Ich bin, weil ihr seid

Keiner kommt fix und fertig auf die Welt. Wir würden
weder denken noch gehen, noch sprechen oder uns
wie Menschen benehmen, wenn wir es nicht von anderen Menschen lernten. Wir brauchen andere Menschen,
um Mensch zu sein. Ich bin, weil andere sind. Der
„Selfmademan“ oder die „Selfmadewoman“ sind
eigentlich unmöglich. Wenn man jemand den in Afrika
fragt: „Wie geht‘s dir?“, steht die Antwort immer im
Plural, auch wenn man nur mit einem Menschen spricht:
„Uns geht es gut“, oder: „Uns geht es nicht gut“. Ihm
selbst geht es vielleicht gut, aber seiner Großmutter
nicht, und deshalb geht es ihm auch nicht gut.
Unser Menschsein ist ineinander verflochten. Der einsame, isolierte Mensch ist eigentlich ein Widerspruch
in sich. Wir haben jeder unsere Begabungen, und das
macht uns einzigartig, aber ich habe Begabungen, die
andere nicht haben und andere haben Begabungen die
ich nicht habe. Der völlig eigenständige Mensch, wenn
es ihn überhaupt je geben kann, ist nicht menschlich.
Wenn es uns gut gehen soll, dann nur zusammen
Das erste Gesetz unseres Seins lautet, dass wir in ein
empfindliches Netzwerk der gegenseitigen Abhängigkeit von unseren Mitmenschen und der übrigen Schöpfung Gottes eingebunden sind. Das Wissen um diese
Abhängigkeit nennt man in Afrika in der Sprache der
Nguni, Ubuntu, oder Botho auf Sotho – Wörter, die sich
kaum übersetzen lassen. Es bezeichnet die Tatsache,
dass mein Menschsein in dem Ihren aufgeht und unlöslich darin eingebunden ist. Ich bin Mensch, weil ich
dazugehöre. Ein Mensch mit Ubuntu ist einladend,
gastfreundlich, warm und großzügig und bereit zu teilen. Solche Menschen sind offen und zugänglich für
andere, bereit zur Verletzlichkeit, bestärken andere und
Desmond Tutu
haben keine Angst vor den Fähigkeiten anderer. Denn
sie haben ein gesundes Selbstbewusstsein, das aus
dem Wissen kommt, dass sie einem größeren Ganzen
angehören und beeinträchtigt sind, wenn andere
erniedrigt oder beeinträchtigt werden, wenn andere
gefoltert oder unterdrückt werden oder behandelt werden, als seien sie weniger als sie wirklich sind. Ubuntu
macht Menschen unverwüstlich, lässt sie überleben
und Mensch bleiben trotz aller Versuche, sie ihrer
menschlichen Würde zu berauben. Wenn wir Afrikaner
jemanden loben wollen, sagen wir: „Yu u nobuntu“: „Ja“,
der und der hat Ubuntu.“ Ein Mensch wird zum Menschen, wenn er andere als Menschen erkennt.
Im Sinne von Ubuntu ist Erfolg aufgrund aggressiven
Wettbewerbsverhaltens und auf Kosten ande-rer kein
hohes Gut. Letztendlich sind soziale und gemeinschaftliche Harmonie und das Wohlergehen aller unser Ziel.
Ubuntu sagt nicht: „Ich denke, also bin ich.“ Es sagt
vielmehr: „Ich bin Mensch, weil ich dazugehöre. Ich
nehme teil. Ich teile.“ Harmonie, Freundlichkeit, Gemeinschaft sind hohe Güter. Soziale Harmonie ist für uns das
summum bonum – das höchste Gut.
Afrika hat der Welt etwas zu geben, was sie dringend
braucht: Die Mahnung, dass wir mehr sind als die Summer unserer Teile, die Mahnung, dass strikter Individualismus uns schwächer macht. Die Welt muss die
grundlegende Lektion lernen, dass wir zur Harmonie
geschaffen sind, zur Interdependenz, also gegenseitiger Abhängigkeit. Wenn es uns jemals wahrhaft gut
gehen soll, dann nur zusammen.
(Auszug aus: Desmond Tutu, Gott hat einen Traum, Diederichs
Gelbe Reihe, München 2004)
Desmond Tutu, Erzbischof der Anglikanischen Kirche in Südafrika, kämpfte als Dekan gegen das Apartheidregime und warb für Dialog und Aussöhnung. 1984 erhielt er den Friedensnobelpreis. 1996 wurde er Vorsitzender der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Tutu lehrt an Hochschulen in aller Welt und
setzt sich weltweit für Frieden und Aussöhnung ein.
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weltbewegt
Foto: E. Lau (1), Grafik: C. Wenn
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