: Suhrkamp, Ausgewählte Schriften, S. 145). Zwischen 1907 und 1950 war er mit 20 Buchtiteln im Programm des
eigenen Verlags sowie von 1909 bis 1942 mit 88 Beiträgen in der
Neuen Rundschau vertreten.
10
1935
[2]
Charlottenburg 5, Dernburgstr. 35
29. 5. 35. abends.
Mirl, geliebte Mirl –
eben kam Dein Brief!1 – ich bin so glücklich, daß Du bist,
und daß Du so bist und bin bereit, dafür alles zu tun und
dafür zu ertragen; ich kann zärtlich, geduldig und streng
dafür sein. Sei gesegnet, Mirl! Mach Dir keine Sorgen, mir
könnte nach einiger Zeit etwas an Dir nicht gefallen. Ich
fühle, daß ich mich bis jetzt in meinem Leben nur bemüht
habe, aber nicht wirklich angestrengt: das wird jetzt kommen – und dann muß es gelingen!
Gegenwärtig bin ich allerdings noch reichlich ein Narr:
Seit ich heute früh aufwachte, war ich ein ununterbrochenes Warten auf den Abend und den Brief von Dir. Geliebte
Frau Du!
Ich bin heute abend sehr müde, denn natürlich kam ich von
der Sauferei – zu der wurde es: Dr. Erxleben,2 Bermann,3
Tutti4 und Frl. Müller waren noch dabei5 – um ½ 4 nach
Hause. Zuck sah rund und rot aus,6 wie eben aus dem
Brotofen gekommen, strahlte und prahlte und prahlte. Ich
vermißte Dich sehr dabei, sagte aber kein Wort von Dir.
War­um, weiß ich nicht – ich konnte nicht. Genannt wurdest Du: Tutti machte ein Komplott mit Zuck, daß er Dich
bis zum 1. August in Henndorf festhalten wird.7 Außerdem
tat sie sehr verliebt, was Zuck außerordentlich gefiel. Ich
hielt mich an Alkohol und unterhielt mich mit Dr. Erxleben – Du kennst doch den in Zuck verliebten katholischen
Pfarrer? Um ½ 4 – es war hell – hätte ich die Bande fast
noch zum Kaffee zu mir raufgelotst (sie brachte mich ans
Haus).
Früh um 7 war ich wieder raus. Der Tag war heiß und
– kannst Du Dir denken – mühevoll; aber ich war guter
Brief 2
11
Laune, frei von dem üblichen Überdruß; zitterte vor Spannung, was Du ja nun schon kennst.
Mirl, und Du sitzt nun wahrscheinlich wieder in der Bahn
und fährst nach Zürich. Der Gedanke daran macht mir etwas schwer. Das muß nun bald ein Ende finden. Erschrick
nicht – aber ich meine ernsthaft, daß das Ziel meiner Anstrengungen nur sein kann, das Reich für Dich, für Dein
Gedeih aufzurichten. Ruhe und Maß wird es vielleicht nie
geben bei Dir, aber Bewegung und Überschwang können
sicher ein Ziel bekommen.
– Hier werde ich gestört: Kurt Heuser rief an und will
noch kommen,8 etwas zu bereden. Leb also wohl. Morgen
schreibe ich wieder. Den Brief schicke ich dann nach München,9 damit er Dich dort begrüßt.
Dein Peter
1 Von den Briefen Annemarie Seidels sind bislang 44 aufgefunden
worden.
2 Friedrich Erxleben (1883-1956), mit Carl Zuckmayer befreundeter
Pfarrer (vgl. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 429-431).
3 Gottfried Bermann Fischer absolvierte nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg eine medizinische Ausbildung. 1925 Eintritt in den
S. Fischer Verlag; Hochzeit mit Brigitte Fischer am 14. Februar
1926.
4 Brigitte »Tutti« Bermann Fischer (1905-1991), Verlegerin, Tochter
von Hedwig und Samuel Fischer.
5 Lilli Müller, Berliner Sekretärin von Carl Zuckmayer (vgl. Zuckmayer / Bermann Fischer, Briefwechsel, Bd. 2, S. 13).
6 Carl Zuckmayer (1896-1977), Dramaturg, Bühnenautor und Erzähler, war mit Der fröhliche Weinberg und Der Hauptmann von
Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten bereits einer der
erfolgreichsten Gegenwartsautoren, bevor er 1934 mit Eine Lie‑
besgeschichte in den S. Fischer Verlag eintrat, ab dann in den Exilverlagen und nach 1950 bei S. Fischer veröffentlichte. Annemarie
Seidel und Carl Zuckmayer lernten sich 1920 am Tag von Zuckmayers Ankunft in Berlin auf der Generalprobe von Shakespeares
Richard III. im Staatstheater am Gendarmenmarkt kennen und
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1935
lieben (vgl. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 316-320;
Zuckmayer / Seidel, Briefwechsel, S. 7 ff.). Er blieb freundschaftlich verbunden mit Gottfried Bermann Fischer, Annemarie Seidel
und Peter Suhrkamp.
7 In Henndorf bei Salzburg besaß die Familie Zuckmayer seit 1926
ein Haus, das die erste Station des Exils werden sollte.
8 Kurt Heuser (1903-1975), Schriftsteller und Filmautor; er debütierte bei Fischer 1928 mit Elfenbein für Felicitas; zwischen 1927
und 1934 erschienen 16 Beiträge von ihm in der Neuen Rundschau.
9 Emmy Seidel, geb. Loesevitz (1861-1945), verheiratet mit Hermann Seidel (1855-1895), lebte zu diesem Zeitpunkt in München.
Die Tochter Ina Seidel (1885-1974), erfolgreiche Schriftstellerin,
heiratete 1907 ihren Cousin Heinrich Wolfgang Seidel (1876-1945),
Pfarrer und Schriftsteller. Nach der Aufgabe des Pfarramts an der
Neuen Kirche 1934 in Berlin erfolgte der Umzug nach Starnberg
am See, Ottostraße 16. In der Münchner Wilhelmstraße wohnte
Emmy Seidel, bevor sie, wie ihre Tochter Heilwig und deren Kinder, in das Starnberger Haus Ina Seidels zog. Annemarie Seidel
besuchte immer wieder ihre Familie in München und Starnberg.
[3 1935]
Charlottenburg 5, Dernburgstr. 35.
31. 5. Freitag.
Ewig – Liebste! Mirl! –
Die Abendpost ist vorbei – die Wartezeit, die wilden strolchenden Hoffnungen – anrufen wirst Du heute auch kaum
mehr, denn Du bist wahrscheinlich im Zuge nach München.
Das ist wohl schlimm, daß ich so maßlos in der Erwartung
bin von einem Wort von Dir. Heute früh kam Dein Brief
von vor der Abreise aus Amsterdam,1 er hat mich glücklich gemacht und gerührt. »Wenn Du dies liest«, schriebst
Du, »bist Du vielleicht müde von gestern abend – wenn Du
müde bist, bist Du vielleicht niedergeschlagen« – diese Fürsorge hat mich gewärmt und hell gemacht. Den ganzen Tag
Brief 3
13
klangen diese Worte in mir nach. Ich danke Dir für Deine
Liebe.
Sonst war mir ziemlich elend heute. Der Schock nach dem
Gespräch von gestern ließ sich nicht ganz vertreiben. Sorge,
daß Du allein bist, und daß es Dir vielleicht nicht gut geht,
daß Du Dich quälst. Es ist schwer, Dich allein zu lassen.
Und dann waren mir – in diesem Zustand – die Menschen
bei Bermanns gestern abend schlecht bekommen,2 das saß
mir heute auch noch in den Knochen. Manchmal kann ich
solche Gesellschaft nicht aushalten. Es war niemand da, den
ich ein wenig gern hatte. Eine junge Gräfin Bismarck gefiel
allen. Sie sieht gut aus – aber sie ist grunewaldburschikos,
»frei«. Und Zuck war unerträglich aufdringlich. Er deckte
alles mit seiner fetten Natur. Dr. Erxleben, der auch wieder
da war, gefiel mir diesmal weniger. Er scheint ein zweitklassiger Priester. Neben Zuck nimmt er sofort die zweite Rolle
ein und gibt Zuck die Stichworte. Das beste wäre gewesen,
ich hätte viel getrunken. Das machte und wollte ich nicht.
Jetzt will ich noch etwas arbeiten und früh schlafen. Arbeiten und Schlafen, nur so werde ich im Moment mit den
Sorgen um Dich fertig.
Dein Peter.
1 Aus der Ehe mit Anthony van Hoboken resultierende Vermögensangelegenheiten regelte Annemarie Seidel wiederholt in den
Niederlanden.
2 Die Privatanschrift der Familie Bermann Fischer: Gneiststraße 7.
14
1935
[4]
Charlottenburg 5, Dernburgstr. 35.
1. 6. 35. Sonnabend abend.
Einzig Geliebte! Mirl! –
Was ist das für ein Leben, das Du führen mußt! – Es ist
schwer für mich, dabei zu stehen und nichts tun können,
um es Dir leichter zu machen. Die paar armen Worte, die
ich Dir schicken kann, erreichen Dich nicht, weil Du dann
wieder woanders bist. Und am Telephon stockt mir das
Herz. Aber ich bin glücklich, daß es das Telephon gibt,
daß ich wenigstens Deine Stimme hören kann und aus
dem Klang erhorchen, wie es Dir geht, Geliebte, die Worte
verraten zu wenig davon. Du ahnst nicht, wie ich besorgt
bin.
Meine Tage sind sehr voll von Arbeit, aber wenn ich mit
dem Büro fertig bin, wimmle ich alles ab. Ich kann jetzt
schwer unter Menschen sein. Verstehst Du das: es geschieht
doch drinnen so viel, ohne daß man daran was machen
kann, und das allein ist sehr anstrengend. Nachts liege ich
viel wach. Die Morgen sind wunderbar; ein paar mal saß
ich zum Sonnenaufgang auf dem Balkon. Leider sind die
Tage zu kalt.
Zuck fährt heute abend wieder ab. Ich hätte an die Bahn
sollen, aber ich mag nicht. Ich bringe das jetzt zum ZooBahnhof und bummle dann noch ein wenig durch die Straßen. Wenn es irgend zu machen ist, sollst Du das am Sonntagmorgen noch bekommen.
Bitte, steig, wenn Du Dienstagfrüh kommst, am Zoo aus.
Wenn es irgend geht, bin ich da.
Ich liebe Dich mehr, als es Worte sagen können und bin
Dein!
Peter.
Briefe 4-5
15
[5]
Charlottenburg 5, Dernburgstr. 35
2. 6. 35. Sonntag nachmittag
Höre, Mirl!
ich bin den Tag bis jetzt hier auf meinem Turm über der
Stadt umhergegangen und habe nachgedacht über uns.1
Alles war abgesagt, das Telefon abbestellt. Und jetzt will
ich versuchen, es Dir zu schreiben, denn sagen werde ich
es nicht können. Ich möchte auch, daß Du dies noch bekommst, bevor Du herkommst. Ob es mir gelingen wird,
alles zu schreiben, weiß ich nicht. Wir werden sehen. –
Mein Kopf war voll Sorgen und viel unklaren Gedanken,
und ich mußte versuchen, etwas Ordnung hineinzubringen, um zu erfahren, was sich drin begibt. Sorgen: – bedeutet nicht, daß ich unglücklich bin, selbst wenn sie mich
vorübergehend verfinstern sollten. Ich liebe auch keine
Selbstquälereien, wenn diese Sorgen jetzt auch ein Teil meines Glücks sind – denn ich bin glücklich. Die unklare Empfindung, die mich beunruhigte, seit ich Dich bei Hanna
Wreede wiedertraf2 – am stärksten, als Du dann nachts allein davon fuhrst – die ich dann in ihr Nest zurückschickte,
als ich hörte, Du lebest mit jemandem – und die sich nicht
mehr zurückschicken ließ, seit ich Dich dann mittags bei
Bermanns wiedersah – sie besagte zunächst nichts, als daß
ich vor einer Aufgabe stehe. Etwas muß getan werden, und
ich fühle, daß ich es werde tun müssen. Am meisten hat
mich das schweigende Vertrauen bewegt, mit dem Du dann
zu mir kamst. Dann schriebst Du einen Brief von »Liebe
und Verehrung«:3 Dieses für mich Erstaunliche hat mir
noch größere Verantwortung auferlegt.
Ich weiß nicht, ob Du einen derartig schicksalsvollen Augenblick erlebt hast – für mich ist die Situation nach und
nach so geworden, daß etwas von mir erwartet wird; alles
16
1935
um mich und in mir erwartet es; Du auch! Ich weiß wenig
von Dir, aber was ich sah und fühlte, ist die erschütternde
Botschaft von einem Leben, das unverkennbar nach meinem Eingreifen verlangt.
Das klingt anmaßend – aber Mirl, du weißt, daß ich nicht
hochmütig bin. Es ist eine Forderung, die an mich erging,
der ich mich stellen muß. Es klingt auch hart und tyrannisch
– es wird schlimm ausgehen, wenn es das ist. Das Schicksal
soll mich vor Herrischkeit Dir gegenüber bewahren. –
Mehrere Frauen sind bis jetzt in mein Leben gekommen; sie
waren Vergnügen, Befriedigung, Genuß und auch Leiden
für mich; aber keine war da, die eine Aufgabe war. Gott sei
Dank für Dich, Geliebte!
Aus vollem, ahnungsvollem Herzen sage ich das: Gott sei
Dank für Dich!
Siehst Du, nun laufe ich also umher, immer nur mit einem
einzigen Gedanken beschäftigt: Was soll ich in aller Welt
mit ihr anfangen? Ich kenne meine Aufgabe nicht. Ich
warte darauf, daß Du kommst. Du mußt hier sein, mußt
mir erzählen von Dir. Und wenn Du nicht erzählen kannst,
mußt Du nur hier sein, damit ich sehen kann. Dann werde
ich wissen, was zu tun ist. Wirst Du dies richtig verstehen?
– Ich kann in unsere Zukunft nicht einfach als Verliebter
hineingehen. Ich muß wissen, was zu tun ist als Mann. –
Nun kann ich Dir doch nicht schreiben, was ich mir dazu
gedacht habe. Ich muß warten, bis Du hier bist. Inzwischen
werde ich weiter damit umgehn.
Dein Peter.
1 Verschiedene Beschreibungen des Hauses deuten darauf hin, daß
die Obergeschoßwohnung Peter Suhrkamps von einem Söller umlaufen wurde.
2 Hanna Wreede, geb. Johanna Ebeling (1893-1990), Verlegerin. Ab
1919 verheiratet mit Ernst Bloch, Eigentümer des Bühnenverlags
Brief 6
17
Felix Bloch Erben, bis zu dessen Tod 1923. Ab 1924 verheiratet mit
Fritz-Wilhelm Wreede (Suizid 1934), ab 1935 alleinige Geschäftsführerin von Felix Bloch Erben. Die separate Bekanntschaft von
Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel mit Hanna Wreede erklärt
sich durch beider Herkunft aus dem Theatermilieu, dem Wreede
bereits 1911-1913 als Schauspielschülerin angehörte.
3 »Liebe und Verehrung«, ein Motiv bei Adalbert Stifter, z. B. in
Der Nachsommer (siehe Brief 225): »Was die Kinder bewundern,
ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung
hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist,
daß der Geist eines Menschen uns gleichsam sinnlich greifbar, ein
Gegenstand unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft,
doch dem etwas nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft
zu fassen streben, den wir nicht in den beschränkten Kreis unserer
Liebe ziehen können, und vor dem die Schauer der Anbetung und
Demütigung in Anbetracht seiner Majestät immer größer werden,
je näher wir ihn erkennen.« (Adalbert Stifter, Werke III, S. 358)
[6 6./7. 6. 35]
Donnerstag nacht.
Mirl!
Ich komme eben von der Bahn, wo ich einen Brief für Dich
in den bekannten Schlafwagenzug steckte, und als ich die
Tür schließe, liegt Dein Brief vom Mittwoch da, durch Eilboten bestellt. Mirl, Du bist gut zu mir! Du machst mich
glücklich! Das mußte ich Dir noch sagen, ehe ich schlafe.
Und jetzt: Gute Nacht! Geliebte Frau Du! –
Freitag nachmittag
Eben komme ich nach Hause, Mirl, und da drängt es mich,
das Gespräch mit Dir fortzusetzen; ich möchte nichts anderes tun. Abends habe ich keine Zeit. Ich muß zu Prof.
Spiro,1 dort den alten Geheimrat Saenger zu treffen,2 der
eben von Hiddensee kam. Alles andere hätte ich abgesagt,
18
1935
aber alte Leute, die an sich von allem enttäuscht wurden,
kann man nicht enttäuschen. Ich habe schon angekündigt,
daß ich um ½ 10 gehen müßte, weil ich um ½ 11 am Anhalterbahnhof sein müßte. Der Abend wird wahrscheinlich
gequält sein. Ich werde mein Möglichstes tun, um die alten
Juden die Wasser Babylons vergessen zu machen.3 Auf jeden Fall sage ich am Amt Bescheid, daß mir ein Anruf von
Dir nach dort geleitet wird. Du sollst auf keinen Fall enttäuscht werden.
Mittags aß ich mit Frau Wreede. Sie war zur Reichstheaterwoche in Hamburg und mußte mir berichten.4 Ich dachte
daran, daß Du sie gern magst, und war, glaube ich, auch
nett zu ihr. Ich mußte mir anschließend ihre neue Wohnung ansehen, die eben im Aufbau ist. Die Lage ist schön.
Einige Räume auch. Aber das Praktische fand ich schlecht
bedacht. Die Arme wird mit diesen Dingen allein nicht fertig. Im übrigen betonte sie zu häufig und ostentativ, wie gut
es ihr seit einigen Wochen gehe. Ich konnte darauf nichts
erwidern als: dann solle sie auch nicht an anderes denken,
als daß es ihr gut geht.
Der Abend gestern ging ganz angenehm und vor allem sehr
schnell hin. Da der alte Geheimrat eine stürmische Überfahrt über den Bodden – zwischen Hiddensee und Stralsund
– gehabt hatte, wurden neutrale Seegeschichten erzählt.
Da ich für Hiddensee gewonnen werden sollte, konnten
sie außerdem die von ihnen geliebte Landschaft ausführlich schildern und rühmen, und ich konnte zuhören. Ich
glaube, sie haben sich auf diese Weise gut unterhalten, und
die zwei Stunden sind ihnen leicht geworden. Dann hinterher saßen sie sicher wieder, jeder für sich, mit ihrem Schicksal beschäftigt. Die Wohnung jedenfalls ließ solche Szenen
vermuten. Ich fuhr vor ihnen zur Bahn, war um ½ 12 wieder zu Hause und saß dann noch lange auf meinem Balkon.
Es war eine mystische Nacht. Der Süden tief dunkel, darin
Brief 6
19
die Sterne deutlich nach Größe und Zeichen geschieden in
vielen Farben. Vom Westen zum Osten über Norden aber
wurde es nicht Nacht, die Abenddämmerung reichte in die
Morgendämmerung hinüber. Es war kein Wind, aber die
Pappeln in den Gärten waren unruhig.
– Eben war Dein Anruf. Und Du wirst am dritten Tag hier
sein! Ich kann nicht mehr schreiben. Nun ruhe ich über Dir
aus. Teuerstes Geschöpf Du!
Ich bin Dein ergebener Peter Suhrkamp.
1 Eugen Spiro (1874-1972), Maler und Graphiker, 1915-1933 Professur in Berlin; Schwiegersohn Samuel Saengers. 1935 Exil in
Frankreich, 1941 in den USA.
2 Samuel Saenger (1864-1944), Journalist und Diplomat. Mitherausgeber und ab 1908 politischer Redakteur der Neuen Rundschau,
im Verlag für Politik und Soziologie zuständig. Mit 220 Beiträgen
unter seinem Namen sowie 164 Folgen seiner Kolumne »Chronik« und »Politische Chronik« ein Hauptautor der Zeitschrift.
Seinen Weg durch die Verlagsgeschichte beschreibt er in seinem
letzten Beitrag, In Memoriam S. Fischer (Neue Rundschau, im Folgenden zitiert mit der Sigle NR, 1934, Nr. 12). Er faßte 1936 den
Entschluß, Deutschland zu verlassen, und bemühte sich zu diesem Zeitpunkt darum, sein Haus auf Hiddensee zu verkaufen (vgl.
Ebermayer, »… und morgen die ganze Welt«, S. 77 ff.). Er ging
endgültig 1939 ins Exil nach Frankreich, 1941 in die USA.
3 Psalm 137: »An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, /
wenn wir an Zion gedachten. / Unsere Harfen hängten wir / an
die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangenhielten, / hießen
uns dort singen / und in unserm Heulen fröhlich sein: / ›Singet
uns ein Lied von Zion!‹« In der deutschen Literatur kanonisiert
durch Heinrich Heine, Jehuda ben Halevy II, 1. Strophe: »Bei den
Wassern Babels saßen / Wir und weinten, unsre Harfen / Lehnten
an den Trauerweiden – / Kennst du noch das alte Lied?« (Heinrich
Heine, Sämtliche Schriften 6/I, S. 135)
4 Ab 1934 jährlich in wechselnden Städten stattfindendes Festival.
Die Hamburger Reichstheaterwoche wurde am 16. Juni 1935 mit
der Aufführung von Richard Wagners Lohengrin eröffnet.
20
1935
[7 8. 6. 35]
Charlottenburg 5, Dernburgstr. 35. Sonnabend.
Über alles Geliebte! –
Dein langer Brief vom Freitag! Du beschämst mich! Du
bringst mich ganz in Deine Schuld. Ich kam um 3 Uhr sehr
zerschlagen aus dem Verlag nach Hause: müde, nervös, mit
Kopfschmerzen, düster im Gemüt: ich denke, es ist das
Wetter, diese ständigen heftigen Umschläge, von kalten Tagen ohne Übergang, zwischen Mittag und Abend, zu drückender gewittriger Schwüle. – Und dann lag Dein Brief auf
meinem Tisch. Ich lag zwei Stunden auf dem Balkon, sah
in den wolkengebirgigen, lichtvollen, mit all seiner Fülle
leicht schwebenden Himmel und ließ geträumte Gedanken
ziehen, und zwischendurch las ich immer wieder Deinen
Bericht und Deine Liebesworte.
Mir fällt auf, daß Du immer wieder Deinen Besuch in Henndorf begründest.1 Aber Mirl, das ist ein Mißverständnis von
Dir: selbstverständlich sollst Du den Besuch machen; und
unbeschwert! Ich dachte nie anders. Wenn ich zwischendurch andere Bemerkungen machte, dann war das albern.
Tief innen bin ich froh, daß Du jetzt nicht in Berlin sein
mußt, sondern am Staffelsee durch Heuduft und Waldmodder gehen kannst. Daß Du Landschaft und Wetter erlebst.
Und ich wünsche Dir, daß die Tage in Henndorf so werden,
wie Du sie gern hast. Du sollst sie auch nicht abkürzen meinetwegen. Selbstverständlich bin ich traurig, weil ich nicht
mit Dir zusammen bin, und ich habe Stimmungen. Ich ärgere mich manchmal über sie. Aber ich werde schon noch
dahin kommen, diese flüchtigen nicht zu beachten. Sie sind
nur Äußerlichkeiten, Nerven! Man lebt viel zu sehr ihnen
preisgegeben, statt aus dem beständigen Innern. Letztesmal, als Du in Amsterdam und Zürich warst, habe ich viel
mit Deinem Bild gelebt. Diesmal habe ich Scheu, es hervorzunehmen: ich meine, es ist sehr schlecht.